1. Zur Entwicklung des Sakramentsbegriffs

Die stiftungsgemäßen Handlungen der Kirche, Taufe, Predigt, Abendmahl können also je für sich als vielfältig bedeutsame und ebenso vielfältig gegliederte Rechtsvorgänge interpretiert werden. Zugleich bilden sie in aufweisbaren Zusammenhängen ein Geschehen mit einem gemeinsamen zielgerichteten Sinn. Gerade dieser Sinnzusammenhang erschließt sich wiederum erst durch die rechtliche Auslegung der Handlungen und personalen Rollen, die uns auf institutionelle Strukturen führt.

Der Sakramentsbegriff selbst ist, wie gezeigt, ein Rechtsbegriff. Er bedeutet sakrale Pfandsetzung Gottes für den Menschen. Der Richter gibt sich für den Schuldigen. Das ist das evangelium abbreviatum. Sakrament bedeutet so gesehen einen ganzen Rechtsvorgang wie dessen wesentlichen Gegenstand.

Das Subjekt wie das Objekt des so verstandenen Vorgangs ist unzweifelhaft Christus selbst, als Stifter und sich Stiftender, Stiftungsgehalt, Stiftungsgegenstand. Es ist daher der gemeinchristliche Gedanke, daß Christus das Ursakrament ist, vollkommen richtig. Wie bei vielen gemeinchristlichen Thesen hat freilich auch hier diese Übereinstimmung nicht gehindert, daß völlig gegensätzliche Folgerungen daraus gezogen wurden. Der klassische, augustinische Sakramentsbegriff, der sich auf die Zusammenordnung von Stiftungswort und Elementen beschränkt, macht jedoch den im Sakramentsprozeß deutlich werdenden Vorgangscharakter nicht deutlich.

Solange Sakrament in starker Annäherung an und als Übersetzung von mysterion verstanden wurde, wurde darunter der Gesamtbereich kirchlichen Handelns und kirchlichen Seins verstanden, unter Einschluß von geweihten Personen, Gegenständen, aber auch der vielfältigsten Handlungsvollzüge. Alles, was zur Kirche gehört, ist Sakrament, weil die Kirche als Ganzes Sakrament ist, und sie ist es, weil Christus wiederum, ihre Grund und einziger Gehalt, Sakrament ist.

„Das Ursakrament ist der altkatholischen Kirche Christus selbst, das sacramentum incarnationis, die Fleischwerdung des Wortes. Das war die Meinung Tertullians, die er in unzähligen Äußerungen, welche die gemeinkatholische Auffassung von damals wiedergeben, zum Ausdruck bringt. Ebenso dachte Ambrosius. Ebenso Augustin. Ebenso noch die Theologie des zwölften Jahrhunderts. Das Sakrament der Inkarnation wiederholt sich in dem Sakrament der Kirche (sacramentum ecclesiae).

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Die Kirche (ecclesia) ist der ,Leib Christi’, die dauernde sichtbare Verkörperung Christi auf Erden. Christus ist die Seele seines Körpers, der Kirche.

Jedes Handeln des Körpers Christi (der Kirche) ist vielmehr geheimnisvolles Handeln Christi (Gottes) selber. Christus kann auf Erden nicht anders sichtbar handeln als durch die Kirche. Die Kirche kann nicht anders handeln als Christus selber handelt. Jedes Handeln der Kirche ist darum ein Sakrament. Die Lehre von dem Wesen und dem Leben der Kirche fällt zusammen mit der Lehre von den Sakramenten. Das ist wie der Standpunkt des Ignatius, Tertullianus, Augustins so auch der Standpunkt noch des zwölften Jahrhunderts. Auch die Lehre der Kirche fällt unter den Gesichtspunkt des Sakraments. Die Wortverwaltung ist für den Altkatholizismus eine Art Sakramentsverwaltung (während für den Protestantismus bekanntlich umgekehrt die Sakramentsverwaltung eine Art der Wortverwaltung darstellt). In dem Wort der Kirche spricht auf geheimnisvolle Weise sichtbar und doch unsichtbar Gott (Christus) selbst. So ist das ,Symbol’ (das Taufbekenntnis, die Glaubensregel) diese normgebende Zusammenfassung der Glaubenslehre, ein Sakrament, ein Sakrament auch die Predigt des verordneten Dieners der Kirche (des Bischofs) in der Christenversammlung, überhaupt alles, was die Kirche tut in dieser Zeitlichkeit …

Die Zahl der Sakramente ist um so mehr unbegrenzt, weil nicht bloß jede Handlung der Kirche, sondern auch die persönlichen und dinglichen Mittel, durch welche die Kirche ihre Handlungen vollzieht, den Sakramenten zugezählt werden. Schon Augustin nennt auch das geweihte Öl, das … geweihte Salz Sakramente.

Die Zahl der Sakramente wird eine fast unermeßliche … Der Bischof selber, ja jeder geweihte Kleriker ist und heißt ein Sakrament.” 1

Die Lehre von den sieben Sakramenten hat eine lange Entwicklung durchgemacht, deren entscheidende Phase im 12. Jahrhundert liegt und die hier zum Teil interessiert.2 Mit der Ablösung der einzelnen Sakramente aus einem weiten Gesamtbegriff ist eine Systematisierung und Rationalisierung verbunden; damit ergibt sich aber auch der Anlaß, sie nun wieder unter bestimmten Gesichtspunkten zu ordnen und zusammenzufassen. Deutlich ist, daß die Siebenzahl sich erst sehr allmählich, am Ende einer recht widersprüchlichen Gedankenbewegung herausbildet. So werden von manchen Autoren, wie Abaelard, Peter v. Poitiers der ordo der Kanonistik, die poenitentia der Ethik zugewiesen, so daß sich eine Fünfzahl herausbildet. Ebenso zeigt sich, daß die augustinische Begrifflichkeit (res und signum) einer Klärung die größten Hindernisse bereitet.

Von den sehr unterschiedlichen Gruppierungsversuchen sind einige besonders bemerkenswert: so diejenige zwischen sacramenta necessaria (ad salutem) und voluntaria (Ordo und Ehe). Die gleiche Teilung

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wird auch als Gegensatz zwischen sacramenta generalia (für alle) und specialia (ständische) verstanden, die letztere Bestimmung auch unter Beschränkung auf den ordo als sacramentum dignitatis. Durch die Distinktionen und Definitionen schlägt nur gelegentlich ein heilsgeschichtlicher Gedanke hindurch, so bei Petrus Lombardus.3

Auch er spricht von einer Fünfzahl: „Primum (baptismus) pollutos mundat, secundum (impositio manus) mundatos armat, tertium (poenitentia) armatos relevat, quartum (corpus et sanguis Christi) relevatos Deo incorporat, quintum (unctio solemnis infirmorum) Deo incorporatos divinae visioni repraesentat.”

Wie schwer sich die Augustinische Begrifflichkeit mit dem instituierenden Charakter der Sakramente (der bei Petrus Lombardus nicht fehlt) verträgt, zeigt Abaelard:4

„Unter der res sacramenti versteht er wohl … das, was durch das äußere Zeichen versinnbildlicht wird, daß nämlich der Mensch, der die Sakramente empfängt, ein membrum Christi sei. Bei der Taufe wird dies zugleich versinnbildet und bewirkt, bei der Eucharistie und letzen Ölung … nicht bewirkt, sondern nur versinnbildet (?). Dabei ist bei der Taufe res und efficacia sachlich identisch, während bei der Eucharistie beide Momente zu trennen sind.” Die ganze res-signum-Terminologie drängt von der personalen Kommunikation auf quasikausale Kategorien. Ein eigenartiger Gedanke findet sich bei Abaelard:5 „tria sunt, in quibus humanae salutis summa consistit, fides videlicet, caritas, sacramentum.” In dieser Folge Glaube-Liebe tritt das Sacramentum an die Stelle der Hoffnung, offenbar als Angeld verstanden und gewinnt damit einen starken eschatologischen Aspekt.

Sachlich wichtig ist sodann die bei den meisten Glossatoren zum Decretum Gratiani (nicht in diesem) vorkommende Vierteilung (species quadriformis sacramentorum).6 Sie findet sich zuerst bei Rufin vor, aus dem sie auch Sohm entnommen hat.7

Die vier Gruppen sind:
1. salutaria (Taufe, Firmung, Eucharistie)
2. ministratoria (Messe und officia clericorum)
3. veneratoria (Festtage)
4. praeparatoria: alles, was als Voraussetzung von 1-3 dient: Konsekration von Personen, Gebäuden, Gegenständen.

Den Gruppen 1 und 2 schließen sich hier die beiden letzteren Gruppen an, welche später als Sakramentalien aus dem eigentlichen Sakramentsbereich ausscheiden. Nicht mehr ist die Kirche im ganzen eine sakramentaler Heiligkeitsbereich, der alles umfaßt, was immer ihm zugehört; sondern die Sakramente werden schließlich auf die Handlungen an Personen begrenzt; dadurch werden an die Gruppe 1 (salutaria) die schon früher gesondert betrachteten voluntaria resp. specialia angeschlossen. Die oben geschilderte dualistische Gliederung von fünf

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Handlungen verbindet sich mit der vierfachen und beide verschmelzen sich unter Abstoßung der nicht-personale Handlungen zu einem Einheitssystem. Die numerische Einheit läßt dann in der Folge die Unterschiedlichkeit der Bedeutung und Herkunft im einzelnen und im Gruppentypus zurücktreten. Mit einer ähnlichen Vereinfachung wird dann in der Reformation hauptsächlich auf die Gruppe 1, die salutaria zurückgegangen und die übrige Problematik vernachlässigt.

Die Abneigung der griechischen Kirche, qualitative Unterscheidungen innerhalb des mysterion-Sakramentsbegriffs zu machen, richtet sich nicht nur gegen die rationale Distinktion der Lateiner. Es geht nicht nur um die Denk- und Anschauungsform, sondern auch die Sache, das inhaltliche Verständnis. Der Heiligkeitsbereich der Kirche als Ganzes mit allen seinen Lebensäußerungen und Erstreckungen ist ihr so sehr Abbild und Abspiegelung himmlischen Seins, daß es sinnwidrig ist, darin wesentlich zu unterscheiden. In ihm vollzieht sich freilich das Mysteriendrama, aber nicht mit der gleichen scharfen Zielgerichtetheit, wie mehr und mehr im Abendland. In diesem Gesamtbereich muß man leben, an ihm teilhaben. Ach das Drama wird zum Abbild.

Mit der scharfen Ausgrenzung der exklusiv bezifferten Sakramente als geschichtichem, heilsbedeutsamem und heiligendem Handeln an Personen dagegen zielt die latienische Kirche mit steigender Bestimmtheit auf die rechtfertigende und heiligende Bedeutsamkeit für den einzelnen. Wiewohl mit großer Kraft und nicht ohne begriffliche und äußere Gewaltsamkeit zum Gesamtsystem verbunden, welches den Menschen in seinem ganzen Leben umfaßt, hat doch die lateinische Lehre von den sieben qualitativ herausgehobenen Sakramenten eine mächtige individualisierende Tendenz und Wirkung. Aus dem „pro vobis” wird das „pro me”.

Sie bedeutet nicht nur die begriffliche Klärung eines bis dahin unscharf gesehenen Bereichs, auch nicht nur die Verdrängung sekundärer und oft grobsinnlich ausgedeuteter und mißverstandener Heiligkeitsvorstellungen: in der Tiefe vollzog sich damit eine Zurückdrängung des sozialen, gemeinschaftsstiftenden, eine Abstoßung der kosmologischen Dimension des kirchlichen Handelns. Die Lehre von den sieben, ausschließlich auf die Person bezogenen Sakramenten bezeichnet einen wesentlichen Einsatzpunkt und zugleich eine markante Ausprägung des abendländischen Personalismus. Konstitutiv verknüpft mit dem absoluten ordo bedeutete dieser Vorgang zugleich eine Trennung von der Gemeinde, welche die (personale, geschichtliche) Welt in der Antithese zur Kirche verkörperte. Der personale, allein im dezidierten Sinne geistliche Bereich des ordo, die Welt als Gemeinde, und die geschaffene Welt treten in scharfer Antithese auseinander. Der bis zum Überdruß wiederholte Vorwurf des Protestantismus gegen die scholastische Kirche, sie vergegensätzliche das Heil, ist so gesehen eine Halbwahrheit. Ihm

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liegt die mehr oder minder klare Einsicht zugrunde, daß hier die Subjekt-Objekt-Spaltung in die Sakramentstheologie eingebrochen ist: sowohl die Elemente wie die Gemeinde werden die Gegenstände des Handelns des allein handlungsfähigen priesterlichen Subjekts. Die gleiche Kritik stellt sich jedoch gar nicht die Frage und Aufgabe einer Überwindung dieser Spaltungen: sie verallgemeinert nur den Subjektbegriff dieses Priestertums und mach zugleich die ganze Welt — über die Elemente hinaus — zum Objekt ihrer glaubensgewissen Personalität. Der Auflösung der Beziehung zwischen Kirche, menschlicher Welt und Kosmos entsprach später die schon gezeigte Auflösung der Einheit des Meßgottesdienstes selbst mit ihren verfassungsgeschichtlichen Folgen.8

Der absolute ordo war zugleich der Ursprung des von der Kirche von eh und je so tief verdammten Laizismus, eines laikalen Selbstbewußtseins in der Opposition zum Klerus. Schon das Zitat Jungmanns zeigt9 wie unmittelbar, sozusagen am Ort der Tat, die im Gottesdienst selbst nicht mehr konstitutiv benötigte Gemeinde säkularisiert wurde.

Der von Werner Elert nachgewiesene Bedeutungswandel des Begriffs „sanctorum communio” 10 aus der sächlich-dualen Teilhabe an den heiligen Elemente in die einseitig personale Interpretation der „communio sanctorum”, das genossenschaftliche Mißverständnis des Begriffs, gehört in diesen Zusammenhang. Es ist bemerkenswert, daß die Nachweise Elerts die Selbstgewißheit dieses nachscholastischen Personalismus auch nicht im mindesten berührt oder gar erschüttert und zum Aufmerken veranlaßt haben. Die gleiche folgenschwere Verschiebung ereignet sich in dem Bedeutungswandel des griechischen „kecharitoméne” (Begnadete) in „gratia plena” (voller Gnaden). Sowohl Wilhelm Stählin wie Joseph Chambon, der Geschichtsschreiber des Hugenottentums, haben darauf hingewiesen.11 Das Geheimnis des Empfangens, welches sich in medialen Gebrauch des griechischen Verbs ausdrückt und ebenso in der vorzugsweise sächlichen Bedeutung der koinonia ton hagion aufbewahrt wird, wird im lateinischen Abendland zu einer aktiven Größe, wird zur Subjektität (nicht Subjektivität). Die Gnadenmittlerin und Fürsprecherin Maria steht an dem gleichen Ort, wie im Glaubensbewußtsein des Protestantismus die communio sanctorum als das sichtbar-unsichtbare Subjekt der Kirche mit genossenschaftlichen Zügen. Die Haltung ist die gleiche, nur daß auf der einen Seit das transpersonale Symbol, auf der anderen die Innerlichkeit betont wird. Der Gedanke der Gnade wird keineswegs geleugnet oder ausgeschieden — und doch findet das abendländische Denken Wege, seiner aktiven Tendenz Ausdruck zu verleihen: in der Mittlerschaft Mariae bis zur mediatrix omnium gratiarum, und der entsprechende Mitarbeit des Gläubigen an der Entfaltung des verliehenen Heils (nicht an der Rechtfertigung selbst), wie protestantisch in der zu verantwortenden expansiven, innerweltlichen Aktivität.

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Denn da hier nichts durch das Volk, sondern alles für es geschieht, hat gerade dieser klerische Absolutismus eine ganz ähnliche Wirkung gehabt wie Jahrhunderte später der fürstliche: er bereitete einem individuellen und individualistischen Heilsverlangen den Weg. Eben dieses führt aber auch zur Sprengung des ganzen Systems. Denn innerhalb der sieben Sakramente gewinnt das Bußsakrament im Laufe des Hoch- und Spätmittelalters eine der Alten Kirche gänzlich unbekannte Ausdehnung. Während ehedem die sakramentale Gemeinschaft der Kirche das ganze Leben der Christen in der Welt in seiner nicht aufgehobenen Fehlsamkeit trug und das Bußsakrament nur bei schweren, besonderen Sünden in Betracht kam und öffentliche Strafen von langer Dauer, schwierige Formen der Rekonziliation einschloß, begleitet es jetzt das ganze Leben des Christen, den ein ständiges Verlangen nach immer neuer Heilsgewißheit und Gnadenversicherung umtreibt. Aber eben die Unmöglichkeit, dem mit einem unfassenden und komplizierten, auswuchernden System der Moraltheologie und Beichtjurisdiktion Genüge zu tun, hat die tiefgreifende Krisis des alten Systems hervorgerufen.

Die Reformation hat die Siebenzahl der Sakramente aufgelöst und sich von ihrer Zahlenmystik freigemacht — in welcher mit der Sieben (die heilige Drei und die irdische Vier — Quadrat der rechtwinklig-mathematisch geschaffenen Welt — ebenso in der Multiplikation zur Zwölf) die Verbindung Gottes mit der Welt, das Geheimnis der Inkarnation abgebildet werden sollte.

Die lutherische Reformation erkennt nunmehr nur noch drei Sakramente an: Taufe, Abendmahl und Buße (CA XIII). Wenn auch betont wird, de numero sacramentorum non esse disputandum, so ist doch damit sachlich die von Rufin geschaffene Verbindung von sacramenta salutaria und praeparatoria gelöst und die ersteren bleiben praktisch allein. Nunmehr aber treten zwei gegenläufige Tendenzen hervor:

Die eine ist eine solche der Reduktion: für die Ordination und die Ehe macht lediglich CA XIII das bedingte Zugeständnis, man könne sie in einer bestimmten Interpretation wegen der göttlichen Verheißung auch als Sakramente bezeichnen — ob sie es nun sind, wird offen gelassen, aber praktisch und anderwärts auch theoretisch verneint. Für Firmung und letzte Ölung wird die ausdrückliche Stiftung vermißt. Es trägt nicht mehr der Sakramentscharakter der Kirche überhaupt alle ihre einzelnen Handlungen und Verrichtungen, verleiht ihnen mit unterschiedlicher Heilsbedeutsamkeit eben jenen Heiligkeitscharakter. Nunmehr mach das Wort in genere und sodann in specie in den einzelnen schriftmäßigen Setzungen die Kirche und ihre legitimen Handlungen.

Aber dieser Reduktion steht nun ach eine Expansion gegenüber. Am Schluß von Apologie XIII wird nämlich im ganzen reflektiert auf „alle Dinge, die Gottes Wort und Befehl haben” und die man deshalb schließlich

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Sakramente nennen könnte: nunmehr erscheinen in diesem Zusammenhang Gebet, Almosen, Kreuz und Trübsale der Christen. Das ist mehr als eine Erwägung. Eine vergleichbare Reihe der „Heiltümer” als der Sakramente im weiteren Sinne, und zugleich der signa ecclesiae finden wir bei Luther in den beiden Schriften „Von conciliis und Kirchen” und in  der polemischen „Wider Hans Worst”, in welcher er sich gegen den Vorwurf des Herzogs von Braunschweig, daß er die Heilsgüter der Kirche willkürlich preisgegeben habe, verteidigt.12

Man muß die Reihen miteinander vergleichen:

CA und Apologie (1530) Von conciliis usw. (1539) Wider Hans Worst (1541)
1. Taufe salutaria 1. Wort Gottes 1. Taufe
2. Abendmahl 2. Taufe 2. Abendmahl
3. Absolution 3. Abendmahl 3. Schlüsselgewalt
4. Konfirmation verneint 4. Schlüsselgewalt 4. Predigt
5. letzte Ölung 5. Ordination 5. alte Bekenntnisse
6. ordo zweifelhaft 6. Gebet und Gotteslob 6. Gebet und Gotteslob
7. Ehe 7. Zeichen des Kreuzes und Leiden 7. Achtung des weltl. Regiments
8. Gebet besitzen die gleichen Merkmale   8. Ehe
9. Almosen   9. Leiden
10. Kreuz und Trübsal   10. Fürbitten, dulden, vermahnen und sich nicht rächen
    11. Fasten

Wiewohl also die traditionelle Siebenzahl „Sieben Hauptstücke des Hohen Heiltums” (Von conciliis) apologetisch wieder verwendet wird, besteht doch ausdrücklich kein Interesse mehr an einer exklusiven Abgrenzung. Der Bereich schwankt beträchtlich, sicher nicht ohne Rücksicht auf die Kontroverslage. Die signa ecclesiae umfassen nun wieder, in einer ganz neuen Weise das ganze Leben des Christen, mit allen Forderungen und Formen der Bewährung. Ersichtlich haben die Formulierungen von 1530 und 1539 das größere dogmatische Gewicht gegenüber der relativen Unschärfe von „Wider Hans Worst”. Die Übereinstimmung der Tendenz ist trotzdem offensichtlich. Wesentlich ist, daß damit der Sakramentsbegriff sich in die notae ecclesiae auflöst. Es bilden nicht mehr Predigt und Sakramente allein die beiden notae ecclesiae, als kategoriale Weisen kirchlichen Handelns, sondern sie werden beiderseits in den umfassenderen Begriff der notae und sogar des betont deutschen Begriffs „Heiltum” einbegriffen. Denn die den verbliebenen Sakramenten hinzugefügten Dinge haben nun teils sakrifiziellen, teils

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ethischen Charakter. Der Begriff der „Handlung auf Wort und Befehl Gottes” hat den Sakramentsbegriff abgelöst und gesprengt. Wenn ein Generalbegriff in allen einzelnen, ihm unterfallenden Anwendungen wiederzufinden sein soll, so ist damit das Eigentliche des Sakramentsbegriffs ausgeschieden und unwesentlich geworden: das direkte, heilsgeschichtliche vollmächtige Handeln des Mensen am Menschen.

Gerade die Ausgrenzung der personalen Handlungen, welche die scholastische Theologie mit scharfem Blick und logischer Distinktion aus dem umfassenden Heiligkeitsbereich der alten Kirche herausgenommen und in den Mittelpunkt gestellt hatte, welche in ihrer Geschichtlichkeit und individuellen Heilsbedeutsamkeit Entfaltung und Verfall der hoch- und spätmittelalterlichen Kirche bewirkt und um welche die Reformation so leidenschaftlich gekämpft hatte, — gerade das wird wenige Jahre danach in die Allgemeinheit der notae ecclesiae aufgelöst. Es geht damit der spezifisch instituierende Charakter der Sakramente verloren. Dementsprechend wird auch das Amt in den Hintergrund gerückt, welches sie verwaltet. Denn die sakrifiziellen und ethischen Handlungen ermangeln des einen und bedürfen nicht des anderen.

Nun hat gewiß die altlutherische Kirche Amt und Sakramente hochgeschätzt. Kurz nach dem Tode Luthers wurde in der Stadtkirche zu Wittenberg bei Lebzeiten von Bugenhagen und Melanchthon in einem etwas seltsamen Selbstverständnis das Altarbild aufgehängt, welches Christus beim Abendmahl, die drei Reformatoren bei der Predigt, Taufe und Absolution darstellt. Aber die nominalistische Definition der notae ecclesiae als „Handlungen nach Gottes Wort und Befehl” hat die lutherische Theologie gerade außerstande gesetzt, Amt und Sakramente in ihrer unverwechselbaren Eigenart gegenüber allem anderen abzuheben, zu begründen, verständlich zu machen. Denn dieser so weite Generalbegriff führt die Interpretation in die Vereinzelung, weil seine Merkmale so allgemeine sind, daß sie das gemeinsame Besondere mehrerer nicht mehr fassen. Folgeweise läßt die inhaltliche Einzelinterpretation das Verständnis und Interesse für die Struktur solchen Handelns zurücktreten. Infolgedessen bleibt sowohl das Verhältnis von Predigt und Sakrament, wie dasjenige der Sakramente untereinander ohne wesentliches Interesse und samt den Charakter der Ordination ungeklärt. Mit dem stillschweigenden Verzicht auf eine solche Gottesdienstlehre gerät auch das Kirchenrecht ins Ungewisse.

Man kann nicht sagen, daß die christlichen Kirchen mit dem Versuch, den Sinngehalt der Sakramente festzuhalten, sonderlichen Erfolg gehabt haben. In der alten, und noch mehr in der getrennten griechischen Kirchen waren sie so sehr in den Heiligkeitscharakter und -bereich der Kirche hineingenommen, daß in diesem gewaltigen Stausee der durch ihn hindurchführende und ihn speisende eschatologisch-geschichtliche Strom oft nicht mehr genügend unterscheidbar war. Dann zwängten die

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scharfen Distinktionen der lateinischen Kirche diesen Strom zwischen die engen Dämme ihrer Begrifflichkeit, bis ein Dammbruch eintrat, dessen Überschwemmung nunmehr keine klar erkennbare Fahrrinne mit ausreichendem Tiefgang mehr übrigließ.12a