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Kapitel VI

Perspektiven der Konfessionalität

1. Die Partikularität der Reformation

Unter Protestantismus versteht man heute das Ergebnis einer kirchen- und weltgeschichtlichen Bewegung, welche, nach gescheiterten Vorläufern in Böhmen und England, im 16. und 17. Jahrhundert große Teile Europas aufs tiefste erschüttert und in ihrer geistigen und sozialen Gestalt umgeformt hat. Diese Bewegung gleicht einem tektonischen Beben, welches geschichtlich erwachsene Strukturen durch eine mächtige explosive Kraft aufreißt, durch Verwerfungen umgestaltet, und nach Beruhigung dieser Motive in neuen Anschlüssen zur Ruhe kommen läßt. Daraus erklärt sich auch, daß die Überleitungen zwischen den verschiedenen Schichten im Endergebnis oft zufällig, widersprüchlich und unorganisch sind.

Diese Bewegung ist eine primär geistlich-theologische, sie bildet sich in der Tiefe des Glaubens. Sie greift in einem solchen Maße in den historischen Unterbau ein, daß erst von ihren Ergebnissen, nicht von ihrem eigenen Bewußtsein her, das Ausmaß dieser Wirkungen erkennbar wird.

In einer solchen Bewegung verbinden sich geistliche und religiöse Motive unvermeidlich mit weltlich-politischen Interessen und Kräften. Beide sind aber nicht gleichwertig. Eine religiöse Bewegung wird regelmäßig weltliche Kräfte mit sich reißen und entbinden. Eine weltlich-politische Bewegung kann jedoch niemals religiöse Kräfte in Bewegung setzen, sich höchstens selbst zur pseudo-religiösen Bewegung stilisieren. Die in der ökumenischen Bewegung üblich gewordene gleichwertige Nebeneinandersetzung sogenannter theologischer und außertheologischer Faktoren verdeckt die Unumkehrbarkeit dieses Verhältnisses. Die reformatorische Bewegung des 16. Jahrhunderts nimmt ihren Ausgang von Deutschland — die von Luther angestoßene Bewegung hat ein unbestrittenes Erstgeburtsrecht. Diese Bewegung hat sich wie ein Flächenfeuer verbreitet. Die offenkundige Profundität seiner Motivation und seine oft beschriebenen vielfältigen, populären und öffentlich wirksamen Fähigkeiten haben dabei zusammengewirkt. Ein wesentliches Element war zunächst dabei die Sprachgemeinschaft des deutschen Bereichs, die mit den damals neuen Publikationsmitteln jene Ausbreitung ermöglichte. Die gleichzeitige Verbindung mit bedeutenden Ständen des Reichs führte zu einer relativ schnellen Befestigung, welche die Ausbreitung weiter erleichterte, dabei aber zugleich die analoge Gegenwirkung ermöglichte und provozierte. Die lutherische Reformation hat auf diese Weise im deutschen Sprachbereich flächendeckend gewirkt, wie etwa der spontane Beitritt der geschlossenen Volksgruppe in Siebenbürgen deutlich macht — unter Aussparung einer begrenzten, teils aktiven, teils abwartenden

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Minderheit. Die analoge Gegenwirkung spaltete jedoch Deutschland bis zur Gegenwart: Rom ist mit Erfolg am Limes verteidigt worden.

Mit einer Phasenverschiebung von einer halben Generation sind dieser Bewegung die skandinavischen und baltischen Länder gefolgt. Es sind dies die Missionsgebiete der deutschen Kirche des Mittelalters, die mit einer, der altkirchlichen Filiation vergleichbaren Selbstverständlichkeit in die Fußstapfen ihrer geistlichen Väter traten. So ist bis in die Gegenwart die Ostsee nahezu vollständig ein lutherischer Meer gewesen.

Gegenüber dieser spontanen und erstaunlichen Ausbreitung ist unbeachtet geblieben, welche Grenzen dieser Bewegung gesetzt waren. Schon 1529 wurde deutlich, daß in der deutschsprachigen Schweiz trotz der Sprachgemeinschaft eine eigenständige Linie und Ausprägung der Reformation entstand, die sich bewußt der lutherischen Typenbildung verschloß. Dies galt aber nicht nur für die deutsche Schweiz. Vielmehr senkte sich entlang der Grenze des Heiligen Römischen Reichs jenseits von Vogesen und Ardennen ein unsichtbarer Vorhang herab, der die westlichen Völker von der Wirkung der lutherischen Reformation trennte. Dies gilt auch für die Niederlande, die nur noch bedingt der Sprachgemeinschaft und dem Reichsverband angehörten. Fünf westeuropäische Nationen, die Schweizer, Franzosen, Niederländer, Engländer und Schotten, haben sich der lutherischen Reformation versagt, indem sie mit nicht geringerer Leidenschaft, aber in wesentlicher Eigenständigkeit die Anliegen der Reformation, die Freiheit vom Papsttum und die schriftgemäße Gestaltung der Kirche mit Gut und Blut verfochten. Nur geringe Wirkungen von einiger Zufälligkeit und ohne nachhaltigen Bestand lassen sich für die lutherische Reformation jenseits dieser Grenze feststellen. Noch heute findet ein Lutheraner in der Schweiz oder in den Niederlanden allenfalls eine lutherische Auslandsgemeinde oder eine kleine assimilierte bodenständige Gruppe, aber kein ursprüngliches Luthertum vor. Daß bei der Belagerung von Antwerpen 1585 noch alle drei Konfessionen mit Gemeinden vertreten waren, kennzeichnet nur eine Ausnahme.

Was liegt dem zugrunde? In der Gegenwart ist in der ökumenischen Diskussion der Begriff der „Spiritualität” besonders hervorgetreten. Er bezeichnet eine bisher unbeachtete, aber kirchengeschichtlich wirksame, charakteristische Erscheinung. Unter Spiritualität versteht man die komplexe Wirkung bestimmter Glaubenshaltungen, die für den Außenstehenden mit Deutlichkeit erkennbar sind. Es sind Haltungen der Frömmigkeit, die Bevorzugung bestimmter, die Ablehnung anderer Glaubensüberzeugungen vor anderen, ein Typus des Verhaltens unter Einschluss insbesondere des Gottesdienstes und der Formen des Zusammenlebens bis zu denjenigen des Kirchenregiments. Die Elemente der Lehre bilden nur einen Teil und sind keinesfalls die alleinige Motivationsbasis. Spiritualität hat Anziehungs- und Überzeugungskraft, während sie zugleich auch aussondernd und abgrenzend wirkt. Sie läßt sich plastisch beschreiben, begrifflich aber nicht exakt definieren. Die Entdeckung dieses Phänomens, dessen Elemente nicht neu sind, macht vor allem deutlich, daß die wesentliche

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Zurückführung der konfessionellen Unterscheidungen auf eine rationale Dogmatik, die man womöglich jedem einzelnen Angehörigen müßte abfordern können, das Wesentliche solcher Bewegungen nicht trifft. Aber eben dieser Spiritualität, welche die lutherische Bewegung weit über ihre formulierbaren Grundsätze hinaus, aber in Korrespondenz mit ihnen ausgebildet hat, haben sich die genannten Völker mit wortloser Selbstverständlichkeit verweigert. Die entstehende und die historisch etablierte lutherische Kirche ist sich bis in die Gegenwart dieser Scheidungswirkung nicht bewußt geworden. Charakteristisch wie verwunderlich ist dabei, daß die lutherischen Reformatoren selbst sich mit solcher Selbstverständlichkeit auf die Austragung des Streits innerhalb des Reichsverbandes beschränkt und schon von dieser und von ihr allein in der direkten Konfrontation mit der Papstkirche die Entscheidung über die reformatorische Bewegung im Ganzen erwartet haben. Gewiß hätten Konzessionen des römischen Stuhls in diesen Kämpfen auch für die übrigen Teile der europäischen Christenheit Bedeutung gehabt. Dies ändert aber nichts an der Merkwürdigkeit des Befundes. Es wurde damit jedenfalls unmöglich, dem Luthertum eine repräsentative Allgemeingültigkeit für die Reformation der Kirche zuzusprechen. Der Widerspruch zwischen dem Verständnis und Anspruch und der differenzierten konfessionellen Wirklichkeit ist bis heute ebenso unbedacht wie unausgetragen.

Die zunächst im Reich allein wirksame lutherische Bewegung sah sich bald zwei wirksamen Gegenbewegungen ausgesetzt. Von Westen gewann der aktivere und klarer verfaßte Calvinismus steigende Bedeutung. Reichsstände, mit Kurpfalz und Hessen-Kassel an der Spitze, benutzten schon vor der reichsrechtlichen Anerkennung einer dritten Konfession das ius reformandi, um lutherische Territorien zu calvinischeren. Diese Gegenbewegung hat aus dem Konfessionsbild Deutschlands jenen bunten Flickenteppich gemacht, der die heutige Situation fast unverständlich macht und e nie aktive Gemeinschaft ständig behindert.

Von Süden wirkte der erwachende Reformkatholizismus, so daß im Endergebnis etwa die Hälfte des deutschen Volksgebiets dem Katholizismus verblieb, dessen geistliche Kraft die lutherische Reformation völlig falsch eingeschätzt hatte. Der größte Teil der weitschweifigen Querelen, welche der Text der CA aufbewahrt, wurden innerhalb begrenzter Zeit gegenstandslos, — was hätten denn die Reformatoren gesagt, wenn sie Carl Borromäus, Julius Echter und Franz von Sales als Gegner gehabt hätten? Niemals abgestoßen, bilden diese Querelen eine nicht nur lästige, sondern auch verderbliche Hypothek, die Versuchung zu einer Haltung, die immer zuerst zu sagen weiß, was sie nicht darf und will, statt zu sagen, was sie soll und will.

In diesen Zusammenhang gehört in einer späteren Epoche der Übergang gerade der bedeutendsten lutherischen Fürstenhäuser zu Calvinismus und Katholizismus. Je mehr Reichsstände Staaten wurden, desto weniger reichte der patriarchale Partikularismus des Luthertums mit seinem Akademismus und den Subtilitäten der Regimentenlehre, als die Religion eines unpolitischen

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Volkes für den geistigen Horizont des Staatsproblems und der politischen Verantwortung aus.

Jene Begrenzung der Werbekraft und Überzeugungswirkung der lutherischen Reformation weist unzweifelhaft im breiten Umfang auf historisch-nationale Elemente zurück. Freilich handelt es sich nicht um die Identität einzelner Nationen, sondern von Völkergruppen mit einer gemeinsamen Eigenart. Dabei spielt unzweifelhaft auch der unterschiedliche Grad der Urbanisation eine Rolle. Trotzdem läßt sich diese Abdichtung doch nur sehr zum Teil und jedenfalls nicht primär auf diese Bedingungen zurückführen. Deutlich handelt es sich bei der Konfessionsbildung nicht um ein Spektrum unterschiedlicher Entscheidungsmöglichkeiten, vor die sich jeder einzelne gestellt sieht, etwa wie in der sozialistischen Bewegung von der Sozialdemokratie bis zum Leninismus.

Kein christliches Volk jedoch hat jemals seine höchsten Güter in solchem Maße dem Lehramt anvertraut, vollends in seiner akademischen Form. Es geht hier eben nicht um das reine Wort Gottes allein, sondern zugleich um die menschliche und soziale Form seiner Auslegung und Vermittlung. Die Dissimulation dieses Elementes wird in der Bewertung der Konfessionen verkannt. Im Gegenteil hat diese Form, die soziale Prävalenz der von der Hochschule geprägten Lehrkirche, aufbauend auf einem Hang zur Theorie und Doktrin, diese Neigung in einem gewaltigen Maße potenziert und verstärkt. Waren die historisch-nationalen Eigenschaften gewiß mitbestimmend, so sind sie nur ihrerseits von der geistlichen Wirkung kirchlicher Autorität erst recht geprägt und einseitig gestaltet worden.

Deutlich entbehrt diese lutherische Spiritualität außerhalb eines bestimmten Bereichs gerade derjenigen geistlichen Überzeugungskraft, welche sie meint, als gewisse Wirkung des Wortes Gottes im Glauben schlechthin erwarten zu dürfen. Im Gegenteil befindet sie sich in einer sehr deutlich beschreibbaren, aber gleichwohl unbegriffenen Isolierung, die sehr erhebliche Wirkungen für ihre Stellung in der Ökumene hat. Wenn andere Konfessionen den Zugang zum Evangelium anders verstehen, so kann redlicherweise nicht behauptet werden, daß der Weg der lutherischen Kirche, wenn schon nicht der einzige, so doch wenigstens der umfassendste oder gar lebendigste sei. Die Entdeckung der Spiritualität als geistliches Phänomen in der Geschichte begrenzt mit den Konfessionen auch deren Legitimität, zugleich auch die Bedeutung ihrer Rechtsformen, Rechtsanschauungen und Ansprüche.

Dem Gesamtprotestantismus selbst aber ist, ebenso lautlos und unbemerkt, das gleiche widerfahren, was für das Verhältnis der deutschen Reformation zu den Westvölkern beschrieben wurde. Denn die reformatorische Gesamtbewegung endete — wie die deutsche Reformation an Vogesen und Ardennen — an den Pyrenäen und Alpen. Jenseits dieser Barrieren gab es ebenso nur geringe, zufällige und schnell verlöschende Funken des reformatorischen Feuers. Der mediterrane Katholizismus ist von der reformatorischen Bewegung niemals in der Tiefe berührt worden. Erst recht gilt dies für den gesamten riesigen Bestand der orientalischen und slawischen christlichen Völker, in deren Bereich

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sich zeitweilig regional begrenzte Anknüpfungen — mehr noch durch den missionsfreudigen Calvinismus als durch das Luthertum — ergaben.

Auch hier fehlt jene Tiefenwirkung. Daß die reichsnahen Gebiete Polens und Ungarns im begrenzten Maße beeinflußt wurden, verändert dieses Bild nicht. Eine singuläre Stellung nimmt in diesem Zusammenhang Böhmen ein, wo durch die Vorreformation des Hussitentums die Grundstruktur bereits aufgerührt und in einer komplexen Widersprüchlichkeit stehengeblieben war, so daß kein Impuls vom Westen her dort noch wesentliche Wirkungen entfalten konnte.

Der Protestantismus besitzt also eine doppelte Partikularität, zuerst diejenige der lutherischen Länder, denen gleichwertig der differenzierte Bestand des Calvinismus und Puritanismus entspricht, und zweitens die Partikularität des Gesamtprotestantismus gegenüber den Ursprungsgebieten des mediterranen Katholizismus und der gesamten Ostkirche. Diese eigene Partikularität ist vom Gesamtprotestantismus angesichts seines Universalitätsanspruchs selbst in der Gegenwart nicht bemerkt und höchstens anfangsweise bedacht worden.

Diese Differenzierung ist nicht ohne einen wesentlichen sachlichen Gehalt. Die Reformation hat die große liturgisch-gottesdienstliche Tradition nicht abgeschnitten, aber wesentlich mißverstanden und eingeengt, deren stärkste Repräsentation noch vor der lateinischen Kirche die Ostkirche gewesen ist und ist. Das verwunderte Staunen der ostkirchlichen Vertreter, als diese im 16. Jahrhundert in Tübingen den gelehrten Vertretern der lutherischen Reformation begegneten, macht den unendlichen Abstand des gegenseitigen Verständnisses zwischen mysterion (nicht Sakrament!) und Worttheologie, zwischen Liturgen und Dozenten einigermaßen deutlich. Der ökumenische Patriarch von Konstantinopel hat dann auch die ihm gutwillig übersandte Confessio Augustana ohne weitere Verhandlung abgelehnt. Als zweite sachliche Differenz ist die Zerstörung der großen regiminalen und Verfassungstradition zu nennen, welche primär in der Bischofsgemeinschaft der universalen Konzile, im Patriarchatssystem und ehrest danach im Papsttum und Kardinalat monumentale Gestalt gefunden hat. Auch wo, wie im Calvinismus, die Reformation eine folgerichtige Verfassung ausgebildet hatte, hat sie nirgends die universale Dimension der alten Kirchenverfassung qualitativ und in der praktischen Ausgestaltung erreicht, geschweige denn auch nur angestrebt. Sie überschritt nirgends den säkular vorgegebenen Horizont nationalstaatlicher Territorien. Die Reduktion von Kultus und Regiment aber zeigt deutlicher Verengungen und einseitige Schwerpunktbildungen als schon im Ansatz der geschichtlichen Bewegung vorgezeichnet. In der Gesamttoleranz und Lebensgestaltung der Kirche zeigt sich eine spezifische Partikularität des Protestantismus. Dem steht eine weitreichende, auf das Ganze des Evangeliums zielende geistige und in der großen Philosophie sich fortsetzende Bewegung gegenüber, die methodisch und sachlich ebensoweit vorgreift, wie sie sich von Existenzerfahrung in Kultus und Kirchenregiment entfernt. Hier stellt sich eine Art Scherenwirkung heraus. Wahrheit und Wirklichkeit finden immer weniger

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zueinander. Je prägnanter und bewußter die reflektierte Konfessionalität, desto begrenzter die Existenzerfahrung im geistlichen Bereich der Kirche.

Erst die ökumenische Bewegung hat begonnen, diesen Sachverhalt im Vergleich zu verdeutlichen, damit aber den Absolutheitsanspruch der Teile endgültig unmöglich zu machen. Die Konfessionen sind freilich erst jetzt auf dem Wege, sich ihrer eigenen Partikularität als einer unabweisbaren konstitutiven Tatsache bewußt zu werden, die durch Postulate nicht aus der Welt geschafft werden kann, die sich aber in der Unschlüssigkeit ihrer ekklesiologischen Konzeptionen und Gestaltungen ausdrückt. Erst so und jetzt stellt sich die Frage, inwieweit das jeweils Ausgeschlossene für die anderen unverzichtbar nötig ist, und schließlich welchen objektiven Sinn die historisch erwachsenen Diversitäten als ihren Legitimationsgrund über eine banale und belanglose Subjektivität hinaus vorzuweisen imstande sind. Denn die Vorstellung, daß man lediglich auf die Heilige Schrift zurückgreifen und aus ihr zu deduzieren brauche, reicht offensichtlich gerade für die Deutung einer so umfassenden, ja weltgeschichtlichen Verantwortung der Gesamtkirche nicht aus. In diesem Sinne ist auch die kirchenrechtliche Besinnung nicht am Ende im Sinne einer Bestandsaufnahme historischer Bildungen im Blick auf eine unbekannte Zukunft, sondern im Sinne einer hier und jetzt notwendige Klärung der Legitimität aller einschlägigen Phänomene. Erstmalig und noch keineswegs voll durchreflektiert zeigt sich diese Erkenntnis in dem Aufsatz von Paul Tillich1 über die dauernde Bedeutung des Katholizismus für den Protestantismus. Erstaunlich wirkt heute die Emphase des Konvertiten Fendt, der zu sagen vermochte: „Um die Kirche Luthers liegen die Religionen alle wie der dämmernde Morgen; sie aber ist der Vogel, der ihnen vom hohen Mittag singt.”2

Ich habe schon in der Einleitung auf jene „Dialektik der Aufklärung”, jenen Antagonismus im Verlauf historisch-kritischer Prozesse und Bewegungen hingewiesen, welche sich auch in und an der Reformation gezeigt hat — das Nebeneinander scharfsichtiger, kompetenter Kritik und Blindheit für wesentliche, legitime Elemente des bekämpften Vorhandenen und Bestehenden.

Solche Bewegungen beanspruchen, das Ganze so zu überschauen, wie man es nur vollsichtig kann. Während man das eine treffsicher erkennt, erklärt man das andere, das man nicht sieht, für nichtig, und was dort lebt, für tot. So hat auch die Reformation mit der wohlbekannten und zu Recht bekämpften Scholastik zugleich verständnislos die Fundamente der Alten Kirche aus ihrem Bewußtsein und aus der Ordnung der Kirche vertilgt, ohne zu sehen, daß dies auch ihre eigene Substruktur war und ist.

Eine kritische Bewegung hält aber konsequent den Anspruch aufrecht, gerade vermöge ihrer Konzentration des Blicks das Ganze — in der Sache wie in der Geschichte! — zu übersehen und eben von da aus beurteilen und neu gestalten zu können. Aus diesem Mißverhältnis zwischen Tatbestand und Erkenntnis entsteht die Ideologieförmigkeit sogenannter Ansätze, auch des ominösen „reformatorischen Ansatzes”, von dem aus das Ganze des Evangeliums,

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das Ganze der Kirche, das Ganze der Geschichte beurteilbar erscheint. In dieser vermeintlichen Überschaubarkeit der wechselseitigen Positionen liegt das Element eines theologischen Rationalismus, der vorgegebene und transsubjektive Elemente nicht zu integrieren vermag.

 

2. Konfessionalität und Legitimität — Konfession, Jurisdiktion, Denomination

Bekenntnis ist eine wörtliche, verbindliche Erklärung einer Person gegenüber einer anderen, für und zugleich wider eine andere und/oder etwas anderes. Es ist also kein beliebiges Wort mit beliebigem Adressaten. Es ist eine Erklärung zu eigenen Lasten mit einem existentiellen Gehalt. Es hat auch eine soziale Struktur; denn es steht von vornherein in zwei bestimmten Beziehungen, dem Wider und dem Für. Das Bekenntnis kann rein personalen Charakter als Absage gegen oder Identifikation mit einer Person haben; es kann analog dazu in inhaltlichen Aussagen Ausdruck einer verpflichtenden Wahrheit sein, und es kann beides verbinden.

Der Begriff Bekenntnis ist eng verwandt mit dem der Anerkennung3 — einer verpflichtenden Tatsache, deren Bedeutung nicht bestritten werden kann, einer Vaterschaft, des Vorhandenseins eines völkerrechtlichen Subjekts. Ein Faktum wird zum Recht, weil seine unabweisbare Wahrheit und Wirklichkeit Berücksichtigung erfordert. Hier wird die unmittelbare Verbindung von Tatsache und Recht sichtbar — da mihi factum — dabo tibi ius. Lasalle hat von der Macht gesprochen, die darin liege, auszusprechen, was ist. So können auch sehr unheilige Tatsachen als solche „heilig” sein, weil sie — wenn auch unbequeme — Wahrheiten sind, so auch das Mysterium iniquitatis: Gott der Herr hat selbst mit diesem nach seinem Recht verfahren — das ist der Inhalt der Rechtfertigungslehre geworden.

In der Verbindlichkeit des Bekenntnisses liegt ein geschichtliches Moment. Es setzt einen bestimmten Wendepunkt oder Einschnitt. Da es von vornherein und seinem Begriffe nach in einem interpersonalen Gefüge steht, kann es niemals abstrakt sein. Es kann auch widerrufen werden, aber doch nur in einer Weise, die dem modus und dem Wert einer solchen Aussage entspricht. Das Bekenntnis redet nicht nur eindeutig im Wider und Für. Es beendet auch den Zustand der Unentschiedenheit, der Indifferenz, des „non liquet”. Mit imponierender Klarheit und Folgerichtigkeit erklärt Ernst Käsemann aufgrund neuer exegetischer Erkenntnisse: Was ich nicht vertreten kann, das heißt „Bultmann”; wie ich meine jetzige Position zusammenfassen soll, weiß ich noch nicht. Es war die verpflichtende Absage an einen erkannten Irrtum in der Person ihres Urhebers.

Unter Bekenntnis als Konfession versteht man in zweiter Linie eine geschichtliche Kirche als Verband, als selbständige, unverwechselbare Identität. Die universale Kirche als solche ist keine Konfession; sie ist ein singulare tantum und nicht die Alternative zu einer vergleichbaren Größe. Es gibt

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höchstens eine Gegenkirche, wie den Antichrist gegenüber Christus. Daß die allgemeine Kirche keine Konfession ist, zeigt sich auch in der Stellung und dem Gebrauch der beiden ersten altkirchlichen trinitarischen Bekenntnisse. Sie sagen aus, worin und wie sich Gott dem Menschen offenbart, sich zu erkennen gegeben, worin er seine Herrschaft und seinen gnädigen Willen kundgetan hat. Im Lobpreis der Doxologie identifiziert sich der Mensch Gott nicht im Begriff, sondern in seinen Taten, den magnalia, und identifiziert sich mit dem, der sich mit den Menschen gnädig identifiziert hat. Dieses Bekenntnis hat sich aus dem Ursprungsbekenntnis Christos kyrios entfaltet und zugleich apologetisch die Identität dieses dreieinigen Gottes gegen die Götter der Religionen dargestellt und ausgegrenzt. Sein fundamentaler Charakter drückt sich darin aus, daß es auch während der Streitigkeiten von 1054 und 1530 festgehalten worden ist und von allen Beteiligten außerhalb des Streites bewahrt wurde. Erstaunlicherweise hat aber niemand auch nur andeutungsweise die Frage gestellt, ob die Bekenntnisse des 16. Jahrhunderts mit den alten Bekenntnissen, insbesondre dem Nicaenum als konziliarere Fassung, verträglich seien. Eine bewußte Differenz erscheint so undenkbar, als ob streitende Söhne die Gemeinsamkeit der Eltern leugnen wollten. Und doch hat die CA nicht nur mit eigenen Worten den Großteil des Nicaenums wiedergegeben, sondern auch den dritten Artikel aufgelöst und inhaltlich neu formuliert. Dies aber haben ihre katholischen Gegner nicht einmal vermerkt, indem sie ihrerseits ihre bestrittenen Grundsätze unbedenklich in der Professio fidei Tridentina an das Nicaenum anhingen, als ob die Übereinstimmung selbstverständlich wäre.

Unter Konfessionen im Plural verstehen wir demnach nicht etwa die Mehrzahl der Bekenntnisformulierungen, sondern die historischen Partikularkirchen, die sich mit der hypothetischen Grundlage der alten Bekenntnisse auf die sekundären dogmatischen Formulierungen von Bekenntnisschriften gründen. Die Äquivokation wird durch die Unterscheidung von Konfessionen und Bekenntnisschriften vermieden. Abgesehen von dem geistesgeschichtlichen Abstand können die Konfessionen doxologische Bekenntnisse selbst nicht bilden, weil sie sonst mit Apostolicum und Nicaenum schon methodisch in Kollision kämen.

Das systematische Gegenteil von Konfessionskirchen als partikularen Verbänden sind ebenso partikulare Jurisdiktionen. Dieser Begriff meint in der gleichen Verschiebung wie im Konfessionsbegriff weder die Leitungskompetenz als solche noch ihren Inhalt, sondern die historisch-partikulare Identität von Kirchenverbänden, die durch und unter einer traditionellen anerkannten Autorität vereinigt sind.

Die Form von Konfessionskirchen ist ein historisches Phänomen des 16. Jahrhunderts, welche weder vorher noch nachher mit ähnlichen Bildungen zu vergleichen ist. Die Trennung zwischen Ost- und Westkirche ist dagegen keine konfessionelle, sondern ein Schisma von Jurisdiktionen unter Einschluss oder auch Vorschiebung dogmatischer Differenzen. Hieran wird die Jurisdiktion

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als Gegenbegriff der Konfession deutlich. Die Jurisdiktion als historisches Subjekt beruht auf einer lokal georteten Personaltradition, welche sich in einer Verbindung von historisch erwachsenen ekklesiologischen, institutionellen und dogmatischen Eigenheiten und eigener Spiritualität ausgebildet hat. Auch die Sacra Romana Ecclesia ist eine solche Jurisdiktion mit der Besonderheit primatialer und zur Universalität ausgeweiteter Leitungsansprüche, die sekundär im Verfolg der Reformation durch das tridentinische Bekenntnis selbst die Merkmale der Konfessionskirche rezipiert hat.

Die katholische Kirche der Gegenreformation sah sich genötigt, eine Art Summarium dogmatischer Grundsätze von sehr verschiedenem Wert als Quintessenz der Auseinandersetzung mit der Reformation zu proklamieren, eine Aussageform, zu der sie sonst keine Veranlassung gehabt hätte. Die Bezeichnung dieses Textes ist von der „Confessio” in „Professio” variiert, weil hier die interne Aussage als Bekräftigung der Zugehörigkeit voransteht.

Eine interessante typologische Verschmelzung von Konfession und Jurisdiktion stellt die Kirche von England und die weitere anglikanische Gemeinschaft dar. Sie hat zwar in den 19 Artikeln von 1562 eine Art von Bekenntnisschrift, die aber im Gegensatz zu den kontinentalen Konfessionskirchen in Verbindung mit den institutionellen Traditionen nur eine begrenzte Bedeutung hat.

Was eine Konfessionskirche ist, hat also der Sprachgebrauch einigermaßen begrenzt. Nicht jede Partikularkirche mit eigenen, unverwechselbaren Grundsätzen ist bereits eine Konfessionskirche. Konfessionsbildung hat eine materiale und eine formale, methodische Voraussetzung.

Im materialen Sinne ist Konfession allein eine Kirchenbildung, welche unternimmt und zugleich beansprucht, das Ganze des christlichen Glaubens darzustellen und darzubieten. Eine Partikularkirche, welche nur einen oder einige ihr besonders dringlichen Glaubensartikel vertritt, sich aber in der denkerischen Gesamtverantwortung an den Entwurf oder die Hauptlinie eine anderen Kirche oder Tradition anschließt, wird nicht als Konfession bezeichnet. So entstehen Filiationen, Tochterkirchen, die einerseits einem Haupttypus folgen, andererseits aber wegen der einseitigen Betonung einzelner Grundsätze in die Nähe der Sektenbildung geraten. Sie zeigen aber auch oft im Fortgang die Neigung, sich dem Ursprungstypus stillschweigend wieder anzunähern, wenigstens das relative Recht des bisher schroff Abgelehnten nicht mehr auszuschließen. Die welt- und geistesgeschichtliche Last, welche die Konfessionskirchen in der Vertretung des ganzen Evangeliums gegenüber der Welt und anderen kirchlichen Traditionen auf sich nehmen müssen, erfordert die ständige Aufrechterhaltung eines sehr hohen theologischen Reflexionsstandes, um nicht unter das Niveau der jeweils aktuellen Auseinandersetzung ad extra et ad intra zu geraten. Das hat bedeutende soziale Folgen. Begrenztere Gruppen suchen sich von dieser Last der Rationalität zu befreien und geraten auch dadurch in die Gefahr der Sektenbildung, der Verhaftung an einen mehr oder minder apodiktisch, ja gesetzlich vertretenen Teilgrundsatz. Diese Verengung macht sie dann wieder unglaubwürdig für Gläubige mit einem weiteren

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Horizont, höherem Bildungsniveau und kritischem Bewußtsein, so daß diese Gruppen bis zu einem gewissen Grade in ein geistiges und soziales Abseits gedrängt werden.

Im formalen und methodischen Sinne wird von einer Bekenntniskirche erst dann gesprochen, wenn ihr wesentlicher Lehrbestand in einem verbindlichen Text zusammengefaßt wird, so daß weitere vergleichbare Aussagen damit als zweitrangig oder variabel erscheinen. Dieser primäre Text ist konstitutiv. Die Differenz ist derjenigen zwischen schriftlichen Verfassungsrecht und dem übrigen Gesetzesbestand eines Rechtssystems einigermaßen vergleichbar. Der fundamentale und Systemcharakter verbindet sich zugleich mit einer historischen Dignität der Grundlage und des Anfangs, welche nicht hinterfragt werden können und dürfen. Infolgedessen kann es, wenn überhaupt, nur eine Fortschreibung, sinngemäße Abwandlung oder authentische Auslegung, nicht aber eine Änderung des Grundbestandes geben. Denn dies hängt zugleich mit ihrer Integrationswirkung, der tatsächlichen Gruppenbildung zusammen. Die Lehre integriert die Anhängerschaft dergestalt, daß eine Aufschnürung des Pakets der Aussagen zugleich auch eine Infragestellung der personalen Gemeinschaft zur Folge hätte. Deutlich steht hier die Sachaussage als Grundlage vor der Vergemeinschaftung. Während ehedem die Identifikation mit der durch Beschreibung identifizierten Person Gottes erfolgte, steht jetzt — und damit unter Voraussetzung der ersteren Form — die inhaltlich-dogmatische Aussage als Mittel der Integration voran. Daraus erklärt sich das unwillkürliche Festhalten aller getrennten Kirchen an der altkirchlichen Bekenntnisbasis trotz des ungeklärten sachlichen Verhältnisses. Zugleich wird aber deutlich, in wie hohem Maße damit die Basis der Gemeinschaftsbildung als solche rationalisiert worden ist, eine unbeabsichtigte, aber entscheidende Nebenfolge aus dem denkerischen Streit um existentielle Grundaussagen.

Dieser Vorgang der Bekenntnisbildung aber in seiner umfassenden Bedeutung setzt die Fähigkeit eines Mannes voraus, seine geistliche Existenzerfahrung als Grundbestimmung mit dem Gesamtumriß der christlichen Lehre vom Heil in sich folgerichtig zu verbinden. Wo diese Fähigkeit bei Vorläufern, Einzelgängern und Epigonen fehlt, kommt es im äußersten Fall zur Formulierung einzelner, wenn auch wichtiger Grundaussagen mit einem gewissen Bestande relativer Differenzen und Besserungsvorschläge gegenüber dem Vorfindlichen. Eine solche unvollständige Bekenntnisbildung in der Mischung zwischen Bekenntnis und Reform kann deshalb auch geschichtlich nicht weiterführen, sondern nur eine kritisch gewordene Situation signalisieren und sie zugleich durch ihre Unzulänglichkeit verwirren. Genie und kairos müssen in der Berufung zusammentreffen. Wie die beschriebene Bekenntnisbildung einen hohen und fortgeschrittenen Grad von theologischer Rationalität voraussetzt, so die Wirksamkeit eines bekenntnisstiftenden Reformators eine entsprechende systematisch-theologische Kapazität, die ihm ermöglicht, das Grundmotiv seines Auslegungsmodus folgerichtig bis in alle Verzweigungen der notwendigen dogmatischen Thematik zu verfolgen. Diese Kapazität wird provoziert und

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in Gang gesetzt durch eine außerordentliche Erfahrungsfähigkeit, die sich in einen lang dauernden Grundantrieb umsetzt.

Diese als tragendes Vorbild in sogenannten Ansatz übertragbare Grundmotivation und die immanente Folgerichtigkeit ermöglichen zusammengenommen eine kirchenbildende Ausbreitung und entsprechende Institutionalisierung. Die innerste Voraussetzung ist dabei die zum Bekenntnis nötigende Grundfrage nach dem Heil, die zur Voraussetzung und Bedingung eine zwar umfassende, aber nicht alleinige Möglichkeit hat, und auf dieser Grundlage in einer bestimmten Weise beantwortet wird.

Eine solche Bewegung setzt zugleich ein Moment der radikalen Zuspitzung voraus, in der die innere Gefährdung der äußeren Ausgesetztheit durch den provozierten Widerspruch notwendig entspricht.

Dieser einmaligen Erscheinung — der Reformation — haben weder vorher noch nachher vergleichbare Bewegungen entsprochen. Denn keine der zahllosen Gruppenbildungen und Abspaltungen innerhalb der Kirchengeschichte hat jemals das Merkmal einer so umfassenden Verantwortung wie auch einen gleichrangigen Bedeutungsanspruch getragen. Mit dieser Beschreibung ist aber noch nichts über Legitimität und Legitimierung einer solchen Bewegung ausgesagt.

Die Exegese hat versucht, Typus und Modell dieser Bewegungen in gewissen unterschiedlichen, im NT aufweisbaren Theologien der Verfasser der kanonischen Schriften herauszuarbeiten. Die exegetischen Grundlagen dieser Hypothese sind unbestreitbar sehr bruchstückhaft. Auch ist fraglich, wieweit diese Deutungen von einem Konsens getragen werden. Diesem Versuch steht vor allem der Mangel an entsprechende tragfähigen Lebensformen in den Texten entgegen: die nachweisbaren Ansätze solcher Formen haben sich gerade im Zusammenwachsen zweier konkrete Stränge zur missionswirksamen geschichtlichen Gesamtform verdichtet. Die Entstehung der Konfessionen kann keinesfalls als die originale und sich über mehr als ein Jahrtausend durchhaltende Identität einer so unvollständigen Anfangskonzeption verstanden werden. Nur die Unvertrautheit mit den Bedingungen von großen Sozialisationsprozessen kann zu dieser Annahme führen. Aber auch die hypothetischen Möglichkeiten überschreiten nicht den Rahmen der Subjektivität. Wenn ein einzelnes Motiv im biblischen Bestand in seiner Partikularität als virtuell zureichender Grund einer allgemeingültigen Anschauung verstanden werden soll, muß die Legitimität der Konfessionsbildung tiefer begründet werden. Eine objektive Begründung und damit Legitimation von Konfession kann nur in einem modus bestehen, der als Möglichkeit im denkerischen Gefüge des Evangeliums enthalten ist und imstande ist, das Ganze zu integrieren — ohne freilich apriori vergleichbare andere Darstellung auszuschließen. Qualifizierte Möglichkeiten als solche, nicht die Subjektivität der Autoren sind allein die objektive und damit auch legitimierende Grundlage der Konfessionsbildung. Die Möglichkeit ist die objektive Bedingung der Subjektivität.

Die innere Folgerichtigkeit der Konfessionsbildung ist tatsächlich sehr viel größer als die Konsequenzfähigkeit auch eines kompetenten theologischen

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Denkers. Sie ist der Umsetzung einer Komposition aus einer Tonart in eine andere analog, wo ja auch scheinbar ganz fremde Tonwerte notwendig an eine bestimmte Stelle treten müssen. Die konventionelle These von der Subjektivität der Schriftauslegung als unterschiedliche Basis der Auslegung und Gestaltung hat nur das begrenzte Wahrheitsmoment, daß keiner der modi das Ganze der Möglichkeiten enthält. Die modi sind als Möglichkeiten objektiv, aber notwendig partikular und insoweit subjektiv. Nur das, was als Deutungsmöglichkeit in einem wesentlichen Teil der Schrift vorhanden und extrapolierbar ist, kann eine Legitimität begründen. Aber die Partikularität drückt sich neben bloßen Zufälligkeiten in gewissen typischen Begrenzungen des Verstehens und des Ausdrucks aus. Eine jede Konfession hat daher in ihrer eigenen Stärke, sozusagen ihrem Notenschlüssel, zugleich einen blinden Fleck.

Die ursprüngliche Vorstellung von Reformation war die einer Gegenüberstellung von Wahrheit und Irrtum, von Schriftgemäßheit und Schriftwidrigkeiten. Die Struktur der Konfessionalität zeigte sich dagegen im Laufe der Reformation selbst. Das Programm Luthers verstand sich zunächst als allgemeingültige Reinigung eines ebenso allgemeingültig etablierten Systems von Kirche. Dies deckte sich mit einem Schriftverständnis, welches diese Auslegung als in sich evident und zwingend verstand, bis hin zu der, aller geistlichen und geschichtlichen Erfahrung widersprechenden und von der nachfolgenden Theologie stillschweigend beiseite gestellte These von der unmittelbar sich durchsetzenden Evidenz der Schrift.

Die Entstehung einer dritten Partei zeigte schon im ersten Ansatz die Konfessionsbildung als solche an. Dies war mehr als eine Variante; es war trotz Verwandtschaft eine eigenständige Konzeption, die ebenso von der objektiven Möglichkeit als Bedingung abhing.

Die denkerische Möglichkeit als objektive Bedingung der Legitimität von Konfessionen hat noch niemand in den Blick genommen. Über die Definition dieser bedingenden und legitimierenden Möglichkeiten kann man streiten. Als solche modi habe ich in Band II4 die drei modi der Zeit nachzuweisen versucht.

Es ist die außerordentliche Bedeutung und Leistung der Kirche im Reformationszeitalter, daß sie die Kategorie der Zeit in ihren modi in das Existenzverständnis aufnahm und als Diversität institutionell darstellte. Geschichte und Existenz waren damit in neuer Weise verbunden.

Die Kirche hat in der Diversität ihrer Konfessionen nicht rudimentäre Konzeptionen der Schrift repristiniert, sondern in ihrer eigenen Geschichtlichkeit die Darstellung der modi der Zeit auszuarbeiten vermocht. Darin liegt die Objektivität, darin liegt die Legitimität, aber auch die Bezüglichkeit der Konfessionen. Die Konfessionen konjugieren das Evangelium in den modi der Zeit. Der Sand subjektiv-zufälliger Auslegungen trägt nicht die Kirche und keines ihrer Gebäude.

Das ist jenseits aller wechselseitigen Rechthaberei eine außerordentliche, über die Kirche selbst weit hinauswirkende geistige Leistung von unabsehbarer Bedeutung.

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Jene außerordentliche Leistung, in der sich die geistliche Nötigung mit der Fähigkeit des Leidens und der Erkenntnis verbindet, führt deshalb auch eigenartige Nebenwirkungen mit sich. Ihre prägnante Wirkung gleicht dem Schaffen eines Künstlers. Viele Künstler, unbekannte und bekannte, auch solche mit großem Namen, wie etwa Cellini, haben sich als Stempelschneider für die Münzwerkstätten ihrer Zeit betätigt. Aber wenn diesem Stempelschneider eine Linie mißlingt oder er einen orthographischen Fehler macht, so vervielfältigt sich das Bild mit diesen Fehlern in der Prägung in unbegrenzter Zahl und über den Augenblick hinaus. So auch die Wirkung von Konfessionsgründern. Wer sich von ihnen willig prägen läßt, weil ihn ein entscheidendes Motiv dazu veranlaßt, bekommt unweigerlich die objektiven Fehler und zufälligen Eigenheiten des Prägenden mit. Schielt das Urbild, muß das Abbild auch schielen, ja sich sogar in heiligem Eifer darin üben. Daraus ergibt sich der sonderbare Umstand, daß die evidentesten, aber auch geringfügigsten Irrtümer und Haltungsfehler ebenso schwer zu berichtigen sind, wie wesentliche Grundsätze. Prägungen sind etwas ganz anderes als Grundsätze oder gar Gesetze.

 

Einen sehr viel weiteren und unbestimmteren Begriff meint die Bezeichnung Denomination. Auch sie wird wesentlich im ekklesiologischen und damit auch kirchenrechtlichen Sinn verwendet. Es handelt sich um ekklesiale Verbände, welche durch ihren Namen („denominatio”) ihre Identität ausdrücken — ausschließlich um solche, welche den Anspruch einer anerkennungsfähigen Beziehung zu Jesus Christus und dem Evangelium erheben. Das setzt ein gewisses Maß von Verbindlichkeit, innerer Gemeinsamkeit, wie die Fähigkeit zu verbindlicher Vertretung voraus.

Der Begriff ist weiter als der von Konfession und Jurisdiktion, kann aber formal und notfalls auch diese einbegreifen. Die Weite des Begriffs ermöglicht losere Formen der Zusammenarbeit, die nicht durch höhere Anforderungen der Übereinstimmung eingeschränkt werden.

Der Begriff macht übrigens die transsubjektive Bedeutung des „nomen” deutlich, der sowohl die Selbstidentifizierung wie die Fremdidentifizierung ermöglicht.

Die Reformation hat also in paradoxer Konsequenz entgegen ihrer Zielsetzung nur einen begrenzten Teil der Kirche verändert, und auch dies keineswegs in Maßgeblichkeit und Vorbildlichkeit. Aber sie hat über den christlichen Bereich hinaus politisch, philosophisch, technisch und ökonomisch die Situation aller Völker in irreversibler Weise verändert. Sie ist mit geistigen Schöpfungen aller Art verbunden, die aus dem Leben der Menschheit nicht mehr hinwegzudenken sind. Aber das Verhältnis dieser Wirkungen zum christlichen Glauben ist nicht eindeutig beurteilter, in vielem Betracht ambivalent.

In dieser Erwägung geht es nicht um die weltgeschichtliche Wirkung des Protestantismus, die immens ist, sondern um seine kirchengeschichtliche Rolle.

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Beide stehen in einem problematischen Verhältnis zueinander, welches als solches das Thema dieses Buches überschreitet.

 

3. Zur theologischen Zeitgeschichte — Konfession und Zeit

Die Geschichte der reformatorischen Theologie deutscher Zunge (unter Einschluss der Schweizer mit Emil Brunner und Karl Barth) hat sich seit dem Ersten Weltkrieg in öffentlicher Verborgenheit um das Problem der Zeit gedreht.

Vergeblich hatte Paul Tillich versucht, die Geschichtslosigkeit der lutherischen Theologie im Prinzip des kairos mit aktueller Geschichte zu impfen. Er war der erste systematische Theologe, der es wagte, von einer strukturellen Defizienz des Protestantismus entgegen seinem Totalitätsanspruch zu sprechen. Aber er verkannte, daß die Entstehung neuer Lebensformen, die Wiedergewinnung ihrer Pluralität gegenüber dem Monismus der Reformation als solche ein Aufbruch und eine Schwelle war. Er vermochte den Begriff des kairos nicht so zu füllen, daß sein Gehalt in der Geschichte der Kirche selbst lag und liegt.

Karl Barth, wie Tillich von der Dramatik der Zeit getroffen, ließ den besonnenen, aber traditionell gewordenen Humanismus Emil Brunners hinter sich. Er entdeckte auf der Höhe seines Lebens das Nicaenum und nahm es als Substrat und Vorwurf der monumentalen kirchlichen Dogmatik. Im Rückgriff auf das Nicaenum lag eine immanente Kritik an der reformatorischen, insbesondere lutherische Tradition, welche sich am Apostolicum orientiert hatte. In dieser Option liegt auch der bescheidene Wahrheitskern seines angeblichen Kryptokatholizismus, zugleich ein Raum innerer Freiheit bis hin zu der Konzentration und Einschränkung des Gegensatzes zum Katholizismus auf die analogia entis. Das traditionelle Denunziantentum hat ihm dies heimgezahlt, da es Freiheit nicht verträgt. Konfessionell folgerichtig, sachlich freilich inkongruent, baute er seinen Entwurf auf der Zeitperspektive der Erwählung auf.

Aber Anfang der 50er Jahre wurde Barth — von seinem scharfsinnigen Interpreten Howe lebhaft empfunden und deutlich signalisiert — schlagartig von Bultmann außer Kurs gesetzt. An die Stelle der Erwählung und der umfassenden providenziellen Erstreckung der Christologie trat der reine Präsentismus des existentiellen Jetzt und Hier.

Bultmann indessen, der in Herborn Barth eine Art Cannae bereitete, wurde ein halbes Menschenalter später in einem ebenso jähen Umschlag abgelöst. Zunächst wurde ihm auf seinem eigensten Felde, der Exegese, seine Engführung und der Verlust ganzer Dimensionen nachgewiesen. Dann erwies sich, daß mit ungleich geringerem Aufwand an Exegese und systematischer Interpretation an die Stelle der Präsenz die Zukunft gesetzt werden konnte. Die Theologie der Zeit kam mit der Reduktion auf jeweils einen modus temporis an ihre

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Grenze und in die Nähe der Ideologie. Bultmann, ehedem der Angelpunkt von tausend Schriften, glich in seiner persönlichen Existenz alsbald einem Hafen der zum Binnenland geworden war. Niemals ist ein großer Lehrer der Heiligen Schrift mit solchem geschichtlichen Recht und so wenig Bosheit oder Untreue allein gelassen und vereinsamt worden. Die Mehrdimensionalität der Zeit erwies jede einzelne Konzeption als Defizient und blieb doch ein Ganzes — verbunden mit der Dialektik von Geschichte und Geschichtslosigkeit. Dies zeigt die Größe, die Existentialität und die Last dieser im Evangelium vorgegebenen Thematik, an der die Kirchenrechtslehre ihren legitimen Anteil hat.

Die Konfessionskirche ist daher dem Begriffe nach eine (in sich folgerichtig durchgebildete) Partikularkirche, deren Position Gültigkeit, aber nicht Allgemeingültigkeit beanspruchen kann. Mit der Durchführung ihrer Grundsätze ist eine Prävalenz bestimmter Merkmale der Kirche wie eine Defizienz — anders gesagt: Dominanz und Rezessivität — verbunden. Sie setzt das legitime Vorhandensein vergleichbarer Konfessionen voraus und ist Kirche nur unter der Voraussetzung der übergreifenden Existenz der universalen Kirche. Die Konfessionskirche als Partikularkirche vermittelt, wie im Begriff der Partikularkirche überhaupt gegeben, ihre Identität zur universalen Kirche und die eigenen Observanz. Da sie nur eine Vermittlungsfunktion hat, die auf jener Voraussetzung beruht, geht ihr — unter Ausschluss der Uniformität — die universale Kirche voraus. Diese Universalität erscheint nicht nur im Weltmaßstab, sondern auch in dem örtlichen Miteinander gemeinsamer Verpflichtung. Daran wird sichtbar, daß das Bekenntnis seine primäre Bedeutung im personalen Bezug zum dreieinigen Gott und erst sekundär in den modi der Observanz besitzt.

Die Aufdeckung der — den Konfessionen selbst unbewußten — Tatsache, daß die modi der Zeit ihre objektiven Bedingungen sind,4 deutet darauf hin, daß die Geschichte der Kirche dieses Leitmotiv hinter sich zu lassen im Begriffe steht. Die differenzierende Verbindung der Theologie mit der Zeit wandelt sich der Sache nach in neue Formen des Zusammenhangs. Anachronistisch — das heißt dem Stand der zugänglichen Erkenntnis zuwider — ist die Absonderung und Absicherung einer einzelnen integralen Identität. Wer sein Leben lieb hat, wird es verlieren.

 

Anmerkungen zu Kapitel VI

1 Paul Tillich, Die bleibende Bedeutung der katholischen Kirche für den Protestantismus, in: ders., Der Protestantismus als Kritik und Gestaltung, Schriften zur Theologie I, Gesammelte Werke VII, Stuttgart 11962, 124-132.
2 Zit. bei Gerhard Gloege, Zur Rechtfertigungslehre der Augsburgischen

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Apologie, in: ders., Verkündigung und Verantwortung. Theologische Traktate II, Göttingen 1967, 427-439, hier: 439.
3 Zum Problem der Anerkennung s. Dombois, Ökumenismus — Inhalt und Grenzen, in: ders., Kodex und Konkordie, Stuttgart 1972, 15-22.
4 RdG II, Kap. VIII, 168-172.