Maurer24 bezeichnet die Frage, die Anlaß und Recht zu kirchenrechtlicher Betrachtung ergibt, sehr auffallend. Nachdem die objektiv-reichsrechtliche Verbindlichkeit der Bekenntnisse durch Glaubensspaltung und Aufklärung sich aufgelöst hatten, habe die konfessionelle Theologie sich gegenüber dem Liberalismus nur auf die kollegialistisch-vereinsrechtliche Festlegung und Konvention berufen können. Nachdem Friedrich Wilhelm III. von Preußen den Symbolen ihre Stellung im Gottesdienst wiedergegeben habe (1822), seien sie Bestandteil der Kirchenordnung geworden. Das habe den Verzicht in sich geschlossen, eine begrifflich gefaßte Lehrheinheit zu verwirklichen und mit rechtlichen Mitteln durchzusetzen. Das Bekenntnis als Bestandteil der liturgischen Ordnung gebe in erster Linie den Inhalt der Verkündigung wieder und sei erst in zweiter Linie Ausdruck der Glaubensüberzeugung der Gemeinde. Eine Lehrverpflichtung der Pfarrer, die die Gültigkeit der reformatorischen Bekenntnisschriften wahrt, werde ebenfalls als Ausdruck für die Zugehörigkeit des Bekenntnisses zur gottesdienstlichen Ordnung angesprochen werden müssen.
Die Lebensnotwendigkeit einer solcher Bindung an ein über ihr stehendes Bekenntnis für die Kirche habe sich im Kirchenkampf erweisen.
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Die Verbindung von Bekenntnis und Recht habe sich nicht nur in
dem Sinne als erforderlich erwiesen, daß dieses Bestandteil der
rechtlichen Ordnung der Kirche sei, sondern auch so, daß alles
Recht der Kirche am Bekenntnis auszurichten sei. Der tatsächliche
Zustand ist hier treffend beschrieben:
1. Die Kirche kann weder noch will sie mehr eine alle ihre
Glieder verpflichtende Lehreinheit verwirklichen, wie dies etwa
in den Zeiten des Niedergangs der altprotestantischen Orthodoxie
in die Lehrgesetzlichkeit als Ziel erscheinen konnte. Das ist der
Ertrag auch der Lehrstreitigkeiten zu Anfang unseres
Jahrhunderts.
2. Die Theologie der Verkündigung, hier des Bekenntnisses, deckt
sich nur zum Teil mit der Gemeindetheologie, während doch die
Gemeinde verbindlich in Anspruch genommen wird.
3. Seit dem Kirchenkampf besteht eine allgemeine, in concreto
unscharfe und zuweilen willkürliche Rückorientierung am
Bekenntnis. Die Bekenntnismäßigkeit von Verkündigung und
kirchlicher Gestaltung ist eine anerkannte Forderung.
Aber die treffend geschilderte Lage ist nun selbst höchst unklar. Zunächst sind liturgisch rezipiert die allein liturgiefähigen altkirchlichen Symbole. Bei den reformatorischen Bekenntnisschriften kommt das nicht in Betracht. Kirchenrechtlich dagegen sind beide in Geltung. Die Lehrverpflichtungen werden von den Pfarrern mit mehr oder minder weitgehenden Interpretationsvorbehalten übernommen. Innerhalb des sehr umfangreichen und in den Formulierungen zum Teil zweifellos obsoleten Corpus der in rechter Geltung stehenden Bekenntnisschriften, vor allem der reformatorischen Lehrbekenntnisse, ist eine schlüssige Scheidung zwischen unaufgebbaren Glaubenssätzen und offenen theologischen Aussagen nicht vollzogen. Die konkrete Lehrzucht geht regelmäßig zurück auf die methodisch- materialen Prinzipien des sog. reformatorischen Ansatzes, das dreifache oder vierfache „sola”. Damit wird in einer, der funktionalen Bedeutung des Bekenntnisses nicht gerecht werdenden Weise hinter dasselbe zurückgegriffen. Ist das Bekenntnis nur in Kraft, quatenus es der Schrift entspricht, und nicht quia, so fallen die im Bekenntnis vollzogenen Entscheidungen zu einer bestimmten Auslegung der Schrift als geschichtliche dahin. Stellt man sich aber auf das „quia”, so erhebt sich von neuem die Frage, in welchem Umfang dies heute strikte behauptet wird. Es kann nicht im vorkommenden Konfliktsfall einem einzelnen die volle Last einer sonst nicht durchgehaltenen und auch gar nicht durchzuhaltenden Lehrorthodoxie aufgebürdet werden. Dabei ist nicht zu verkennen, daß eine weitreichende Auflösung selbst der zweifellosesten Inhalte des Symbols meist toleriert wird. Die Kirche hat nach „links” eine offene Flanke. Die von Maurer vorsichtig angedeutete Differenz zwischen bekenntnismäßiger Verkündigung und Gemeindeglauben ist kein legitimer Unterschied. Verkündigt und handelt
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die Kirche mit recht, so muß sie mit liebevoller Entschiedenheit die Gemeinde darauf zuführen und kann hier nicht nachgeben. Tut sie es nicht mit Recht, so ist sie veranlaßt, mit größter Beschleunigung sich des Unhaltbaren zu entledigen. Tertium non datur. Es macht sich darin die Tatsache bemerkbar, daß der Prozeß der Bekenntnisbildung selbst seit Jahrhunderten zum Stillstand gekommen ist. Dies ist einer der Gründe, aus denen unwillkürlich das Barmer Bekenntnis so sehr überschätzt worden ist: endlich nahm die Kirche eine aus der Übung gekommene Funktion wieder auf.
Die kirchenrechtliche Gültigkeit sämtlicher, in den Kirchenordnungen bezeugten Symbole beruht nun auf Rezeptionsakten ihrer jeweiligen Entstehungszeit, nicht dagegen auf staatlichen Gesetzgebungsakten, weder im römischen Reich, noch im römischen Reich deutscher Nation, noch in den einzelnen Territorien. Solke Akte konnten lediglich Kirchengemeinschaften anderen Bekenntnisses die staatskirchenrechtliche Duldung entziehen und damit praktisch auch den einzelnen nötigen, sich dem territorialen Bekenntnisstand anzuschließen. Sie konnten aber niemals das Bekenntnis für die Kirche selbst primär in Kraft setzen. Die Rezeption der altkirchlichen Symbole ist von den Verfassern der reformatorischen Bekenntnisschriften ausdrücklich wiederholt worden, ohne daß sich dadurch an der gegebenen Lage etwas änderte. Sie beanspruchten, in der einen katholischen Kirche zu bleiben, ja die wahre katholische Kirche zu repräsentieren. Das von Maurer erwähnte kollegialistische Mißverständnis erklärt sich aus der Auffassung der Aufklärung, welche ein eigenes, der Kirche eigentümliches Recht nicht mehr verstand und diese deshalb nach Analogie der Vereine als Korporation konstruierte. Aber freilich wird darin noch etwas anderes sichtbar. Die Symbole sind durch ständige Verwendung immer neu rezipiert worden, ohne daß damit jeweils eine neue Rechtslage entstand. Aber es ist wesentlich, daß sich niemals die Kirche primär auf das Bekenntnis gegründet hat. Die Kirche hat immer als eine schon bestehende die Symbole gebildet, beschlossen und angenommen als den Ausdruck und die Antwort auf ein ihr schon zuvor verkündetes, von dem sie herkam, immer schon herkommt, und kein neues Evangelium. Indem das Symbol die apostolische Tradition im strengen Sinne formuliert wiedergibt, setzt es diese begrifflich und die Übereinstimmung beider voraus — sonst ist es überhaupt kein Bekenntnis. Dieser Tatbestand war natürlich vereinsrechtlich nicht verständlich zu machen.
Die unbestrittene Rückbindung und Rückverweisung des Bekenntnisses auf die Schrift beantwortet die hier entstehenden Fragen nicht. Sie erledigt nicht die Tatsache, daß das Evangelium durchaus legitim auf dem Wege der Tradition weitergegeben wird.
Im Gegenteil kam die Reformation in die schwierige Lage und ernstliche Versuchung, ganz entgegen ihrem Verständnis und ihrer Absicht
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nun doch das ihr Wesentliche als primäre, gemeinschaftsgründende explizite Umschreibung auszusagen und damit die Möglichkeit solcher Aussage in fast eben dem Maße zu überziehen wie die römische Kirche, also mutatis mutandis dasselbe zu tun, was sie dieser mit Recht vorwarf. Je mehr Bewußtsein und Anspruch schwand, selbst katholische Kirche und deshalb in der wahren Tradition zu sein, je mehr der Gegensatz, der Neuansatz und Neueinsatz gerechtfertigt und betont wurde bis zur Verleugnung der Kirchengeschichte zwischen Pfingsten und 1517, desto mehr mußte auch das Bekenntnis als der kirchengründende Neuansatz ex consensu verstanden werden, einer neuen, freilich der wahren — und doch im Gegensatz zu dem einen Herrn und der einen Wahrheit in Wirklichkeit nur höchst partikularen Kirche. Die herkömmliche verfassungsmäßige Bindung an Schrift und Bekenntnis als norma normans und norma normata bringt diesen Tatbestand der Tradition nicht zum Ausdruck. Es verdunkelt ihn sogar, ebenso wie die konstitutive, nicht nur accessorisch-sekundäre Verbindung mit jeder anderen wirklichen Kirche nicht zum Ausdruck kommt. Der Charakter des Bekenntnisses als sekundäres Grundgesetz der Kirche (nach der Schrift) höhlt fortwährend seinen Bekenntnischarakter selbst aus.
Gerade der Traditionalismus — Unbeweglichkeit aus Unsicherheit! — dessen Blick immer nur bis zur Reformationszeit reicht, zeigt, daß die gesunde Tradition ihren Ort verloren hat.
Tradition und Rezeption sind nicht nur einmalige Akte, sondern sie vollziehen sich immer aufs neue. Es läge die Annahme nahe, daß auf diesem Wege mittels einer derogatio silentiosa sich auch der Bekenntnisstand der Kirche fortlaufend verändere. Im weltlichen Recht wäre das Analoge sicherlich der Fall, und es könnte wahrscheinlich ziemlich klar gesagt werden, was an Rechten obsolet geworden ist und was nicht. Grundsätzlich anders sieht es im Kirchenrecht aus — nicht primär deswegen, weil alles religiöse Leben konservativ ist. Der wesentliche Grund liegt vielmehr darin, daß der Inhalt des Bekenntnisses, wie Maurer mit Recht sagt, nicht wandelbar ist. Es kann sich deshalb immer nur um ein Wiederaufnahme des Bekenntnisses, ein besseres Bekennen handeln. Das Gefälle geht genau umgekehrt wie im weltlichen Recht: es wird das Verlorene und im Laufe der Zeiten etwa im Ausdruck Verbrauchte wieder erneuert und wiederaufgenommen. Wieviel Überlebtes hat die Kirche schon aus ihrem Leben abgestoßen, aber wieviel guten Gaben des Geistes hat sie auch achtlos und verständnislos durch Nichtweitergabe verloren25 — sie sprechen uns oft aus Predigt, Lehre, geistlicher Ordnung vergangener Zeiten an. Beides steht in der Geschichte so nebeneinander, daß es kein schlüssiges Kriterium für eine Unterscheidung gibt. Wieviel höchst zeitbedingte autoritäre, liberale oder demokratische Grundsätze sind uns allein in den letzten 150 Jahren als die zwingenden Folgerungen rechter evangelischer Lehre für die Ordnung der
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Kirche in bestem Glauben dargeboten worden und werden es noch! Grundsätzlich geht die Kirche vorwärts in der immer erneuten Aufnahme des Bekenntnisses. Je weniger der zeitliche Grundsatz der zeitliche Derogation (lex posterior derogat priori) ein echter Satz des Kirchenrechts sein kann, desto mehr ist die Kirche veranlaßt, die konkrete Bekenntnisbildung fort und fort zu vollziehen und jene Lage der Halbheit und Unsicherheit nicht andauern zu lassen; sie muß verantwortlich sagen, was sie zu sagen hat und zu ihrem Wort stehen, wenn anders es das Wort des Herrn ist, das sie allein legitimiert. Sonst fördert sie sie die Unwahrhaftigkeit und einen Probabilismus, der keineswegs auf den Jesuitenorden des 18. Jahrhunderts beschränkt ist. Und schließlich wird dann die ecclesia semper reformanda praktisch irreformabel. Wir stehen also vor der eigentümliche und doch gar nicht so verwunderlichen Lage, daß das gestörte Verhältnis zwischen Bekenntnis und Bekennen am ehesten in Ordnung zu kommen Aussicht hat, wenn die aktuelle Bekenntnisbildung als ernstliche Aufgabe wieder aufgenommen wird. Damit ist die Frage nach dem Subjekt der Bekenntnisbildung gestellt.26