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I.
Hans v. Campenhausen hat die paulinischen Schriften auf Anfänge kirchenrechtlicher Bildungen untersucht.50
Es ist eine lange Reihe von Entscheidungen, die der Apostel in seinen Briefen angesprochenen Gemeinden als Weisungen zukommen läßt, mit sehr ungleichem Gegenstand und Gewicht und ebenso unterschiedlicher Begründung seines Autoritätsanspruches.
Ich führe sie zunächst einmal hier sämtlich auf, soweit sie Campenhausen darbietet.
1. Verwerfung der Ehe mit der Stiefmutter als Unzucht
(perturbatio sanguinis) 1. Kor. 5
2. Mahnung, Rechtsstreitigkeiten nicht vor heidnischen Richtern
auszutragen 1. Kor. 6
3. Verbot der Teilnahme an heidnischen Opferfeiern 1. Kor. 10
4. Mahnung, alles im Gottesdienst ordentlich zugehen zu lassen,
an die Ekstatiker, sich nicht vorzudrängen und auf die Schwachen
Rücksicht zu nehmen 1. Kor. 14
5. Stellungnahme zur Frage des Genusses von Götzenopferfleisch 1.
Kor. 10
6. Anerkennung des heidnischen Staates Röm. 13
7. Stellungnahme zur Sklaverei 1. Kor. 7
8. Beurteilung von Ehe und Ehelosigkeit 1. Kor. 7
9. Verbot der Ehescheidung und privilegium Paulinum 1. Kor. 7
10. Gebot an die Frauen, sich beim Gebet zu verhüllen 1. Kor.
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11. Verbot, daß Frauen in der Gemeinde reden 1. Kor. 14
12. Grundsatz der Unterhaltung der Apostel durch die Gemeinden.
Ich versuche, aus der inhaltlichen Auslegung Gesichtspunkte für eine Bewertung der Struktur dieser Weisungen zu finden. Der Sitz im Leben der Gemeinde, ihr Stellenwert im einzelnen ist zu klären.
Von diesen Sätzen hat die allgemeinste Bedeutung für alle Christen das Verbot der Teilnahme am heidnischen Opferdienst. Hier geht es zentral um die Zugehörigkeit zur Kirche und damit zum neuen Aeon überhaupt. Es ist kaum ein Verbot: es wird lediglich eine Folgerung aus der sakramentalen Gemeinschaft der Kirche gezogen, die auch hier in der antiken Umwelt mit vielfältigen, zum Teil staatsoffiziellen Kulten keine Vermengung mit einem anderen Kultus duldet: Kultus ist personale Gemeinschaft — niemand aber kann zween Herren dienen. Genau aus dem gleichen Grunde aber kann es für den Christen gleichgültig sein, ob etwa ihm bei einer Einladung angebotenes Fleisch
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Götzenopferfleisch ist. Es so zu bewerten, hieße dem heidnischen Kultus eine falsche Bedeutung beimessen. Jedoch entwickelt sich ein anderer Grundsatz daran: um des Ärgernisses eines anderen willen soll sich der Christ vermöge seiner Freiheit dann doch enthalten.
Die Ausschließlichkeit der Kirche als Kultusgemeinschaft wird also umrissen gegen Vermischung und Rigorismus zugleich und zugleich unter das Gebot der Liebe gestellt. Von der Begrenzung der Gemeinde geht es damit bereits über auf ihre Innenstruktur, welcher mehrere Weisungen gewidmet sind. In Ziffer 4 (1. Kor. 14) werden die modi kirchlichen Verhaltens — Ordnung und Liebe — umschrieben, deren Dualismus als bedingter Gegensatz bis heute die Kirchenrechtslehre beschäftigt. Der Geist will und muß wirken, aber nicht zur Erhöhung des Menschen und so, daß die Schwachen nicht überfordert und beiseitegedrängt werden. Diese Fragen sind hier thematisch in Kap. XVII behandelt. Das Gebot, die Diener der Gemeinde zu unterhalten, hat für die Kirchenrechtsgeschichte als Legitimation entsprechender Verwaltung und Versorgung große Bedeutung gehabt.
Auffällig und bemerkenswert ist die gottesdienstliche Weisung an die Frauen (Ziffer 10). Denn sie ist nicht mehr vollständig aus der Struktur der Gemeinde zu verstehen. Hier wie an anderen Stellen, die nicht den Kultus, sondern das Ethos betreffen, wirkt die Rücksicht auf die Umgebung mit. Mehr noch: ein gewisser Normalstand der die Gemeinde umgebenden Sitte und Sittlichkeit wird in das Leben der Gemeinde hineingenommen. Er darf nicht verletzt werden, sie soll sich nicht diskreditieren, ja die Sittlichkeit der Gemeinde soll ihn überbieten. Sitte und Sittlichkeit werden hier durchaus in eins gesehen.
Das Verbot, daß Frauen in der Gemeinde reden (Ziff. 11, 1. Kor. 14, 34), hat erst in unserer Zeit Erörterungen hervorgerufen, weil es bis heute in der gesamten Tradition der Kirche einschließlich der reformatorischen Kirchen im Sinne des Ausschlusses der Frau vom Amt der Kirche ausgelegt worden ist. Daß die Frau in der Gemeinde betet und weissagt, setzt der Apostel in Kap. 11, 5 selbst voraus. Demnach handelt es sich bei dem in Kap. 14 gemeinten Reden um die Wortverkündigung und Schriftauslegung.
Erst in der Gegenwart ist die Frage des Verhältnisses zwischen der zeitbedingten Weisung an die Frau, sich zu bedecken, und dem Schweigegebot in aller Schärfe hervorgetreten.
Paulus unterbaut nun seine Weisung durch das ökumenische Argument, „wie in allen Gemeinden der Heiligen” — es ist also nichts Neues. Auch will er seine Weisung ausdrücklich als die des Herrn verstanden wissen (V. 37).
Fragen wir nach der Struktur dieser Weisung, so ergeben sich
mehrere Ebenen oder Gesichtspunkte:
1. Es gibt direkte Gebote des Herrn, und solche des Apostels, die
zwar
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im Geiste begründet, doch eine geringere Dignität besitzen als
die ersteren.
2. Der Apostel führt nichts Neues ein, sondern deckt einen
Sachverhalt auf, der kraft göttlicher Setzung gültig ist und
deshalb Beachtung verlangt, der aber zugleich mit diesem
„a-priori” auch a posteriori sich bei den übrigen Gemeinden als
rechter geistgemäßer Brauch durchgesetzt hat. Die ökumenische
Übereinstimmung ist ein sekundärer Erkenntnisgrund für die rechte
Haltung. Wir finden hier etwas von dem, was Harnack für spätere
Zeiten als „katholische Konföderation” bezeichnet hat, einen
weiten, bewußt gepflegten Bereich konkreter Gemeinsamkeiten.
3. Das Wort bezieht sich auf eine bereits bestehende Gemeinde,
der nicht erst Richtlinien für ihre Gründung gegeben werden.
Indem ihr aber bestimmte Grenzsetzungen gegeben werden, wird
zugleich eine gültige, konstitutive Struktur aufgedeckt, durch
deren Verletzung sie sich selbst als Gemeinde falsch verstehen,
in Unordnung und Unrecht setzen würde.
Die Gegenstandslosigkeit der Bultmannschen Unterscheidung von konstitutivem und regulativem Kirchenrecht wird hier sehr deutlich. Setzt der Apostel nicht Recht, sondern deckt er die vorgegebene Rechtsstruktur auf, so verhält er sich wie der „charismatische” Richter, der in der Vollmacht der Entscheidung doch eine für ihn gegebene kosmische Ordnung ausspricht. Es ist also typologisch durchaus zu bestimmen.
Paulus muß Anlaß zu diesem Eingreifen gehabt haben. Das Gewicht dieses Anlasses ist vielleicht nicht sicher auszumachen. Es kann sich um die sehr grundsätzliche Abgrenzung gegen heidnische Kulte handeln, welche Priesterinnen kennen. Aber nicht notwendig liegt ein solcher Einfluß in der korinthischen Gemeinde auch tatsächlich vor. Die Zulassung der Freuen kann auch mehr aus Unachtsamkeit und Überschwang erfolgt sein. Dann weist der Apostel auf die Konsequenz dieser Haltung hin, die nicht gewollt, sondern gerade nicht erkannt ist. Die achtlose Verkennung einer höchst gefährlichen Entwicklung würde am ehesten die Tatsache erklären, daß hier Anordnungen höchst unterschiedlichen Gewichtes nebeneinander stehen.
Diese wenigen Weisungen zeigen damit doch schon einen recht klaren Umriß der Eigenstruktur der Gemeinde wie ihres Verhältnisses zur Welt.
Einen weiteren Bereich nehmen die auf die Ehe bezüglichen Stellen ein. Sie erweisen deutlich das von Anbeginn bestehende lebhafte Interesse an den Ehefragen, auf welches ich in Kap. IX noch besonders eingehe. Auch hier geht es nicht um die Führung der Ehe als solche allein, sondern um das Verhältnis von Gemeinde und Welt in diesem zentralen Lebensbereich. Mit der Ächtung der perturbatio sanguinis übernimmt der Apostel diskussionslos ein Geschlechtstabu der Umwelt wie
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ein rechtliches Ehehindernis: die Gemeinde kann eine solche Verbindung, die ja prätendiert, Ehe zu sein, als solche nicht anerkennen und dulden. Es ist Sittenforderung und Rechtsforderung zugleich. Wie noch heute in der juristischen Terminologie stehen Unzucht und Ehe als Alternativen einander gegenüber. Auch hier ist die Anschauung der Umwelt der zu überbietende Normalstand. Stärker tritt das Verhältnis Kirche-Welt in den Aussagen über die Scheidung hervor. Paulus interpretiert kraft seiner apostolischen Autorität die Worte des Herrn. Jesus hat kein Scheidungsverbot im Sinne des Ausschlusses einer verfügbaren Möglichkeit ausgesprochen. Er hat vielmehr auf die von Gott „ap’ archés” geschaffene Tatsache der una caro hingewiesen, die als solche die Scheidung unmöglich macht. Er fordert einen „ontologischen Gehorsam” d.h. Gehorsam gegen Tatsachen, die mit der unwidersprechlichen Gültigkeit göttlicher Gestaltung ein Zuwiderhandeln als ein Lögen wider den Stachel erscheinen lassen. Deswegen statuiert hier auch nicht Paulus unter dem Gesichtspunkt gesetzesüberwindender Freiheit eine Ausnahme für den Pneumatiker. Mit der nachösterlichen, nachpfingstlichen Gemeinde ist vielmehr eine neue Tatsache entstanden, eine Gemeinschaft proleptischer Eschatologie, die nunmehr scheidend quer selbst durch das ap’ archés Gesetzte hindurchbricht und nur so die Freiheit gibt, die Ehe aufzulösen wie sie fortzusetzen. Es geht hier weder um Gesetz noch um Freiheit, sondern um das Ineinander und Gegeneinander zweier Gemeinschaften, die auch Rechtsgemeinschaften sind und sich an der Ehe als Institution des Rechtes auswirken. Ohne einen grundsätzlichen Widerspruch zum Wort des Herrn geht das apostolische Wort doch über es hinaus. Dieser Charakter des privilegium Paulinum ist bei weitem wichtiger als seine begrenzte inhaltliche Bedeutung. Bei alldem ist die Haltung im Ganzen recht konservativ. Kein Pathos der Gesetzesverbesserung schwingt hier mit, noch weniger eine Aversion gegen das Recht (S. 34). Und die besten sittlichen Bildungen dieser Welt erscheinen durchaus nicht als verwerflich.
Stärker ethischen Charakter tragen die Erwägungen über Ehe und Ehelosigkeit. Aber sie gestalten doch zugleich das Gemeindeleben als solches, weil ausdrücklich mit einer verschiedenen Haltung und also mit verschiedenen „Berufen” gerechnet wird, die ein jeder für sich zu erkennen und in denen er zu bleiben hat. Auch die Stellung zur Sklaverei ist nach der einen Seite von der Gemeinde her zu verstehen. Es soll sich der Sklave genügen lassen, in der Gemeinde ein Freier zu sein. Die größten sozialreformerischen Wirkungen hat die Kirche im Laufe ihrer langen Geschichte dadurch gehabt, daß sie absichtslos ihr opus proprium tat und ihre Struktur auf die Welt wirken ließ.
Auch die berühmte Entscheidung Röm. 13 über den Staat hat hier in unserem Zusammenhange nicht so sehr ihre allgemeine Bedeutung für das ethische Verhalten. Sie interessiert hier wesentlich darin, daß die
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Existenz der Kirche die legitime Existenz und Vollmacht des Staates nicht aufhebt. Über das Verhältnis beider als Größen eigenen Rechtes ist hier nichts ausgesagt.
Die Mahnung, Rechtsstreitigkeiten nicht vor heidnischen Richtern auszutragen (1. Kor. 6, 1-11), hat nicht nur eine höchst instruktive Auslegungsgeschichte, sondern vor allem sehr bedeutende rechtsgeschichtliche Wirkungen hervorgebracht. Ihre sachliche Begrenzung muß freilich von vornherein gesehen werden. Sie bezieht sich ausschließlich auf bürgerliche Rechtsstreitigkeiten, welche deswegen auch vor dem staatlichen Gericht ausgetragen werden könnten. Über Ärgernisse und Streitigkeiten zwischen Gliedern der Gemeinde, die diese Gemeinsamkeit in Frage stellen, verhält sich in ganz abweichender Weise in einem bestimmten Verfahren Matth. 18, 15 ff. Darum geht es hier gerade nicht. Deshalb kann auf 1. Kor. 6 gerade nicht die kirchliche Jurisdiktion gegründet werden. Es geht hier nicht um das opus proprium der Kirche, ihre Entscheidung über ihr eigenes Tun und über die Zugehörigkeit zu ihr, welche als Folge auch der Sünde des Bruders gegen den Bruder nach Matt. 18 bei hartnäckigem Sichverschließen in Frage gestellt werden kann: es geht durchaus um Randfragen, welche freilich auch entstehen und geordnet werden sollen. Die hier vorgesehene Schlichtung kann nur mit einem argumentum a maiori ad minus in den Begriff der kirchlichen Jurisdiktion eingeordnet werden. Wenn der Apostel autoritativ, die Gemeinde im Verfahren nach Matth. 18 exkommuniziert, so kann (und soll) die Gemeinde auch schlichten. Es wird hier sehr dringlich gemahnt, aber es ist dennoch keine Rede davon, daß bei Versagen dieser Schlichtung ein Ausschluß oder Selbstausschluß aus der Gemeinde erfolgt. Es ist also 1. Kor. 6 kein locus classicus für ein ohnehin mißtrauisch betrachtetes, und hier ziemlich ungefährliches, weil relativ bedeutungsloses Kirchenrecht. Es ist aber auch kein wesentliches Element für die Begründung kirchlicher Entscheidungsgewalt.
Sehr deutlich sind ausgeführt:
1. Gegenstand
2. Träger des Verfahrens
3. Grundsätze und Maßstäbe.
zu 1: über die Begrenzung auf Streitigkeiten über Mein und Dein wurde schon gesprochen: das Verfahren hat keinen geistlichen Gegenstand, sondern der Streit ist nur in einer den Christen geziemenden Weise, in geistlicher Weise auszutragen.
zu 2: die Gemeinde soll die in ihr Verachteten „niedersetzen” (kathizein), damit sie entscheiden. Andererseits ist zugleich von den Weisen die Rede, die imstande sind, diese Aufgabe zu erfüllen. Sind es also nicht die Geehrten und Bewährten, sondern die Verachteten, die dennoch mit einer Autorität umkleidet werden sollen, so soll darin zum Ausdruck kommen, daß die Gegenstände des Streites es nicht wert
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sind, und eben darum sollen sich die Streitenden diesen in der Gemeinde Zurückstehenden beugen, von ihren Rats annehmen. Andererseits sollen doch „Weise”, Geschickte und Lebenserfahrene diese Aufgabe übernehmen. Es kommt also hier weder die Autorität noch das Charisma des Amtes ins Spiel, sondern andere Gaben, aber diese kraft der Autorität der Gesamtgemeinde und in ihrem Rahmen.
zu 3: daß es sich um Schlichtung und nicht allein um autoritative Entscheidung handelt, geht daraus hervor, daß zugleich gemahnt wird, nicht zu zum Ende zu rechten, sondern auch Unrecht zu leiden. Das Streiten, die Rechtsbehauptung als solche wird in ein kritisches Licht gestellt und als Alternative der Rechtsverzicht dagegen gestellt: dieser aber wieder nicht als striktes Gebot, sondern in der Frageform. Der Ausgleich zwischen beiden wird dem Christen in das Gewissen geschoben. Eben darum wird ihm die Hilfe zum Austrag nicht versagt. Der Rechtsverzicht kann nicht zur Regel gemacht werden: das wäre nur die gesetzliche Umkehrung der Rechtsbehauptung. Der anempfohlene Modus des Verhaltens birgt die dialektische Existenz des Christen in sich. Diese wiederum hat ihren Grund und ihren Horizont in der Existenz der Gemeinde, in der ihr gegebenen eschatologischen Verheißung und ihrer schon gegenwärtigen „Heiligkeit”, d.h. Zugehörigkeit zu Christus und dem neuen Aeon. Das Ganze verlöre seinen Sinn und seine Spannung, wenn es lediglich als eine friedliche, verzichtbereite, sozialpazifistische Individualethik verstanden würde.
Die Kirchenväter haben sich redlich bemüht, diese Gedanken festzuhalten, die Kirche, sie zu verwirklichen. Es ist freilich von vornherein diese Schlichtung nicht die Sache besonderer Beauftragter geworden, wie Paulus meinte; sie wurde zu einem Zweig der bischöflichen Gemeindeleitung. Das bedeutete noch keineswegs eine Preisgabe des Schlichtungsgedankens, wohl aber der Verzicht darauf, den Streitenden den „unteren Weg” der Unterwerfung unter die Verachteten aufzuerlegen oder doch wenigstens diese Fragen wegen ihrer Abwertung abseits und gesondert zu behandeln. Man muß sehen, daß die Forderung dieser Absonderung in praxi schwer zu erfüllen und durchzuhalten ist. Die syrische Didaskalia hält den paulinischen Gedanken der Schlichtung, der Friedensbereitschaft, des Rechtsverzichts durchaus fest. Aber sie weist die Schlichtung doch dem Bischof zu. Alsbald aber tritt hier die von Paulus nicht in Erwägung gezogene Konsequenz auf, daß der streitsüchtige Angreifer, weil nicht versöhnungsbereit, zeitweise ausgeschlossen werden muß und soll. Seine Haltung kann ein Verhältnis hervorrufen, welches nach Matth. 18 zu behandeln ist. Diese Übergang von 1. Kor. 6 auf Matth. 18 kann, gerade wenn man mit der ersteren Stelle ernst macht, nicht überall vermieden werden. Diese Tatsache besteht auch abgesehen von allen historischen Verschiebungen. Sie scheint mir von hoher grundsätzlicher Bedeutung zu sein. Denn sie stellt die Frage
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der Praktikabilität biblischer Weisungen. Auf alle Fälle können solche Weisungen nicht ohne den Gesamtzusammenhang des Gemeindelebens betrachtet werden. Wenn ich recht sehe, hat in der Kirchengeschichte nur eine einzige Kirchengemeinschaft, die böhmischen Brüder, ein besonderes, vom Amt der Kirche gesondertes Schlichtungsamt ausgebildet. Dieses hat dann aber, von der Schlichtung ausgehend, eine Fülle von Aufgaben der Gemeindezucht, aber auch der Lebenshilfe bis zur Wirtschafts- und Berufsberatung erhalten und übernommen. Es ist also wieder stärker an die Verfassung der Gemeinde herangewachsen, als die vielleicht umfassendste Form eines Diakonats. Vischer,51 der auf diese Amtsbildung hinweist, versteht die „Brüder Richter” der Brüder-Unität mehr in der Linie der reformierten Presbyter.
Das bischöfliche Gericht der vorkonstantinischen Zeit hat einen durchaus gemeindeinternen Charakter. Es hält den Gedanken der Schlichtung und des Rechtsverzichts fest. Es bildet deswegen zunächst auch keine eigenen materiellen Rechtsgrundsätze aus. Aber solche entwickeln sich dann doch, wie immer ausgehend von den Verfahrensgrundsätzen. So kann schon bei Basilius d. Gr.52 der „theios nomos” als ein höheres gegenüber den weltlichen „nomina to bio empoliteuoma” verstanden, Recht gegen Recht gestellt werden.
Absonderung und Sonderungsbewußtsein der Gemeinde konnten jedoch mit der zunehmenden Ausbreitung des Christentums, und schließlich mit der Christianisierung des Reichs nicht mehr in der Weise durchgehalten werden, wie sie Paulus voraussetzt. Schon Augustin übt eine umfangreiche Gerichtsbarkeit aus, die jedermann, auch Nichtchristen offensteht, und für diese auf vorgängigen Schiedsvereinbarungen beruht. Der Gedanke der Schlichtung und des Liebesdienstes der Vermittlung wird darum nicht aufgegeben.
Freilich, das Skandalon, Glaubensfremde mit Streitigkeiten zwischen Christen zu befassen, mußte wegfallen, wenn nunmehr christliche Richter in weltlichen Gerichten amteten und in das weltliche Recht Grundsätze des christlichen Glaubens mit beträchtlicher Wirkung eindrangen.
So kann man sagen, das das geistliche Gericht schon durch die Ausdehnung seiner Inanspruchnahme sich verweltlichte, das weltliche Gericht sich verchristlichte. Es entstanden zwei konkurrierende Gerichtsbarkeiten. Dabei war die Stellung des geistlichen Gerichts durchaus doppeldeutig. Es würde (von der hier nicht einschlagenden Ehegerichtsbarkeit ganz abgesehen) einerseits als Belastung empfunden, andererseits wegen beträchtlicher Vorzüge des Verfahrens und des materiellen Rechts von den Rechtsuchenden auch wieder bevorzugt. Der dialektische Charakter der paulinischen Anschauung ging mit der Konkurrenz der Foren und schließlich der scholastischen Unterscheidung von Geboten und evangelischen Räten verloren: der Schlichtungsgedanke blieb erhalten. Er drückt sich noch heute im CIC aus, in welchem Tit-XVIII
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(lib. IV, p. I, sect. II) überschrieben ist: „de modis evitandi iudicium contentiosum” mit der unmittelbar anschließenden Begründung in can. 1925 § 1: „cum valde optandum sit ut lites inter fideles evitentur, iudex exhortationes exhibeat, ut … lis componatur”.
Die verwickelte Geschichte der geistlichen Gerichtsbarkeit braucht hier im einzelnen nicht verfolgt zu werden. Die Auslegungsgeschichte von 1. Kor. 6, wie sie Vischer bietet, ist andererseits unzulänglich, wenn sie die aus diesem Schriftwort entstandenen institutionellen Bildungen nicht gleichzeitig voll berücksichtigt. Die Wirkung von 1. Kor. 6 setzt sich nämlich teilweise im privilegium fori des abendländischen Klerus fort. Der Klerus nimmt kein Recht vom weltlichen Richter, und Recht gegen ihn erhält man nur vom geistlichen Gericht. Kann angesichts der konkurrierenden Gerichtsbarkeiten in Ländern mit christlicher Staatsreligion den Laien die Inanspruchnahme der weltlichen Gericht nicht versagt werden, so doch dem Klerus. Für ihn würden ja auch die Räte gelten! Die paulinische Weisung verwandelt sich echt mittelalterlich in ein persönliches Privileg. Es verbinden sich echt christliche Forderungen mit dem Standesdenken des Mittelalters und den extremsten Formen des Rechtsmißbrauchs: Interdikt und Bann werden benutzt, um die banalsten bürgerlichen Rechtsansprüche der Prälatur gegen Laien durchzusetzen (Interdikt gegen eine Gemeinde, in welcher eine Weinfuhre des Domkapitulars beschlagnahmt worden ist usf.). In diesem Zustand der Verwirrung — verbunden mit einem entschiedenen Versagen der Ehegerichtsbarkeit im Sponsalienrecht und gegenüber den clandestinen Ehen (vgl. Kap. IX) — fand die Reformation die geistliche Gerichtsbarkeit vor. Sie sah sich auf der anderen Seite alsbald schwärmerischen Bewegungen gegenüber, welche Staat und weltliche Gerichtsbarkeit radikal angriffen — sicherlich entgegen den Intentionen des Paulus.
Die Folge für die reformatorische Auslegung und Handhabung von 1. Kor. 6 ist, daß die eigentliche Intention dieser Stelle dahinfällt. „Für Luther gibt es nur zwei Möglichkeiten: Rechtsverzicht oder richterlicher Urteilsspruch (des weltlichen Gerichts). Die Zwischenstufe der Vermittlung innerhalb der Gemeinde fehlt.” (Vischer S. 57). „… weil Luther das Schiedsgericht der Weisen nicht kennt, liegt es ihm auch näher, von den Juristen zu verlangen, daß sie das Recht so handhaben, als ob sie Schiedsmänner wären.” (a.a.O.). Die Dialektik von Rechtsbehauptung und Rechtsverzicht wird ganz in das forum internum des einzelnen Christen verlegt und in ihm aufgelöst: weder für den Rechtsverzicht noch für die Beschreitung des Rechtsweges braucht er ja die Gemeinde. Der einzige konkrete Ausgleich wird dem weltlichen Richter als Christen auferlegt, dessen pflichtgemäßes Urteilen nach striktem Recht unter den Verdacht und das Verdikt der Gesetzlichkeit und des „Buchstabens” gestellt wird. „Wer aber in der Liebe festbleibt und nicht in Rache- und Haßgedanken gerät, darf” — nach Calvin — „sein Recht verfolgen.”
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So endet das Problem in der ususfrage.
So muß Vischer endlich feststellen:
„es ist merkwürdig genug: es ist der reformatorische Auslegung eigentümlich, bei 1. Kor. 6 den Nachweis zu erbringen, daß es gestattet sei, zu prozessieren, auch vor weltlichen Richtern … Es wird niemand bestreiten, daß sie ein Stück weit recht haben. Aber warum mußte diese Wahrheit ausgerechnet an dieser Stelle ausgesprochen werden?” (S. 16 f.).
In der Tat: die klassische Position „zwischen Rom und den Schwärmern” stand nicht nur der Verwirklichung der paulinischen Weisung, sondern schon der schriftgetreuen Auslegung im Wege. Die Aufspaltung in forum internum und äußere weltliche Gerichtsbarkeit, der eine christliche Aufgabe zugewiesen und unterschoben wird (so wie dem fürstlichen Kirchenregiment), ist höchst charakteristisch. Damit gingen für Jahrhunderte der eschatologische Horizont der paulinischen Weisung wie deren Gemeindebezogenheit verloren. So konnte man weder den biblisch-legitimen Anliegen der Schwärmer genügen, noch die Bereitschaft erweisen, verantwortlich alles zu tun, was nach der Heiligen Schrift der Kirche zukommt, die Konsequenzen aus der vielberufenen congregatio zu ziehen. Dazu hätte es der Ausbildung der Gemeindezucht in neuen Formen und mit neuen Organen bedurft, wie es — freilich in einer ausgesprochenen Minderheitssituation — die böhmischen Brüder getan hatten. Im Gegensatz dazu verlor sich unter dem neuen Pathos der Weltlichkeit das Sonderungsbewußtsein oder wurde in eine Innerlichkeit verlegt, deren Inkonkretheit Paulus ganz fremd gewesen ist.
In dieser Linie verlief bis in die Moderne Auslegung und Anwendung der Stelle. Erst in neuerer Zeit ist ihre Gemeindebezogenheit und ihr dialektischer Charakter wieder entdeckt worden — ein Beispiel, wie wenig die subjektiv redliche Schrifttheologie als solche den Verlust biblischer Erkenntnisse bei noch so evidentem Textinhalt verhindern kann. Das dialektische Verhältnis von Rechtsnahme und Rechtsverzicht hat besonders Erich Dinkler in einem Aufsatz „Zum Problem der Ethik bei Paulus” 53 scharf herausgearbeitet, freilich unter Vernachlässigung des Gemeindebezugs, so daß Vischer diese Arbeit trotzdem als einen Rückschritt bewertet. Das entspricht genau der Lage, die wir auch bei Käsemann wiederfinden: die Existenztheologie erlaubt mit der Kategorie der Entscheidung im Gegensatz zum Liberalismus die Erfassung auch bisher verdeckter und geleugneter Rechtsphänomene in der Schrift, besitzt jedoch keinen Anknüpfungspunkt für die Gemeinschaftsdimension. Die Exegese bringt Rechtselemente aus der Schrift zutage, genau so viel und in der Art, wie es das philosophische Vorverständnis erlaubt.
Die paulinische Weisung trifft heute auf eine Lage, in der sowohl die Struktur der Gemeinde wie die Funktion der Rechtsprechung in einer auch für unser Problem bedeutsamen Weise verändert ist. Es muß
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betont werden, daß 1. Kor. 6 sachlich Matth. 18 nachgeordnet ist. Gelingt es der Kirche, auf Grund des neu sich bildenden Gemeinschafts- und Sonderungsbewußtseins eine effektive Kirchenzucht so aufzubauen, daß gemeinschaftsbedrohende Streitigkeiten in der Linie von Matth. 18 wirksam und verbindlich ausgetragen werden, so hat sie viel erreicht. Erst dann kann sie eigentlich prüfen, ob sie 1. Kor. 6 unter heutigen Bedingungen verwirklichen kann, soviel sie gewiß jederzeit im Einzelfall zu schlichten vorfinden mag.
Zur Rechtsstruktur dieser Sätze im ganzen sagt Campenhausen:
„Als geschichtliche Botschaft von dem, was Gott für den Menschen getan hat, trägt das Evangelium keinen Forderungscharakter und ist seiner Substanz nach insofern nicht juristisch zu verstehen. Aber ihm entspricht doch die Forderung und Erwartung eines neuen Lebens und Verhaltens, das auch sehr wohl umschrieben und dessen Grenzen von Fall zu Fall auch festgelegt werden können. Diese Festlegung erfolgt bei Paulus noch ohne jede Reflexion auf die künftige Entwicklung, …, den relativen oder absoluten Charakter des in dieser Weise sich bildenden Kirchenrechts … Sein Interesse geht … dahin, sie nach Möglichkeit durch die Anführung noch anderer rechtlicher Grundsätze, Normen und Argumente weiter zu befestigen. Paulus hat, so gesehen, durchaus keine Aversion gegen das Recht …” (a.a.O. S. 34).
Es herrscht also kein Purismus des geistlich-kirchlichen Rechts — nicht aus der konkreten Einzellage heraus allein, sondern auch aus kirchlichem Brauch, nicht aus geistlichen Gründen allein, sondern auch aus natürlich-vernünftigem Empfinden wird entschieden.
Mit dieser Formel hält Campenhausen freilich an einem einseitig imperativen Rechtsbegriff fest. Aber seine Umschreibung selbst liefert die Gedanken, um diese Sicht richtigzustellen. „Was Gott für den Menschen getan hat” — eben dies ist Rechtsgrund und Rechtstatsache, aus der erst die Möglichkeit einer konkreten Forderung sich ergibt. Die Gnade ist die Bedingung der Möglichkeit des Anspruchs. Daß dieser Anspruch mehr umschrieben als formuliert, aber von seinen Grenzen her und an seinen Grenzen sichtbar gemacht werden kann, liegt eben an der noch zu entwickelnden Tatsache, daß dieser Rechtsakt der Gnade in einen Raum der Freiheit setzt. Deshalb gründen sich die hier konkret erhebbaren Forderungen nicht auf die Postulate der Vernunft, sondern auf das gnädige Handeln Gottes, der mit dem Menschen Gemeinschaft gemacht hat. So führt die Exegese selbst Campenhausen zu den Elementen eines hier gegebenen Rechtsbegriffs, wenn nur der Schlüssel zu ihrer Einheit gewonnen wird. Nicht nur die Paränese als außerordentliche Anrede, sondern eben alles, was sich hier als rechtlich qualifizieren läßt, steht in der von Campenhausen in Erinnerung gebrachten „Rückbeziehung aller Hortative und Imperative auf einen grundlegenden Indikativ des geschenkten Heils” (S. 30). Weil das Recht von Fakten
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ausgeht und nicht von Forderungen, deshalb steht es dem Evangelium immer noch näher als jedes, auch das höchste System ethischer Forderungen.
Mit dieser Aussage über Grund und Inhalt dieses Rechts ist
freilich über Subjekt und Struktur dieses Rechtes noch nicht
genügend ausgesagt. Diese Rechtssätze haben ihre Einheit darin,
daß es
1. autoritative Entscheidungen des Apostels als Gemeindegründers
sind, der abwesend eine gegenwärtige Befugnis und Verpflichtung
zum Eingreifen voraussetzt, und daß sich
2. diese Entscheidungen auf die Gemeinde beziehen,
welche durch Befolgung und Nichtbefolgung als solche, in ihrem
geistlichen Gefüge berührt und verändert wird, so unterschiedlich
die einzelnen Weisungen, so ungleich offenkundig ihre Bedeutung
sub specie aeternitatis sind.
II.
In dieser unterschiedlichen Gewichtigkeit tragen doch alle Anweisungen den Charakter des Urteils, welches von der Gemeinde angenommen und befolgt werden will, wobei in der Urteilsbegründung sehr verschiedene Beweisgründe verbunden sind. Schärfer als Campenhausen stellt Käsemann die Frage nach dieser Struktur des Urteilens. Er beschreibt sie wie folgt:
„Wenn man das im 1. Kor. 5 zweifellos begegnende Recht bestimmen will, muß man in anderen Kategorien als denen des Sakral- und Disziplinarrechts denken, genauer in denen, die uns religionsgeschichtlich aus der Sphäre des Ordals vertraut sind. Es geht um ein Gottesrecht, in welchem Gott selber der Handelnde bleibt, und das, sofern Gott es durch Charismatiker verkünden und vollziehen läßt, auch charismatisches Recht genannt werden mag. Das für die Urchristenheit Charakteristische aber ist die Bezogenheit auf das jüngste Gericht, also seine eschatologische Orientierung. Der vor der Tür stehende Weltenrichter begründet das hier ins Auge gefaßte Recht und seine Eigenart, das damit zu einer Funktion des Geistes wird. Es ist einer der folgenschwersten Irrtümer des Liberalismus, daß er Geist und Recht voneinander schied. Da Paulus beide zueinander zuordnet, mußte von da aus die ganze paulinische Theologie modifiziert werden.” 54
Käsemann verweist zunächst auf den 1. Kor. 3, 17 deutlichen Talionsgedanken, eine konditionale Formulierung im Stil des vergeltenden Strafgesetzes. „Die Proklamation des Gesetzes, nach welchem Gott an seinem Tage handeln wird, bedeutet für sie, daß sie sich dereinst nicht entschuldigen können. Sie sind fortan mit ihrer Schuld behaftet. Die Verkündigung des Gerichtes ist darum mehr als eine Androhung. In ihr vollzieht sich bereits ein Gerichtetwerden. Das Wort des
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Charismatikers … nimmt den Urteilsspruch des letzten Richters vorweg. Der Zusammenhang beweist jedoch, daß das eigenartig dialektisch geschieht. Denn es wird ja eben nicht das Tribunal des jüngsten Tages auf Erden inszeniert und Gottes eigenes Handeln überflüssig gemacht. Der Prophet gibt einzig die Sicht auf dieses Tribunal frei und stellt den Schuldigen damit in die Entscheidung. Wer sich jetzt richten läßt, wird dem Gericht nicht endgültig verfallen.”
Käsemann belegt diesen Gedanken mit verschiedenen Stellen: 1. Kor. 14, 38; 16, 22, Gal. 1, 9. Er führt diesen Gedanken der konditionalen, praesent wirksamen Gerichtsdrohung noch um einen Schritt weiter in der Auslegung der unbedingten Verurteilung des Blutschänders, deren formeller Verfahrenscharakter ihm unzweifelhaft erscheint (1. Kor. 5). „Die Übergabe an den Satan (als die Macht des Todes) bedeutet zwar den Ausschluß aus der Gemeinde, aber keineswegs, daß man den Sünder einfach sich selbst überließe. Indem er dem Satan übergeben wird, gerät er nur auf andere Weise als bisher in die Hände seines Herrn, nämlich in den Bereich der orgé theou, und auch dies sehr paradox zu dem Zwecke, daß er auf solche Weise vielleicht doch noch gerettet werde … Die Gemeinde scheidet vom Christusleib als dem Bereich der Gnade Gottes, aber sie kann das Geschehen der Taufe nicht annullieren und das Recht des Herrn auf den in der Taufe von ihm Beschlagnahmten … nicht einschränken. Im Gegenteil, sie gibt, gerade wenn sie in ihrem Handeln das Tun des Weltenrichters vorwegnimmt dem deus absconditus Freiheit, sein begonnenes Werk zu vollenden. Der Ausschluß aus dem Christusleib steht immer noch im Dienste des Heils, das sich als Gnade im Gericht offenbart.”
Das Wesen das Ordals besteht nun darin, daß die Entscheidung Gottes als Alternative klargestellt wird, welche dann durch ein erwartetes Zeichen, etwa durch den Sieg im Zweikampf, die Unverletztheit in der Feuerprobe entschieden werden soll. Deshalb kann sich hier der Ordalgedanke nicht auf den in 1. Kor. 5 unbedingt „durch dekretalen Jussiv” (!) Ausgeschlossenen beziehen. Von seiner Entscheidung, etwa von seiner Bekehrung ist hier nicht die Rede. Er hat den Tempel geschändet. Wenn sich hier jemand zu entscheiden hat, dann ist es die Gemeinde. „Wer nicht anerkennt, der ist verworfen.” „Die Wahrung dessen, was wir Ordnung nennen und Paulus nicht zufällig statt dessen als eiréne bezeichnet, ist eine Angelegenheit, mit welcher sich der jüngste Tag befassen wird. Steht darin doch Bestand und Wirksamkeit des Christusleibes auf dem Spiel. Im Horizont des eschatologischen Rechtes fällt der Apostel seine Entscheidungen über dem Gemeindeleben. Auch über ihnen könnte es wie in Acta 15, 28 heißen: Es hat dem Heiligen Geist und uns gefallen”…
„Seine Dekrete sind sakrosankt und können nicht problematisiert werden. Aber nur die verstehende Liebe erfüllt sie wirklich. Die Liebe ist
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hier nicht Ersatz des Rechtes, sondern seine Radikalisierung” (255).
Das systematisch-theologische Interesse, welches diese Exegesen ermöglicht und freigesetzt hat, ist der Entscheidungsgedanke der Existenztheologie, der nur in der rechtlichen Zuspitzung für und gegen Gottes Recht seine wirklich unüberbietbare Formulierung erfahren kann. Nicht der Aufruf, der zu hören ist und dann hinterher in irgendeinem Handeln zur Entscheidung führt, sondern der praesente Anspruch auf Gehorsam konzentriert dergestalt den Vorgang. Von einer älteren systematischen Voraussetzung aus interpretiert Campenhausen die Stellen ungleich harmloser und beurteilt Käsemanns Deutung als Übertreibung. Käsemanns Stellung ist auch ungleich radikaler als Bultmanns schwacher Kompromiß. Von „regulativem” Kirchenrecht kann hier jedenfalls keine Rede mehr sein.
Käsemann setzt sich nun gegen die spätere kirchenrechtliche Entwicklung dadurch ab, daß er einen grundlegenden Stilwandel durch den Fortfall der eschatologischen Naherwartung schon im N.T. glaubt feststellen zu können. Nur steht jetzt nicht mehr eine rechtsfreie Kirche in der Naherwartung, und eine rechtlich verfaßte unter der Parusieverzögerung, sondern in beiden Epochen entsteht und besteht ein wesentlich verschieden strukturiertes Recht. Der Gegensatz erscheint teils als relativer: die anthropologische Tiefe werde „durch die soziologische Ausdehnung in den Schatten gestellt” (260) — teils als absoluter: „Die Urchristenheit habe das in ihr geltende Recht als Begründung des Gehorsams verstanden — nicht die Ordnung des rechten Verhältnisses zwischen Schöpfer und Geschöpf ist das Ziel des Rechtes”.
Die scharfsinnige Darstellung verläßt damit ihre bisherige Höhe. Der kontradiktorische Gegensatz wird zur Verzerrung des Tatbestandes. Denn so wenig Elemente eines sehr wirksamen formalen Ordnungsgedankens, etwa bei Clemens Romanus, bestritten werden können, so wenig sind diese geeignet, die spätere Entwicklung im Ganzen zu kennzeichnen und in ihren Triebkräften zu erklären. Die Kritik läuft auf das unzulängliche Schema von Form und Inhalt hinaus. Die Entwicklung des altkirchlichen Sakramentsrechtes einschließlich derjenigen Formen, die wir als Mißbildungen beurteilen müssen, ist aus dem Gesichtspunkt der formellen Ordnung schlechterdings unverständlich. Ist der Ordnungsgedanke aber nicht als primärer, tragender erweislich, sondern nur ein belastender Einschlag bis zu einem verhärtenden Sekuritätsstreben, so erledigt sich die Konzeption, welche mit dem Mythos des Abfalls in die Rechtskirche nahe verwandt ist. Nimmt man diese Anschauung ernst, so bedeutet sie, daß die Veränderung des Glaubenshorizontes aus der Naherwartung in die Fernerwartung letzten Endes die Identität der Gemeinde in der Geschichte aufhebt. Die fides quae konstituiert durch die fides qua hindurch die Gemeinde. Wer anders
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glaubt, ist ein anderer. Die Personalität wird identisch mit Struktur und Inhalt des Bewußtseins. Die Personalität des Heiligen Geistes, wie des Leibes Christi wird von Grund auf in Frage gestellt. Sind dann etwa auch die Sakramente andere, konstituiert durch unser Verständnis, durch unseren Zeitbegriff? Infolge des Schismas zwischen Exegeten und Systematikern bleibt diese Frage unbeantwortet, wie denn auch die Mitwirkung einer theologisch engagierten Rechtswissenschaft zur Durchforschung der terra nova des Heiligen Rechtes fehlt. Statt den Zeitbegriff zu überprüfen, der dem Gegensatz zwischen Naherwartung und Fernerwartung zugrunde liegt, wird die Praesenz der Naherwartung in einen punktuellen, aktualistischen Gechichtsbegriff umgedeutet und in gewisser Weise repristiniert. Dabei fällt die Geschichte der Kirche als der Raum der Erfahrung der Gemeinde mit dem Heiligen Geist, fällt ihre Erstreckung als Vorgang ins Wesenlose dahin. Beide, Campenhausen wie Käsemann, erweisen gegen die liberale These von der Trennung von Kirche und Recht einen rechtlichen Ursprungsbestand in der Heiligen Schrift, der mit der immer weiteren Vorverlegung des „Frühkatholizismus” nicht beseitigt werden kann.55 Dieser Gedanke kann sich allerdings so nur selbst ad absurdum führen. Das juristische Trauma bedingt eine Vorentscheidung gegen Erkenntnisse auf diesem Felde, die deshalb abgebogen werden müssen. Solche psychologische Tatbestände können mit rationalen Beweisgründen erst in letzter Linie angegriffen werden. Der auslaufende ethische und der virulente existenzielle Liberalismus bedingen die verschiedenen Interpretationen.
Rechtlich stellen sich die Entscheidungen des Apostels als jurisdiktionelle Entscheidungen auf der Grundlage des Missionsrechts dar, welches dem Missionar eine fortdauernde Autorität über die gegründeten Gemeinden gewährt, und zu denen er ein Höchstmaß von Legitimation besitzt. Sie beziehen sich auf eine bereits konstituierte Gemeinde, welche Ämter hat und hervorbringen könnte, wie jene Richter, welche einen regelmäßigen Gottesdienst übt, dessen Ordnung der Apostel dergestalt korrigiert. Über beides erfahren wir wenig oder nichts und sind darauf angewiesen, wie mit gebotener Vorsicht aus den Acta und den Pastoralbriefen zu erschließen. Dies aber sind gerade die in erster Linie kirchenrechtlich interessierenden Fragen. Es ist das Verdienst beider Darstellungen, die gleichmäßige Beziehung aller dieser Fragen auf die Auferbauung, ja auf den Bestand der Gemeinde deutlich gemacht zu haben. An einer wichtigen Stelle bei Käsemann leuchtet die Gesamtstruktur der Gemeinde deutlich auf, wenn er sagt:
„Wichtig ist nur, daß die Stimme des Geistes durch den Propheten und Apostel überhaupt zu Gehör kommt und von der Gemeinden mit ihrer Akklamation bestätigt wird.” (252).
Der Vorgang dieses Zusammentreffens bildet seither Thema und Problem des Kirchenrechts.
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Der Rechtsgedanke des Prozesses spielt bei Rudolf Bultmann56 eine große Rolle. An etwa einem Dutzend Stellen wird er länger und kürzer erörtert. Aber mit Ausnahme der Interpretation des Prozesses Jesu, in der bedeutsame Aussagen über das Verhältnis von Gott und Staat gemacht werden,57 gewinnt dieses ausdrücklich als „ständiges” bezeichnete Bild58 doch erstaunlich wenig Farbe. Es ist auf einige Hauptpunkte reduziert: eine dialektische Position und Antiposition Jesu und der Juden als Richter bzw. Angeklagten, und das Urteil (in präsentischer Eschatologie). Das aus dem Begriff nicht wegzunehmende „pro-cedere”, das Vorwärtsschreiten, der Vorgangscharakter tritt nicht hervor. So gibt es eine zeitlose Entscheidungssituation mit dem schon gegebenen, wenn auch noch verborgenen Urteil (kekritai, nenikeka ton kosmon) und einen historischen Prozeß Jesu vor Pilatus, eine existenzielle Entscheidung und einen historischen Prozeß. Aber der Zusammenhang beider wird bei alledem nicht deutlich. Im Grunde fallen sie auseinander. Andererseits fallen die dialektische Entscheidungssituation und das Urteil (juristisch wie in einem bedingten Endurteil, das von der Eidesleistung abhängt, oder im Gottesurteil) zusammen. Wer sich so oder so entscheidet, auch in der Stellungnahme der Prozeßrede, ist schon gerichtet. D.h.: der Prozeß ist gar kein Prozeß, sondern geht in der Entscheidung auf. Infolgedessen tritt ebenso zurück, daß die Entscheidung als solche lediglich ein diakritischer Punkt ist, der zu etwas führt, zu einer neuen Rechtslage, einer neuen Gemeinschaft, zu einer das Urteil selbst transzendierenden Situation. Ist schon der Weg zur Entscheidung als solcher unwesentlich und wird er in die Entscheidungssituation hineingezogen, so wird der Inhalt der Entscheidung in die Entscheidung selbst hineingezogen und damit formalisiert. Es ist juristisch ein Dezisionismus, der wie jeder Dezisionismus dem Zwang der Formalisierung unterliegt. Von dem so lebhaft aufgenommenen Rechtsbild werden doch nur die Züge adaptiert, die in die Kategorien eines bestimmten Existenzverständnisses passen. So wenig wie Barth läßt sich Bultmann von dem Sinngehalt des übernommenen Rechtsbildes zu einer Stellungnahme veranlassen; was Recht ist, bestimmt in der Theologie der Theologe souverän selbst.
Mit der Absolutsetzung der Entscheidungskategorie ist auch der individualistische Charakter der Gesamtanschauung gegeben, so daß Bultmann (sehr entgegen den Deutungen von Käsemann in „Leib und Leib Christi”) für Paulus sagen kann, die Vorstellung vom Heil sei am Individuum orientiert.59 Mit der Absolutsetzung der Entscheidungskategorie ist das Übergewicht des jurisdiktionellen Typus in der abendländischen Theologie zum begrifflichen Ende gebracht. Damit sind zugleich die Tendenzen des Idealismus (Auflösung der Sache in das Bewußtsein) fortgesetzt.60