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Kapitel XXIV

Die verfassungsrechtliche Lage der Ostkirche

In Band II habe ich unternommen, die Kirchenrechtsgeschichte neu mit der These zu periodisieren, daß auf das epikletische Kirchenrecht mit dem Beginn des 2. Jahrtausends die Entwicklung zum transzendentalen Kirchenrecht ansetzt. Da die Ostkirche sich von dieser Entwicklung durch das Schisma von 1054 ausgeschlossen hat, konnte die Geschichte der Ostkirche selbst in diesen Gedankengang nicht aufgenommen werden. Sie kann aber nicht beiseite gestellt werden, wie dies im Werk von Erik Wolf geschehen ist. Die Zusammenhang der Gesamtgeschichte der Kirche ist durch das Schisma von 1054 nicht aufgehoben worden. Die inhaltliche Bedeutungslosigkeit des zur direkten Trennung führenden Streites gibt zu der Frage Veranlassung: Was ist in diesem Schisma geschehen?

1. In diesem Schisma haben sich diejenigen Grundtendenzen geschieden, welche Andresen1 als erkennbar gegenläufige Konzeptionen bereits für das 5. Jahrhundert umschreiben hat. Es bedurfte also einer Entwicklung von mehreren Jahrhunderten, bis dieser Gegensatz in einer Scheidung zum Austrag kam.

2. Mit diesem Schisma beginnt eine 1000jährige Periode, in welcher die Kirche die ungeheure Weite des Evangeliums durch die Wahrnehmung und Verwirklichung der darin enthaltenen partikularen Möglichkeiten zur differenzierten Darstellung gebracht hat. Das Schisma erweist sich als Vehikel der Kirchengeschichte.

3. Im Schisma von 1054 treten gleichzeitig in fast vollständiger Analogie die beiden großen verfassungsrechtlichen Elemente auseinander, auf deren Verbindung alle Verfassungen beruhen — Repräsentation und Identität. Während die lateinische Kirche mit faszinierender Folgerichtigkeit diejenigen Verfassungselemente ausbildet, die in er Form der Repräsentation die Einheit der Kirche darstellen, verwirklichen und sichern — Primat, Kardinalat und die multinationalen, die Gesamtkirche über erstaunliche Entfernungen unmittelbar verbindenden großen Ordensbildungen —, konzentriert sich die Ostkirche von da an unter Verwerfung eines personalen Primats auf das Prinzip der koinonia und damit auf das soziologische und verfassungsrechtliche Moment der Identität. Die communio tritt in der lateinischen Kirche tendenziell in so hohem Maße zurück, daß jetzt die Kurskorrektur des II. Vatikanischen Konzils sich ganz in dem Charakter der communio zusammenfaßt, — ohne daß dieser Leitgedanke bisher über die Aussage von Can. 2 LEF hinaus praktiziert worden ist.

4. Die Scheidung der beiden Teile der Kirche verläuft fast genau in der Fluchtlinie der Teilung des Römischen Reichs in West und Ost. Die Ostkirche entwickelt eine eigene liturgische Tradition, eigene Schriftform, eigene

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Kirchensprache, einen eigenen Kirchentypus auf der Grundlage der altkirchlichen institutionellen formen, deren Hauptmerkmale einschließlich ihrer Rechtsformen in ihr Selbstverständnis übergegangen sind.

5. Trotz dieser grundsätzlichen Diversität und Gegensätzlichkeit haben beide Teile eine fast analoge, mindestens weitgehend vergleichbare Geschichte. Beide Teile wenden sich einer großen Mission jenseits der mittelmeerischen Ursprungsbasis in Richtung auf die jungen Völker des Nordens zu, welche mit der und durch die Kirche in hohem Maße ihre geschichtliche Identität gewinnen. Diese Mission endet erst an den Rändern der nordeuropäischen Besiedlung. In diesem Bereich bilden sich zunächst zwei Großreiche, welche ihre geschichtliche und geistliche Existenz, ohne zur Theokratie überzugehen, mit der Kirche verbinden, im Westen das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, im Osten das russische Großreich, welches schließlich im Moskauer Patriarchat ein eigenes geistliches Zentrum gewinnt.
Daneben und danach ergreift diese Mission auch die zahlreichen Einzelvölker dieses Bereichs, welche sich allmählich zu Nationen und Nationalkirchen ausbilden, aber weder in den Großreichen noch in den Großkirchen aufgehen.
Die Bewältigung der Ergebnisse dieser großen Missionsbewegung aber ist charakteristisch verschieden. Die strikte Gehorsamsforderung und der Autoritätsanspruch des römischen Stuhls auf der Basis der Repräsentationsgedankens gerät in einen grundsätzlichen Konflikt zum Heiligen Römischen Reich, ebenso zu den großen ultramontanen Nationen, welche einen eigenständigen Beitrag zur Gesamtkirche zu leisten imstande waren. Deutschland wie Frankreich verfallen einer tiefen Spaltung. Während Deutschland entlang der auch hier wirksamen Limes-Linie kirchengeschichtlich auseinanderbricht, behauptet sich in Frankreich unter schweren Auseinandersetzungen der Katholizismus als dominierend. Die tiefe Bedeutung im inneren Gefüge Frankreichs vollzieht sich sowohl in der Vernichtung des Calvinismus als auch in dem Streit um eigenständige Traditionen und Tendenzen, die sich in der Linie der Devotio moderna, des Gallikanismus und des Jansenismus fortschrieben.
Nicht geringer als die innere Zerstörung der Einheit Frankreichs, der vielgerühmten ältesten Tochter der Kirche, ist auch die innere Spaltung Englands zwischen Anglikanismus auf der einen, Katholizismus und Puritanismus auf der anderen Seite. Dabei hat der Anglikanismus unter Einbeziehung der außeneuropäischen Diözesen selbst vermocht, noch eine Art Reichskirche zu bilden.
Diese Spaltungen der drei großen europäischen Nationen haben diese in mörderische Kämpfen auch bis an den Rand ihrer politischen und moralischen Existenz gebracht.
Kompromisse und Unterdrückung wurden am Ende unausweichlich. Während sich also die Auseinandersetzung des Papsttums mit den großen Nationen in diesen Spaltungen mit dauernder Wirkung manifestiert, verliert

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die lateinische Kirche sämtliche Nationalkirchen, die sich außerhalb dieser großen Reichsbildungen ausgebildet haben: auf der lutherischen Seite die sieben skandinavischen und baltischen Kirchen, die nahtlos mit den Volkstümern übereinstimmen, auf der calvinistischen Westseite die Schweiz, die Niederlande und Schottland, dazu England.
Die relative Analogie zu diesem weltgeschichtlichen Vorgang zeigt auf der ostkirchlichen Seite entsprechend andere Züge. Vermöge des Grundsatzes der koinonia bleiben alle orthodoxen Ostkirchen von ihrem Selbstverständnis her in der Gemeinschaft dieser Kirche, so schwach oder stark der konkrete Verbund auch immer sein mag. Denn jede von diesen Kirchen würde ihr essentielles Selbstverständnis von Grund auf in Frage gestellt haben, wenn sie nicht das geistliche Band der Gemeinsamkeit festhielte, welches auf der lateinischen Seite durch die radikale Gehorsamsforderung des römischen Stuhls — selbst unter Verzicht auf wirksame und mögliche Kompromisse — zerschnitten wurde. Die Ostkirche bewältigt die Differenz zwischen der historischen Basis der byzantinischen Kirche und der übrigen frühen Kirche zur russischen Großkirche und den Nationalkirchen durch ein gestuftes System von Zuordnungen, durch die schrittweise Anerkennung eigenständiger Partikularkirchen, des zweiten Patriarchats ebenso wie autokephaler und autonomer Kirchen. Was aber unter Mitwirkung der historischen Konditionen dabei zurücktritt, ist das Band regiminaler Autorität. Die spontane Übereinstimmung in den ekklesiologischen und kanonistischen Grundsätzen, die weitgehende, aber nicht vollständige Konvergenz der theologischen Fortbildung hält sich bis in die Gegenwart, für jeden Außenstehenden erkennbar und erfahrbar mit staunenswerter Folgerichtigkeit durch, welche der Stringenz lateinischer Begrifflichkeit fremd, aber ebenbürtig ist.

6. Mit dem Schisma ist aber ein Problem berührt, dessen Bedeutung und Tragweite erst im weiteren Verlauf sichtbar geworden ist. Im ersten Jahrtausend hat das Patronat des byzantinischen Kaisertums eine Folge von konziliaren Entscheidungen durch ein legitimierendes und organisierendes Zentrum ermöglicht. Die Einwirkung des Kaisertums hat bei aller Problematik dieses Verhältnisses im großen gesehen der Eigenständigkeit der Kirche, ihrer dogmatischen und kirchenrechtlichen Fortentwicklung keinen grundsätzlichen, sondern nur gelegentlichen und begrenzten Schaden getan. Deutlich ist die geringere Bedeutung der Konzile nach Chalcedon, seit die geschichtlichen Hauptfragen in jenen ersten Jahrhunderten geklärt worden waren. Die Hilfe jedoch, welche diese konziliare Kontinuität ermöglicht hat, fällt im Ausgange des ersten Jahrtausends fort. Nach dem 8. Konzil kommt es nicht mehr zu ökumenischen Konzilien, wenn auch manche partikulare Entscheidungen gesamtkirchliche Bedeutung gewonnen haben. Dies enthält die grundsätzliche Frage nach der historischen Rechtssubjektivität der Kirche, die Frage, ob die Kirche selbst ein Amt der Einheit zu schaffen imstande ist, welches Legitimität, Kontinuität und Verantwortlichkeit der

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Kirche für ihre eigenständige Fortentwicklung wahrzunehmen imstande ist. Diese Frage hat die lateinische Kirche in ihrer Art durch den Weg zum Primat beantwortet . Auf der Seite der Ostkirche verblieb es bei der traditionellen Autorität des Patriarchats von Konstantinopel, welche durch den Grundsatz der koinonia trotz mancher vergleichbarer Entwicklung im Endergebnis eingeschränkt geblieben ist. Das Verhältnis von Repräsentation und Identität verliert seine dialektische Einheit und wird zur Alternative.
Unter dieser Lage leidet die Ostkirche. Sie nimmt für sich allein das Prädikat der Orthodoxie in Anspruch, welches eine Strecke weit durch die Bewahrung der altkirchlichen Grundsätze gedeckt ist. Sie ist katholisch genug, um anzuerkennen, daß sie trotz dieses Anspruches nicht das Ganze der Kirche darstellt. Sie kann trotz der Verwerfungen wiederum die Legitimität des lateinischen Patriarchats als solche nicht bestreiten. Sie kann kein ökumenisches Konzil halten, weil sie nur die Hälfte repräsentiert, muß sich aber trotzdem als Alleinerbe betrachten. Die Folge ist, daß sie auch ihre eigenen konziliaren Grundsätze nicht bewähren und durch ihre ständige Suspension nicht mehr im konkreten Leben der Kirche in Übung erhalten kann. Sie erliegt auf diese Weise einer Partikularisierung, die das geistliche Band aufrechterhält, die konkreten Folgerungen und Verpflichtungen der Einheit aber nicht mehr realisieren kann. Die Einheit wird zur Naturalobligation, die rechtens, aber sanktionslos ist. Angesichts dessen ist daran zu erinnern, daß die Alte Kirche weder personal noch kollegial eine zentrale Leitung ausgebildet hat. Denn die drei ursprünglichen und fünf endlichen Patriarchate haben niemals eine kollegiale Kirchenleitung der Universalkirche dargestellt. Die Wirksamkeit auch des alten römischen Patriarchats war mehr eine abschließende des Beitritts und der Anerkennung als der Initiative und der Leitung. Mit der Frage der Rechtssubjektivität der Kirche als eines geschichtlichen Gemeinwesens ist jedoch gerade die Frage nach der Repräsentation gestellt, welche durch die Pluralität der Großkirchen und erst recht die Konziliarität der Bischofsgemeinschaft nicht ersetzt werden kann.

Im Gefüge der Kirchenverfassung ist also ein Legitimationspunkt erforderlich, der nach der Grundstruktur der Kirche nur ein personaler sein kann. Dies übersteigt notwendig jede nur pragmatische oder funktionale Umschreibung eines solchen Amtes. Denn eine nur funktionale Betrauung mit der Wahrnehmung und Wahrung der Einheit würde nicht die Dignität besitzen, um das Konzil als Quell des Konsenses zu berufen und zusammenzuhalten. Die orthodoxe Kirche hat darin Recht, daß das Verhältnis eines wie immer verstandenen Primats zum Konzil in der gegenwärtigen Lösung nahezu auf den Kopf gestellt ist. Derjenige, der das Konzil versammelt, legitimiert und schließlich auch seine Rechtmäßigkeit feststellt, ist selbst nicht der Urheber des Konsenses, sondern steht in seinem Dienst. Trotzdem ist dieser Dienst an der Einheit notwendig mit einer eigenen Verantwortung, mit Rat und Initiative

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verbunden und kann ohne sie nicht bestehen. Sein Träger muß das Recht haben, Gegenstände zur Verhandlung vorzuschlagen, die sonst versäumt werden; aber er kann umgekehrt die Tagesordnung nicht abschließend und ausschließlich bestimmen. Wenn der Primat zugleich innerhalb und außerhalb des Konzils steht, so ist die Wirkung, daß das Konzil (wie auch schon die Bischofssynode) diesem Vorsitzenden statt der eigenen Beschlüsse dessen Vorschläge und Formulierungen vorlegt, um seine Zustimmung und Approbation zu erreichen. Das I. Vaticanum beruht auf dem von mir schon anderweitig vermerkten Widerspruch, daß der Papst sich seine Unabhängigkeit vom Konzil von einem Konzil zuerkennen und anerkennen lassen muß2. Das I. Vaticanum hat also im Ergebnis das Gegenteil von dem getan, was es zur wirksamen Bestimmung eines Primats hätte tun können und sollen. Es hätte die Inklusivität und nicht die Exklusivität des Primats ausdrücken müssen.

Der Grund aber, aus dem die Orthodoxie sich dieser Konsequenz verweigert, ist ein doppelter. Die Alte Kirche hat in dem Senioratssystem mit der Rangordnung der Patriarchate noch keine Klarheit darüber geschaffen, daß die Kirche sich nicht auf die Hilfsfunktion der weltlichen Gewalt als einer unvermeidlichen Ergänzung stellen und verlassen kann. Die Orthodoxie selbst wird jedoch dem ersten der Patriarchate, soweit heute noch diese patriarchalische Tradition ausreicht, jene Initiative und regulative Kompetenz zusprechen müssen. Es würde also um mehr gehen als um einen Ehrenprimat, der auch damals dem römischen Stuhl eingeräumt wurde. Die auch von der Ostkirche in Anspruch genommene Eigenständigkeit des kanonischen Rechts stellt also die Frage der Rechtspersönlichkeit der universalen Kirche als solcher — und diese muß wiederum personal wahrgenommen werden. Sie kann es aber nur sachgemäß, wenn das wohl abgewogene Gleichgewicht zwischen Primat und Konzil, zwischen Personalität und Konsensus von beiden Seiten durchgehalten wird.

Die orthodoxe Lehre gibt der Einheit zu wenig, weil sie, ganz am Rande und von der eucharistischen Eschatologie lebend, letzten Endes nicht geschichtlich denkt. Die römische Primatslehre überschätzt die Möglichkeiten und Notwendigkeiten zentraler Leitung, und diese Überschätzung deformiert ihre Leitungsformen.

Methodisch und sachlich sind beide Teile von dieser Einsicht und einer entsprechenden Praxis gleich weit entfernt.

Die Ausbildung der personalen Repräsentation im römischen Primat hat in dem Widerstreit von Repräsentation und Identität eine zusätzliche Wirkung gehabt. Die Erfahrung der daher resultierenden geistlichen und weltlichen Geschichte, großer Ansprüche und rücksichtsloser Mißhandlungen hat der Tradition des Ostkirche ein negatives Element des Antipathos hinzugefügt, welches wie ein zweites Stockwerk auf die treu bewahrte Festigkeit der Fundamente als affektive Ablehnung von „Juridismus” und „Rationalismus” der Basis aufgesetzt ist. Diese zweite Schicht der Erfahrung steht heute psychologisch der konkreten Verständigung und Fortbildung mit großer Wirksamkeit entgegen.

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Dieselbe Ostkirche aber steht heute einer neuen Situation gegenüber. Es ist im wesentlichen Maße eine Auswirkung der Geistesmacht des Christentums, wenn heute die Menschheit sich als Ganzes vorfindet, in einer ebenso geistigen wie materiellen Interdependenz. In dieser Überschaubarkeit ist es aber auch unmöglich geworden, die legitim mögliche Partikularität einzelner Kirchen als schlechthin notwendige darzustellen und durchzuhalten. So sieht sich auch die Ostkirche mit ihrem Anspruch der Orthodoxie wie alle übrigen Teile der Kirche in neuer Weise vor die Frage der Einheit gestellt. Aufgrund eines ökumenischen Antriebs, den sie selbst nicht ausgelöst, aber frühzeitig bejaht und gefördert hat, ist sie nunmehr zu allererst gezwungen, ihre eigene Partikularität durch die Verwirklichung ihrer Grundsätze darzustellen und wirksam werden zu lassen. Nachdem sie 1000 Jahre das Programm konziliarer Gemeinschaft vertreten, aber selbst niemals mehr verwirklicht hat, ist sie jetzt durch die Situation genötigt, unter Übergehung des geschilderten Widerspruchs zwischen Anspruch und Gegebenheit ein panorthodoxes Konzil abzuhalten. Nunmehr zeigt sich die Wirkung der Tatsache, daß ihre konziliaren Grundsätze so lange Zeit außer Übung gekommen sind.

Das Programm eines panorthodoxen Konzils besteht seit langem. Nun wendet die heutige orthodoxe Kirche bei der Vorbereitung des Konzils die Methode an, die Verhandlungsthemen im schriftlichen Meinungsaustausch der Partikularkirchen so vorzubereiten, daß schließlich eine konsensfähige Entschließung auf dem Plenum des Konzils nur noch akklamiert werden braucht. So bleibt es eine interne Frage, in welcher Weise in der autokephalen Einzelkirchen der Klerus sich mit den Gemeinden auseinandersetzt, die bekanntlich in der orthodoxen Kirche in unterschiedlicher Weise und unterschiedlichem Grade an Beratungen beteiligt werden. Hier wäre die Frage von Beschluß und Rezeption in eine andere Relation ausgesetzt.

Dieses Verfahren gibt Anlaß zu kirchenrechtlichen Bemerkungen. Danach sind die Subjekte der konziliaren Vorbereitung die einzelnen autokephalen oder autonomen Kirchen jeweils als geschlossener Verband für sich. Die anstehenden Fragen werden nicht in dem konziliaren Plenum aller Bischöfe später am Gesamtkonzil erörtert, ihr Votum wird in der partikularen Abgeschlossenheit vorweggenommen. Für das Verfahren und die Legitimität der partikularen Beschlüsse stehen die Patriarchen. Sie können bei den Beratungen über den Kreis der Bischöfe hinausgehen, Priester und Laien nach Maßgabe der Partikularverfassung oder nach Gutdünken hinzuziehen, obwohl man annehmen muß, daß die Beschlußkompetenz den Bischöfen vorbehalten bleibt. Praktisch ist jedoch hierdurch in der inhaltlichen Beratung die universale orthodoxe Kirche eine Kirche von Regionalkirchen, vielfach Nationalkirchen. Die Grundeinheit ist nicht die ecclesia als bischöfliche Diözese, sondern der autonome Kirchenverband. Durch dieses Verfahren wird ein unmittelbarer Austausch innerhalb des gesamten Episkopats verhindert und die Besonderheit der je einzelnen Autokephalien betont und vorangestellt. Die beschließenden Bischöfe werden mit der Argumentation ihrer Amtsbrüder nicht unmittelbar

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konfrontiert. Das „sacrosanctum consilium, universam Ecclesiam repraesentans” ist mehr als der Inbegriff von Regionalkirchen, kein Völkerbund der Christen, sondern versteht sich als im Heiligen Geist versammelt. Es gibt bei dieser Lage in den Sachfragen keine Möglichkeit, daß sich quer zur regionalen Gliederung die Standpunkte im Konzil polarisieren. Auf diese Weise entsteht auch der Zwang zum völligen Konsens, der die Zurückstellung einer Minderheitsmeinung oder ihre Überstimmung ausschließt. Damit zeigen sich zwei rechtlich relevante Tatsachen. Wenn auch die Patriarchen 1848 den Ethnizismus verurteilt haben, so ist doch die Partikularisierung soweit vorgedrungen, daß sie die Unmittelbarkeit der konziliaren Beratungen der ganzen Kirche nicht verbietet, aber doch als untunliche ausschließt. Wenn ferner schon die indirekte Beratung die Prüfung ausschließt, ob im Horizont der Gesamtkirche eine Sondermeinung übergangen oder ausgeschlossen werden würde, so stellt sich vollends nicht mehr das Problem von Mehrheit und Minderheit. Damit wird ein gewisser Grad der Rationalisierung ausgeschlossen. Im Konzilsbeschluß muß die pneumatische Glaubensüberzeugung mit dem rationalen Element der dogmatischen Aussagen zur Deckung gebracht werden. Das bedeutet einen Spielraum. Wenn Konzilsbeschlüsse mit Mehrheit gefaßt werden, der sich die übrigen als Minderheit anzuschließen haben, so enthält dies eine Toleranzbreite, welche der Minderheit auferlegt, aber nicht ermöglicht, abgelehnte Entscheidungen mitzutragen, ohne in den status confessionis zu geraten. Das pneumatische Phänomen des Accesses, des Beitritts zu der als gewichtigste sich durchsetzenden Meinung, wird hier ausgeschlossen. Während also im Verfahrensaufbau sich die Partikularisierung in einer unkanonischen Weise bemerkbar macht, bedeutet und zeigt der Zwang zur Einstimmigkeit ein deutliches Mißverhältnis zu der unvermeidlichen Rationalität der Entscheidungen. Die Einheit der Kirche erscheint als Einstimmigkeit. Es trifft also nicht zu, daß die Orthodoxie die kanonischen Grundsätze des klassischen Konzilsrechts durchgehalten hat.

Die positive Seite dieses Verfahrens liegt in dem Versuch, in der Direktheit des Ausgleichs die zweiwertige Logik ausschließender Alternativen zu vermeiden und mit geduldiger Methodik zu überwinden. So sehr dies durch die Rationalisierung der lateinischen Theologie nahegelegt worden ist, so deutlich machen sich doch die Engführungen bemerkbar, denen die Ostkirche durch ihre Isolierung anheimgefallen ist (Nationalkirchentum und Antirationalismus). Es gibt orthodoxe Theologen, welche die Notwendigkeit erkennen den volkskirchlichen Partikularismus zu überwinden. Ebenso klar müßte sein, daß dies ebenso schwer ist wie die Überwindung des römischen Zentralismus.3

Die Vermeidung der zweiwertigen Logik durch Einstimmigkeit ist trivial. Einmütigkeit ist nicht Einstimmigkeit, sondern die Tragkraft für ein Spektrum differenter Positionen. Die Einstimmigkeit ist ein Vermögen, die Einmütigkeit ist eine Gabe.

Es scheint, als ob der Schatten der lateinischen Kirche über die Ostkirche liegt. Sie hat die koinonia als Leitmotiv fast bis zur Ausschließlichkeit erhoben,

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ohne die Veränderungen zu bemerken, durch die sich ihr eigenes inneres Gefüge davon entfernt hat.

Die beschriebene Entwicklung der Ostkirche führt auch dazu, daß diese immer wieder die Einheit der Kirche in der Konziliarität allein sieht. Sie stellt sich nicht dem Problem, daß eine legitime und wirksame Repräsentation der Einheit da sein muß, welche die sichtbare Kontinuität der Kirche initiativ durchhält. Der Mißerfolg episkopal-konziliarer Bewegungen im 14., 17. und 18. Jahrhundert in der lateinischen Kirche beruht nicht nur auf dem Widerstand Roms, sondern vor allem auf der Schwäche einer Bewegung ohne legitimiertes und legitimierendes Zentrum.

Die Ostkirche ist sich des Problems der Bindung der Partikularkirchen an die historisch-nationalen Grundlagen immer bewußt gewesen. Sie hat aber nicht mit voller Klarheit die Folgen der schon eingetretenen Verzahnung erkannt, sie vielmehr in ihr Verfassungsleben mit aufgenommen. Gerade dies aber ist durch das Postulat der Einstimmigkeit eben jene Rationalisierung. Mit anderen Worten: Auch die Kirche der koinonia droht unversehens in dem legitimen Bestreben, sich den trennenden Wirkungen des rationalen Grundsatzes vom ausgeschlossenen Dritten zu entziehen, nunmehr selbst zu einem geschlossenen System zu werden.

Diese Lage ist von einer unerkannten und gefährlichen Zweideutigkeit. Mit dieser Geschlossenheit des Systems würde sie gerade denjenigen Grund und diejenige Legitimation verlieren, auf deren Grundlage sie allein letzten Endes die lateinischen Formen der Einheit ständig abgelehnt hat. Sie sieht sich mit dieser gefährlichen Lage zugleich eine geschichtlichen Notwendigkeit gegenüber, die vorgegebene und aufgegebene Einheit der Kirche auch im geschichtlichen Sinne darzustellen und wirksam werden zu lassen. Denn auf diese geschichtliche Qualität ihrer Existenz als Kirche hat sie niemals verzichtet und verzichten können.

Sie hat also Anteil an jener Paradoxie der Kirche, daß die entschlossene Repräsentation und Wahrnehmung der Einheit der Kirche jene Widerstände ausgelöst hat, welche zugleich der Verwirklichung der Einheit entgegenstehen — während gleichzeitig der universale Anspruch der partikularen Konzeptionen sich durch seine eigene Paradoxie selbst widerlegt. Es ist nicht erkennbar, daß das Selbstverständnis der Ostkirche und ihre Praxis sich dieser Situation in völliger Klarheit und mit der notwendigen Entschlossenheit gestellt hat. Sie kann die Einheit der Kirche nicht als die Summe partikularer Kirchenverbände, sondern nur in der personal zu vertretenden gemeinsamen Verantwortung darstellen.

Eine besondere sachliche und psychologische Schwierigkeit auf diesem Felde hat eine orthodoxe Theorie heraufgeführt, wonach die notwendige Folgerung einer ekklesialen Einheit auch in der vollen Einheit jeder Ortsgemeinde bestehen müsse und solle, so daß die historischen Identitäten auch der Konfessionen in Frage gestellt wurden.

Diese Theorie verkennt freilich die kanonisch legitime Verschiedenheit der

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Riten. Sie müßte deshalb imstande sein — bei Erfüllung der übrigen Voraussetzungen der Einheit wie etwa der apostolischen Sukzession — die historischen Konfessionen als eigenständige Riten zu verstehen. Darin läge auch eine Anerkennung der unterschiedlichen Charismata, welche immerhin ein Element der Konfessionsbildung ausmachen. Die Orthodoxie steht auch an dieser Stelle in der Gefahr, den Gedanken der communio und des Konsenses in derselben Weise als rationales apriori zu vertreten, wie die anderen Teile der Ökumene aufgrund ihrer geistesgeschichtlichen Entwicklung ihre Identität repräsentieren. Das antijuridische Pathos hat sich als eine der schwersten Belastungen der orthodoxen Kirche erwiesen, dessen sie sich selbst nicht bewußt ist. Die deutliche Einschränkung der Fähigkeit, Streitigkeiten von sehr begrenzten Bedeutung nach klaren Grundsätzen verbindlich zu entscheiden, widerstreitet dem Gedanken und dem Anspruch der koinonia. Gerade diese müßte in höherem Grade imstande sein, Differenzen zu überwinden. Ein Geistverständnis, welches den Raum für Vernunft und einfache Disziplin einschränkt, macht die Kirche unglaubwürdig. Das Konsensprinzip lähmt mit der Entscheidungsfähigkeit auch die missionarische Wirkung der Kirche. Wenn nach Entstehung der altkatholische Kirche die Ostkirche in hundertjährigen Erwägungen nicht imstande gewesen ist, die Voraussetzungen für die Anerkennung und den Aufbau einer westlichen Orthodoxie zu klären, so erweist sie sich selbst als unfruchtbar. Welche kirchenrechtliche Bedeutung hätte es gehabt, wenn die Ostkirche dem lateinischen Christentum quer durch seine trennenden Alternativen das Vorbild ursprünglicher Einheit in ihrer Eigenart zu leben ermöglicht hätte — ohne Orientale werden zu müssen!?4

Die kritische Bedeutung Sohms für das Kirchengeschichtsbild der streitenden lateinischen Konfessionen gilt auch für das Geschichtsbild und Selbstverständnis der jetzt selbständigen, partikular gewordenen Ostkirche. Sohm hat in einer großartigen Weise, unüberboten diejenigen kanonischen Grundsätze systematisch dargestellt, auf welche sich die Ostkirche traditionell zurückbezieht. Niemand hat Ruhm und Bedeutung des kanonischen Rechts der Alten Kirche klarer verdeutlicht als er — Maurer hat das besonders anerkennt. Aber Sohm hat zugleich darauf hingewiesen, daß mit dem Eindringen des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten dieses System an ein objektives Ende gekommen war, und daß der große Wurf Gratians in dem Augenblick seiner Veröffentlichung historisch bereits überholt war. Die weitere transsubjektive Entwicklung, vermochte niemand zu überwinden oder abzufangen, erst recht nicht durch das bloße Verharren auf den bisherigen Grundsätzen. Infolgedessen lebt die orthodoxe Kirche traditionalistisch, während sie sich gleichzeitig aus der Geschichte mehr oder minder folgerichtig ausschloß.

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Anmerkungen zu Kapitel XXIV

1 Karl Andresen, Geschichte der abendländischen Konzile des Mittelalters, in: Hans Jochen Margull (Hg.), Die ökumenischen Konzile der Christenheit, Stuttgart 1961, 75-200.
2 Dombois, Hierarchie — Grund und Grenze einer umstrittenen Struktur, Freiburg 1971, 82.
3 Anastasios Kallis, „Par cum pari”, in: ders. (Hg.), Dialog der Wahrheit, Freiburg 1981, 11-31, bes. 30.
4 Über die Schwierigkeiten der Verständigung zwischen Ostkirche und Westkirche vgl. Dombois, Gemeinsames Verständnis der Christen hinsichtlich Autonomie und Zentralgewalt in der Kirche vom Standpunkt der Evangelischen Theologie, in: Kanon IV, 1, Wien 1980, 113-129.