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Kapitel VIII

Die reformierte Ämter-Ordnung

Die reformierte Ämter-Ordnung ist weder aus der kritischen Umbildung vorhandener Amtsformen noch aus dem Aufbau des neu verstandenen und geordneten Gottesdiensten entstanden. Sie beruht vielmehr auf einem sich als bibel-theologisch verstehenden Verfassungsprogramm. Diesem liegt eine Besinnung auf notwendige Verrichtungen der Kirche zugrunde. Sie beruht also auf einer Art Handlungstheorie, in welche gottesdienstliche Verrichtungen einbezogen sind. Mit Recht wird auch die Diakonie als Gottesdienst verstanden. Durchgängig und primär handelt es sich um Formen der Gemeindeverfassung.

Mit Modellen ist vor allem der auf dem Gebiete kirchlicher Neugestaltung ebenso tätige wie wirksame Straßburger Reformator Bucer hervorgetreten. Er vertritt eine Lehre vom vierfachen Amt (Matthäus-Kommentar von 1536): doctrina, exhortatio, procuratio egentium, gubernatio. Daran schließt sich jedoch auch die allgemeiner verbreitete Lehre vom dreifachen Amt Christi, dem priesterlichen, königlichen und Lehramt an. Neben den Ämtern, die aus den genannten vier Funktionen entwickelt werden, werden später noch vier außerordentliche Ämter ins Auge gefaßt: Apostel, Propheten, Glossolalen und Krankenheiler. Dauernde Ämter sind nach diesem Entwurf: Pastoren, Doktoren und Diakone. Hinzu tritt — aus verschieden gedeuteten Gründen — das der Zucht und Regierung dienende Presbyteramt.

In der positiven Gestaltung hat die von Genf ausgehende Vier-Ämter-Verfassung die größte Bedeutung gewonnen. Hier teilt sich das ministerium verbi — allein im strengen Sinne iuris divini — in die ministri oder pastores und die doctores. Dazu treten auf Grund guter biblischer Tradition, aber strikte betrachtet nur iuris humani, die Ältesten und die Diakone. Zusammengenommen bilden diese vier Ämter die integralen Bestandteile einer im Vollsinne reformierten Kirche. Dagegen bilden Minister und Seniores zusammen das klassische kirchenleitende Konsistorium. Diese Seniores werden aber aus dem Rat der Stadt, nicht aus dem Gemeindevorstand entnommen.

Entgegen verbreiteten Auffassungen hat Anneliese Sprengler-Ruppenthal1 gezeigt, daß diese als klassisch betrachtete Verfassung nicht die einzige im Bereich des frühen Calvinismus gewesen ist.

Die Emden-Londoner-Kirchenordnung des Johannes a Lasco hat nur zwei Ämter — die Ältesten, worin Prediger und Laienpresbyter einbegriffen sind, und die Diakone. Hinzu tritt hier das Amt der Superintendenten, die zum Ausgleich und zur Vermittlung innerhalb des gemeindeleitenden Kollegiums bestimmt sind:

„Unter disen zweien geschlechten der eltisten ist einer auß ihrer zale der vornemest …, auf das durch seine autoritet ein eintrechtige vergleichung unter allen in allen dingen nach dem wort Gottes gehalten werde.”

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Die besondere Emden-Londoner Form erklärt sich, wie mir scheint, nicht so sehr aus staatskirchlichenrechtlichen Anlehungen in der Exilsituation, sondern klingt eher an die Verfassung der Kirche von England an, die unter Ablehnung der ordines minores die traditionelle altkirchliche Drei-Ämter-Verfassung — Bischof — Presbyter — Diakon — ausdrücklich beibehalten hat. Eine solche Gemeinde konnte, ohne eigentliche Rechtsbasis in der Fremde auf eine strukturelle Verwandtschaft zur etablierten Kirche verweisen.

Eine Analyse dieser programmatischen Gestaltungen, ihrer Fortbildung und Wirksamkeit verändert das Bild jedoch erheblich. Dabei ist immer zu beachten, daß es sich hier um eine klassische Gemeindeverfassung handelt, auf der zwar weitere Leitungsorgane (Konsistorium, Synode) aufruhen, die aber zunächst als solche zu verstehen ist.

Das Amt der Doktoren mußte Programm und Forderung bleiben. Seine Einführung gab zwar die Möglichkeit, bewährten Männern neben den Predigern eine geordnete Mitwirkung in der Verkündigung und Lehre zu eröffnen.

Aber diese an den Gedanken der Prophetie anknüpfende Amtsform, wie die von Bucer vorgesehenen außerordentlichen Ämter, konnte schon deswegen nicht in der Kirchenverfassung verwirklicht werden, weil ihr rein charismatischer Charakter mit einer Institutionalisierung nicht zu vereinen war. So hat Herbert Frost in einer Studie über den Convent von Wesel gezeigt,2 daß die dort geschaffene Amtsform des Propheten zu Kollisionen und Streitigkeiten mit dem Predigtamt geführt hat, die mit dem Fortfall dieses besonderen Amtes geendet haben. In diesem Amt verbindet sich das neben dem Prediger stehende „Lehrer” mit der außerordentlichen charismatischen Aufgabe der „Propheten”. Aber diese Gedanke fand weder Form noch Ort. Es erwies sich, daß diese besondere Form der Wortverkündigung dann doch nur eine zweite Form des Predigtamts bedeutete, die mit der regelmäßigen Verkündigung nicht zu vereinen war. Der Gedanke der außerordentlichen Ämter konnte gewiß nicht so verstanden werden, daß diese sämtlich überall und jederzeit vorhanden sein müßten. Für solche besonderen Gaben wollte man Raum freihalten. Doch hat sich diese Verrechnung auf eine geplante, gedanklich durchgebildete Gemeindeordnung nicht durchhalten lassen.

In Wahrheit ist nach diesem Befund also die Vier-Ämter-Lehre nur eine Drei-Ämter-Lehre. Das Prophetenamt ist eine Art theologische Totgeburt. Im Gegensatz dazu haben die drei anderen Ämter sehr wohl Leben gewonnen und ihre Funktionen ausgeübt. Erst von da aus kann man dann gleichsam weiterrechnen.

Wenn man einmal die falsche Gleichsetzung von Programm und Wirklichkeit aufgibt, so zeigt sich, daß die reformierte Kirche in Wirklichkeit nie etwas anderes gehabt hat als ein System von drei Ämtern. Dies gibt zu denken. Am Ende der Erwägungen wird zu prüfen sein, wie sich dieser Bestand zu der traditionellen Drei-Ämter-Lehre verhält, die als gemeinkirchliche Konzeption bis in die Kirche von England festgehalten worden ist.

Die weitere Analyse führt zunächst zur Betrachtung des Diakonen-Amts. Es

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ist hier nicht entscheidend, ob die in der Apostelgeschichte genannten „Diakone” dies in demselben Sinne gewesen sind, wie man später dieses Amt verstanden hat. Es genügt, darauf zu verweisen, daß der Diakonat von den frühesten Zeiten an als ein besonderer Amtstypus ausgeprägt und durchgehalten worden ist. Als solcher hat er zwei deutlich unterschiedene Wurzeln oder Seiten. Einerseits übernimmt der Diakon zudienende Verrichtungen im engeren oder weiteren Bereich des Gottesdienstes. Er hilft beim Austeilen beim Abendmahl, er übernimmt Lesungen, Homilien, den Katechumenen-Unterricht usw. Andererseits versorgt er die Armen und Hilfsbedürftigen. Beide Verrichtungen laufen unschwer dahin zusammen, daß er mit der Verwaltung aller der Mittel betraut wird, die sowohl dem Gottesdienst wie dem Liebesdienst bestimmt sind. Als Fortentwicklung dieser Aufgabe kann er dann Verwaltungsfunktionen und sogar diplomatische Aufgaben übernehmen. Dies alles aber ist eine diffuse Fülle von Einzelverrichtungen, die kein eindeutiges Zentrum haben. So bleibt zwar ständig das Leitbild des Diakons als des Armenpflegers und Helfers wirksam. Trotzdem hat dieses Bild historisch und praktisch eine spezifische Unschärfe. Der Diakon hat keine Jurisdiktion. Er muß wie jeder Mensch auch selbständig entscheiden, was er tut, die Möglichkeiten abwägen und Prioritäten setzen. Aber er ist immer denjenigen Entscheidungen nachgeordnet, die unmittelbaren Bezug auf das Heilswirken der Kirche haben, und keine seiner Entscheidungen bezieht sich wiederum auf die Konstituierung des Christen als Christ. Er bleibt immer irgendwie nachgeordnet und zugeordnet. Seine Aufgaben können auch niemals ohne Rückbindung verselbständigt werden, als ein Zweig des kirchlichen Wirkens, das sich gegenüber der Kirche im Sinne von CA VII als eigenständig verstände.

Damit sind zwei gegensätzliche Entwicklungsmöglichkeiten gegeben. Der Diakon kann personalisiert oder funktionalisiert werden. Unter Personalisierung verstehe ich die Ausbildung eines besonderen Amtes mit ausgesonderten Amtsträgern. Unter Funktionalisierung verstehe ich die Verteilung seiner typischen Verrichtungen an die jeweils geeignete Stelle. So kann der Gemeindeleiter in kleinen Verhältnissen die Aufgaben des Diakons mit den seinigen verbinden, womöglich unter Heranziehung von Mitarbeitern, die ohne eigentliches Amt Teilverrichtungen nach Weisung übernehmen. In einer reformierten Gemeinde mit Presbyterkollegium können die Presbyter etwa zugleich mit der Verwehung eines örtlich begrenzten Gemeindeteils auch die diakonischen Aufgaben wahrnehmen. So wird das Amt des Diakonen als solches zwar zum Verschwinden gebracht, der Sache nach aber absorbiert.

In dieser Alternative zeigt sich eine gewisse Schwäche dieses Amtes nach seinen soziologischen Entfaltungsmöglichkeiten. Dem widerspricht jedoch, daß die Kirche den durchhaltenden Leitgedanken der Armenpflege nicht aufgeben kann, ohne etwas Essentielles preiszugeben und sich selbst der Verkümmerung auszusetzen. Keine praktische Erwägung und keine Rückverweisung auf die Weltlichkeit der Welt kann ihr abnehmen, hier nach Inhalt und Art was zu tun, was ihr unverwechselbar aufgetragen ist. Noch einmal zeigt sich der

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Widerspruch zwischen der (essentiellen) Bedeutung dieses Dienstes und der (relativen) Entbehrlichkeit eines bestimmten Amtstypus. Andererseits kann Bewußtsein und Praxis der Diakonie nur schwer durchgehalten werden, wenn nicht an Namen und Programm das angehängt und festgehalten wird, was wesentlich ist und bleibt.

Mit dem Programm eines Diakonen-Amts hat die calvinische Reformation der Kirche nichts grundsätzlich Neues zugebracht, weder als Erneuerung biblischer Gedanken noch eigentlich in der Reinigung und Erneuerung vorfindlicher Traditionen. Denn wenn auch der Weihegrad des Diakonen in der lateinischen Kirche seine spezifische Bedeutung schon damals verloren hatte, so ist doch das Element der Diakonie, wenn man gerecht urteilt, niemals wirklich preisgegeben worden. Daß dieses Amt noch einmal ausdrücklich in den Grundbestand der Ämter aufgenommen worden ist, ist verdienstlich, aber doch nicht revolutionär oder im strengen Sinne reformatorisch.

Erkennt man dies an, so ergibt sich, daß das proprium der reformierten Amtslehre in Wirklichkeit nur in den beiden übrigbleibenden Ämtern des ordinierten Predigers und des nicht ordinierten Laienpresbyters und dann in deren spezifischen Verbindung in der Presbyteralverfassung liegt. Auf diese Weise zeigt sich, daß die Differenz zwischen der klassischen Vier-Ämter-Lehre Calvins und der Zwei-Ämter-Lehre der Emden-Londoner Kirchenordnung, wie sie Frau Sprengler gezeigt hat, gegenstandslos ist. Hier erscheinen Prediger und Laienälteste als ein einheitliches Presbyteramt, und dazu als zweites, in Wahrheit drittes, der Diakon. Die Hinzufügung eines weiteren Amtes, der Superintendentur, hat sich nicht durchgehalten; das fiktive vierte, der Prophet, ist ohnehin gegenstandslos.

Die verbleibenden zwei Ämter bedürfen nun der Untersuchung. Man muß sie sowohl je für sich wie in ihrer charakteristischen Verbindung betrachten. Ihr Verhältnis ist einigermaßen variabel. Das Presbyterat als nichtberuflichen Laienamt hat die Fähigkeit, alle übrigen Ämter des reformierten Typus sich anzugleichen, wenn nicht geradezu in sich aufzunehmen. So besteht die eine Tendenz darin, den Prediger unbeschadet seiner Sonderstellung doch nur als eine Art Einzelfall des Presbyterats zu verstehen und ganz in das Kollegium einzubeziehen. Die entgegengesetzte Tendenz der Verselbständigung hat zwei Wurzeln. Dem Predigtamt muß die grundsätzliche Unabhängigkeit der Verkündigung verbürgt werden, auch wenn es ständig der Kritik des Presbyterkollegiums ausgesetzt ist. Von da aus ergibt sich aber eine Tendenz, das Predigtwort als Wort der Gemeindeleitung zu verstehen und auf diese Weise dem Prediger doch eine gesonderte Gemeindeleitung zuzuweisen. Dies wird naturgemäß durch seine Professionalität verstärkt, durch welche er allein immer präsent ist. Die zweite Tendenz beruht auf einer relativen Angleichung an das andersgeartete lutherische Vorbild, in dem die Gewichtsverteilung eine genau umgekehrte ist. Hier ist der dominierende Amtstyp das Predigtamt allein und die Gemeindeältesten haben nach Selbstverständnis und tatsächlicher Wirksamkeit eine ungleich geringere Bedeutung. Die starke Gemengelage beider

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Konfessionen hat diese Angleichung begünstigt. Damit schlägt zugleich die Tradition des älteren Gemeindepresbyterats, der vorreformatorischen Gemeindepfarrer und Leutpriester durch, die ja von der reformatorischen Kritik nicht in dem Maße getroffen wurden, wie dies bei den Bischöfen und der übrigen Prälatur der Fall war.

Es ist eine in den reformatorischen Kirchen weitverbreitete Täuschung, das der katholische Gemeindepfarrer etwas wesentlich anderes tue als der evangelische. Die Differenz beschränkt sich auf die institutionalisierte Beichte und auf das sacerdotale Verständnis der Messe, welches auch diesen Pfarrer — übrigens im Gegensatz auch zum ostkirchlichen Gemeindepresbyter — von der Gemeinde stärker isoliert. Auf die Identität der in den Ordinationsformuleren ausgedrückten und eingeschlossenen Amtsverrichtungen wurde schon in Band I, Kapitel VIII, hingewiesen. Jedoch bleibt hier ein wesentlicher Rest. Morphologisch betrachtet ist der Laien-Presbyter der reformierten Kirche eine Neubildung. Denn aus den Ältesten der Gemeinde im biblischen Sinne können sie gerade nicht abgeleitet werden. Die Ältesten von damals stehen noch vor der Unterscheidung zwischen Amt und Laien, zwischen Amt und Nichtamt. Beides ist dort noch austauschbar. Aus ihrem Gesamtbestand ist dann das Daueramt entstanden. Der reformierte Laienpresbyter dagegen setzt, ob er will oder nicht, und ob die reformatorischen Väter dies erkannt haben oder nicht, den Kontrapunkt eines theologisch vorgebildeten und ordinierten Predigers voraus, welch letzterem ganz zu Recht eine besondere Stellung eingeräumt wird, die gerade in seinen Hauptverrichtungen, vor allem der Predigt nicht majorisiert werden kann. Er ist also etwas anderes als einer aus einer Zahl von Presbyterien, der gleichsam zufällig und funktional austauschbar für den Predigtdienst betraut wäre. Andererseits aber ist es gerade den Sinn der Zusammenordnung beider Amtsformen, daß das Ganze als eine kollegiale Gemeinschaft verstanden wird, in der unbeschadet der Besonderheit keine Über- oder Unterordnung, keine Vor- oder Nachordnung Platz haben soll. Wenn nun aber im Ganzen gesehen auch der reformierte Prediger in der morphologischen Sukzession des spätermittelalterlichen Predigeramts und damit doch dann auch des älteren Gemeindepfarramts steht, so bleibt als wirkliche Neubildung nur die Neuformation des so verstandenen Laienpresbyterats zusammen mit dem übergreifenden und auch den Prediger umfassenden Kollegialitätsgrundsatz übrig. Es ist also nur eine einzige Neubildung und ein einziger scharf zugespitzter und fundamentaler Grundsatz.

Die Merkwürdigkeit und wirkliche Besonderheit der reformierten Kirchenverfassung besteht also in dem nicht schlüssig ausgetragenen Nebeneinander und Miteinander des Predigers als Amtspresbyter und des Presbyterats der Laien überhaupt. Was dieses Verhältnis aber theologisch und morphologisch zu besagen hat, ist mangels eben jener Hinterfragung noch niemals wirklich erörtert worden. Es bleibt damit auch unklar, ob es zulässig ist, das eine auf das andere wenigstens grundsätzlich zu reduzieren. Sind etwa — im Prinzip gesehen — die Presbyter sozusagen „nichtpredigende Prediger”, die in anderer

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Weise, etwa in der Zuchtordnung, das gleiche tun —, oder ist umgekehrt der Prediger, so wie es morphologisch weitgehend geschehen ist, in den allgemeinen Presbyterat zu verrechnen? In der durchgehaltenen Ablehnung des Bischofsamts ist ein Indiz dafür zu finden, daß ein bestimmter Zentralgedanke der theologischen Anthropologie hier positiven Ausdruck gefunden hat. Mit der Subjektqualität, die diesem Amt besonders eignet, ist auch das paternale Element aus der Kirchenverfassung ausgeschieden worden, welches mindestens seit Ignatius von Antiochien die Entwicklung der Kirchenverfassung beherrscht hat. Denn man kann immer nur einen Vater haben und nicht ein Kollegium von Vätern. So ist auch der im Presbyterat angelegte egalitäre Gedanke wesentlich von dieser Seite her zu sehen. Er schließt deutlich die Abhebung des Presbyterats von der übrigen Gemeinde und seine starke Autoritätsstellung keineswegs aus, sondern gerade ein. Bei den Erörterungen über die lutherisch-reformierte Konkordie vom 4. 5. 1970 hat die Reformierte Kirche von Nordwestdeutschland die Unverzichtbarkeit des presbyteralen Leitungs- und Formelements gegenüber einer offenen Beliebigkeit der Gestaltungen geltend gemacht. Nicht der allgemeine Gültigkeitsgedanke, sondern die Gleichheit der Berufenen ist hier deutlich festgehalten. Diese Stimme widerspricht also der Aufsaugung aller Amtsformen in die Allgemeinheit der Gemeinde in den neueren Formen des demokratischen Gleichheitsgedankens, soviel auch immer der Calvinismus für die Ausbreitung der politischen Demokratie gewirkt und bedeutet hat. Es ist eine kollegial-egalitäre Minderheit, keine Allgemeinheit. Gerade der aktive, militante und disziplinierende Zug des Calvinismus bedingt diese Minderheitsstruktur.3

Eine Differenz zwischen der London-Emdener Ordnung und dem allgemeinen Ämterprogramm besteht darin, daß in der nur begrenzt wirksamen ersteren Ordnung der Ansatz zu einem dritten Amt zu verzeichnen ist, zu einer Aufgabe der Schlichtung und Vermittlung zwischen Prediger und Presbyterium. Dies könnte das ansatzweise Wiederhervortreten eines Episkopaten Gedankens und Moments bedeuten. Im ganzen aber ist dieser Gedanke und Typus so wenig wirksam geworden, daß man ihn zwar als eine interessante und bedeutsame Erscheinung erwähnen, aber nicht weiter in Anschlag bringen kann. Sein Auftreten weist auf die Problematik zurück, die dem Miteinander von Prediger und Presbyter und dem Kollegialitätsprinzip innewohnt. Es ist das Problem der personalen Verantwortung überhaupt. Hat nämlich der Prediger nicht wie von eh und je als Gemeindeleiter eine gewisse integrierende Gesamtverantwortung und Letztentscheidung, sondern wird immer letztlich alles in das Kollegium zurückverwiesen, so zeigt sich hier als entscheidendes Motiv die Negation personaler Verantwortlichkeit und Macht: ein negatives Moment, ein negativer Antrieb hat zur Formgebung und zur Formulierung zentraler Grundsätze Anlaß gegeben. Darum wird begründungslos jede Rückverweisung auf das biblisch bezeugte Bischofsamt als Typus personaler Repräsentation und Amtsvollmacht vermieden. Es ist sonst gar nicht absehbar, warum man unter Berufung auf das biblische Vorbild aus der Fülle biblischer Typen

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und Bezeichnungen jene vier aussondert, den mindestens ebenso bezeugten Bischof aber als historische Gestalt wie auch als Gedanke der episkopé völlig ausschaltet. So erweist sich als eigentliches Leitmotiv und Quintessenz historischer Erfahrung die Negation personaler Macht als der eigentliche Grund und Ertrag dieses Versuchs. Es ist also in Wahrheit nicht das biblische Vorbild, das alle jene Möglichkeiten einschließlich des monarchischen Bischofsamts noch in sich schloß. Jetzt schloß man eine dieser Möglichkeiten als verbraucht, versachlich und im Prinzip verfehlt gerade aus dem biblischen Vorbild aus. Er ist also eine historische Fortentwicklung, keine biblische Renaissance.

Das Programm der Mehr-Ämter-Verfassung hat das grundsätzliche Verdienst, der Gefahr eines Ein-Mann-Systems entgegengewirkt und neben dem Predigtamt das profilierte Laienamt des Presbyters ausgebildet zu haben. Der reformierte Gemeindepresbyter ist mehr als ein Gemeindevertreter in einem Kirchenvorstand. Jeder einzelne wird in ein geistliches Amt der Kirche gestellt und nicht nur in ein repräsentatives Beschluß-Gremium berufen. Innerhalb dieser Pluralität hat die Mehr-Ämter-Verfassung dann auch die gute Tradition eines selbständigen Diakonenamts wenigstens als Möglichkeit und Forderung festgehalten, auch wenn die Wirksamkeit dieser Ausgliederung begrenzt gewesen ist. Gegenüber den Tendenzen zur Aufsaugung des Diakonats in das Presbyteramt könnte sich die Entstehung besonderer sozialer Dienste für die Gemeindeverfassung nutzbar machen lassen und zu einer Wiederbelebung des Diakonats führen, wenn nicht diese Aufgaben unter heutigen Bedingungen oberhalb der Einzelgemeinde vor allem auf der Dekanatsebene lägen, der Gemeinde also nicht direkt zugeordnet werden könnte.

Im Ergebnis ist die Vier-Ämter-Verfassung Programm geblieben. Ihre Einzelämter unterliegen wesentlich verschiedenen Entwicklungsbedingungen. Als harter Kern sind allein das Predigtamt und die Laienpresbyter übrig geblieben — negativ die Ausscheidung des Bischofsamts. Daß die beiden Ämter, Prediger und Laienpresbyter, auf einem einheitlichen Typus konvergieren, wurde schon dargelegt. Aber mit dieser Doppelung ist doch zugleich in der Gemeindeleitung das Miteinander von Amt und Gemeinde in einer bestimmteren und gefüllteren Form verwirklicht worden als in der mehr theoretischen Gegenüberstellung von Amt und Gemeinde im lutherischen Bereich, in der das Übergewicht des Amtes bis heute gleichgeblieben ist. Diese spezifische Verbindung hat sich zunächst nicht in den übergeordneten Leitungsformen durchgesetzt, die durchgehend Versammlungen von Amtsträgern, sei es den Theologen allein, sei es von Vertretern der Magistrate mit diesem zusammen gewesen sind. Unter Überspringung dieser aristokratischen Phase ist dann aber die presbyteral-synodale Verfassung im Sinne der ständige Verbindung von Pfarrern und Laienpresbytern zum typischen Merkmal der reformierten Kirche geworden.

Eine charakteristische Leitungsform im reformierten Bereich ist dann der Moderator und das Moderamen. Moderari heißt hier: maßgebend, korrigieren, leiten. In ihrem Moderator hat etwa die Kirche von Schottland ihre von der

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Synode gewählte personale Spitze. Leitungsgremien auf den verschiedensten Regionalebenen vom Kirchenkreis über die Partikularkirche bis zum Weltbund tragen den Namen Moderamen. Damit ist eine Form gemeint, die im strengen und eigentlichen Sinne Kirchenleitung, Kirchenregiment wahrnimmt. Denn diese Aufgabe ist im Gegensatz zum Luthertum im Calvinismus immer zu den Merkmalen der Kirche gezählt worden. Moderamen bedeutet aber mehr und anderes als eine behördlich-autoritative oder administrativ-funktionale Geschäftsführung. Der strikt geistliche Charakter der reformierten Kirchenverfassung kommt hier mit den dieser Konfession eigenen begrenzten Mitteln der Formbildung zum Ausdruck.

 

Anmerkungen zu Kapitel VIII

1 A. Sprengler-Ruppenthal, Zur reformatorischen Kirchenrechtsbildung in Ostfriesland, in: ZevKR 10, 1963/64, 314-367, hier: 339 f.
„Grundsätzlich gibt es danach nur zwei Gemeindeämter, das Amt des Ältesten und das Amt der Diakonen (also nicht, wie nach der Genfer KO, vier Gemeindeämter).*1) Das Ältestenamt erscheint jedoch in verschiedenen Ausprägungen: es handelt sich bei den Ältesten einmal um die Prediger, dann um die Prediger unterstützende Gemeindeglieder.
*1 Mißverständlich ausgedrückt bei J. Moltmann, EKL II, 1038. Naunin (Die Kirchenordnungen des Johannes Laski, Deutsche Zeitschrift für Kirchenrecht (1909) S. 197) möchte aus a Lascos Londoner KO gewaltsam die ,4 von Calvin aufgestellten Gemeindeämter’ herauspressen; dabei ist es ihm auch selbstverständlich, daß a Lasco ,in allen wesentlichen Punkten’ die Anregung von Calvin empfangen habe, ebd. S. 203, 360.”
2 Herbert Frost, Der Konvent von Wesel im Jahre 1568 und sein Einfluß auf das Entstehen eines deutschen evangelischen Kirchenverfassungsrechts, in: ZSRG, Kan. Abt. LVI, 1970, 325-387, hier: 360 f.
„… Eigentümlich ausgeformt ist das Amt der Lehrer oder ,Propheten’. Hatte es trotz seiner dogmatischen Begründung durch Calvin*1 in Genf keine eigentlichen Funktionen zugewiesen erhalten, und war es wohl demzufolge in Frankreich und von den südniederländischen Synoden gar nicht erst rezipiert worden, so nahmen die Weseler Beschlüsse eine andere Traditionslinie auf, die von der in Zürich durch Zwingli eingeführten ,Prophezey’ *2 über ähnliche Einrichtungen in der Londoner Fremdengemeinde*3 abgeleitet wurde. Die Weseler Beschlüsse*4 vertrauen dem Prophetenkollegium vornehmlich eine regelmäßige Schriftauslegung in eigenen Wochengottesdiensten an, wobei außer den Predigern als Propheten auch die hauptamtlichen Lehrer, Älteste, Diakonen und andere tüchtige Gemeindeglieder zur Mitwirkung geeignet befunden werden. Die in London geübte Predigtkritik durch die Propheten wird in Wesel ausdrücklich abgelehnt. Als zusätzliche Aufgabe ist an die

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Heranbildung des Predigerenachwuchses durch die Prophetenkollegien größerer Gemeinden gedacht.*5 Insgesamt mutet die Einrichtung des Prophetenkollegiums recht theoretisch an; sie ist auch nur an wenigen Orten*6 dann tatsächlich praktiziert worden, später nach der Festigung eines reformierten Hochschulwesens*7 vollends in Fortfall gekommen.*8
*1 Institutio IV/1 (ed. Otto Weber, S. 714 ff.).
*2 Rudolf Pfister, Prophezei, in RGG, 3. Aufl. V, 1961, Sp. 638.
*3 Albrecht Wolters, Reformationsgeschichte, S. 392 ff.; F. de Schickler, Eglises du refuge, I, S. 47 f. und S. 111 f.; Johann H. Garrels, Entwicklung, S. 56 f.; Frans L. Bos, Structuur, S. 366 ff.; vgl. J.F. Gerhard Goeters, Weseler Konvent, S. 106 f.
*4 Cap. II/14-28 und cap. III.
*5 Cap. II/26 (vgl. auch cap. I/1 + 2).
*6 Albrecht Wolters, Reformationsgeschichte, S. 394 f.; Johann Hillmann, Gemeinde Wesel, S. 97; Gerhard Sardemann/Heinrich Müller, Geschichte, S. 5; Eduard Simons, Synodalbuch, S. 33.
*7 Neben die dem Reformiertentum zugefallene (bereits 1385 gegründete) Universität Heidelberg traten nacheinander die Universitäten bzw. Hochschulen in Leiden (seit 1575), Herborn (1584-1817), Burgsteinfort (1591-1810), Groningen (seit 1610), Utrecht (seit 1636), Harderwijk (1647-1811), Duisburg (1655-1818) und Franeker (1685-1811) mit ihren reformierten theologischen Fakultäten.
*8 Eine gewisse Gedankenlinie führt von der Einrichtung des Prophetenkollegiums über die Erbauungsstunden des Pietismus zu den Bibelstunden in den evangelischen Kirchengemeinden des 18. und 20. Jh.s, ohne daß allerdings unmittelbare institutionelle Zusammenhänge nachweisbar sind; vgl. hierzu Albrecht Wolters, Reformationsgeschichte, S. 394, und Eduard Simons, Synodalbuch, S. 33.”
3 Vgl. Erik Wolf, Ordnung der Gemeinde, Frankfurt 1961, 400 ff.