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Kapitel XXVII

Evangelium est successio

Als Luther vor die Frage der apostolischen Sukzession gestellt wurde, antwortete er optima fide mit überzeugter Entschiedenheit „successio id est evangelium”. Wir wissen heute, daß dies ein geistesgeschichtlich bedingter, erst für uns erkennbarer Irrtum gewesen ist, den seine Gegner als Vertreter der Tradition selbst aufzuklären nicht imstande waren. Mit dieser Auslegung hat Luther unversehens, um dem Papst zu entgehen, mit der Verfassungstradition von Nicaea gebrochen. So blieb ihm und seinen Geisteserben allein Chalcedon in den Antithesen von Gesetz und Evangelium wie die Regimentenlehre übrig1. So wurde eine alleine duale Aussage mit ihren Ausschließungswirkungen maßgebend. Mitten in der Geschichte hat Luther gegen die Geschichte dem Glauben eine neue geschichtliche Form gegeben, unversehens, ohne es zu wollen und zu erkennen. Die Folgen daraus haben längst vor mir lutherische Kritiker beschrieben. Die Tragik dieser Lage zeigt sich in dem Symptom, daß die entstandene Kirche der Augsburgischen Konfession gegen den erklärten Willen Luthers seinen Namen trägt, weil ein allgemeingültiger Name von Überzeugungskraft sich nicht fand. Ein theologisches Programm und Dokument ist noch kein Name.

Indessen bietet sich heute eine klare Lösung dieser Verwicklung an. Sie ist sehr einfach. Man muß die Aussage Luthers in den Satz umkehren „Evangelium est successio”. Denn in jenem anderen „est” Luthers ist unvermeidlich eine kontingent-historische Form mitgegeben. Die Formulierung der Selbstaussage Christi in Johannes 14: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben” hat einen strengen Zusammenhang. Die Verweisung darauf ist keine spezielle „johanneische” Theologie oder gar eine ostkirchliche Gegentradition.

Was ist ein Weg? Er erfordert einen Aufbruch, einen Abschied, die Preisgabe des Bisherigen, die Mühe auf ein noch nicht sichtbares Zeil hin. Er ist eine gebahnte Strecke, auf welcher ein Lebewesen ein Ziel erreichen kann, wenn es das Ziel dieses Weges anerkennt und übernimmt. Der Begriff des Weges erlaubt, ihn rückwärts und vorwärts zu gehen, von einem Punkt zum anderen. In der geschichtlichen Wirklichkeit gibt es den Weg nur irreversibel vorwärts, und nur in diesem Sinne ist hier vom Weg zu sprechen.

Der Weg ist eine eröffnete Möglichkeit, die auch tatsächlich ergriffen werden kann. Ein Gipfelweg oder ein Drahtseil dialektischer Widersprüche können vielleicht eine kurze Strecke überbrücken, aber sie sind keine Wege.

Ein Weg hat eine gewisse Breite; als schmaler und mühsamer wird er nicht von jedem für sein Selbstverständnis und seine Selbstverwirklichung angenommen. Er hat Begrenzungen nach beiden Seiten. Da er geschichtlich ist, hat er notwendig eine rechte und eine linke Seite. Die Vergeschichtlichung unseres

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Denkens zeigt sich darin, daß wir von rechter und linker — politischer wie weltanschaulicher — Orientierung sprechen. Dies ist nur denkbar im Blick auf ein bestimmtes Ziel und die Unumkehrbarkeit der Geschichte. Die Formel „Zwischen dem Teufel und der tiefen See” ist dafür ein gutes Bild.

Man kann auf diesem Wege innehalten, um neue Kräfte zu schöpfen. Man kann von ihm abkommen; wo er nicht deutlich genug erscheint, sich ablenken lassen; und auf ihn zurückfinden. Er ist nichts ohne Ziel und Ende. Andere sind ihn schon früher gegangen und haben wichtige Erfahrungen hinterlassen, aber gehen muß man ihn selbst.

Was ist Wahrheit? Durch diese Frage ist Pontius Pilatus, der einzige Heide im Credo, berühmt geworden. Diese Frage ist eigentlich eine skeptisch-rhetorische Antwort auf die Selbstaussage Jesu, daß er gekommen sei, für die Wahrheit zu zeugen. Dies ist am letzten Ende und wesentlich ein Zeugnis durch die Hingabe des Lebens. Es ist damit die personale Charakter der Wahrheit bereits ausgesprochen. Es ist ebenso die Wahrheit, die mit denkerischer Überlegenheit ausspricht, was sie durchschaut: „Sie treiben den Teufel mit Beelzebub aus, und hernach wird es hundertmal ärger.” Es ist auch die besorgte Einsicht, daß das Volk Gottes keine Hirten hat. Wie die Gerechtigkeit und die Barmherzigkeit Gottes in eins fallen, so Wahrheit und Liebe: Die Liebe ist die Personalität der Wahrheit. Ohne diese Identität könnte Paulus (Röm. 8, 38) nicht von der Liebe Gottes in Christus sprechen. Im Widerbild zeigt sich, daß in dieser Welt soviel Wahrheit ohne Liebe, wie Liebe ohne Wahrheit ist.

Was ist Leben? Es geht gewiß nicht um eine metaphysische Größe oder das individuelle Überleben des Subjekts als Person. Es geht um die neue Schöpfung, den neuen Himmel und die neue Erde, in denen Gerechtigkeit wohnt. Die Frage nach dem Angenommensein als Frage des radikal Vereinzelten und Verlorenen ist ebenso legitim wie zugleich sinnlos, wenn es nicht für Menschheit und Welt überhaupt in irgendeinem selektiven Sinne ein letztes Heil gibt. Für dieses Heil und Leben aber steht die Auferstehung von den Toten. Die so begründete Gemeinschaft kehrt die Zeit um — es ist eine Gemeinschaft vom Tode zum Leben, von der Taufe zur Eucharistie. Darum steht für die Christen der Sonntag am Anfang der Woche, nicht Abschluß, sondern Anbruch.

Der Selbstaussage des Herrn entsprechen die Ämter, die ihm eine einhellige Auslegungstradition zuspricht. Dem Weg entspricht das munus regale, der Wahrheit das munus propheticum, dem Leben das munus sacerdotale. Ihnen entsprechen wiederum in der Analogie der apostolischen Nachfolge die drei Ämter und Grundverrichtungen der Kirche: Dem munus regale entsprechen Kirchenregiment und Mission, dem munus propheticum entsprechen Verkündigung, Lehre und Liebesdienst, dem munus sacerdotale entspricht der eucharistische Gottesdienst, in dessen

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antizipatorischer Anamnese das Anbrechen der neuen Schöpfung vergegenwärtigt und erfahren wird, und die Schlüsselgewalt. Diese Dreiheit ist keine Juxtaposition und kein Zirkel, in dem die ersten beiden im Dritten Ausgleich und Vereinigung finden. Mit dem Element des Weges ist dem vielmehr eine eschatologisch-zielgerichte Erstreckung gegeben. Keines dieser Elemente kann für sich betrachtet und als Ganzes genommen werden.

Man findet den Inhalt dieser Aussage in folgerichtiger Entfaltung im Missionsbefehl von Matth. 28 wieder. Man findet dasselbe in der schlichten Selbstverständlichkeit von Acta 2, 42ff.

Man kann das Ganze leicht um seinen wesentlichen Sinn bringen, wenn man um eines Momentes willen diesen Zusammenhang übersieht oder achtlos zerstört.

Die legitimen, dem Mandat entsprechenden Verrichtungen, die munera, machen in ihrem rechtlichen Gehalt und ihrer rechtlichen Gestalt den Canon des kirchlichen Lebens aus und werden intentional mit Recht als kanonisches (Gal. 8) Recht bezeichnet.

Ius canonicum est existentiale, processuale et communicativum.

Es verbindet personale Institution — in Taufe und Amt; soziale Institutionen — von der Gemeinde bis zur universalen Kirche — den Prozeßverlauf vom Anruf zum Glauben, über den Weg vom Glauben zum Glauben bis zu den letzten Dingen.

Es ist das Recht des Neuen Bundes. Wer diese drei Dimensionen des geistlichen Geschehens zusammenhält, wird nicht fehlgehen. Je umfassender man das Ganze betrachtet, desto größer wird die Klarheit. Über allem aber steht das große „Und”.

Diesem Geschehen dienen die munera.

Ihre Bereiche müssen daher umschrieben werden.

1. Das Amt der Leitung beginnt mit der Aussendung und Bevollmächtigung der Apostel und setzt sich daher in der Notwendigkeit und Pflicht der Weitergabe des Amtes, der Entsendung anderer zur Mission und Leitung der Gemeinden fort. Das Amt der Leitung betrifft alles, was den Weg des Glaubens angeht. Dieser Weg beginnt mit der Annahme des Glaubens und dem matheteuesthai und führt sinngemäß zur Taufe. Die Entscheidung über die Taufe ist eine jurisdiktionelle zu einem Eingliederungsakt, durch den der Mensch zur persona coram deo wird. Dem Regiment gehören also alle Vollzüge zu, welche die personale Institution bestimmter Menschen zum Glied am Leibe Christi, aber auch zum Amt der Kirche in der apostolischen Nachfolge betreffen. Das betrifft nicht nur die Bestellung der einzelnen Ämter und Verrichtungen, sondern ebenso die Ordnung ihres Verhältnisses untereinander.
Dem Amt kommt auch die Legitimation und Anerkennung aller Aktivitäten und Gemeinschaftsbildungen zu, welche beanspruchen, der Kirche zuzugehören, also auf dem selben Wege zu sein.

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In Art. XXVIII CA sind die Kompetenzen des Regimentes in der Sache zutreffend, aber nicht vollständig (weil allein gemeindebezogen) beschrieben.
Hier ist aber auf die wichtige und richtige Anerkennung der Ketzertaufe zu verweisen, welche dem Zugang durch die Initiative eine Breite verleiht. So gewiß missionarische Verkündigung und Taufe den Jüngern anbefohlen ist, so ist sie doch nicht an sie und ihren Glauben gebunden und läßt zu, daß anderweit und irgendwo getan wird, was die Kirche in der Taufe tut.

2. Sind im munus regale alle Verrichtungen der Personaljurisdiktion, Ordination und Legitimation verbunden, so im munus propheticum alles, was Bekenntnis, Verkündigung und Lehre betrifft, Katechese wie Einübung ins Christentum.
Kirchenrechtlich geht es hier um die Frage der Verbindlichkeit, aber auch dialektisch um die Freiheit der Lehre. Denn im Gegensatz zum Staat steht hier die Kirche nicht nur vor der Aufgabe, mit Carl Schmitt zu sprechen, „stare decisis”, d.h. zu ihren Entscheidungen zu stehen, sondern „stare decidendis”, den Fragen zu stehen, die jetzt und hier zu entscheiden sind. Zahlreiche Irrtümer in der Auslegung der Heiligen Schrift sind längst als Fehlwege oder denkerische Sackgassen erkannt. Wenn sie sich bei unzulänglich Belehrten und Geschulten wiederholen, so kann die Kirche ex lata sententia unter Berufung auf ältere Erkenntnisse solche Positionen zurückweisen, wie denn die CA eine Fülle altkirchlicher Entscheidungen ausdrücklich übernimmt, von denen nur einzelne noch eine rezente Bedeutung haben. Ihre Aufgabe ist, weiterhin, in einem neuen, schwer durchschaubaren und täuschenden Gewande daherkommende Irrtümer aufzuklären vor allem aber Fragen zu beantworten, die sich im Fortgang der Menschheitsgeschichte in ganz neuer Weise stellen. Dazu ist sie auf dem Wege, zumal sie selbst entscheidende Wirkungen in der Entwicklung des menschlichen Geistes kraft der Vollmacht des Evangeliums heraufgeführt hat, die sich jetzt in ihren Wirkungen ihr darstellen und entgegenstellen.
Verkündigung und Lehre dienen aber den Gläubigen auf ihrem Wege mit dem Worte Gottes als geistliche Nahrung. So machen sie die geistliche Ökonomie der Gemeinde und des einzelnen aus, indem sie in der Wahrheit erhalten werden.

3. Das munus sacerdotale ist in der Feier der Eucharistie als einem gegenwärtigen und zugleich eschatologischen Geschehen wirksam. Die Doppelseitigkeit dieses Vollzugs ist schon in der Interpretation in Band I2 dargestellt: in der bekennenden Selbstdarbringung der Gemeinde, in der der Priester der Sprecher und Vorbeter ist, und im Vorsitz der Feier, in der er vice Christi den Herrn des Mahles repräsentiert. Von dieser eschatologischen Grenze her ist der innere Aufbau der Kirche her wesentlich bestimmt (sie hat insbesondere Wilhelm Maurer in „Bekenntnis und Sakrament”3 verdeutlicht).
In den Ämtern verbinden sich in verschiedener, einander entsprechender

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Weise das liturgische und das bekennende Element des Kirchenrechts (Barth).

Bemerkenswert ist, daß der wesentliche Gehalt der munera-Lehre und ihre Grundzüge nicht bestritten sind, obwohl sie aus so verschiedenen Quellen und in so langer Zeit entstanden und ausgebildet worden ist. Es beruht zum Teil wohl darauf, daß sie weder dogmatisch noch terminologisch festgelegt worden ist. Kontroversen haben sich jedenfalls daran nicht angeschlossen.

Unbeschadet der traditionellen Aussagen kann man zur Erweiterung des Verständnisses die Terminologie auswechseln oder umschreiben. Daß das munus regale Christus selbst zukommt, ist allgemeine Kirchenlehre. Das munus regiminale, das Kirchenregiment ist im Grundsatz nicht bestritten. Es ist immer mit dem gut biblischen Gedanken verbunden, daß es nicht Herrschaft, sondern Dienst ist und sein muß. Der Dienstgedanke ist jedoch im Kontext einer funktionalen Welt so verallgemeinert und entleert worden, daß er kaum noch Nutzen schafft. Wenn das „travailler pour le roi de Prusse” sehr viel schärfer profiliert ist als der Dienst der Kirche, so wird die Unwirksamkeit dieses Gedankens nur zu deutlich. Gerade die Orden haben ein Jahrtausend gegen herrschaftliche Neigungen des Episkopats gestritten. Sie haben aber immer festgehalten, daß eine geistliche Gemeinschaft ohne ein Element geistlicher Autorität nicht existieren kann. Insofern ist die Kirche nicht Gelegenheit und Ort einer chiliastischen Basisdemokratie. Die Heilige Schrift selbst bietet im Hirtenamt, das im Stab der Bischöfe symbolisiert ist, eine sehr viel gemäßere Aussage.

Der Hirt gibt der Herde die Richtung, den Weg zu den Quellen und der Weide, er schützt sie gegen Verführer und Wölfe.

Das munus propheticum kann man als Amt der Wahrheit bezeichnen. Die differenzierte Klarheit des Missionsbefehls — Matth. 28 — wird in ihm wirksam. Den Menschen, die zu Jüngern berufen werden, wird geboten zu halten, was Er gesagt hat. Die Lehre ist Ruf in die Wahrheit, die getan und gelebt wird. Sie beschränkt sich nicht auf den Akt bejahender Erkenntnis.

Darum gehört dem Amt der Sendung die Mission zu, dem Amt der Wahrheit jedoch die Diakonie. Das landesherrliche Kirchenregiment hat die spezifischen Elemente dieser Aufträge kraftlos werden lassen. Jahrhunderte hindurch wurde die Mission freien Aktivitäten von Kreisen und Gesellschaften überlassen, war nicht mehr Sache der verfaßten Kirche. Die christliche Nächstenliebe entfernte sich über eine theologisch nicht illegitime Verallgemeinerung ebenso von dieser Basis und ging wie die Mission in private, vereinsmäßige Aktivitäten über. In der Gegenwart hat die Evangelische Kirche in Deutschland sachgemäß und auftragsgemäß Mission und Diakonie wieder als legitime Zweige („Werke”!?) zurückgenommen.

Es haben also beide Ämter — das regiminale und das prophetische — sozusagen eine innere, intensive und eine äußere, extensive Seite, die zusammen erst das Ganze ausmachen.

Nicht leicht ist, das dritte munus mit hinreichender Klarheit neu zu

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umschreiben. Es ist nicht illegitim, mit der Terminologie der Lex fundamentalis vom „munus sanctificandi” zu sprechen, in Anknüpfung an die Aussage des Herrn: „Ich heilige mich selbst, auf daß sie alle in mir geheiligt seien.” Die Menschlichkeit des Priesterstandes gebietet hier Vorsicht in der Terminologie. Die Definition als munus sacerdotale ist ebensowenig illegitim. Trotzdem ist dieser terminus nicht spezifisch genug. In der Lex fundamentalis wird die Eucharistie als „Culmen” bezeichnet, als Gipfel aller Verrichtungen und Begehungen, — richtig zwar und doch auch gefährlich statisch. Denn ein Culmen als höchster Punkt wäre ein Non plus ultra ohne eschatologischen Aspekt. An den Begriff des besonderen und allgemeinen Priestertums hat sich eine Fülle der bekannten, immer wieder aufbrechenden Streitigkeiten angeknüpft. Versucht man, ihn neu zu fassen, so könnte man von einem „Amt der letzten Dinge” sprechen mit den Worten der Liturgie: „Deinen Tod verkünden wir, Deine Auferstehung preisen wir, bis Du kommst in Herrlichkeit.”

In der Eucharistie hat der eschatologische Charakter des Evangeliums einen entscheidenden Platz, ohne den das Ganze des Glaubens nicht festgehalten werden kann. Dem entspricht folgerichtig, daß mit diesem Amte die Schlüsselgewalt verbunden ist, die Frage der Absolution. Nicht zufällig ist in Kap. XXVIII CA die Besonderheit des Amtes eben mit dieser Vollmacht verknüpft. Auch das dritte munus hat also wie die beiden anderen zwei Seiten, ist extensiv und intensiv.

Soweit und soviel man die drei munera miteinander und gegeneinander auslegen muß, so bleibt doch ihre Einheit und deren unverletzte Vollständigkeit entscheidend4. Es handelt sich um ein Gesamtgeschehen, um die Erstreckung des geistlichen Lebensweges. Diese Einsicht in die zielgerichtete Pluralität ist nötig, um die Kontraktion einer Subjektivität aufzulösen, die mit einer Vermengung oder Unifizierung immer Wesentliches verliert, sei es in modo, sei es in re.

Die weitere Bedeutung dieser Entfaltung liegt darin, daß die früher entwickelte, notwendige Vorgegebenheit des Evangeliums — wie sie in den triadischen Konzeptionen der Thesen von Lima zum Ausdruck kommt — für jeden Christen deutlich als eine Erstreckung offengelegt wird, die das Ganze seiner Existenz ausmacht und ihm deren Merkmale vor Augen führt. Die Vorgegebenheit ist kein vertikaler Imperativ, sondern eine Vor-Gabe der göttlichen Providenz im heilsgeschichtlichen Zusammenhang und auf dessen eschatologisches Ziel gerichtet.

Wenn Jesus zu Pilatus sagt: „Du könntest mich nicht richten, wenn es dir nicht gegeben wäre ,von oben’”, so handelt es sich nicht um ein Mandat oder einen Imperativ, sondern um den, Pilatus uneinsichtigen, Zusammenhang des providentiellen Geschehens.

Nur wenn dem Christen in einer so heilsgeschichtlich entfalteten Darstellung des Glaubens ein Weg gewiesen wird, können Kräfte entbunden werden, die nicht im Widerstreit zwischen Traditionen und Einheitsgedanken notwendig erlahmen müssen. Es scheint so, als ob ein neues Verständnis für die

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Trinitätslehre einer solchen Einsicht den Weg bereitet. Aber über die dogmatische Theologie allein kann nur schwer die Einsicht gewonnen werden, welche dieses Ganze als den notwendigen und sinngemäßen Lebensvollzug zugleich jedes Christen versteht. Wenn die kritische Defizienztheorie die Einschränkungen aufdeckt, in denen die getrennten Kirchen auseinandergetreten sind, so kann nur eine solche Gesamtdeutung, wie zu hoffen steht, eine Verständigung erschließen, die nicht unvermeidlich wieder in klassische Antithesen auseinanderfällt.

Zu den Merkwürdigkeiten dieses Gesamtbildes gehört es auch, daß die Träger der munera unterschiedlich sind, mehr noch: das Gesamtbild hat sozusagen nicht durchgängig die gleiche Breite.

Das Amt der missio ist ein universales. Aber es gehört zu einem offenen System, in dem es auch die Taufe desjenigen anerkennt, der „tut, was die Kirche tut”. Gegenüber der Universalität der Mission teilt sich das Amt der Wahrheit in die verantwortete und die freie Verkündigung. An der ersteren festzuhalten, hat die CA XIV sehr recht getan. Zugleich aber könnte die Kirche nicht bestehen, wenn nicht in vielfacher Weise der Glaube durch Lehre und Vorbild, im Laienapostolat aller Art und in der Diakonie verbreitet würde. Deutlich ist jedoch in dem „Halten” nach Matthäus 28 schon eine konkrete und damit engere Vergemeinschaftung gemeint im Vergleich zu dem schlechthin offenen System der Taufkirche. Dann aber spitzt sich der Weg deutlich dahin zu, daß im Amt der letzten Dinge, in der Verwaltung der Eucharistie und der Schlüsselgewalt das Amt allein gilt und tätig wird. So gleicht die Kirche einem Keil mit einer breiten Fläche, der sich in die radikale Schärfe der letzten Dinge zuspitzt. Das Jüngste Gericht wird, wie der Feldmarschall Moltke sagte, das größte Revirement der preußischen Armee sein, wievielmehr der militia Christi.

Man hat oft die Kirche mit einem Schiff verglichen, welches vor dem Winde des Heiligen Geistes segelt. Es wird wie jedes Schiff von hinten gesteuert, und das heißt in einem bestimmten Sinne von den Ursprüngen und der Tradition her. Ein Schiff hat eine bestimmte Breite, auf der auch der Mast des Glaubens steht, ein Ausmaß, das nicht durch jede Enge und Durchfahrt hindurchgehen kann.

Dieses Bild modifiziert noch einmal das vorangegangene; aber doch nur insoweit als Bilder und Gleichnisse immer eine unvollständige und dennoch schlüssige Mehrdimensionalität enthalten.

Es ist keine geschichtliche Schuld und kein geschichtlicher Anspruch, wenn die Kirchenrechtslehre in der Analyse jahrtausendealter Bildungen in großer Vielfalt und Widersprüchlichkeit sich mit der systematischen Theologie verzahnt, wenn sie ihr Vorschläge zur Erwägung mitgibt, die ihr die eigenen Bildungen vorhalten, wenn sie aus der geduldigen Betrachtung der Fülle von Wirkungen Schlüsse zieht, welche Sancto Spiritu afflante sich gezeigt haben.

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Das Evangelium gleicht einer Brücke über den Abgrund des Nichts. Sie ist freitragend — kein Pfeiler im Strom der Zeit kann sie stützen.

Diese Brücke ist ein schmaler, aber fester Weg. Sie ist nicht bestimmt, Wohnhäuser, Läden oder Zollstationen darauf zu errichten, wie es auf berühmten Brücken der Welt geschehen ist.

Sie hat zwei Brückenköpfe, eine Auffahrt und eine Abfahrt, — und die letztere hat eine Schranke: es ist die des Todes.

Man betritt diese Brücke als einzelner — aber alle, die sie begehen, schauen auf ihr Ende — und versammeln sich im Angesicht dieser Schranke, an der der Tod des Herrn verkündet wird.

Der Brückenbauer — der Pontifex — aber ist vom Eingang bis zum Ausgang die Brücke selbst.

 

Anmerkungen zu Kapitel XXVII

1 Vgl. Kap. XXVI Ende.
2 Vgl. RdG I, Kap. IV, 237-279.
3 Wilhelm Maurer, Bekenntnis und Sakrament, Berlin 1939.
4 Vgl. hierzu Karl Barth, Kirchliche Dogmatik I/2, Zürich 41948, 253; siehe auch RdG I, 434.