Das von Schlink vorgeführte Problem des Verhältnisses von Doxologie und Kerygma, von Kultus und Lehre ist schon alt. Es ist versucht worden es mit der Formel lex orandi — lex credendi zu lösen. Dieser Satz ist in der alten Kirche aufgestellt und praktiziert worden. Werner Elert hat ihn neuerdings historisch belegt und mit aller Schärfe dahin formuliert, daß in der alten Kirche dogmenfähig nur war, was liturgiefähig war.19
Die orthodoxe Kirche hat den Grundsatz bis in die Gegenwart festgehalten:
„Für die Orthodoxie gilt eine vollkommene Entsprechung der Liturgie — lex orandi — und Theologie — der lex credendi. Die Theologie empfängt aus der Liturgie ihren Lebensimpuls und dient wiederum der Feier des Mysteriums. Diese Annäherung, ja Verschmelzung von Theologie und Kult bedeutet keineswegs verschwommene Unklarheit und Verzicht auf bindende Normen. Es sei daran erinnert, daß die Ausbildung der christlichen Grunddogmen gerade im Osten geschah. Die Theologie wird vielmehr „aufgehoben” in der Liturgie … In der Liturgie wird der logos der Theologie zum Tönen gebracht. Der logos wird zum hymnos. Die Aufhebbarkeit ist geradezu ein Kritikum ihrer Echtheit.” 20
In einer besonderen Untersuchung21 weist Wilhelm Hahn auffälligerweise den Grundsatz der römischen Kirche zu. Die Basis ist freilich schmal. Sie beschränkt sich auf eine Stelle aus einer Schrift des Papstes Coelestin I. (422-432), welche auf einen Mönch Prosper von Aquitanien zurückgeht. Eine Tradition des Satzes wird nicht aufgezeigt. Im Gegenteil wird hervorgehoben, daß die katholischen Dogmatiken ihn nicht oder nur nebenbei erwähnen. Er sei aber zur Begründung der marianischen Dogmen von 1854 und 1950 mangels einer Schriftgrundlage herangezogen worden. Pius XII. habe dem Satz ein relatives Recht zugebilligt, aber den Vorrang des Lehramtes festgehalten, welches auch bestimme, was in der Liturgie gelte (Mediator Dei, 1947). Die erwähnten alt- und ostkirchlichen Befunde werden nicht erwähnt.
Alles dies zeigt nun gerade, daß der Satz in der römischen Kirche keine Heimat hat, ihr fremd ist: seltene Belegung, dogmatische Desinteresse, zweckhafte Heranziehung, Relativierung, Unterordnung unter das Lehramt.
Hahn meint jedoch dann weiter, das ganze Problem sei durch den römischen Traditionsbegriff des Christus prolongatus bestimmt. Die Verkündigung des Evangeliums sei „nicht nur Lehre der Kirche, sondern
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vor allem Wort Jesu Christi selbst”. Er rede unmittelbar zu uns (Röm. 15, 18, Lk. 10, 16). Es müsse daher heißen „Jesus Christus (Evangelium Jesu Christi) legem statuat credendi et orandi”. Als Hinweis auf die Grundfunktionen der Kirche, die nicht als Normen zu verstehen seien, und auf den notwendigen Zusammenhang von Lehraussagen und Liturgie habe der Satz dennoch ein begrenztes Recht.
Ist der Satz nicht in der römischen Kirche gewachsen, so entfällt freilich der Hinweis auf deren Traditionsbegriff. Im Gegenteil: die Unterstellung unter das Lehramt zeigt, daß die römische Kirche den Satz nicht durchhält, sondern gerade der zur definitorischen Lehrnorm gewordenen lex credendi den unbedingten Vorrang einräumt, wobei der freigewachsenen lex orandi gegenüber dem Lehramt keine tragende, sondern eine wesentlich bestätigende Bedeutung beigemessen wird. Trotz des reichen Traditionsbestandes der römischen Liturgie überwiegt die entschiedene Rationalität des Dogmas. Der Satz wird lediglich benutzt, nicht anerkannt, soweit er zugleich eine kritische Funktion bedeutet.
Die angezogenen Schriftstellen besagen vollends das Gegenteil: es handelt sich in ihnen darum, daß Christus durch die Apostel redet, also durch bevollmächtigte Menschen. Und der Satz „wer Euch hört, hört mich” bezieht sich auf die Verkündigung der Kirche zu allen Zeiten.
Es ist also die apostolische Verkündigung immer eine mittelbare, durch Menschen. Darin liegt das Problem, welches durch die ungewisse Formulierung „nicht nur Lehre der Kirche, sondern vor allem Jesu Christi selbst” gerade verdeckt wird.
Hahn umschreibt die Bedeutung des Satzes vorweg selbst sehr treffend wie folgt:
„Diese Nebeneinanderstellung soll nicht nur die
Gleichberechtigung beider Gebiete ausdrücken, sondern darüber
hinaus ihre Wesenseinheit. Liturgische und theologische Tradition
der Kirche sind wesensmäßig eins, sofern beide Antworten der
Kirche auf das offenbarende Heilshandeln Gottes in Christus sind
und damit unter der Wirkung des Heiligen Geistes aus dem Glauben
heraus geschehen. Auf dieser Wesenseinheit liegt der
Nachdruck.
Aber diese Wesenseinheit ist
nicht Identität. Liturgie und Theologie können weder
ausgewechselt noch gleichgesetzt werden. Dadurch würde Liturgie
aufhören, Liturgie zu sein, und Theologie aufhören, Theologie zu
sein. Eine solche Verwechslung würde der Kirche schweren Schaden
zufügen. Die Nebeneinanderstellung erkennt also die
Selbständigkeit und Eigenbedeutung beider Lebensgebiete der
Kirche voll an. Jedes entfaltet sich mit Selbständigkeit und mit
eigenem Rhythmus. Gerade so müssen beide stets aufeinander
bezogen werden und leben beide aus dieser Bezogenheit
aufeinander.”
Er fügt dann die Interpretationen an, in welchen jeweils die eine lex das Subjekt der anderen ist.
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Diese Aufrollung von der einen lex zur anderen ist aber gerade keine mögliche Auslegung — sie verneint den Gedanken der Wechselbezüglichkeit, ohne den die Zuordnung ihren Sinn verliert. Wer solche Folgerungen ziehen will, braucht den Satz gar nicht aufzustellen. Er wird so in Subjekt und Objekt aufgelöst.
Es bezieht sich der Satz auch nicht notwendig auf sekundäre leges, liturgische und Lehrtraditionen, sondern er ist in der von Schlink gezeigten Gegenläufigkeit des Handelns begründet.
Für den Papst wie für Hahn existiert dieses Problem nicht. Der Papst entscheidet über Lehre und Liturgie allein und einheitlich. Die Unmittelbarkeit im Sinne von Hahn ist das Urteil des Christen, der die Schrift auslegt — unter der Voraussetzung, daß die Schrift sich selbst auslegt — und so von der Spannung nicht betroffen ist, welche Schlink darstellt und die aus dem Handeln der Kirche nicht wegzudenken ist. So wird der Christ wie der Papst zum urteilenden Subjekt der Kirche. Es handelt sich aber gerade darum, daß die Eigenständigkeit dieser Handlungsrichtungen nicht durch ihr Schwergewicht zur Autonomie wird, sondern durch die Gegenrichtung begrenzt wird. Jede von beiden soll eine kritische Funktion gegenüber der anderen ausüben.
Die Bezugnahme auf das Papsttum ist hier formell im Recht, weil sich hier untrennbar die Frage nach dem personalen Träger, wie nach seiner Entscheidungsform und -kompetenz stellt. Aber der eigentliche kirchenrechtlich bedeutsame Gehalt jenes Grundsatzes kommt so doch nicht heraus. Die Gegenüberstellung Christus-Papst impliziert insofern kirchenrechtliche Fragen, als sie letztlich nur auf Grund der Lehre von perspicuitas und Selbstbezeugung der Schrift möglich ist. Denn dadurch wird die Frage nach der personalen Vollmacht des Verkündigenden mehr oder minder gegenstandslos. Die Formel „lex credendi — lex orandi” dagegen sagt etwas anderes aus: die auszulegende Schrift ist zwar keineswegs einfach dunkel, aber ihre Auslegung ist andererseits doch durch den immanenten Zug menschlicher Rationalität bedroht. Diese relative Gefährdung der Schriftauslegung wird ausgeglichen durch die Korrelation zum Gebet, zur Liturgie: Diese andererseits kann nicht ihrer Eigenentwicklung überlassen bleiben, sie ist schlechthin an die Schrift gebunden. So tragen und ergänzen sich beide, weil sie im Gegensatz zu jenen Grundsätzen schutzbedürftig, zu begrenzen, zu ergänzen sind. Dieser Ausgleich von Lehre und Gebet aber kann nur in der Gemeinschaft der Kirche, in der betenden und feiernden Gemeinde sich vollziehen. So wenig wie der Papst kann die theologische Lehre vor allem Gebet, vor aller Liturgie, abgesehen von ihnen, feststellen, was zu lehren sei, um dann diese oder jene liturgische Ordnung zuzulassen oder abzulehnen. Die Lehre der Kirche wird als Aufgabe und Funktion nicht aufgehoben, wohl aber eingebunden und begrenzt. Weder ein qualifiziertes Subjekt noch die Lehre, die doctrina als solche ist dem
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Handeln der Kirche vorgeordnet, sondern die ganze Kirche in den unterschiedlichen, aber einander zugeordneten, relativen Vollzügen trägt dieses Leben. Das bedeutet auch weitgehend eine bestimmte Struktur kirchlicher Ordnung, welche eine Entrechtung der Gemeinde als liturgischer Gemeinschaft ebenso ausschließt wie eine kultusfremde, vom Kultus abgelöste Theologie. Die intellektuelle Bejahung oder Verneinung des Kultus ist vollends etwas anderes.
Erst diese Erwägungen, nicht die Gegenüberstellung Christus-Papst erschließen die freilich einschneidende kirchenrechtliche Tragweite dieses Satzes.
Auf unsere Verhältnisse übertragen kann man das auch so ausdrücken: die betende Gemeinde bedarf der kritischen Lehre, aber die kritische Lehre bedarf der Gemeinschaft der Liturgie, der Anbetung, um nicht der rationalen Selbstgesetzlichkeit zu verfallen. Der Satz ist sehr viel realistischer als der Gedanke der sich selbst ausrichtenden Schrift, weil sie die Frage nach dem hier Handelnden nicht künstlich und gewaltsam ausschließt: anstelle der getrennten Verrechnung von Verkündigung und Liturgie oder der Vorordnung der einen vor die andere, setzt er die ergänzende und begrenzende Verbindung. Die Stellungnahme Hahns erfaßt die hier gestellte Frage so wenig, daß sie einer Abweisung gleichkommt. Erst recht deckt die Vorordnung Christi vor allem Handeln und die Gegenüberstellung zum Papst die Fragen nicht auf.
Wo dieser Grundsatz gilt, kann es freilich keine Kirche der (reinen) Lehre geben, welche den volleren Sinn der doctrina nur mühsam festhält, in der die einzige klar erhebbare Struktur das Predigtamt ist, während von der Gemeinde, wie es Münter22 tut, als von einer fluktuierenden Größe gesprochen werden kann. Es wird verständlich, warum die hierarchische Ostkirche die Gemeinschaftsdimension bewahrt hat, mindestens in eben dem Maße, wie die Kirchen des sog. allgemeinen Priestertums, ja mehr als viele von ihnen; daß in ihr sowohl die Objektstellung des Laien wie in der römischen, als auch die Isolierung des einzelnen wie im Protestantismus und die Rationalisierung der Lehre — wie in beiden — vermieden worden ist. Es erweist sich der Grundsatz „lex orandi — lex credendi” als ein Schlüssel und Prüfstein. Er ist personalistisch gedacht, während der vergleichbare Grundsatz der „scriptura sui ipsius interpres” in den Funktionalismus führt und als Ergebnis der Auflösung jenes Satzes zu verstehen ist.
Die hier in Wirklichkeit gestellte ekklesiologische Frage ist: kommt die Kirche mit der grundsätzlichen Verschränkung von Dogma und Liturgie aus, oder ist sie genötigt, darüber hinaus doch in gewissem Umfang explizite, in der Liturgie nicht wiederzufindende Aussagen zu machen. Ein Beispiel ist die Erbsündenlehre. Andererseits liegt auch der Liturgie eine Fülle aus ihr nicht direkt erhebbarer theologischer Vorentscheidungen zugrunde. Liturgisches Bekenntnis als Doxologie hat dann
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nach wie vor eine ausgezeichnete Bedeutung, ist aber doch nicht im strikten Sinne ausgrenzbar. Dieser Ausbruch des Dogmas aus dem liturgischen Raum, dessen Überschreitung durch eine Rationalisierung ist den Problemen vergleichbar, die mit dem Auftreten sekundärer Institutionen im Bereich der Kirche erscheinen. Die Lösung ist der dort erwogenen ebenfalls analog zu sehen. Gerade wenn der mögliche Gehalt doxologisch-liturgischer Aussage nicht den ganzen Bedarf an unterscheidender Lehre deckt, so wird doch die Kirche eben jenen zentralen Gehalt von Trinitätslehre und Heilsweg, den die ökumenischen Symbole bewahren, mit aller Entschiedenheit festzuhalten haben. Je entschiedener sie die darin beschlossene große Aufgabe anfaßt und nicht fallen läßt, desto weniger wird sie im herkömmlichen Sinne Lehrprobleme haben. Sie wird von dort aus den begrenzten Kreis notwendiger dogmatischer Sätze als echte Hilfssätze verstehen lernen. Wesentlich ist freilich dabei, daß sie die Gegenläufigkeit von Verkündigung und Doxologie festhält, aus deren Verschränkung eben jene fruchtbare gegenseitige Stützung und Begrenzung im Leben der Kirche entsteht. Der einseitige Anthropozentrismus des Gottesdienstes wirkt sich hier belastend aus. Daraus ergibt sich auch die von Schlink23 beschriebene Tatsache, daß Christen weithin gemeinsame Aussagen in Gebet und Zeugnis zu machen vermögen, daß aber gemeinsame dogmatische Aussagen entsprechenden Inhaltes unmöglich erscheinen.