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Kapitel X

Über das Kirchenregiment: Art. XIV und XXVIII

1. Programm und Geschichte I (Wilhelm Maurer)

Über das Kirchenregiment äußern sich die Artikel XIV und XXVIII der CA, der erstere Artikel ausdrücklich unter diesem Titel. In der folgenden Aussage, daß niemand in der Kirche das Evangelium predigen oder die Sakramente verwalten dürfe, ohne „rite vocatus” zu sein, klaffen Titel und Text für unser Verständnis auseinander. Denn das Gesagte bezieht sich ausschließlich auf das Gemeindeamt und nicht auf die Kirche. Die Unmittelbarkeit der Gemeinde wird mit der Kirche gleichgesetzt und diese damit als Gesamtheit stillschweigend extrapoliert. Unter Regiment verstehen wir gemeinhin ein Leitungsamt, welches verschiedene Aufgaben zusammenfasst und bestimmt. Der einzige Punkt, wo diese Aussage die Dimension der Leitung erreicht, ist die Frage der vocatio, und zwar nicht das „Ob” der vocatio, sondern die Frage, wer legitimiert und verantwortlich dafür ist, über diese Berufung zu entscheiden. Darüber jedoch wird nichts gesagt, ebensowenig wie Artikel VII eine Aussage enthält, wer der Träger des dort angesprochenen Konsenses der Kirche ist.

Analog zu Artikel XIV spricht ebenso Artikel XXVIII inhaltlich wiederum nur von den Kompetenzen der Bischöfe als Pastoren, im unmittelbaren Bezug auf die jeweilige Gemeinde, in keinem Sinne aber in Bezug auf eine übergreifende Leitung der Kirche. Nur indirekt und per analogiam schließt dann die Konfessionstheologie von da aus weiter.

Die Darstellung sieht sich hier vor der Schwierigkeit, daß die CA vermöge der Gleichsetzung von Gemeindeleitung und Kirchenleitung, von Amt und Bischofsamt über das Thema Kirchenleitung als solches nichts aussagt. Die bischöfliche Kirchenleitung, die Wiedereinsetzung der durch die Reformation ihrer Befugnisse entkleideten Bischöfe war einer der Hauptstreitpunkte der Reichstagsverhandlungen, der als solcher im Text der CA keinen Ausdruck findet. An diesem Punkte, also der Rückgängigmachung der bereits vollzogenen Reformation, ist dann ja über das Augsburger Interim die Verständigung wesentlich gescheitert. Wir finden nun in den Arbeiten Wilhelm Maurers über das Sachproblem als solches bis zur und in der Gegenwart, wie in seinen reformationsgeschichtlichen Studien eine Art Syndrom von Geschichte und Systematik, welches über die Auslegung der CA hinausgreift, zum Teil aber auch den Arbeiten anderer gegenwärtiger Kirchenrechtslehrer vergleichbar ist, die in einem späteren Zusammenhang dargeboten werden. Diese besondere Lage wird dem Verständnis des Lesers empfohlen.

Wilhelm Maurer hat seine kirchengeschichtliche Lebensarbeit über die lutherischen Bekenntnisschriften mit Studien zum Kirchenrecht verbunden, an

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den Bemühungen um eine theologische Grundlegung des Kirchenrechts war er sachlich interessiert, aber nicht im direkten Gespräch beteiligt. Er setzt unbefangen die rechtliche Dimension und Qualität der Kirche voraus, indem er ohne betonte Kritik an der eigenen Konfession versucht, deren Fehlstellen auszufüllen. So hat er über das Ende des Landeskirchentums, über Pfarrerrecht und das synodale Bischofsamt Einzelstudien vorgelegt. So auch über das Problem der Kirchenleitung. Er gibt dabei zugleich eine Umschreibung des verfassungspolitischen Programms der lutherischen Reformation, die er sich zu eigen macht und die hier innerhalb des ekklesiologischen Entwurfs der CA zu untersuchen ist. Hier heißt es:

„Die Lutherischen Bekenntnisschriften erschöpfen sich nicht in Abweisung und Widerlegung der Vorstellungen über geistliche Leitung, die der abendländischen Katholizismus des Mittelalters herausgebildet hatte. Sie bemühen sich zugleich um eine neue, schriftgemäße Grundlegung. Sie gehen dabei zurück auf das geistmächtige Wirken von Wort und Sakrament.” 1

Maurer, dem die CA eine so schmale Basis bietet, finden wir bei diesem Thema zweimal: einmal bei der Auslegung der BS, dann aber bei einer Darstellung der ekklesiologischen Gesamtsicht Luthers.

Zunächst also beschreibt Maurer geistliche Leitung folgendermaßen:

„Geistliche Leitung ist eine Wirklichkeit, die mit der Existenz der Kirche gegeben ist. Die Kirche wird vom Geist Gottes in alle Wahrheit geleitet: das geschieht durch das geistgetragene Zeugnis von Christus. Die Apostel haben dieses Zeugnis zuerst ausgerichtet; die von ihnen zu Gemeinden gesammelten Christen haben es aufgenommen. Geistliche Leitung geschieht durch Menschen, die der Gemeinde dienen je nach den geistlichen Gaben, die sie empfangen haben. Unter den dienenden Gliedern der Gemeinde besteht kein Rangunterschied; sie geben alle nur weiter, was ihnen anvertraut wurde. Geistliche Leitung bedeutet nicht Herrschaft, sondern demütige Anerkennung der Regierung, die Christus durch den Heiligen Geist in der Christenheit ausübt.
Geistliche Leitung ist also eine Wirklichkeit, kein Problem. Wo sie als Problem empfunden wird, ist das ein Zeichen dafür, daß es an dienstwilligen Gliedern in der Gemeinde fehlt. Und dieser Mangel wiederum deckt auf, daß die Fülle der geistlichen Gaben nicht ernst genommen, nicht im Glauben empfangen wird. Geistliche Gaben sind da, sonst gäbe es keine Gemeinde; sie sind da, weil Christus durch sein Wort sie regiert. Aber die Christenheit muß die Gabe erwecken, die in ihr ist. Daß sie sie erkennt und anerkennt, ist der erste Schritt auf dem Wege solche Erweckung.” (99)

Diese theologische Lehre von der Kirchenleitung verbietet es, sie als eine nur funktional-administrative, als eine Art pragmatischen Überbau über der Eigentlichkeit der Gemeinde mißzuverstehen. Maurer übergeht stillschweigend, ohne sich in einen ausdrücklichen Gegensatz zu setzten, den für dieses Thema bedeutungslosen Artikel XIV und bezieht sich praktisch allein auf Artikel XXVIII. Er beschreibt die Leitungskompetenz als Wortgewalt, die über

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die Predigtvollmacht hinaus auch das Recht enthält, gehörte Predigt zu beurteilen und eine dem Evangelium widersprechende Verkündigung zu verwerfen. Das Weitere deckt sich mit den Kompetenzen des Pfarrers; bei ihrer Ausübung werde auf äußere Gewalt verzichtet, die iurisdictio sei den Bischöfen anbefohlen, aber nicht auf ein besonders hervorgehobenes Leitungsamt beschränkt. Sie liege nicht in einem institutionellen Amt, geschweige denn in seiner Person oder Bildung. Geistliche Leitung eigne der Gesamtheit.

Damit ist das Problem der speziellen und konkreten Leitungsverantwortung neutralisiert. Diese Ganzheit und Wechselseitigkeit ist dunkel; — sie führt in der Konsequenz zu einer konstitutiven Formlosigkeit, steht aber in Spannung dazu, daß als konkrete Institution iuris divini allein das Eine Amt gilt. Auch der von Maurer angeführte Gedanke Johann Gerhards, die Hierarchielehre mit der Kirchenverfassung zu parallelisieren, blieb reine Theorie. In der Theorie ist alles miteinander verschränkt. In der verbindlichen Gestaltung ist voll nur die Vertikale des Amtes ausgebildet, während alle horizontalen Formen von Zusammenschlüssen als Willensträger, die einen Beitrag zur Leitung leisten könnten, höchstens postuliert, aber nicht konkretisiert werden, bis hin zu der Belanglosigkeit der Synoden. Dies ist aber erkennbar die Folge der in der CA V vollzogenen Verbindung von Wort und Geist, welche unvermeidlich zur Prävalenz des Amtes führt, während die Hörer (auditores) erst unter dieser Voraussetzung als aktive Größen in Betracht kommen.

Man ist zunächst versucht, hier an die schlichte Vernunft und den Wortsinn zu appellieren. Leitung ist eine Tätigkeit, die auf Handeln zielt. Alles Handeln verändert die Lage vorwärts — es soll etwas geschehen —, richtig oder falsch. Daraus ergibt sich die notwendige Verbindung von Bewegung und Umfang, die sich in der gleichen Richtung verbinden müssen. Sie hat also spezifische Komponenten, die sich in der Entscheidung treffen und sie tragen müssen. Leitung kann daher von ihrer Aufgabe und Verantwortung her niemals strukturlos sein. Maurers Darstellung der Kirchenleitung ist ein Ausdruck der reinen Präsenz, läßt das Element der Bewegung und Gestaltung bis zur Unerkennbarkeit zurücktreten.

Für alle mir bekannten, vergleichbaren Auslegungen scheint mir charakteristisch, daß zwar immer wieder von den Charismata gesprochen wird, diese aber folgenlos erscheinen, indem ihre Vielfalt wiederum ihrer konkreten Inanspruchnahme und Integration entgegensteht. Vollends ist niemals vom charisma kyberneseos, der Gabe der Leitung der Rede. Nichts würde näher liegen, als sie hier zu nennen. Den so Begabten würde ja kata pneuma Leitung zufallen, nicht zuletzt angesichts der konkreten Erfahrung, daß diese Gabe gerade vielen anderen charismatisch Begabten in einem besonderen Maße fehlt, so daß dieser Mangel der Fruchtbarkeit der Geistwirkungen hinderlich entgegensteht. Von den Gaben wird so gesprochen, als ob sie immer nur miteinander oder aber simultan, austauschbar wirken, am wenigsten aber in ihrer spezifischen Weise. Im weiteren beschreibt Maurer Kirchenleitung wie folgt:

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„Das geistliche Amt, das der Kirche kraft göttlichem Rechtes eingestiftet ist, übt sie kraft eben dieses Rechtes aus, in göttlichem Auftrag, aber nicht in eigenem Namen, sondern im Namen der ganzen Christenheit und so, daß kein Inhaber des Amtes für sich isoliert dasteht, daß jeder vielmehr der geistlichen Leitung der ganzen Christenheit unterworfen ist. Geistliche Leitung gibt es also nicht nur in der Beziehung zwischen der einzelnen Gemeinde und ihrem Pfarrer. Sie verbindet vielmehr die ganze Christenheit zu einer geistlichen Einheit, sie ist das Merkmal (!) der ecclesia universalis. Und in einer ecclesia particularis besteht die geistliche Ordnung vor allem darin, das Verhältnis der Gemeinden und ihrer Pfarrer so zu bestimmen, daß jeder der ihn angehenden und bindenden geistlichen Leitung unterworfen ist.” 2

Man muß erneut nach der Konkretion dieser Aussagen und ihrer Verbindlichkeit fragen. Anerkannt dürfte sein, daß das Amt nicht ein Amt der Gemeinde, sondern der Kirche ist, daher auch die Bestellung zum Amt der Kirche gehört, und sich auf die Kirche überhaupt bezieht, nicht auf den Dienst in der einzelnen Gemeinde beschränkt. Dies hat jedoch namhafte lutherische Theologen und kirchliche Gruppen nicht an Bestrebungen gehindert, eine Gestaltung der Ordination so an die gemeindliche Installation anzugleichen, daß sie unter grundsätzlicher Wiederholbarkeit zu einer wesentlich partikularen wird.

Maurer durchbricht hier zwar die Anschauung Heckels von der Unverfaßbarkeit der ecclesia universalis, läßt aber jeden Anhalt für die Konkretion dieser Verbindung und Verschränkung vermissen. Was soll man sich unter der „geistlichen Leitung der (durch die) ganze (n) Christenheit” vorstellen, wenn diese sich nicht begriffsnotwendig in einer Art Konziliarität verbunden sieht, deren Wirkungen sich die konkrete ecclesia particularis nicht von vornherein unter Berufung auf ihre Eigenständigkeit entziehen kann. Und wenn hier ungeistlicher Zwang zu vermeiden ist, so muß doch eine geistliche Nötigung zur Einlassung auf geistliche Kritik unter der Schrift bestehen!

Von alledem, was Maurer hier entwickelt, steht jedenfalls nichts in den BS, vor allem nicht in der CA, deren entschiedene Aussagen ganz im Gemeindebereich verbleiben. Von dem hier Postulierten aus ist niemals die (lehrmäßige) Gemeinschaft der lutherischen Kirchen zu verwirklichen versucht worden. Der Austrag der jeweils führenden Theologen über Lehrfragen ist eben etwas anderes. Und zur geistlichen Leitung gehört zu allererst ein Recht auf authentische Information (also außerhalb des eigenen Bereichs!). Grundmann hat in unserer Zeit — Maurer vergleichbar — gesehen, daß die ökumenische Bewegung und Begegnung (vor allen Positionen) die lutherische Bekenntnisgemeinschaft nötigt, sich über ihren ekklesialen Charakter zu verständigen und daraus verbindliche Folgerungen zu ziehen. Hier bleibt dies aber Sache der Gelehrten und der Partikularkirchen, die kein Interesse haben, eine wechselseitige Verantwortlichkeit zu begründen.

Die lutherische Reformatoren haben von der Tradition der Alten Kirche punktuell und eklektisch das eine oder andere übernommen und gerühmt, wenn es zu ihrer Argumentation paßte. Mit der prinzipiellen Gleichstellung

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von Pfarrer und Bischof hoben sie jedoch die altkirchliche Verfassung aus den Angeln. Verdeckt bleibt also der Gegensatz zwischen einer Frontbildung allein gegen die Scholastik und der tatsächliche Haltung, welche scholastische und Alte Kirche gleichermaßen aus ihrer Tradition ausscheidet. Maurer selbst überspringt ohne ein Wort diese Differenz. Denn er redet nur unvermittelt von einer neuen schriftgemäßen Grundlegung.

Die Gleichung Pfarrer — Bischof ist als Gleichheitsgrundsatz so apodiktisch vorausgesetzt worden, daß er niemals auf seine grundsätzliche Bedeutung hin untersucht wurde. Ist dieser Gleichheitssatz eine Antizipation der in der Moderne sich ausbreitenden Gleichheitsideologie, die dann in der französischen Revolution zum ersten Mal ihren geschichtlichen Ausdruck gefunden hat?3 Angesichts dieser offenen Frage aber ist daran zu erinnern, daß schon die Alte Kirche einen fundamentalen Gleichheitssatz als Grundlage ihrer Verfassung ausgebildet hat. Es ist der Grundsatz der Äquivalenz der Ekklesien, welche bis in die Gegenwart in der Gleichheit aller Bischöfe auf den Konzilien sich unverändert erhalten hat. Es handelt sich also nicht um eine ephemere, in ihrer Bedeutung begrenzte These oder Anschauung, sondern um eine die ganze Verfassungsgeschichte der Kirche durchziehende und tragende Grundentscheidung. Diese Äquivalenz kommt aber weder der Ekklesia als Personengruppe noch ihren Repräsentanten als Person zu, sondern das eine wie das andere beruht auf dem Glauben, daß sowohl die Gemeinde wie das sie repräsentierende Amt und die Gemeinschaft wiederum der Ämter auf der Präsenz des Herrn an allen Orten wie der Präsenz des Geistes in ihrer Versammlung beruhe. Eben darauf beruht der korrespondierende Satz, daß jede einzelne Gemeinde wie auch ihr bischöflicher Repräsentant ihre volle Legitimität nur in der Gemeinschaft besitzen, daß also ihre Partikularität mit der Universalität der Kirche untrennbar verschränkt sind. Dies bedeutet die ekklesiologische Notwendigkeit für jede partikulare Größe, sich mit allen übrigen in Übereinstimmung zu halten. Es geht darum, sich „in dem Herrn zu erkennen”, wozu in der Liturgie immer wieder aufgerufen wird. Deshalb aber ist, wie Nicaea IV erkennen läßt, die dort vorausgesetzte Gemeindewahl allein nicht ausreichend, wenn sie nicht durch einen weiteren Akt mit der Gesamtheit der Kirche in Beziehung gesetzt wird. Die Wahrnehmung dieser Beziehung, die im konkreten Falle eine Verweigerung der Gemeinschaft als Möglichkeit einschließt, ist also eine konstitutive Notwendigkeit für die Legitimation des konkreten Amtes. Es kann deswegen auch folgerichtig nicht davon die Rede sein, daß die Kirchenleitung von der Gesamtheit und mit der Gesamtheit ausgeübt werde, wenn nicht die konkrete Divergenz zwischen der Entscheidung der je einzelnen Gemeinde und der außer ihr stehenden Gesamtheit in Anschlag gebracht wird. Deswegen bedeutet die von Maurer gegebene Beschreibung des Leitungsamtes eine Konfusion im strengen Sinne, weil sie die Dialektik, das Spannungsverhältnis, die unaufhebbare Divergenz zwischen der Partikularität und Universalität nicht sinngemäß gestaltet, sondern in einer Vereinerleiung aller Qualitäten außer Betracht läßt. Es wird hieran deutlich, in welchem Maße die

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von Maurer nachgebrachte Theorie der Kirchenleitung in das pneumatische Gefüge der alten Kirchenverfassung zerstörend eingreift. Aber er übergeht sie ja überhaupt und verweist zurück auf eine vorausliegende Basis in der Schrift, aus der alles abzuleiten sei.

Das heißt aber, daß die Geschichte der Kirche und deren Epochen von diesem Maßstab aus fundamental neu zu beurteilen seien. Wie die Renaissancepäpste unbedenklich die konstantinische Basilika samt den Gräbern ihrer Vorgänger abreißen ließen, so hat auch die Reformation die Geschichte der Kirche höchstens als Steinbruch der Argumente benutzt.

Maurer bezieht sich zunächst auf den, den Bekenntnisschriften zugerechneten „Tractatus de potestate et primatu papae” von 1537. Kraft menschlichen Rechtes halte er Abstufungen unter den christlichen Dienern für möglich und damit auch ein besonderes Ordinationsamt für Prüfung und Installation der von den Gemeinden gewählten Pfarrer, damit auch ein geringes Maß geistlicher Leitung über Pfarrer und Gemeinden. Er fährt dann mit dem Nachweise fort, daß sich allein Johann Gerhard und Schleiermacher auf der schmalen Basis dieser melanchthonischen Anregungen im weiteren Umfange mit dem Problem der Kirchenleitung befaßt hätten. Maurer selbst steht in diesem Zusammenhange. Die Schmalheit der Basis und die Unbestimmtheit der Gestaltung liegt bei allem am Tage. Denn einerseits betont auch Maurer die geistliche Notwendigkeit der Kirchenleitung, während er andererseits ihre konkreten Organe grundsätzlich und immer nur als solche menschlichen Rechts versteht und damit von vornherein entmächtigt. Diesen Zustand hat auch die bisherige Theoriebildung nicht überschritten, zumal sie sich bis in die Gegenwart ausdrücklich weigert, eine spezifische Dialektik zwischen Amt und Gemeinde als Grundschema einer Verfassung anzuerkennen, ebensowenig aber eine Dialektik zwischen Partikularität und Universalität.

Um so dringlicher ist es, jenes oben zitierte verfassungspolitische Programm der Reformation genauer zu betrachten. Bei jener „Abweisung und Widerlegung der Vorstellungen über geistliche Leitung, die der abendländische Katholizismus des Mittelalters herausgebildet habe”, handelt es sich freilich nicht allein um die theoretische Bekämpfung und Überwindung, sondern notwenig um ihre Ersetzung (101). Die Gegnerschaft gegen den mittelalterlichen Katholizismus ist unzweifelhaft legitim, denn in ihm sind diejenigen kirchentrennenden Entscheidungen gefallen, die den begründeten Anlaß der Reformation gegeben haben. Welches sind aber die Leitungsformen, welche das Mittelalter hervorgebracht hat und die allein mit ihm in Verbindung gebracht werden können?: die absolute Ordination, der päpstliche Primat im Sinne des Universalbistums und der Kardinalat. Wir befinden uns hier auf dem festen Boden der Verfassungsgeschichte. Hier wäre es also, mit Heiler zu sprechen, um die Wiederherstellung der altkirchlichen Autonomie gegangen. Erstaunlicherweise meint im Gegensatz dazu Pannenberg,4 daß unter der Voraussetzung dogmatischer Verständigung die Anerkennung der vorfindlichen päpstlich-bischöflichen Kirchenleitung möglich gewesen wäre, dies freilich wieder

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ausweislich der Formulierungen Melanchthons, daß der Papst sein Amt als ein solches menschlichen Rechts verstehe. Daß es im Gegenteil gerade um die geistlich-theologische Definition und Bestimmung eines solchen Amtes hätte gehen müssen, eine Aufgabe, die bis heute ungelöst ist, ist dabei nicht gesehen. Erneut zeigt sich hier der schon oben hervortretende Gegensatz und Widerspruch zwischen geistlicher Notwendigkeit und ius humanum.

Die päpstliche Vollgewalt, welche schrittweise die Besetzungsreche in der Kirche an sich zog und damit das innere Gefüge der Kirche selbst zersetzte, ist bekanntlich das ganze Mittelalter hindurch Gegenstand der heftigsten theologischen, kanonistischen und kirchenpolitischen Auseinandersetzungen gewesen. Es hat drei Versuche gegeben, sie in einem wesentlichen Sinne zu verändern:
1. Die römischen Kardinäle haben versucht, in einer Art Konsistorialregierung Anteil an der päpstlichen Gewalt zu gewinnen.
2. Nachdem das Papsttum durch das Schisma Urbans VI. seine Unfähigkeit erwiesen hatte, aus eigener Kraft seine Identität und Legitimität wiederzugewinnen, versuchte der Episkopat in der konziliaren Bewegung, die Suprematie des Konzils über den Papst festzulegen.
3. Auf den Reformkonzilen von Konstanz und Basel zeigten sich Tendenzen die Konzile mit dem Anspruch der Suprematie aufgrund einer Art von Repräsentation der verschiedenen Stände der Kirche zu gestalten, den bischöflichen Charakter des Konzils also einzuschränken.

Diese drei Versuche sind nicht allein durch den Widerstand des Papsttums, sondern auch schon aufgrund ihrer immanenten Schwächen gescheitert, die hier nicht dargestellt zu werden brauchen. Infolgedessen ging die Kirche wieder auf die alte Verfassung mit einem ausschließlich bischöflichen Konzil zurück.5 Nachdem aber die Kirche und das Papsttum selbst das Schisma nicht aus eigener Kraft, sondern nur durch die Hilfe des Kaisers hatten überwinden können, die „causa unionis” also erledigt war, war dieses von neuem stabilisierte Papsttum trotz aller Anstrengungen außerstande, die „causa reformationis” zu bewältigen. Es erwies zum zweiten Mal seine Funktionsunfähigkeit. Auch nicht der Streit mit der Reformation und deren Forderung, sondern erst die unwiderruflich vollzogene Abtrennung von halb Europa erweckte die Kräfte, die den Katholizismus in der Gegenreformation erneuert haben. Den geringsten Anteil an dieser Erneuerung hatte das Papsttum selbst. In dieser verfassungspolitischen Lage besaß die Reformation selbst kein Programm, welches die Formen der Kirchenleitung in einem wesentlichen Sinne erneuert hätte. Denn die Denaturierung des Papsttums zu einer administrativen Leitungsfunktion war keine solche Lösung.

Auf der anderen Seite aber hatte sich die lutherische Reformation bereits in solchem Maße mit dem Landesfürstentum verbunden und so wenig zur Ausbildung eigenständiger Leitung der entstehenden Konfessionskirche getan, daß die bei Maurer nicht ausdrücklich angesprochene Lücke offenkundig ist. Daß in dieser Lage, d.h. der überall wirksamen Tendenz des Fürstentums

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zum Erwerb kirchlicher Rechte, die Wiederherstellung der kirchlichen Autonomie nicht grundsätzlich unerreichbar war, zeigt die Entwicklung der Kirche von England. Sie hat unter Rezeption einiger Artikel des Augsburgischen Bekenntnisses vermieden, die Reformation zu einer theologischen Lehrfrage werden zu lassen. Sie hat vermieden, die Kirche zwischen landesherrlichen Kirchenregiment und professoraler Doktrin aufzuspalten.

Der Scherz, daß im 16. Jahrhundert sich die Kirche von Rom von der Kirche von England getrennt habe, wäre unmöglich, wenn nicht ein Quentchen Wahrheit daran wäre. Tatsächlich hat sich hier eine Jurisdiktion als autonomer eigenständiger Traditionsverband von einer Kirche getrennt, welche neben ihrem Universalanspruch auch einen regionalen Jurisdiktionsanspruch umschloss. Aber diese Entwicklung war allein durch das Zusammentreffen der insularen Lage, der besonderen Eigenschaften und der Spiritualität der englischen Kirche möglich.

Die reformierte Kirche verban den gemeindlichen Presbyterat mit dem Synodalprinzip; sie blieb dadurch regional verfaßt und entscheidungsfähig (Frankreich, Schottland, Niederlande). Beide Kirchen haben also in verschiedener Weise die beiden Grundelemente der Kirchenverfassung — Amt und Synode — als konstituierende Momente festgehalten, deutlich mit verschiedenen Schwerpunkten — die Anglikaner beim Bischofsamt, die Reformierten bei der Synode. Jedenfalls ist in beiden beides miteinander erhalten.

Genau zwischen beiden steht die lutherische Kirche in einem verfassungsrechtlichen Vakuum. Sie kennt nur das Amt und die congregatio, aber keine Form des Verbundes. Wenn Luther einmal sagt, die Kirche könne nicht besser regiert werden als durch das Zusammenwirken der Bischöfe, so fehlt bei der Bedeutungslosigkeit des Synodalgedankens — in der ganzen CA kommt er überhaupt nicht vor — jede Form der Vergemeinschaftung. Dieses Regiment kann nicht bei der Gesamtheit der zu Bischöfen ernannten Pfarrer — die keine Verantwortung für ihre Mitbischöfe haben —, sondern nur bei den episcopi proprie dicti liegen.

Die Einsicht, daß der Verband der Gemeinden als und in Partikularkirchen und deren Verbindung selbst eine geistliche Notwendigkeit ist, daß sie Glieder sind und nicht monadenhafte Multiplikationen der Kirche an jedem beliebigen Ort, ist durch die ausschließliche Vertikalität und die damit verbundene Verkümmerung der communio abgestorben.

Die nachtwandlerische Sicherheit, mit der die lutherische Kirche — wie sich im Vergleich zeigt — zwischen Rückkehr zur gesunden Tradition und wohlerwogener Neugestaltung in die Verfassungslosigkeit gesteuert hat — in die Lücke zwischen beide Alternativen gefallen ist —, weist darauf hin, daß die Reduktion der Gestalt durch zentrale Motive veranlaßt und getragen worden ist und wird. Sie läßt sich eher von konfessionsfremden oder säkularen, pragmatischen Einwirkungen die fehlende Organe nahebringen und ersetzen, als daß sie sie aus eigenen Kräften bildete.

Der Befund dementiert das Programm Maurers. Denn wenn ihr geschichtlicher

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Auftrag die Ersetzung der früheren (mittelalterlichen oder auch altkirchlichen) Leitungsformen war, so hätte sie diese Fragen mit anderer Energie und Grundsätzlichkeit übernehmen müssen, statt sie sich von der Situation abringen zu lassen.

Trotz der Situationsbedingtheit und Unabgeschlossenheit der Bekenntnisschriften hat die lutherische Kirche ihre Ekklesiologie und Kirchenrechtslehre nicht weiterentwickelt. Sie hat sich insbesondere mit dem Phänomen der Regionalkirche als solcher nicht auseinandergesetzt, erst recht nicht mit dem Verhältnis der eigenen konfessionsverwandten Partikularkirchen zueinander — wie erst recht nicht mit ihrer eigenen Partikularität. Was auf diesen Feldern an Erkenntnissen, Notwendigkeiten, Lösungen und Bestrebungen hervortrat, wurde automatisch sekundär und partikular. Organe zur Weiterbildung und Wahrnehmung der Verantwortung ihrer geschichtlichen Existenz hat sie nicht ausgebildet — sie hat kein Interesse dafür gehabt und deswegen auch keine Instrumente. Wahrnehmung heißt die Erkenntnis von Tatsachen und der daraus hervorgehenden Verpflichtungen und zugleich die aktive Inangriffnahme solcher Aufgaben. Da dies alles nun sekundär und partikular im besten Falle Anwendung schon angeblich vorhandener Grundsätze war, so war und wurde auch alles disponibel und von geringerer Verpflichtungskraft. Geschichte gab es nur in einem mehr oder minder eng begriffenen Einzelfall, womöglich allein in der Vollmacht und Einsicht Luthers — danach nicht mehr. Quod non est in confessione nec est in ecclesia nec in historia.

Die lutherische Kirche konnte die bestehende Leitungsordnung nur um den Preis einer anderen Abhängigkeit abwerfen, indem sie zugleich auf die Bildung eigener Leitungsformen verzichtete. Tatsächlich hat jedoch die lutherische Reformation über die Auseinandersetzung mit dem Papsttum weit hinausgegriffen. Trotz seiner Vertrautheit mit der älteren Kirchengeschichte spart Maurer das Verhältnis zur alten, zur vorscholastischen Kirche völlig aus. Denn die hier interessierende Differenzierung von Pfarrer und Bischof ist keine Frucht der Scholastik, sondern eine grundlegende Entscheidung schon der vorkonstantinischen Kirche, wie gegenüber Pannenberg dargelegt.

In dem von Maurer formulierten Programm, welches zugleich die historisch-theologische Rechtfertigung der Reformation einschließt, und seiner Begründung ist ein immanenter Selbstwiderspruch enthalten, den Maurer selbst nicht empfindet. Liegen die kirchentrennenden Entwicklungen des Mittelalters etwa in Höhe von Petrus Lombardus, so liegt zwischen diesem Bruch und der Verfassungsgestaltung der Alten Kirche mindestens ein Jahrtausend. Sie hat bereits in den verfassungsrechtlichen Cannes des Konzils von Nicaea eine Abrundung und Zusammenfassung erfahren. Aber die Bevorzugung des Apostolicums vor dem (konziliaren) Nicaenum bei der Verfassung der CA zeigt die Tendenz an, hinter die im Konzil sichtbar verfaßten universalen Kirche auf die bei der Traditionsbildung noch begriffene vorkonstantinische Kirche zurückzugreifen, Nicaea zu hintergreifen — obwohl ja Nicaea die Frucht der Zeit war, unmittelbar nach dem Ende der Verfolgung gepflückt.

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Spätestens mit Sohm und Heiler waren das innere Gefüge, der Geist und die Struktur der alten Kirchenverfassung umfassend dargestellt und jedem Theologen in verständlicher Form zugänglich.

Den Weg, den die Neugestaltung der Kirchen- und Gemeindeleitung tatsächlich genommen hat, beschreibt Albrecht Peters wie folgt:

„Hatte er (Luther) 1523 noch einem jeden Gemeindeglied das Recht zuerkannt, in der Gemeinde zu bezeugen, so unterscheidet er 1532 zwischen den lehrenden Propheten, die er mit den Predigern hineinsetzt, und den hörenden ,Sitzern’, die er als den großen Haufen oder den Pöbel abqualifiziert. Einen Predigtdialog in der Gemeinde sollen höchstens die ordentlichen Prediger halten, doch auch diese hält Luther jetzt für ,zu wild und vorwitzig’. So wird die Gemeinde in der Kirche zum schweigenden Zuhören verurteilt; erst mit den Collegia Pietatis, den sich aussondernden Erbauungskreisen des Pietismus, bricht ein Gespräch über die Erfahrungen mit der Schrift neu auf. Spener empfand dies als echten Geistesfrühling, als Verwirklichung des Priestertums aller Gläubigen und als ein erneutes Vorantreiben der steckengebliebenen Reformation.
Ein analoges Zurückdrängen der genossenschaftlichen Ansätze aus der reformatorischen Frühphase beobachten wir auch im Blick auf die Bürgergemeinde.” 6

Peters schildert hier also den Umbruch zwischen der Schrift, über das „Recht der christlichen Gemeinde, Lehre zu urteilen” von 1523 zu entgegengesetzten Stellungnahmen wenige Jahre später. Es handelt sich hier um weit mehr als um Erfahrungen Luthers, die ihn hätten vor dem zurückschrecken lassen, was er früher kühn und frei programmiert hatte.

Man muß dies innerhalb der Logik einer geschichtlichen Bewegung verstehen, welche sich zur radikalen Kritik der Geschichte und zum Wiederaufbau aufgrund ihrer Erfahrungen und Erkenntnisse beauftragt und bevollmächtigt versteht.

Dem Rückgriff auf den Ursprung entspricht ein Enthusiasmus der Unmittelbarkeit und der Basis, die sich in der Schrift von 1523, im Stil eines „Syndikalismus” niedergeschlagen hat. Letzten Endes hat erst Käsemann diesen traditionellen Nimbus exegetisch zerstört. Luther erlebte nicht nur in seiner pastoralen Erfahrung eine Enttäuschung; er erkannte vielmehr als objektive Gegebenheit, daß die vorfindlichen Gemeinden — ob aktiv oder träge — außerstande waren, den geschichtlichen Sinn der Reformation folgerichtig und gegen subjektive Stimmungen und Zufälligkeiten durchzuhalten. Dazu bedurfte es der theologischen Schulung. Es war kein Klerus mehr da, der unter der Autorität des Bischofs in der verfaßten Kirche aufwuchs, auch nicht ein Ordensklerus, der in der Autonomie des Ordens communio und geistliche Disziplin erfuhr. Es blieben nur allein die theologischen Fakultäten als Bildungsstätte übrig, die selbst keinen kirchenverfassungsmäßigen Rechtsstatus besaßen, ihren Schülern aber auch keine eigene Lebensform ekklesialen Charakters boten. Luther ist ein epochaler Denker durch den grundsätzlichen Versucht, Geschichte mitten

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in der Geschichte rückwärts aufzuheben. Im Vergleich zu der Bedeutung dieses Unternehmens ist die säkulare Renaissance in ihrer Begründung und ihrem antikisierenden humanistischen Optimismus vergleichsweise harmlos. Denn Luthers Position stammt nicht aus der Fortdauer menschlichen Selbstvertrauens und dem Enthusiasmus einer neuen Entfaltung, sondern im Gegenteil aus einer radikalen Kritik an der Geschichte überhaupt. Damit aber tritt erst eigentlich die entscheidende Schwierigkeit hervor. Denn die Reformation ist selbst Geschichte. Sie trägt die Merkmale und die Last der Geschichtlichkeit der Kirche, wie ihrer eigenen Geschichtlichkeit. Nachdem sie alles grundsätzlich in Frage gestellt hat, muß sie alles Notwendige neu erklären und gestalten. Und alles dies beruht auf der Schriftauslegung, welche die liturgisch-praktische wie die regiminale Existenzerfahrung nicht einschließt und auch nicht ersetzen kann. Die Reformation muß in der Geschichte konkret ebenso handeln wie diejenigen, deren Handeln sie kritisiert. Sie wird nun, ob sie es zugeben will oder nicht, mit geringen Unterschieden vor dieselben Notwendigkeiten geschichtlicher Existenz gestellt. Sie kann nichts wesentlich anderes tun, als die von ihr Verdammten. Aber aufgrund der ideologischen Generalformel vom „reformatorischen Ansatz” muß ständig behauptet werden, daß alles sachlich Identische doch vermöge jenes angeblichen Zusammenhanges etwas anderes sei.

So wird der christliche Glaube, so wird aus der Kirche, die ihre eigene Geschichte hat, mit ihren großen geschichtlichen Gestaltungen, ihren Belastungen und Problemen, der Versuch, durch immer erneute Ableitungen aus den Basis-Voraussetzungen das Reich der Freiheit zu erreichen. Jede konkrete Entscheidung über die Fortbildung der Gestalt muß erst aus umfassenden systematischen und historischen Ableitungen begründet und gerechtfertigt werden. Diese Bewegung, die grundsätzlich das Ganze der Kirche wie Marx Hegel auf die Beine zu stellen unternommen hat und immer von neuem unternimmt, wird selbst eine partikulargeschichtliche Erscheinung, die sich als solche zu rechtfertigen und an ihren Früchten auszuweisen hat. Es zeigt sich dann aber, daß sie jedenfalls nicht mehr Früchte, im gewissen Umfange aber spezifisch weniger Früchte hervorgebracht hat als andere, welche sie gemeint hat, durch diese Umkehrung der Geschichte grundsätzlich bestreiten zu können. Diese Erfahrung mußte ihr erst durch die ökumenische Bewegung der Gegenwart nahegebracht werden. Diese hat nunmehr diese Konfession — als partikulare geschichtliche Kirche neben anderen — auf ihre Beziehungen zu diesen anderen befragt und damit ihr Selbstverständnis hinterfragt.

Auch die unbestrittene, von jenen kompetenten Autoren dargestellte tiefgreifende Differenz zwischen der älteren Kirchenverfassung einerseits, der mittelalterlichen Entwicklung der lateinischen Kirche und des Papsttums andererseits ist als Rückfrage an die reformatorischen Kirchen niemals thematisiert worden. Indem selbst der kundige Kirchenhistoriker Maurer sich in die Reihe der protestantischen Kirchenrechtslehrer einreiht, deren Konzeption immanente, ihnen unbewußte Selbstwidersprüche enthalten, macht er zugleich mit

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seiner prägnanten Formulierung des Programms deutlich, daß die Achillesferse der reformatorischen Kirchenrechtslehre die Geschichte selbst ist. Der Widerspruch zwischen geschichtlicher und apriorischer Begründung — geschichtliche Begründung aus einer zeitlich definierten Abirrung, systematische Neubildung durch Ableitung aus der Schrift —, hat sich heute dadurch verschärft und neu dargestellt, daß in der ökumenischen Begegnung unseres Jahrhunderts sowohl die altkirchlichen wie die mittelalterlichen Konzeptionen sich als gegenwärtige lebendig und manifest im Gegenüber darstellen. Die Auseinandersetzung geht also nicht allein um die Wertung vergangener Epochen, sondern auch um die geistliche Virulent der getrennten Kirchen. Während aber Maurer jenes Programm für die Reformation formuliert, sind die Kirchen der Reformation selbst geschichtlich geworden, die von dieser ihrer eigenen Geschichtlichkeit weder loskommen können noch wollen. Der methodische Widerspruch zwischen Korrektur und Neubildung stellt sich zugleich als Widerspruch zwischen der Behauptung und Fortführung reformatorischer Tradition und der vermeintlichen Jederzeitigkeit der Rückprüfung und Neubildung, zwischen Traditionalismus und Prinzipiendenken dar. Maurer selbst verdanke ich übrigens die Belehrung darüber, daß die Formel von der „ecclesia semper reformanda” — die auch das Zweite Vatikanische Konzil übernommen hat — nicht reformatorischen, sondern schwärmerischen Ursprungs ist.

 

2. Programm und Geschichte II

Über das zur Kirchenleitung Gesagte hinaus erfordert eine Studie Beachtung, die Maurer unter dem Titel „Der ekklesiologische Ansatz der abendländischen Kirchenspaltung nach dem Verständnis Luthers” vorgestellt hat. Er sagt hier:

„Was wir mit einem geschichtlich mehrdeutigen Wort ,Reformation’ nennen, ist ein ekklesiologisches Geschehen. Es geht in ihm, auch wenn Fragen der Lehre behandelt werden, um die Gestalt der Kirche. Was Luther an persönlichen Einsichten und Erfahrungen überkommen und in der Auseinandersetzung mit der theologischen, kirchenrechtlichen und liturgischen Tradition lehrhaft geprägt hat, ist keine Theologie neben anderen Theologien, sondern ein Anruf, eine Proklamation an die ganze Christenheit. Sie soll nicht eine neue Lehre, sondern das Evangelium annehmen.
Dabei hätte man sich mit der römischen Kirche in vielen Hauptpunkten einigen können: Das ,Sola Gratia’ und ,Sola Fide’ läßt sich, wie Erfahrungen mancher Einigungsgespräche bezeugen, so verständlich machen, daß beide Seiten die Formeln übernehmen können; das ,Solus Christus’ wird ohnehin keiner der beiden sich streitig machen lassen. Aber mit der Formel ,Sola Scriptura’ ist eine unübersteigbare Grenze gezogen. Die Formel bietet ja nicht nur ein biblizistisch-gesetzliches Formalprinzip, das man einer selbständigen Geltung der Tradition entgegensetzen könnte, sondern sie faßt auch das bisher genannte dreifache ,Solus’ zusammen: Christus allein, der

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allein aus Gnade allein dem Glauben das Heil schenkt, spricht es uns zu ohne aktive menschliche Vermittlung, sondern allein durch sein lebendiges Wort. Dieses allein von Christus her an uns ergehende Wort schließt ein verbindlich urteilendes Lehramt der Kirche aus. Es verbietet eine heilsmittlerische Lehrgewalt des Papstes, die mit heilsverbindlicher Wirkung die Lehre der Kirche definieren könnte. An dieser Stelle stoßen wir auf den ekklesiologischen Ansatz der abendländischen Kirchenspaltung. Es ist aufzuzeigen, wie er sich bei Luther entwickelt hat.” 7

Maurer sagt einleitend, daß es Luther um die Gestalt der Kirche gegangen sei. Dieser Begriff ist jedoch eigentlich ein moderner. Er hat seine Bedeutung durch die Erfahrung erlangt, daß Gestaltungen in der Moderne zerstört oder rein funktional-technisch sinnentleert werden. Dieser Gesichtspunkt kann schwerlich für Luther gelten, der aber auch sicherlich nicht gestaltungsfreudig gewesen ist, zumal dem immer die Sorge um Gesetzlichkeit entgegenstand.

Jene Programmbeschreibung kehrt nun aber das bisherige Geschichtsbild und Selbstverständnis der lutherischen Kirche völlig um. Bisher wurde als zentrale Frage der christlichen Existenz selbst und eben darum als zentrales Anliegen der Reformation, als punctus stantis et cadentis ecclesiae, die Rechtfertigungslehre verstanden. Daß Verständigungsmöglichkeiten mit der römischen Kirche bestanden, wie sich insbesondere in Regensburg 1541 zeigte, war stets bekannt. Aber diese Minderheitsmeinung wurde im Rom nicht akzeptiert; das Trienter Konzil hat sich mit respektabler Gründlichkeit mit dieser Frage befaßt, wobei sogar eine Anzahl von Konzilsvätern ihre katholische Rechtgläubigkeit aufs Spiel setzten. Bis in die Gegenwart hat sich dieser Grundgedanke so durchgehalten, daß er noch heute bei jedem Anlaß als Fundament hervortritt und bis zum Überdruß fast als alleiniger Glaubensartikel vertreten wird. Als in unserer Zeit katholische Theologen wie Küng, Pesch u.a. nunmehr in größerer Breite und Grundsätzlichkeit die Vereinbarkeit verschieden gefaster Rechtfertigungslehren erwiesen, bedeutete dies einen lebhaft empfundenen Einschnitt in der Entwicklung. Demgegenüber trat das kompromißhafte Dekret des Trienter Konzils zurück und geriet in einem Grade in Vergessenheit, wie dies bisher kaum bei irgendeinem approbierten Konzilsdekret beobachtet worden ist.

Daß der solus Christus ohnehin außer Streit sei, ist nicht so unzweifelhaft, nachdem die lutherische Theologie in der Gegenwart begründete Veranlassung gehabt hat, den ersten Artikel gegen einen Christomonismus zu verteidigen, und sie sich selbst zugleich einer begründeten Kritik ausgesetzt sieht, die Pneumatologie verkürzt zu haben.

Auslegungsbedürftig ist dann die These, daß mit der Formel „sola scriptura” die entscheidende, unübersteigbare Grenze gezogen sei. Denn wenn auch Maurer — keineswegs unkritisch gegen humanistische Verfälschungen — sich gegen Tendenzen und Gefahr einer Buchreligion wendet, so ist doch die Bedeutung des Wortes neben dem Begriff der scriptura noch in zwei anderen Formen vertreten worden: gegen den bloßen Schrifttext die „viva vox Evangelii”,

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deren Bedeutung und Charakter bis zur Sakramentalisierung der Verkündigung gesteigert wird, und schließlich die uns fremd gewordene Überzeugung Luthers von der unmittelbaren Evidenz des Wortes als solchem.

Die Folgerungen gegen die päpstliche Autorität und Lehrgewalt werden dann — in der Wiedergabe durch Maurer — durchgeführt durch die Gegenüberstellung zweier Vorstellungen vom Konzil:

„So gehen also durch die Reformationszeit hindurch zwei Vorstellungen vom Konzil nebeneinander her. Die eine ist naturrechtlich-antipapalistisch. Sie konnte von der Kurie nicht akzeptiert werden. Sie ist erst im Tridentiner praktisch überwunden worden, wenn sie theoretisch auch bis in die Aufklärung hinein Bestand behielt. Die zweite Anschauung ist die evangelische, die freilich nie praktiziert worden ist, die aber den Protestanten ihre Forderungen nach einem allgemeinen rechtmäßigen Konzil laut zu erheben immer wieder ermöglichte. Diese Konzilsvorstellung ist unvereinbar mit der ersten. Sie ist zugleich von konfessionsscheidender Wirkung, weil sie nämlich auf dem reformatorischen Verständnis der Kirche sich aufbaut.” (36)

Das Gesamtbild ist freilich umfänglicher. Neben beiden Konzeptionen steht als drittes das Papstkonzil, welches zwar vom Papst legitimiert und approbiert ist, dessen Beratungsarbeit Papst und Kurie trotzdem nicht ersetzen können. Dieses wird hier nicht mehr erwähnt, weil es ohnehin Gegenstand der Kontroverse ist. Als vierte Form ist jedoch das vorpäpstliche Konzil der Alten Kirche zu betrachten, dessen Beschlüsse nicht ex sese, sondern erst durch Rezeption der universalen Kirche Gültigkeit erlangten. Diese offene Struktur war für die Reformatoren nicht einsichtig, welche es sich mit der Einzelkritik konziliarer Vorgänge in der Alten Kirche genügen lassen.

Die konziliare Theorie des vorausliegenden bischöflichen Reformbewegung wird so verächtlich abgetan wie ein Marxist einen Sozialdemokraten abfertigt. Dem neuen Konzilsbegriff wird dagegen konfessionsscheidende Kraft beigemessen. Danach ist das allgemeine Konzil

„nicht göttlichen, sondern menschlichen Rechtes, aber durchaus fähig, verbindliche Glaubensentscheidungen zu treffen, wenn dabei die Begründung in der Schrift gewahrt bliebt.”

Das Nachdenken über das Konzil habe einen neuen Kirchenbegriff hervorgebracht. Diese Anschauung vom Konzil ist freilich nie praktiziert worden, wie Maurer nicht verschweigt.

Zu erwägen ist zunächst die Antithese von göttlichem und menschlichem Recht. Wenn auch dieses Konzil „fähig ist, verbindliche Glaubensentscheidungen zu treffen”, so besitzt diese Aufgabe und Fähigkeit eminente Bedeutung für die Kirche (35). Sie besitzt dieselbe Dignität und Verbindlichkeit, welche der magnus consensus der Reformatoren für ihre Aussage der CA selbst in Anspruch nimmt. Sie hat Bekenntnischarakter. Streng genommen ist nur konzilsfähig, was im weitesten Sinne bekenntnisfähig ist. Wenn das aber so ist, so ist der Begriff des menschlichen Rechts eine tendenzielle Abwertung. Es handelt sich vielmehr bei allen Rechtsformen um ius ecclesiasticum, um eine Prozedur

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und Institution, welche eine wesentliche Aufgabe der Kirche betrifft, für deren Lösung durch eine dem Wesen der Kirche entsprechende Gestalt gefunden werden muß. Insofern ist sie nicht einfach jeweilig und beliebig, sondern erfordert eine sachgerechte spezifische Durchbildung. Das Konzil muß zugleich einen repräsentativen Charakter besitzen, um das ganze Spektrum der Kirche jenseits von Zufälligkeiten und persönlichen Einflüssen zur Geltung zu bringen. Dies setzt aber eine durchgebildete Lehre von der Partikularkirche voraus, die imstande sein muß, sich repräsentieren zu lassen (eine Eigenschaft, welche heute noch der dänische Theologe Koch an seiner Kirche vermißt). So enthielt auch die Struktur der Reformkonzilien von Konstanz und Basel eine damals unausgetragene, aber wesentliche Problematik der Legitimation. Eine Tendenz zur Durchbildung aktiv berechtigter Partikularkirchen ist in der lutherischen Reformation nur vereinzelt versucht, aber nirgends mit Grundsätzlichkeit vertreten und verfochten worden.

Wie steht es aber nun eigentlich mit dem so scharf abgelehnten ius divinum der Konzile? Der Gedanke des consensus, den auch CA unbedenklich benutzt, ist in seinem Ursprünge kein theologischer, sondern ein philosophischer. Er beruht auf der Voraussetzung der Einheit der Vernunft, welche sich am ehesten in einer möglichst vollständigen Vertretung aller denkbaren Erkenntnisse und Auffassungen herausstellen muß. Dieser Begriff ist in der Kirche durch den Glauben an die erhellende und vereinigende Führungsmacht des Heiligen Geistes verwandelt und getauft worden. So versammelt sich das Konzil unter Anrufung des Geistes und versteht sich als ein im Heiligen Geiste versammeltes und darum die universale Kirche repräsentierendes. Es ist also nicht eine gesammelte Amtskompetenz, sondern eine sie transzendierende Begegnung im Geiste, in welchem sich die Beteiligten „als in dem Herrn” erkennen. Ohne diesen Geisterglauben kann das Konzil nicht existieren und eben darum hat auch die Alte Kirche dem repräsentativen Konzil als solchem ohne die hinzutretende Zustimmung der Gesamtkirche bindende Kraft nicht zugebilligt. Wenn hier ein voller Konsens nicht erreicht wird, ein partikularer Dissens übrigbleibt, so muß dieser dann in der Geschichte unter beiderseitiger Verantwortung ausgetragen werden. Die Aufhebung der Anathemata nicht nur zwischen Ost und West, sondern auch gegenüber den schismatischen Orientalen zeigt, daß solche Prozesse sich über eine lange Zeit hinziehen können und auch langfristig nicht unmöglich werden. Wiederum treffen wir an diesem entscheidenden Punkt die Frage nach der Rolle des Geistes, welche durch die Kurzschließung des Verhältnisses von Wort und Geist nicht gelöst werden kann.

Interpretationsbedürftig ist auch der Schriftvorbehalt. Dies ist im Grunde eine Selbstverständlichkeit, da jeder sich auf die Schrift berufen wird. Zudem ist für uns klar, daß die Differenz zwischen Schrift und Tradition in Wahrheit nicht entscheidend sein kann. Auch das Trienter Konzil hat keineswegs einfach ex lata sententia ecclesiae zu entscheiden unternommen. Als ein wirklicher Vorbehalt kann diese Aussage nicht gelten. Denn wer sollte ihn geltend

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machen? Der einzelne oder die einzelnen, die einem solchen Konzilsbeschluß widersprechen und sich auf die Schrift berufen, können freilich nicht genötigt werden, gegen ihre gewissenhafte Überzeugung eine solche Sentenz anzunehmen. Die Kirche als Träger des Konsenses wird gleichwohl mit ihrem damnamus entscheidende Unterschiede verteidigen müssen. Handelt es sich um Kirchenverbände, so wäre der Dissens die Grundlage eines dogmatischen Schismas. Insofern trifft dieser Vorbehalt die Definition des Konzils nicht und ist eher eine Reminiszenz aus der Verteidigung gegen eine Konzilsauffassung, welche Autorität ex sese beansprucht. Wesentlich ist dagegen die ungeschminkte Einräumung Maurers, daß ein solches Konzil niemals stattgefunden hat. Wenn dieser Konzilsbegriff aber ein wesentlicher Ausdruck eines neuen Kirchenbegriffs ist (die Fragwürdigkeit der Formel „Kirchenbegriff” braucht hier nicht erörtert zu werden), so kann eine solche Aussage keine wesentliche Bedeutung haben, weil und wenn sie überhaupt keinen Sitz im Leben der Kirche hat. Während Grundmann in unserer Zeit die Verpflichtung des Lutherischen Weltbundes vertreten hat, Kirche zu werden, so hat dieser doch, wenn auch ohne Erfolg, lediglich und vergeblich versucht, auf einer Welttagung die anstehenden Fragen zur Auslegung der Rechtfertigungslehre zu klären.

Das Bild dieser Konzeption wäre unvollständig, ja unverständlich, wenn nicht Maurers Bild der Grundeinstellung Luthers hinzugenommen wird. Luther gehe es nicht um Geschichte, auch nicht um Kirchengeschichte, wenn er nach der rechten Kirche in der Geschichte frage. Es gehe ihm dabei um die Kirche, die im Endgericht bestehen kann: Deswegen in keinem Sinne nur Reform, auch nicht nur Wiederherstellung eines idealen paradiesischen (d.h. ursprünglichen) Zustandes, nicht um Renaissance. Die Rückführung der Kirche zu ihren reinen Anfängen sei der Irrtum der Spiritualisten, Humanisten, Johanniten und radikalen Franziskaner. Auch sei Luther nicht einer Verfallsidee unterworfen. Er nehme drei Perioden der Kirchengeschichte an, die ineinandergreifen und sich überdecken. In der Frühzeit sei die Kirche eine Kirche der Märtyrer, gegen die sich das Schwert der Verfolger erhob, dann folge die Zeit der Doktoren — gegen sie erhoben sich die ungläubigen Ketzer. In dieser letzten bösen Zeit habe die Kirche selbst das Schwert genommen und verfolge die wahren Christen.

Luther meint also nicht so sehr eine positive Periodisierung der Geschichte im Sinne Joachims von Fiore, sondern umgekehrt eine sich ständig erneuernde — ja verschärfende! — Konfliktsituation. Daß aber alle Zeichen der Verdammnis sich um so deutlicher enthüllen, sei kein Beweis zu einem Umschwung zum Besseren, sondern für das drohende Ende. Darum gehe es um keine neue Theologie, sondern darum, die alte Wahrheit zu erhalten, die von denen bezeugt werde, die die endzeitliche Rettung ergreifen. Die apokalyptische Zeitdeutung steht freilich konträr zu dem Enthusiasmus der genannten Richtungen, sie ist aber nun doch nicht ohne Verwandtschaft zu jener triadischen Geschichtskonzeption zu verstehen, die als faszinierendes Bild sich durchgehalten hat. Im Endergebnis ist eigentlich nur der Pessimismus gegen den Optimismus

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eingetauscht. Freilich erklärt dies, warum selbst die elementaren Notwendigkeiten einer neu geordneten Kirche zugunsten des sich gerade Bietenden, wie der Fürsorge der praecipua membra, zurückgestellt werden.

Der oben umschriebene Konzilsbegriff stellt sich so wenig wie CA VII die Frage: „quis iudicabit?”. Wie das Konzil zustande kommen kann, welche Bedeutung und Vertretung der angefügte Schriftvorbehalt finden kann und muß, bleibt offen. Ja es fehlt selbst das Bewußtsein der Notwendigkeit einer Lehr- und Bekenntnisbildung der ganzen Kirche im Konzil. Daß bei einem Konzil alle Partikularkirchen vertreten sein müssen und sich das Konzil nicht auf die bisherige päpstliche Obödienz beschränken kann, also auch die Ostkirche umfassen muß, sagt Luther selbst. Doch ein Antrieb, in welcher Form auch immer, zum Konzil zu kommen, ist nirgends zu finden. Auch die Frage, ob der in der CA niedergelegte Konsens die Aussicht hätte, über die Grenzen ihrer unmittelbaren Träger hinaus angenommen zu werden, wird nicht gestellt. Es genügt, daß die so erkannte Wahrheit eben in jener Endsituation mit Deutlichkeit vertreten wird. Eben dieses Urteil über Geschichte verwehrt nicht nur den humanistischen Rückgriff, sondern auch jede Haltung, die sich selbst in der Geschichte versteht und verantwortlich sieht, bis die letzten Dinge dem allen ein Ende machen. So bedeutet dieser Endglaube eine Beschränkung auf die Aktualität und die Gegenwart der Wahrheit. Die Konzilsthese selbst — die es allerdings den Protestanten ermöglicht, wie Maurer mit Recht sagt, sich auf das Konzil zu berufen — und dessen gleichzeitige Bedeutungslosigkeit für die entstehende Konfession verweisen darauf, daß dahinter eine wesentlich tiefere, tragende Überzeugung steht. Man könnte sie so formulieren: die wie immer verstandene Evidenz des Wortes ist in dem Sinne jederzeit voll präsent, daß man alles dessen gar nicht bedarf, sofern nur jetzt und hier die Pflicht erfüllt wird, sich zu der bleibenden Wahrheit zu bekennen. Diese Wahrheit, dieses Evangelium ist das von Luther erkämpfte Vorverständnis von Gesetz und Evangelium, von dem aus er erklärtermaßen auch die Heilige Schrift übersetzt hat. Aber wie kann man ohne weiteres, ohne Vorbehalt und Übersetzung eine solche apokalyptische Bedrängnis vierhundert Jahre später als relevant einbeziehen? Dies trifft auf die Situation, in welche die lutherische Reformation sich gestellt sieht — zwischen der geschichtlichen Objektivation und der schwärmerischen Subjektivierung des Geistes. Aber was dann, wenn die apokalyptische Erwartung und Dramatik sich als Täuschung erweist, wenn anstelle der Reformation der Kirche schlechthin oder der Bewahrung ihres heilen Kerns das Nebeneinander streitender Konfessionen tritt? Der Ausfall dieser Situationsdeutung entwertet dann alle Schlussfolgerungen und Positionen, die aus ihr entstanden sind. Nicht erst eine neue Orthodoxie, welche in gegensätzlicher Parallele zur alten Scholastik wirkt, sondern das Ganze, die ungewollte und nicht überschaute neue Lage der Konfessionalisierung ist nunmehr die Wirklichkeit, an der sich die lutherische Reformation messen lassen muß. Dies erzwingt nun freilich ein Zweifaches. Sie muß sich als verantwortliches Subjekt innerhalb der Geschichte verstehen und verfassen, und sie darf nicht tun, was

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sie den oben genannten Spiritualisten verschiedener Observanz zum Vorwurf gemacht hat, nämlich den Versuch, ad fontes zurückzugehen.

Sie gerät in Widerspruch zwischen der Absolutheit des oben beschriebenen präsentischen Wortkatholizismus und einem nachträglichen Reformismus ex fontibus. Maurer selbst gerät in den Widerspruch zwischen diesem Apriorismus und seinen behutsamen Bemühungen, die verlorenen und preisgegebenen Verfassungsorgane wie Kirchenleitung und synodalen Bischof neu zu begründen und wirksam werden zu lassen, ohne daß die lutherische Kirche im Eingeständnis ihrer Versäumnisse ihr Gesicht verliert.

Die Zusammenfassung, die Maurer gibt, macht bei alledem den Eindruck, als ob er unbewusst die reformatorische Position ex eventu beschreibt, nämlich von der heute eingetretenen Situation. Damit trifft zusammen, daß er sich auch auf die Darstellung in Heckels „Lex charitatis” 8 beruft, die von seinem bedeutendsten Schüler revidiert werden mußte und eine spiritualistische, allen konkreten Entscheidungen ferne Ekklesiologie bietet.

Denn allerdings hat der durchhaltende Streit um die Rechtfertigungslehre seiner Substanz nach niemals ausgereicht, die gleichzeitigen ekklesiologischen Fragen zu motivieren und zu beantworten. Daraus ergibt sich auch eine noch sehr viel radikalere Schwierigkeit. Mit der Umstellung der Geschichtsdarstellung, dem Zurücktreten der soteriologischen Fragen zugunsten der ekklesiologischen, geht es über die inhaltlichen Fragen hinaus darum, wie sich beide Elemente überhaupt in der lutherischen Reformation präsentieren. Es zeigt sich im Gegensatz zur bisherigen Auffassung, daß die ekklesiologischen Fragen eine eigenständige Bedeutung gegenüber den soteriologischen besitzen. Mindestens wird durch diese Umkehrung der Grundauffassung die lutherische Theologie genötigt, sich zu dem Verhältnis beider deutlicher und positiver zu erklären als dies bisher der Fall gewesen ist, wo regelmäßig die ekklesiologischen Fragen als Epiphänomen der soteriologischen erscheinen. Daß man hier nicht mit den Aussagen, wenn immer sie schwierig werden, nach Belieben aus dem einen in den anderen Bereich springen kann, wie dies geschehen ist, bleibt anzumerken.

Mit jener eingangs wiedergegebenen Aussage befinden wir uns nunmehr im Unterschied zu jenem dramatischen Geschichtsbild in einer ganz anderen Atmosphäre und Blickrichtung.

Es finden sich also bei Maurer — merkwürdigerweise in kurzem zeitlichen Abstand der Abhandlungen (1966 und 1968) — zwei wesentlich verschiedene Geschichtskonzeptionen. Einmal ist die Geschichte am Ende, einmal an einem grundsätzlichen Neuanfang. Beide sind vermittelt durch ihre gemeinsame Radikalität. Aber sie verstehen sich nicht in der Geschichte. Deshalb gibt es bei beiden keine Verifizierung. Das Maurersche Programm wird als maßgeblich repetiert, noch heute, ohne das Ergebnis von vier Jahrhunderten, die Stärken und Schwächen der nunmehr selbst geschichtlich gewordenen lutherischen Kirche in Betracht zu ziehen.

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Anmerkungen zu Kapitel X

1 Wilhelm Maurer, Geistliche Leitung der Kirche, in: ders., Die Kirche und ihr Recht, Ius Ecclesiasticum Bd. 23, Tübingen 1976, 99-134, hier: 101.
Der Versuch, die Reformation als einen historischen Neuanfang von Grund auf zu verstehen, ist von Maurer im Mitgliedschaftsrecht gemacht worden (vgl. RdG I, 319 ff.). Hier ist die konstruierte Antithese an der elementaren Tatsache gescheitert, daß die Taufe nicht von der Amtspotestas des Priesters abhängt, auch nicht einmal von der Gliedschaft des Taufenden.
Aber noch wichtiger als die Aufdeckung des bei einem Kenner wie Maurer unverständlichen Irrtums über das kanonische Taufrecht ist sein unwillkürliches Eingeständnis, daß congregatio nicht communio ist. Während die lutherische Theologie gemeinhin keine sachliche Differenz zwischen beiden Begriffen einräumen will, beruft sich Maurer gerade auf die grundlegende Verschiedenheit.
2 Vgl. Anm. 1, hier: 103, und Wilhelm Maurer, Luthers Lehre von den drei Hierarchien und ihr mittelalterlicher Hintergrund, Abhandl. d. Bayr. Akad. d. Wiss., Hist.-phil. Klasse, Minden 1970.
3 Hierzu vgl. Kap. XIX.
4 Wolfhart Pannenberg, Die Augsburger Konfession und die Einheit der Kirche, in: ÖR 28, 1979, 99-114.
5 Dombois, Kirche, Gemeinde und Theologie als Verfassungsproblem, in: DtPfrBl 67, 1967, 237-242, auch in: ders., Evangelium und soziale Strukturen, Witten 1967, 132-148, unter dem Titel: Kirche, Gemeinde und akademische Theologie als Verfassungsproblem.
6 Albrecht Peters, Karl Barth gegen Martin Luther? in: Jahrbuch des Martin-Luther-Bundes 27, 1980, 12-49, hier: 28.
7 Wilhelm Maurer, Der ekklesiologische Ansatz der abendländischen Kirchenspaltung nach dem Verständnis Luthers, FuH 18, Berlin/Hamburg 1968, 30-59, hier: 30 f.
8 Johannes Heckel, Lex charitatis, Abhandlungen der Bayr. Akad. d. Wiss. phil.-hist. Klasse, München 1953.