1. Die Rechtsstruktur personaler Bezüge

Die Allgemeinheit der Begriffe „Kirche” und „Recht” hat der Klärung der Grundlagenproblematik des Kirchenrechts und der Ausbildung spezifischer Begriffe des Kirchenrechts entgegengestanden. Sie hat aber auch den echtesten Einwand gegen die Möglichkeit eigenständigen Kirchenrechts fast verdeckt — die tiefbegründete und ernstzunehmende Meinung, es könne das Gottesverhältnis als innerstes, intimstes mit der Dimension des Rechts sinngemäß, ohne Verzerrung nicht in Verbindung gebracht werden. Eben diese Behauptung ist unabhängig von allen Abstraktionen und Generalbegriffen der wesentliche Grund der Kirchenrechtsbestreitung in ihren verschiedenen Formen und Graden. Sohm hat diese Frage gestellt und Hans Barion sie in seiner Studie über Sohm herausgeschält. Und doch ist dieser Frage als solche kaum in der Sache selbst untersucht worden. Noch immer steht über jeder Kirchenrechtsarbeit und in jeder die große Gestalt Sohns, faszinierend durch seine überlegene Kenntnis der Geschichte seines Faches, herzbewegend in der

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Tiefe seiner Glaubensleidenschaft, aus der dieser größte Kenner des Kirchenrechts die Nichtigkeit und Verfehltheit des Gegenstandes seiner bedeutendsten Lebensarbeit zu verfechten die Entschlossenheit hatte. Es ist trotz Emil Brunner1 kein Zweifel, daß Sohm irrte — Theologisch wie juristisch — und dennoch kann niemand an seinem Lebenswerk vorbeigehen. Diese seine eigentlichste Frage redlich zu beantworten, ist die beste Ehrung, die man ihm erweisen kann.

Man kann diese Problem, als Grenzfrage gefast, auch dahin formulieren: wodurch und an welchem Punkt wird ein annahmeweise außerrechtlicher Bezug unzweifelhaft zum rechtlichen? Wir setzen als einen solchen hypothetisch rechtsfreien Bezug die geschlechtliche Liebe. Nun entsteht der Eros mit mächtiger Ausschließlichkeit im Verborgenen und zielt wieder auf eine intime Verborgenheit. Dennoch findet er seine institutionelle Verfassung in der Ehe. Diese ist so sehr Recht, daß Recht und Ehe in den germanischen Sprachen durch Worte aus dem gleichen Wortstamm ausgedrückt werden konnten. Außerrechtliche Ehe ist ein Widerspruch in sich selbst. Das heißt noch nicht, daß die Rechtsehe eine formell exklusive Herrschaft erlangt. Es gibt von jeher auch langfristige, außerrechtliche Geschlechtsverbindungen neben der Ehe. Aber auch sie bilden statusrechtliche Merkmale aus, sie stellen die zentrale Bedeutung und Vorrangigkeit der Rechtsehe nicht in Frage. Worin aber liegt die Triebkraft, die den Widerspruch zwischen der Abgeschiedenheit und Aussonderung, der Intimität und der Rechtsform der öffentlichen Ehe überwindet? Worin liegt mit ihrem Grunde auch ihr wesentliches Merkmal?

Was den Eros rechtsfähig macht, sind die Drittbezüge, die er begründet. Es sind deren drei:
1. In dem Maße und der Entschiedenheit, in der sich die Partner erwählen und einander zuwenden, erfolgt zugleich eine Absonderung aus dem Kreise aller übrigen, innerhalb dessen bis dahin freie Wahlmöglichkeit bestand. Diese Wahlentscheidung fordert aber zweierlei:
a) Respektierung der geschehenen Wahl, so daß jetzt eine Einwirkung auf diese Gemeinschaft der einander Zugewandten ausgeschlossen wird.
b) Positive Anerkennung und Wertung des geschaffenen Zuordnungsverhältnisses durch alle Übrigen als durchhaltende Gegebenheit, als status.
2. Sodann ergibt sich das Verhältnis zu den Kindern: die Partner werden für die Folgen ihres Umgangs verantwortlich gemacht und beanspruchen andererseits für ihre Kinder die Anerkennung der Rechtmäßigkeit2.
3. Als weiterer Drittbezug ist das Verhältnis zu den beiderseitigen Eltern und Sippen vorgegeben. Jedes Paar kommt davon her, daß von ihm die gleiche Verbindung sich vollzogen hat, daß beide Kinder von

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Eltern sind, und muß sich zu dieser Tatsache verhalten. Das steht in Spannung dazu, daß zugleich immer ein radikal neuer Einsatz in jeder Generation erfolgt. Das tiefe Wort der Genesis, daß der Mann Vater und Mutter verlassen und dem Weibe anhangen soll, drückt das aus3. Es ist bemerkenswert, daß dies dem initiativen Teil, dem Manne allein, nicht dem Weibe und nicht beiden zusammen gesagt wird.

Es sind drei Bezüge, welche als Drittverhältnis, als zugleich negative und positive Wirkungen in Raum und Zeit, in drei Richtungen und Zeiten erscheinen: das Verhältnis zu jenen, die vor uns, die mit uns und die nach uns sind, wie zu denen, die über uns sind, die uns wesentlich gleichgeordnet und die uns anvertraut sind.

Diese Drittwirkungen und Drittbezüge machen das als außerrechtlich Gedachte auf alle Fälle zum rechtlichen. Sie zeigen darüber hinaus, daß der Bezug selbst in der Struktur seiner Entstehung, und nicht erst in seinen Wirkungen, aus der rechtlichen Betrachtung nicht abzulösen ist. Es ist eben nur hypothetisch angenommen, daß dieser Bezug wirklich außerrechtlich ist. Das Herkommen von konkreten Eltern, der Rechtsstatus der Kindhaft, bestimmt auch ihn. Deshalb ist auch die Bindung der Geschlechter bis in die Gegenwart hinein nicht nur vom konventionellen Herkommen, sondern von konkreten Mitwirkungsrechten der Eltern und Familien abhängig gewesen. Ein wesentlicher Unterschied zwischen der lutherischen und der katholischen Ehelehre war es im 16. Jahrhundert, daß die katholische Ehelehre auf dem nudus consensus aufbaute, also den Partnern eine herkommensfreie Selbstbindung zugestand4, während Luther mit Leidenschaft die Kinder anhielt, die Mitwirkung der Eltern zu respektieren5. Aber nicht nur diese autoritäre Fremdbestimmung, sondern auch die spätere Selbstbestimmung der Partner vollzieht sich im Rechtsraum, ist Autonomie der Selbstentfaltung, die nicht an sich besteht, sondern im geschichtlichen Rechtsgefüge begründet ist. Wer sich hier aktiv entscheidet, muß sui juris sein.

Der im Ansatz scheinbar völlig rechtsfreie Geschlechtsbezug wird unterbildet und entartet, wenn er nicht zur sichtbaren Rechtsform gedeiht. Wiewohl er zuerst in der Intimsphäre entsteht, kommt er zur Ganzheit nur in jener rechtlichen Öffentlichkeit. Das freie Liebesverhältnis muß, wenn es nicht zur Ehe kommt, je länger je mehr wesentliche Bereiche des beiderseitigen Lebens ausschließen und sich dadurch verengen. Der eigene Verzicht auf rechtliche Bindung und Anerkennung wirkt weiter in der Illegitimität der Kinder wie in dem sonstigen Ausfall rechtlich-sozialer Funktionen der Ehe. Andererseits kann die Ehe nicht allein von der Drittwirkung aufgebaut werden. Die Ehekritik um die Jahrhundertwende griff mit Recht aus konventionellen und Standesrücksichten geschlossene, also von außen her gegründete Ehen an. Aber sie verkannte die Notwendigkeit der Rechtsehe. Die immer vorhandenen außerrechtlichen Verhältnisse leben davon, daß sie nicht die Regel sind, und daß

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in der Regel die Drittbezüge in ihrer rechtlichen Struktur durchgehalten werden. Wer meint, ein höheres Ethos durch die Vermeidung der Verrechtlichung der Intimsphäre leben zu können, lebt in Wahrheit nur auf Kosten derer, die er mißachtet. Der rechtsfeindliche Spiritualismus ist ein sublimer Egoismus. Nur die vorbehaltlose Anerkennung der Regel ermöglicht die Ausnahme.

Nach Kaser6 ist die römische Ehe kein Rechtsverhältnis, sondern eine soziale Tatsache, an welche früh rechtliche Reflexwirkungen anknüpfen. Auch der Eheconsens sei kein Rechtsgeschäft, sondern der Dauerzustand beiderseitiger Ehegesinnung. Aber neben vielfältigem Brauchtum erfordert die Ehe doch die deductio in domum, die Heimführung. Die Frau erlangt den „honor matrimonii”, d.h. die öffentliche Anerkennung als Ehefrau, die Kinder die eheliche Abkunft. Die Intention des Consensus geht auf lebenslängliche, monogamische Verbindung und häusliche Gemeinschaft. Rechtscharakter hat nach Käser das Verlöbnis, das Versprechen, zur Ehe zu geben bzw. zu nehmen. Zum Consensus kommt, aber nicht immer, die rechtliche conventio in manum als Selbstübergabe in die Schutzgewalt des Mannes hinzu. Diese Anschauung weist also Eheschließung und Ehebindung im Gegensatz zur früheren romantischen Literatur statt dem Recht der Sitte zu. Aber was diese Bindung hervorbringt, ist nicht anders als statusrechtlich zu beschreiben. Das Statusrecht steht in der Tat der Sitte sehr viel näher als das Forderungsrecht und kann sich ihr bis zur Ununterschiedbarkeit annähern. Andererseits können jene konstituierenden Elemente nicht einfach verändert werden, und der Akt der (Verstoßungs-)Scheidung ist kaum anders zu begreifen denn als rechtsgestaltender, als Rechts-Akt, der mit einem Mal den bisherigen Status verändert. Im Fortgang hat das römische Recht nicht weniger als andere Rechte die Ehe als Rechtsgemeinschaft aufgefaßt, die die berühmte Digestenstelle „divini et humani juris communicatio” zeigt.

Kasers Anschauung, die weitgehend eine Frage der Terminologie ist, vorausgesetzt, kämen wir zu dem verblüffenden Ergebnis, daß der Rechtscharakter der Ehe, wie er es auch andeutet, eine Sache des christlichen Einflusses, und diese Verrechtlichung auf alle Fälle nicht eine solche eines Romanismus ist. Die Energie, mit der das Christentum von den radikalen Aussagen Jesu und der paulinischen Paränese an die Unverbrüchlichkeit und Totalität der Ehe hervorgehoben hat (auch im Gegensatz zum jüdischen Scheidungsrecht), hätte dann die unumkehrbare Geschichtlichkeit der Ehebindung mit einzigartigem Gewicht herausgestellt, die konkret nicht ohne die Dimension des  Rechts begriffen und ausgedrückt werden kann. Dies, und nicht die von Käser in Vergleich gezogene moderne Umbildung der Ehegemeinschaft in einen Inbegriff von wechselseitigen Rechten und Pflichten, stände dann der römischen Ehe gegenüber. Wir haben also nur die Wahl, eine Genesis des Rechtes aus der intimen Bindung typisch und generell auch unter Einschluß

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etwaiger römisch-rechtlicher Besonderheiten oder eine einzigartige neutestamentliche Auszeichnung der Ehe als alle Dimensionen des Zusammenlebens umgreifend anzunehmen, als eine Existenzerhellung, welche diese Existenz zugleich radikal verwandelt. Für unsere Fragen ist der Ertrag wohl der gleiche.

Die Frage der Drittwirkung ist nun von grundlegender Bedeutung für das Kirchenrecht. Das Gottesverhältnis als materialer Grundbezug wendet sich zunächst mit größter Entschiedenheit gegen die Drittwirkungen. Es wird gefordert, sich von Eltern, Geschwistern, Kindern loszusagen, also alle Drittbezüge preiszugeben, welche elementar das Leben im Geschlechtsverband konstituieren. Auch folgt aus der Negation der natürlichen Drittbindungen nicht ohne weiteres dialektisch die Position eines neuen Drittverhältnisses. Solange sich hier allein Gott und der Mensch in einsamer Zweisamkeit gegenüberstehen, fehlt es also radikal am Dritten. Eine bestimmte Deutung des augustinischen „Gott und die Seele — sonst nichts” hat zu dieser Folgerung geführt. Aber eben hier unterscheidet sich der christliche glaube radikal von Mystik, natürlicher und Volksreligion, ja auch gerade von Judentum und Islam. Alle übrige Religion bedeutet ein Zweierverhältnis, vermittelt durch Menschen, die dem Vermögen des gottsuchenden Gläubigen Entscheidendes nicht voraus haben können, keinesfalls etwas Hinreichendes, um zwischen Gott und Mensch ein Drittverhältnis herzustellen. Eben dies Einzigartige ist in dem Glauben an die Fleischwerdung Gottes in die volle Mitmenschlichkeit behauptet. Diese bewahrt als Entscheidendes der christliche Glaube. Damit aber ist das allein mögliche Drittverhältnis geschaffen, damit tritt auch zugleich der Gedanke der Stellvertretung, des stellvertretenden Leidens, der Vermittlung der Rechtfertigung auf — und dies sind Rechtsgedanken, die sich von da aus in breiter Fülle entfalten. Erst durch die Trinitätslehre, in dem Verhältnis Vater-Sohn-Mensch im Geiste ist ein theologisch relevanter Drittbezug geschaffen.

Damit ist aber zugleich die Basis des Kirchenrechts in zweifacher Weise gegeben: in jenem Drittbezug wie im Verhältnis zum Nächsten, welches in radikaler Weise dem Gottesverhältnis gleichgestellt wird. Parallel zum Drittverhältnis in der Wendung ad deum wird jeder einzelne in das Mittlerverhältnis zwischen Gott und den Menschen gestellt. Die Liebe im Herrn stellt jeden einzelnen in die Mittlerstellung und begründet daher wieder ein Drittverhältnis. Was zwischen Gott und dem Glaubenden geschieht, begründet zugleich ein Verhältnis zum Nächsten. Zweitens und umgekehrt aber geht die Botschaft Jesu in Missionsbefehl und Schlüsselgewalt auf die Jünger über. Der Glaubensanspruch und die Wirkung des Handelns zwischen Jüngern und Missionsgemeinde ist von Rückwirkung auf das Verhältnis der Hörer zu Gott. Ob ich ihrer Botschaft glaube, entscheidet über mein Gottesverhältnis. Mehr noch, ihnen ist Gewalt zu binden und zu lösen gegeben. Daß ihre im Geist

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vollzogene Entscheidung vor Gott gültig ist, ist ohne Zweifel die Meinung der Schrift, so anstößig dies gegenüber der Annahme einer ausschließlichen Direktheit des Gottesverhältnisses erscheint. Wären hier nicht überall Drittbezüge, so könnte nicht von einer Fortpflanzung des Glaubens, so könnte nicht von der Rechtfertigung durch den Glauben in Rechtskategorien geredet werden.

Demnach liegt die Lebenskraft des Kirchenrechts nicht in spezifischen kirchlichen Ordnungsvorstellungen oder in der religionsgeschichtlichen Tradition des Priestertums, in der bloßen soziologischen Folgewirkung der Gemeindebildung, auch nicht in der juristischen Genialität der großen vom Christentum erfaßten Rechtsvölker, der Griechen, Römer, Germanen7. Die virtus iuris canonici liegt in dem, was das Christentum von aller Religion, auch von aller anderen sich so verstehenden Offenbarungsreligion unterscheidet, in der Trinitätslehre. Deswegen haben auch Judentum und Islam keine dem Kirchenrecht analoge und geistig gleichwertige Erscheinung entwickelt. Die Gegenprobe bildet die Tatsache, daß der Verlust der Trinitätslehre zur Reduktion oder Verneinung des Kirchenrechts führt. Wo die Bezüge, welche die orthodoxe Trinitätslehre auszudrücken unternimmt und die etwa Barth in der Interpretation des altkirchlichen Dogmas neu ausgelegt hat, zugunsten eines zentralen Gedankens applaniert werden, da verliert auch die korrekteste Schrifttheologie die Geschichtlichkeit ihres Gegenstandes — und mit ihr das Recht der Kirche — und das Recht dieser Theologie selbst. Eine durchgreifende Ethisierung des Christentums, die seinen dogmatischen Charakter angreift, entzieht vollends dem Kirchenrecht eine inneren Voraussetzungen. Es ist hier nicht nötig, die sehr verschiedenen Formen von der Mystik bis zum Ethizismus im einzelnen aufzuzählen, die in dieser Wirkung wesentlich übereinstimmen.

Andererseits enthält das Kirchenrecht insofern die Probleme der Trinitätslehre, als für seine Gesundheit das Gleichgewicht zwischen immanenter und oekonomischer Trinität wesentlich ist. Das Verhältnis ad deum entspricht der immanenten, das Drittverhältnis ad hominem der oekonomischen Trinität. Wird die immanente Trinität einseitig vorangestellt, so wird das Kirchenrecht selbstbezogen und idealistisch; verdrängt die oekonomische Trinität die immanente, so löst sich das Kirchenrecht in teleologische und Zweckmäßigkeitsvorstellungen auf, die schließlich den geistlichen Charakter verlieren.

Es setzt sich mehr und mehr in der kirchengeschichtlichen Forschung die Erkenntnis durch, daß die klare Herausbildung konstitutiver Rechtselemente in der Kirche weder im Sinne von Sohm, Emil Brunner und des theologischen Liberalismus ein Sündenfall, noch eine nur äußere, nur praktisch unvermeidbare vordergründige Erscheinung war, sondern daß es sich dabei um ein Phänomen echter Geschichtlichkeit handelt. Das schließt die Verführbarkeit ein und eröffnet Probleme, die jedenfalls

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weder mit Idealisierung noch mit Banalisierung oder Ablehnung zu lösen sind.

Die Drittwirkung ist es also, welche den Rechtscharakter hervortreten läßt. Je radikaler die Herausnahme im Zweierverhältnis ist, desto stärker wirkt sie in der Gegenrichtung nach außen, desto mehr schafft sie einen Tatbestand, der Respektierung verlangt, in der umgekehrten Richtung ausstrahlt. Mit diesen Wirkungen entstehen auch Ansprüche. Wo immer geschichtliches Geschehen sich vollzieht, ruft es auch Rechtswirkungen hervor. Denn Recht ist nicht die sekundäre Ordnung eines vorrechtlichen Geschehens, sondern die Verfassung und Erfassung dieses Geschehens selbst. Nicht erst da, wo man Recht und Ordnung setzen will, entsteht Recht, sondern zuallererst in der wirkungsvollen Unmittelbarkeit des Lebens. Mit der isolierten Zweierbeziehung ist die Außen- und Drittbeziehung bereits mittgesetzt. Der Rechtsdimension der Geschichtlichkeit entrinnt man nicht.

Aber selbst diese Erkenntnis muß noch einmal zurückgestellt werden, um der Kirchenrechtsbestreigung auf den Grund zu kommen. Die Dritt- und Außenwirkungen nämlich, die in dialektischem Umschlag aus dem Innenverhältnis hervortreten und dessen rechtliche Grundstruktur manifest machen, treten dann nicht ein, wenn das Innenverhältnis durch die notwendige Preisgabe des Menschen hindurch nicht zur Neuschöpfung, sondern zur Aufhebung in das göttliche Gegenüber führt. Das ist der Weg der Mystik. Gerade am Kirchenrecht scheiden sich Mystik und Wort — hier liegt eine wesentliche Bewährungsprobe. In der Mystik hat die Kirchenrechtsbestreitung ihren wesentlichsten, wenn nicht überhaupt ihren eigentlichen Grund — die Entwerdung führt nicht zur Neuwerdung. Diese Kräfte sind im 16. wie im 19. Jahrhundert in sehr verschiedenen Formen nachweisbar. Die herkömmlichen antijuristischen Argumente (Gesetz, Verdienst, Statik usf.) müssen im Verhältnis zu diesem wirklich bewegenden Grunde als zweitrangig bezeichnet werden. Ihre Vordergründigkeit und Unzulänglichkeit, das ständige Argumentieren ex modo et ex abusu macht deutlich, daß der eigentliche Grund anderwärts liegt. Diese Grundentscheidung liegt jedoch so weit voraus und gehrt so sehr in unreflektierte Lebenshaltungen ein, daß sie von der rationalen Erwägung weder aufgelöst werden kann noch auch nur zulänglich zum Ausdruck gebracht wird.

Es gibt jedoch noch eine weitere mögliche Deutung. Man könnte annehmen, daß im Phämomenbereich der Religion, dem auch das Christentum nicht entnommen werden kann, eine dem Recht zugewandte und eine ihm abgekehrte Seite vorhanden ist. Die rechtsschöpferische Tendenz müßte sich deshalb grundsätzlich offen halten für die außerrechtliche Seite. Diese dagegen dürfte nicht unternehmen, die rechtlich-institutionelle Strukturform grundsätzlich in Frage zu stellen. Beide müßten auf die Einlinigkeit und jeden Perfektionismus verzichten. Dabei ist der

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Perfektionismus der Destruktion erfahrungsgemäß viel schwieriger zu durchbrechen. Die herkömmliche Kritik an der Rechtskirche erreicht auch diesen Tatbestand nicht, weil sie in Wahrheit dem Rechtsmoment keine echte Berechtigung einräumt, sondern es nur tendenzmäßig kleinzuhalten versucht. Die Forderung einer solchen antinomischen Zuordnung erscheint auch gemessen an der Geschichte des Kirchenrechts nicht unerfüllbar. Ich verzichte darauf, das zu belegen, weil die Hervorhebung eines Beispiels nur schwer dem Mißverständnis entgeht, man wolle eine bestimmte Lösung idealisieren. Ich bin jedoch überzeugt, daß diese Einsicht in vielen Zeiten und Formen tatsächlich wirksam gewesen ist.

Dennoch sollte man mit dem Gedanken der Antinomie nicht die Wahrheitsfrage fallen lassen.