1. traditio und receptio

a) Die traditio

Wenn hier von geistlichen Handlungen gesprochen wird, so ist damit ausschließlich das Handeln gemeint, das der Kirche als Kirche Jesu Christi allein zukommt, von niemand anderem vollzogen werden kann, nicht das Auftreten der Kirche in der Welt als Subjekt im bürgerlichen Rechtsverkehr. Die Zuordnung ihres weltlichen Auftretens zu ihrem geistlichen Handeln ist davon gesondert zu betrachten. Was die Kirche als Kirche tut, tut sie niemals aus eigenem Recht, sondern immer im Auftrag. Mehr noch: es ist die durchgängige biblische Überzeugung, daß im kirchlichen Handeln Gott allein handelt, wenn auch durch das Medium des Menschen. Er selbst wirkt das rechte Reden wie das rechte Hören des Wortes. Wie nun der Handelnde und die Gemeinde die Berufung zum Handeln zu erkennen vermag, ob hierfür regelmäßige Kriterien bestehen können, ist jedoch eine zweite Frage. Voranzustehen hat die Frage nach der Struktur der kirchlichen Handlungen.

Die spezifischen Formen, die hier als erste auftreten, sind die der traditio und der receptio.1

Wenn hier von traditio geredet wird, so handelt es sich zunächst ausschließlich um einen Vorgang, nicht um einen Gegenstand, also eine traditio, nicht um ein tradendum oder traditum, eine „Tradition”. Über einem Kampf um das tradendum, um den Gegenstand und Inhalt der Tradition ist der Vorgang als solcher in den Hintergrund getreten. Gerade die Umsetzung des Vorgangs in einen Gegenstand ist eine entscheidende Veränderung auch der Sache selbst. Heidegger hat darauf hingewiesen, daß der Begriff „Ding” ebenso wie das lateinische „res” ursprünglich eine Versammlung um einen Vorgang, einen Prozeß und damit freilich auch um eine „Sache” bedeutet, und daß der Ding-res-Begriff als Gegenstand schon eine sinnverändernde Ablösung aus diesem Gemeinschaftgeschehen bedeutet. So konnte Tradition in den Vorstellungsbereich von Zusätzen und Abstrichen, der Addition und Substraktion von einem Normalmaß des Objektiven geraten. Gegenständlich in dieser Weise aber sind nicht nur objektivierte Handlungen, real verstandene Gaben, sondern auch Lehren, Ideen, Gedankensysteme. In Kap. X wurde das Bekenntnis als personaler Akt beschrieben, der um die Identität und damit Ausschließlichkeit des zu bekennenden göttlichen Gegenübers geht. Die Frage nach der Jungfrau Maria als der mediatrix omnium gratiarum und womöglich corredemptrix ist nicht

|816|

die Frage einer für sich bestehenden „objektiven” Wahrheit, sondern die, ob diese Lehre mit der Exklusivität des monotheistisch-trinitarischen Gottesglaubens vereinbar ist und wie sie sich zu ihm verhält. Die Ablösung solcher Sätze vom personalen Bekenntnis verschleiert die Kriterien. Führt etwa die katholische Lehre vom Papsttum zu einer fast islamischen Bekenntnisformel: Jesus Christus ist Gott und Herr, und der Papst ist sein Stellvertreter!? Das Problem der Tradition im Sinne inhaltlich-gegenständlicher Aussagen kann immer nur vom personalen Charakter des Bekenntnisses her zutreffend gestellt und beantwortet werden. Ein anderes aber ist Phänomen und Problem der traditio als Vorgang.

traditio ist der Vorgang, durch den Gott sich uns gibt — receptio ist der Vorgang, durch den wir diese Gabe, diese traditio empfangen.

Erst durch die Behauptung, daß wir Gott recht, d.h. anders überhaupt nicht! — nur durch die Annahme bestimmter Handlungsweisen, Glaubensaussagen, Ordnungen in seiner traditio empfangen, wird aus dieser traditio eine Tradition. Wir empfangen freilich nicht nur, sondern wir leisten diesen geforderten Gehorsam des Glaubens, indem wir das von Gott durch diese Hingabe der traditio Gewollte an uns geschehen lassen. „Glauben heißt bereit sein, etwas an sich geschehen zu lassen, was Gott an uns tun will und was wir ihm darum schuldig sind. In diesem Sinn ist die Jungfrau Maria das Urbild der glaubenden Kirche. Was mit der Haltung des Glaubens gemeint ist, drückt die Heilige Schrift in den Bildern von Same, Zeugung und Empfängnis aus: Glaube ist Bereitschaft zu empfangen (Credo Ecclesiam, S. 12). Es ist kein stummer, passiver, sondern ein redender, antwortender, medialer Gehorsam. Dieser Glaube trägt das Empfangene aus und weiter, er antwortet mit Lobpreis und Dank.”

Halten wir fest: Gott gibt sich uns — wir geben uns ihm. Es bedarf nicht erneuter Darlegung, daß alles dieses Tun nur per Jesum Christum dominum nostrum geschehen kann und ausschließlich geschieht. Der Mensch vermöchte, wenn er aus eigenem Vermögen zu handeln versuchte, immer nur „etwas”, aber nicht sich selbst zu geben. Seine in der Tiefe zerbrochene Existenz versagt ihm eben diese personale Ganzheit: anstelle dessen tragen wir diese Ganzheit in dem einen allgenugsamen Opfer Jesu Christi als unser Opfer zur Versöhnung des Vaters vor uns her.

Das Urdatum, um das es hier geht, ist also zunächst, daß Gott sich uns fort und fort gibt. Das ist die traditio selbst. Es ist wohl nicht zufällig, daß dieses Sich-selbst-geben als Ausdruck immer wiederkehrt vom „also hat Gott die Welt geliebet, daß er seinen eingeborenen Sohn gab”, bis zum biblischen Bericht: „in der Nacht da er verraten ward” (tradere). Geben, hingeben, sich verraten und übergeben lassen hängt untrennbar eng zusammen.

|817|

Diese Übergabe an uns vollzieht sich jetzt und hier in alle Zukunft bis zum jüngsten Tage durch eine von Gott selbst verordnete Mittlerschaft von Menschen. Aber Gott gibt nicht irgend etwas oder fordert gar nur wie ein großer Lehrer oder Herrscher: er gibt sich selbst.

Damit sind zwei naheliegende, immer wieder auftretende Irrtümer und Mißbräuche gegeben, welche gleichsam die Grenzen dieses geheimnisvollen Geschehens eben durch die Überschreitung deutlich machen. Entweder: der sich uns gebende Gott geht so sehr in das „Wie” dieses Vorgangs, in die Form, in das Medium oder Instrument ein, daß er uns in dem gebotenen Vollzug dieses Vorgangs verfügbar ist. Der theoretisch immer streng festgehaltene Satz, daß Gott zugleich Subjekt wie Objekt dieses Geschehens und Handelns ist, wird zu einer so formelhaften Selbstverständlichkeit, daß er für Verständnis und Haltung praktisch bedeutungslos wird. Damit wird in gefährlicher Weise übersehen, daß der sich so gebende Gott ja in dem Geben nicht aufgeht, daß er damit seiner Allmacht, Freiheit und Hoheit nichts vergibt.

Die andere Grenzüberschreitung der traditio liegt dort vor, wo ihre Fortdauer mehr oder minder deutlich bestritten wird. Das Dahingegebenwerden Gottes an die Welt wird so sehr ein einmalig Abgeschlossenes, daß die fortwirkende Hingabe Gottes — für Euch, für uns — dabei unversehens dahinfällt. Was übrigbleibt, ist eine unabhängig von dieser Selbsthingabe sich vollziehende leiblose Geistmitteilung, die dann in das Lehrhafte, Ethisch-Fordernde oder Spekulative übergehen kann. An die Stelle der personalen Selbsthingabe tritt das Reden über sie, an die Stelle der Gegenwärtigkeit und Gegenwärtigsetzung, der repräsentatio wird im Mißverständnis der commemoratio eine historische Rückerinnerung, die Wirklichkeit wird als eine nur abbildliche Darstellung und Sichtbarmachung eines „an sich” in ganz anderer Weise sich Vollziehenden und eigentlich längst Abgeschlossenen verstanden.

Verhärtung und Auflösung, Verdinglichung wie Spiritualisierung sind die einander immer entsprechenden Gefahren der Kirche, welche die Grenzen eines rechten Verständnis überall deutlich machen.

Aber diese so sehr notwendigen Grenzsetzungen reichen doch nicht allein aus, um uns in notwendiger Weise den Vorgang von traditio und receptio positiv deutlich zu machen. Daß sich uns Gott gibt, dessen sind wir nach dem Zeugnis der Schrift im Glauben gewiß; wie dies jeweils in concreto geschieht, ist eine immer sich stellende Frage.

Offenbar sind wir dieser Frage gegenüber in einer anderen Lage als die Menschen des Evangeliums selbst. Ihnen bezeugt sich Gott unmittelbar und macht Gemeinschaft mit ihnen. In einer wiederum anderen Lage sind die, welche nicht mehr Gott in Christo im Fleische gesehen haben, aber noch mit denen umgehen, die seine Genossen waren. In einer dritten Lage sind endlich alle nachfahrenden Generationen und damit wir selbst, bei denen weder das eine noch das andere der Fall

|818|

ist. Von jeher hat es die Lehre von der Kirche schwer gehabt, diese drei wesentlich verschiedenen Lagen mit Rücksicht auf die Identität des einen Geistes und der einen Kirche unzweideutig übereinzubringen.

Darum ist es aber zugleich geboten, auf das Urbild dieses Geschehens zurückzugehen und sodann aus dem Vergleich alles nachfolgenden Geschehens eben seine Identität als das Gesuchte zu erheben. In der Verkündigung Mariae gibt sich Gott selbst dem Menschen zu erkennen und spricht ihn fordernd an. Damit aber der Mensch so Gott erkenne, bedarf es zuvor einer gnädigen Zuwendung. Dies wird dadurch ausgedrückt, daß Maria als die Begnadete angesprochen wird, als kecharitomene, die Erwählte und zugleich mit der Fähigkeit Begabte, daß sie den sich bezeugenden Gott als solchen erkenne, was durchaus nicht selbstverständlich ist. Deswegen kann und muß präsentisch geredet werden. Der Herr ist mit Dir! Dieses Sich-zu-erkennen-Geben fordert Empfang, Anerkennung, Glauben heraus, welche Maria in dem Bekenntnis des „fiat” ausspricht. Es ist aber Erkennen und Glauben in Hinblick auf ein Zukünftiges, das erst geschehen soll: „und sie empfing von dem Heiligen Geiste”. Verkündigung ist Selbstbezeugung Gottes, in der er sich dem Menschen gibt, die durch seine Gnade dem Menschen erkennbar, evident wird, welche glaubende Annahme erfordert und über sich hinaus auf ein eschatologische sich vollendendes Geschehen hinweist. Auch der Glaube ist kein rettender Habitus, um den es allein geht: er weist über sich auf die heilsgeschichtliche Vollendung hin. Verkündigung ist also ein doppeltes: die Kundbarmachung einer aussondernden Erwählung, wie sub conditione fidei die Einbeziehung in den neuen Aeon der Heilsgeschichte durch eine Verbindung Gottes mit dem Menschen.

Wir können also den Ausgangssatz noch einmal voller formulieren: traditio ist die Selbstbezeugung Gottes in der Verkündigung, wie sein gemeinschaftsstiftendes Eingehen in die menschliche Welt, receptio ist der Akt des Glaubensgehorsams, der kraft der gratia praeveniens Gott als Gott erkennt und dementsprechend handelt.

Wir haben gesehen, daß sich die auftragsgemäße Ausrichtung des Missionsbefehls in einer ganz bestimmten Weise vollzieht, in einem ganz bestimmten Verhältnis der Handelnden zueinander. Gott gibt sich uns durch die Ausrichtung des Wortes in Predigt und Sakrament und wird geben uns ihm durch Bekenntnis, Gebet und Lobgesang. Missionsbefehl und Wiederholungsbefehl stimmen hier in ihrem Aufriß völlig überein und ergänzen einander. Auch hier sehen wir eine thetische Selbstaussage: dies ist mein Leib, dies ist das Neue Testament in meinem Blut — sodann ein Gebot an die Jünger „solches tut …”, und als Drittes die Verheißung, den Hinweis auf die eschatologische Zukunft und Wiederkehr … bis daß er kommt.

Gott gibt sich uns selbst in Christus. Das ist ein Akt des Gebens, des Weitergebens.

|819|

„In Berufung und Sendung gibt der Herr seinen Jüngern Anteil an seinem Wort und Werk, — wie er ihnen Anteil an seinem Leib und Blut gibt. Dies ist der Urakt, der die Tradition schafft, nämlich die Weitergabe der Verkündigung und der dazu gehörigen Vollmacht von Mann zu Mann, von Geschlecht zu Geschlecht.

Wer empfängt, hat zugleich die Verantwortung für das Weitergeben.2 „Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich Euch.”

Gottes Anspruch an den Menschen ist schon eine Selbstpreisgabe, in der er in die Welt eingeht, mit dem Menschen als Partner sich gemeinmacht, indem er ihn zugleich in eine neue Wirklichkeit versetzt. Es ist ein Akt der Zeugung, der Neuschöpfung, in der der Geist neues Leben entzündet, indem er sich in die Welt hineingibt. Zeugung ist nicht allein eine Bemächtigung, sondern immer zugleich auch eine Selbstpreisgabe an das Jetzt und Hier, durch die neues Leben entsteht.

Deshalb wird auch der Vorgang der Mission und Ausbreitung des Glaubens mit Recht und sinngemäß unter diesem Bilde und der Vorstellung der geistlichen Zeugung und Vaterschaft verstanden. Eine jede Gemeinde und jeder einzelne in ihr hat seinen Ursprung in dem konkreten Vorgang dieser Vermittlung, in welcher er unter der ausschließlichen Wirksamkeit des Geistes doch durch konkrete Menschen in einem geschichtlichen Vorgang in ein neues Leben geführt wird.

Diese traditio umfaßt nie die Lehre allein, sie umfaßt alle Gnadengaben der Teilhabe am sakramentalen Christus, sie umfaßt auch Auftrag und Vollmacht, die den Jüngern gegeben sind, und die mit dem Auftrag der Mission der neuen Gemeinde weitergeben wird. Diese Wirksamkeit endet nie bei dem einzelnen Menschen, der ja auf eine eschatologische Vollendung hin getauft wird, „auf daß wir auferstehen”, endet nie bei der konstituierten Gemeinde. Denn ein jeder und eine jede Gemeinde steht im neuen Aeon im Widerspruch zum alten, zur Welt und ist mit dem Auftrag der Mission an diese gewiesen. Es ist nie eine geschlossener Kreis, sondern immer nur das derzeitige personale und zeitliche Ende einer Kette, an die neue Glieder angefügt werden sollen.

Es gibt also auch keinen zeitlos abstrakten Inhalt dieser traditio als eine für sich bestehende Wahrheit, die man irgendwo auch schließlich durch Nachdenken und Bibellesen finden könnte, ohne daß sie einem in einer persönlichen Begegnung zugeeignet, zugesprochen wird.3 Zu dieser paradosis-traditio gehört auch die Taufe als Eingliederung, die vom konkreten Menschen am Täufling vollzogen wird. Denn indem das neue Glied dem Leibe Christi als solches eingegliedert wird, gibt es auch sich ihm, macht er Gemeinschaft mit ihm, wie in der Communio des Altars, wird der Mensch syssomos mit ihm.

Aus diesem pneumatischen Vorgang ergibt sich auch eine ganz bestimmte Ordnung der Kirche. Es ist nicht ein Ordnungsschema um der

|820|

Ordnung willen, sondern ist grundsätzlich nicht mehr und nicht anders als der Vorgang selbst in der Wirklichkeit sichtbar ausgedrückt.

Aus dem ständigen Vorgang der traditio entsteht als eine allein der Kirche eignende Erscheinung das Missionsrecht. Im Staate kann es nie Missionsrecht geben, weil das Staatsrecht auch in traditionellen Formen wesentlich gegenwärtige Herrschaft ist, die ihre höchste Entfaltung in sich selbst, ihrer Selbstverwirklichung hat, nicht aber über sich selbst auf ein eschatologisches Ziel weist. Wo sie es aber tut, verderbt sie gerade den gegenwärtigen Sinn und Dienst diese Staatswesens. Die Institutionen dieser Welt haben eben keinen grundsätzlich auf eine Vollendung hinweisenden eschatologischen Charakter, wie die Institution Kirche.

Aus dem Traditionsvorgang entsteht das Traditionsrecht, das Missionsrecht gleichsam selbstverständlich, nicht aus der Deduktion von Prinzipien. Die Missionsgemeinden unterstehen der Autorität ihrer Urheber, der missionierenden Apostel und wandernden Lehrer. Sie selbst greifen darauf zurück, wenn Zweifel und Streitigkeiten entstehen, und jene nehmen unbefangen eine diskretionäre Leitungsbefugnis in Weisung, Mahnung, Zucht in Anspruch, wenn sie Abirrung und Verwirrung in ihren Gemeinden sehen. Paulus unterscheidet sehr sorgfältig zwischen Gemeinden, die er selbst gegründet hat und in welchen er solche Rechte ausübt, und denjenigen anderer Apostel, und hütet sich, in jenen einzugreifen.

Das Recht der alten Kirche findet trotz so vieler Forschungen auf diesem Gebiete keine rechten Liebhaber. Die protestantische Forschung behandelt den Gegenstand in traditionellem Nominalismus in möglichster Vereinzelung der Gegenstände, in Hervorhebung der Widersprüche und Dunkelheiten. Wo sie einen einheitlichen Zug sieht, findet sie voller Bedenken die verderblichen Wurzeln des Katholizismus; so bestätigt sie die idealistische These der römischen Kirche von der konsequenten Entfaltung des katholischen Kirchenrechts. Um der Polemik willen gibt man die Grundlagen für die Gemeinsamkeit wie für die Gesundung der Kirche preis.

Die römische Kirche ist an der Erforschung dieses Gegenstandes nur soweit interessiert, als dadurch ihre historischen Ansprüche und ihre Kirchenrechtstheorie des Primats bestätigt wird. Sie übergeht deshalb gern und mit Leichtigkeit die Fülle der Zeugnisse, welche in hartem Widerspruch zur gegenwärtigen Rechtsgestalt der römischen Kirche stehen, leugnet alle Brüche. Interessenten sind nur die wenig systematisch denkenden Orthodoxen, deren kirchenrechtliche Fragestellungen ohnehin meist unscharf sind. So bleiben schließlich nur noch die Anglikaner, als Westeuropäer wesentlich begriffsschärfer und in lebendiger patristischer Tradition, aber doch auch sie überwiegend historisch-pragmatisch denkend und argumentierend. Erst allmählich gleich sich diese

|821|

Dinge in der Fortentwicklung der ökumenischen Bewegung aus. Dem Verständnis steht auf Seiten der kontinentalen Theologie auch die Verwechslung von Ideengeschichte und Realgeschichte wirksam entgegen. Was einzelne Kirchenväter über die Kirche lehren, ist noch nicht ohne weiteres identische mit dem geltenden Rechte der Kirche. So wenig auf die Dauer eine kirchenrechtliche Ordnung gegen die theologische Lehre durchgehalten werden kann, so wenig ist diese an sich schon mit dem geltenden Rechte gleichzusetzen. Hier ergeben sich oft beträchtliche Differenzen und Maßgaben.

Aus dem pneumatisch-realen Vorgang der traditio als Mission, Predigt, Fortpflanzung der Sakramente ergibt sich also nicht ein abstraktes Prinzip, sondern eine typische, sich forterbende Beziehungsform. Missionsrecht ist Recht der Filiation. Das ist eine unseren gegenwärtigen Rechtsvorstellungen wesentlich fremde und in sie nicht übersetzbare Vorstellung und Rechtsform. Daß das so ist, hat als letztes und wirksamstes Hindernis der Erfassung des Tatbestandes entgegengestanden.

Die schöne Arbeit von Olof Linton4 zeigt die Entwicklung der Forschung über die Verfassung der Urkirche. Sie ist fast ein kleines Seitenstück zu Albert Schweitzers Geschichte der Leben-Jesu-Forschung. Denn sie zeigt sehr deutlich, in welchem Maße von eh und je die bedeutendsten Forscher bis zum Range Harnacks in den Tatbestand ihre sehr zeitbedingten und subjektiven soziologischen und rechtlichen Vorstellungen eingetragen haben. So widerlegt eigentlich schon jede Darstellung durch ihre spezifische Abweichung die nächste. Erst ganz langsam schimmert in diesen liberal-idealistischen Sozialvorstellungen des 19. Jahrhunderts etwas von dem Besonderen, Unverwechselbaren des alten Rechtes hervor. Die Fülle rechtsgeschichtlicher, religionsgeschichtlicher und soziologischer Forschungen der Zwischenzeit kommt heute der Exegese entgegen: Und doch wird auch uns sicherlich eine spätere Zeit schuldigen, Vorstellung der unsrigen in den Gegenstand der Beobachtung eingetragen zu haben. Das ist in der Tat aus erkenntnistheoretischen Gründen prinzipiell unvermeidlich; der Erkennende kann von dem Gegenstand der Erkenntnis nicht abgetrennt werden und verändert ihn schon durch die Anlage seiner Untersuchung, durch den Blickwinkel und die Beleuchtung. Sicherlich gibt es exegetische Erkenntnisse, die nicht einfach wieder verlorengehen können und über jene Zeit ein für allemal hinausführen. Einen gewissen Schutz gegen Eintragungen bietet im übrigen nur das der Exegese entstammende Prinzip, daß der schwierige Text den Vorzug verdiene. So auch bei der Erfassung der rechtsgeschichtlichen Wirklichkeit. Die uns fremde Rechtsform, die sich unseren Rechtsvorstellungen nicht so einfach einfügt, hat die größere Wahrscheinlichkeit der Echtheit für sich.

Wenn wir das Missionsrecht der Filiation unserem Verständnis näherbringen wollen, so können wir aus unserem älteren Rechtsbereich

|822|

auf die Fortpflanzung der mittelalterlichen Stadtrechte hinweisen. Eine Stadt, Magdeburg, Soest, Lübeck „verleiht” einer anderen, in diesem Zusammenhang und dadurch „jüngeren” ihr Recht in Gestalt eines Rechtsbuches, der Aufzeichnung der Grundsätze, Gewohnheiten und Präjudizien. Das ist mehr als die Übermittlung vernünftig erprobter Einsichten; es ist Weitergabe charismatischer Weisheit und Rechtsfindung. Verleihung bedeutet die Übergabe zu eigener selbständiger Handhabung und Weiterentwicklung. Aber wenn die so beliehene Stadt auf Zweifelsfragen stößt, in Streitigkeiten über die Auslegung gerät, so greift sie auf die Mutterstadt zurück, ruft deren Erfahrung und Weisheit zuhilfe. Diese ist also im Verhältnis zu den beliehenen Städten keine Hauptstadt im heutigen Sinne, sie hat keine körperschaftliche Leitungsgewalt. Das Verhältnis ist aber auch nicht unter dem Begriff der Subsidiarität zu begreifen, wo das Höhere das Niedere im Bedarfsfalle ergänzt. Denn dies setzt ein hierarchisches Verhältnis verschieden vollkommener Größen voraus. Subsidiarität ist umgekehrte Hierarchie. Ganz anders das ganz konkret-historische Verhältnis der Filiation, welches durch keine Abstraktion zu erfassen, zu definieren, sondern nur zu beschreiben ist. Andererseits ist die jüngere Gemeinde keine Ortsgruppe des Gesamtverbandes, aus welchen Gruppen sich das Ganze dann zusammensetzt, sie ist ein Ganzes für sich, kein bloßer Teil; aber sie ist wiederum nicht souverän und autark, weil sie vorkommendenfalls ihre Autorität und Hilfe eben in Richtung ihres Ursprungs zu suchen hat und selbstverständlich sucht. Dieses eigentümliche historische Verhältnis ist also nicht aus einem Prinzip abzuleiten, sondern nur unter dem Bilde der Generationskette bildhaft zu umschreiben und höchstens in seinem Ergebnis als „Vorortsordnung” zu kennzeichnen. Wir treffen diese Ordnung im Mittelalter in einigen Orden an, so bei den Zisterziensern, welche mit großer Bestimmtheit die Klöster nach ihrer Abstammung gliedern und zuordnen.

Die Übereinstimmung des pneumatisch-realen, charismatischen und zugleich ganz historisch-personalen Denkens zwischen diesen späteren Formen und den frühen Formen kirchlicher Ordnung ist sehr groß. Deutlich ist, daß sie in unser Rechtsbereich nirgends mehr ganz hineinpassen.

Wesentlich ist dabei, daß die historisch-personale Seite des Vorgangs von dem Inhalt des Traditionsvorgangs nicht abgetrennt werden kann, weil eben ein ganz konkret-personales Verhältnis begründet wird. Filiation ist aber wieder gerade nicht leibliche Erbfolge, dieser nicht vergleichbar. Die kalifatsartigen Leitungsformen der judenchristlichen Urgemeinde, in welcher die Angehörigen der Familie des Herrn entscheidend waren, sind mit dieser Gemeinde untergegangen und nicht gemeines Kirchenrecht geworden. Aber es gibt auch keine Übertragung des Amtes von Amtsträger auf den Nachfolger.5 Der Erbe des Königtums ist durch die Geburt prädestiniert und wird durch den Tod des Vaters

|823|

König, unbeschadet des Erfordernisses der Anerkennung, Akklamation und rituellen Krönung — der König ist tot, es lebe der König.6 Nicht so in der Kirche.

Denn der Traditionsvorgang ist eine Einheit von Person und Inhalt, ist personale Ermächtigung für ein zu Vollziehendes. Sie geschieht schon durch die Stiftung und allmähliche Verselbständigung der Missionsgemeinden und haftet an ihrem Ganzen, in ihrer zeitlichen und örtlichen Konkretion. Das zeigt sich schon in dem Vorgang der Ämterbestellung. Der Leiter der abhängigen Gemeinde wird im Anfang vom Missionar bestellt. In der konstituierten und mündigen Gemeinde aber wirkt diese bei der Bestellung mit. Jetzt tritt grundsätzlich ein Ausgleich zwischen der Bindung an den historischen Ursprung und der Eigenständigkeit ein. Es wählen nach dem typischen und fundamentalen Kanon IV von Nicaea die Bischöfe der Provinz als Repräsentanten der Gesamtkirche, mindestens aber drei. Das Wahlrecht von Klerus und Volk der Gemeinde wird von dem Konzilskanon gar nicht erwähnt, weil es selbstverständlich war und bis ausgangs des ersten Jahrtausends außer Streit stand, nicht der Regelung bedurfte.

Die traditio vollzieht sich also als ein bestimmt strukturierter Gemeinschaftsakt innerhalb einer ebenso bestimmten Relation von Tradierenden und Empfängern. Die Gemeinde entsteht und lebt im Schoße der Gesamtkirche, aber sie löst sich in ihrer Geschichtlichkeit nicht einfach in sie auf. Die traditio, um die es sich hier handelt, ist grundsätzlich durch die Mission schon geschehen, sie wird in den nachfolgenden Leitungsakten nicht erst begründet, sondern fortgesetzt und aktualisiert.

Dieser Band kann in zweifacher Weise gefährdet und zerschnitten werden: Entweder indem der Empfänger die Tradition verleugnet und so tut, als ob er das Empfangene Seiner eigenen Macht verdanke oder es ohne Tradition gleichsam durch unmittelbare Offenbarung erhalten habe. Diese Eigenmacht und die behauptete Unmittelbarkeit sind wesentlich identisch. Beide verleugnen den apostolischen Charakter der Botschaft. So wie Peter Brunner für den einzelnen Christen feststellt, daß ihm das Wort zugesagt werden muß, er sich selbst nicht sagen kann, so gilt dies auch für den Missionsvorgang in der Gemeinde.

Oder aber die Befugnis des Tradierenden wird zu einer ständigen jederzeitigen und allumfassenden Entscheidungsbefugnis, so daß der Traditionsakt als ein wirksam geschehener, geschichtlicher demgegenüber nahezu verschwindet. Auch diese Haltung leugnet den apostolischen Charakter der Mission. Denn diese bedeutet nun eben, daß die Botschaft dem Christen zum Leben verhelfe, die dann nicht mehr unmündige Kinder, sondern Söhne, nicht mehr Katechumenen, sondern Vollbürger sind.

In beiden Formen liegt eine Aktualisierung vor, die dem geschichtlichen Charakter der Tradition zuwiderläuft. Diese ist geschichtlich und

|824|

unumkehrbar, weil in der traditio etwas Wirkliches geschieht. Nicht durch die sachfremde Grundsätze der Souveränität und der Subsidiarität allein, sondern überhaupt durch das Machtstreben beider Teile wird dieses empfindliche pneumatische Gefüge von innen heraus gefährdet: von der Seite der Tradierenden wie der Traditionsempfänger. Gerade in dieser Gefährdetheit liegt ein Zeichen seines pneumatischen Charakters.

Tatsächlich ist auch die Kirchengeschichte die Geschichte der Gefährdung und Sprengung des Traditionsbandes nach beiden Seiten. Im Bereich der lateinischen Kirche hat das römische Patriarchat in unerhörter Folgerichtigkeit seine Ansprüche zentralistisch bis zur vollen Souveränität in der Kirche gesteigert. Diese Tendenz ist durch den geschichtlichen Ausfall der großen Gegengewichte, der Patriarchate von Antiochia, Jerusalem und Alexandrien, die zur Bedeutungslosigkeit herabsanken, und durch die Vernichtung der bedeutendsten Provinzialkirchen, der afrikanischen, begünstigt worden. Mit Recht hat Caspar in seiner Geschichte des Papsttums geschildert, daß gerade auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung die afrikanische Kirche Rom sehr gelegen starb. Im Bereich der orientalischen Kirche dagegen zunächst und später in der Gegenwirkung der nordeuropäischen Völker gegen den romanischen Zentralismus hat sich die entgegengesetzte Tendenz durchgesetzt.

In der Ostkirche ist es die Neigung zur sog. Autokephalie. Das Oekumenische Concil von 691 (Quinisextum, canon II) hat den Canon 35 der apostolischen Konstitutionen anerkannt, wonach die Bischöfe eines jeden Volkes den ersten unter ihnen als Haupt anerkennen sollen. Dies ist die Grundlage für die Zuerkennung der Autokephalie, welche ursprünglich keineswegs im modernen Sinne nationalkirchlich gemeint war, aber leicht zur Grundlage derartiger Bestrebungen gemacht werden konnte. Auf dieser Grundlage ist in der Neuzeit eine wesentliche Verschiebung in dieser Richtung durch die Gewährung der Selbständigkeit an zahlreiche osteuropäische Nationalkirchen vor sich gegangen. Dadurch und durch Spannungen zwischen den Patriarchaten ist die Oekumenizität der orthodoxen Kirche zwar nicht theoretisch, aber praktisch weitgehend aufgehoben. Ohne spezielle kanonische Begründung, aber in der Wirkung noch viel stärker, weil die geschichtliche Traditionsbeziehung abgerissen ist, hat sich das protestantische Staats- und Nationalkirchentum entwickelt.7

Der päpstliche unbeschränkte Jurisdiktionsprimat auf der einen, wie die nationalkirchliche Souveränität auf der anderen sprengen also beide in verschiedenen Richtungen die traditionsrechtliche Ordnung, das Missionsrecht der alten Kirche. Dieses ist nur als ein Relationsgefüge innerhalb formal nicht bestimmbarer, aber doch deutlicher und konkreter Grenzen durchzuhalten. Zu einer endgültigen Überschreitung dieser Grenzen ist es aber nicht schon durch die immanente Gefährdetheit

|825|

ihres pneumatischen Charakters, sondern endgültig erst durch das Auftreten einer neuen positiven theologischen Begriffswelt gekommen: erst der philosophische Realismus auf der einen, die nominalistische Gegenwirkung auf der anderen Seite hat es ermöglicht. Dieser Idealismus, der alles aus einer begrifflichen Quelle deduziert, erzeugt notwendig das Gegenbild einer Anschauung, welche in jedem Konkret-Besonderen das Eigentliche und Wesentliche für sich sieht.

Demgegenüber ist festzuhalten, daß traditio kein abstraktes Legitimationsprinzip ist, welches sich darin erschöpft, den positiv-historischen Zusammenhang nachzuweisen, mit dem es dann sein Bewenden hat. Sie ist vielmehr eine ständig zu vollziehende Relation, ein Gefüge bestimmter Gestalt. Es ist explizit nicht zu definieren, aber implizit zu begrenzen.

 

b) Die receptio

Die traditio als Vorgang, nicht als Prinzip, ist jedoch nicht der einzige die Kirche konstituierende Akt geistlichen Handelns. Vielmehr „entspricht” ihm im wörtlichen Sinne ein anderer Akt, die receptio. Dem Anspruch des Wortes Gottes, welches, wie gezeigt, immer eine Hingabe und eine Übergabe ist, entspricht die Annahme dessen, das Bekenntnis. Beides wird gleichermaßen durch den Geist gewirkt, welcher Verkündigen und Hören wirkt. Aber ohne die receptio, die Annahme des Anspruchs erwächst dieser auch nicht zu sichtbarer Objektivität.

Der am meisten zitierte und am meisten mißverstandene Satz des allgemeinen Kirchenrechts ist der, daß eine jede ekklesia für die ganze Kirche steht, sei es das Oekumenische Konzil, sei es eine einzelne Gemeinde. Denn was sie personal und dogmatisch beschließen, hatte seine Verbindlichkeit immer nur dadurch und soweit es von der übrigen Kirche angenommen und rezipiert wurde. Hierzu sagt Sohm:8

„Die kanonisch organisierte Ekklesia war Träger nur der kanonischen (regelmäßigen) kirchlichen Handlung …; Trägerin der Rezeption aber war die unorganisierte Ekklesia. Für das regelmäßige … Handeln besaß die Weltchristenheit ihre Verfassung durch die bischöfliche Ordnung der Ortschristenheiten. Für den unkanonischen Vorgang der Rezeption besaß sie keine kanonische Organisation. Keine Ortschristenheit, kein Bischof besaß eine rechtlich wirkende Rezeptionsgewalt … Nach altkanonischen Grundsätzen aber mußte immer zu der bischöflichen, auch zu der päpstlichen Entscheidung der consensus ecclesiae, die Zustimmung der unorganisierten Ekklesia, des gesamten christkatholischen Volkes auf Erden, nicht bloß der Kleriker, auch der Laien hinzutreten. Der consensus ecclesiae bedeutet den consensus fidelium. Die Rezeptionsgewalt war in der altkatholischen Kirche letztlich bei der unvertretenen katholischen Christenheit der Welt, bei der universalis ecclesiae im vollen Sinne des Wortes. Was wirklich Gottes Werk ist, das setzt bei dem ganzen Volke Gottes … sich

|826|

durch, und umgekehrt: Was bei dem ganzen Volke Gottes sich durchsetzt, das ist Gottes Werk … Was im Urchristentum für jede geistliche Handlung galt — es gab kein kanonisches Recht: über die Gültigkeit einer jeden der Ekklesia zugehörigen Handlung entschied ihre tatsächliche Durchsetzung in der Christenheit, d.h. die Rezeption …, das gilt im Altkatholizismus unverändert für die außerkanonische Handlung.”

Es ergibt sich aus den Worten Sohms, daß es sich bei der receptio nicht um einen von mir zur Darstellung der Kirchenrechtssystematik gebildeten Begriff, sondern um einen historisch und systematisch gegebene Rechtstypus handelt. Über die Erscheidung der receptio hat Sohm außer in seinem Kirchenrecht auch in seiner umfangreichen Arbeit „Das altkatholische Kirchenrecht und das Dekret Gratians” — Festschrift für Wach 1917 — mit umfangreichen Material gehandelt.9

Das obige Zitat läßt die Deutung zu, daß Sohm den Begriff der receptio außerrechtlich verstanden hat. Bei seiner vielfachen terminologischen Unklarheit ist darüber keine volle Sicherheit zu gewinnen. Eine solche Anschauung wie seine schon geschilderte Mißdeutung des Jurdisdictionsbegriffs würden zusammen den im engeren Sinne juristischen Grund seines Fehlurteils über das Kirchenrecht erhellen. Daß Rezeption ein kategorialer Rechtsbegriff ist, liegt jedoch auf der Hand, und ist auch der biblischen Exegese, etwa am Beispiel der Akklamation, unabweislich klar geworden.

Sehen wir hier zunächst von der Frage ab, wer der Inhaber der Receptionsgewalt ist, und betrachten wir den Vorgang als solchen. Wir finden ihn überall von der Hl. Schrift bis in die Moderne:10

„Biblisch: Die nach Acta 6 auf Aufforderung der Apostel von der Gemeinde gewählten Diakone (nach Bultmann Repräsentanten der hellenistischen Juden-Christen) werden den Aposteln vorgestellt (6, 6) und danach durch Handauflegen geweiht. Diese Vorstellung hat nur Sinn, wenn damit die Billigung und Anerkennung der Apostel eingeholt wird. Die Apostel rezipieren. Die Gemeinde handelt nicht ohne die Apostel. Aber diese handeln ebenfalls nicht ohne die Gemeinde (Act. 15, 22). Wenn Paulus durch Titus (Tit. 1, 5) Bischöfe einsetzen läßt, ohne daß von einer Beteiligung der Gemeinden die Rede ist, so ist das verständlich, weil die Autorität der unmittelbaren Christuszeugen, der Urapostel, so groß ist, daß die Aufnahme der von ihnen Entsandten selbstverständlich ist. Im übrigen wissen wir auch gar nicht, in welcher Form diese Einsetzung vor sich gegangen ist. Die Apostel handeln auch nicht in einem gesonderten Rate, ohne daß ihr Rang und Ansehen dadurch in Frage gestellt ist. Dieses Miteinander darf man nur nicht analytisch dahin mißverstehen, daß jeder der Beteiligten ein für sich bestehendes, absolutes Recht habe, so daß aus der Summation dieser Rechte dann der kirchenrechtliche Akt entstehe. Es

|827|

ist vielmehr ein relatives Recht, das eben durch die Bezüglichkeit und Beziehung auf die Objektivität des Pneumas zugleich auch in Richtung auf den Partner, das Gegenüber relativiert und gebrochen wird. So wird aus der Summation von Befugnissen eine echte Einheit, ein Gesamtakt.”

Das gleiche gilt aber systematisch. Der Begriff der Rezeption oder der Anerkennung ist eine Kategorie des Rechtslebens überhaupt. Ich kann auf das Bezug nehmen, was in Kap. X über das Wesen des Bekenntnisses gesagt worden ist. Die receptio geht immer auf eine verpflichtende Tatsache, welche dem Annehmenden vorgegeben ist. Diese Verpflichtung wird also durch die Rezeption nicht konstitutiv geschaffen. Andererseits ist Rezeption mehr als deklaratorisch, weil ja diese Verpflichtung nunmehr öffentlich sichtbar, unbestreitbar, wenn man so will „objektiv” in Kraft gesetzt und bekräftigt wird. Receptio hat zwischen diesen beiden für sie unzulänglichen Begriffen medialen Charakter. Das ganze Rechtsleben ist von Entscheidungen der Anerkennung oder Nichtanerkennung durchzogen. Es gibt kein Lebensgebiet des Rechtes, auf welchem sie nicht auftritt, und sie hat ihre vorzüglichste Bedeutung im Kirchenrecht. Selbst der Souveränitätsanspruch des Papsttums und das Unfehlbarkeitsdogma des vatikanischen Konzils ist nicht im Stande gewesen, diese Kategorie des Rechtes aus der Welt zu schaffen. Denn das Konzil hat zwar definiert, daß die Kathedralentscheidungen des Papstes „ex sese, non ex consensu ecclesiae” unfehlbar seien. Aber diese Entscheidung selbst ist nur wirksam geworden dadurch, daß die Bischöfe einschließlich der Dissentierenden sie angenommen haben und der größte Teil des katholischen Kirchenvolks ihnen gefolgt ist. Die Bischöfe Hefele (Rottenburg) und Strossmayer (Vucovar) haben mit dieser Anerkennung, letzterer bis 1874 gezögert und das Konzilsdekret dann erst durch Verkündigung in ihren Diözesen in Kraft gesetzt. Was sich durch das vatikanische Konzil verändert hat, ist nicht der Vorgang der Rezeption als solcher. Er kann als kategorialer Vorgang gar nicht beseitigt werden.

Vielmehr ist lediglich die Pflicht des katholischen Christen begründet worden, die Kathedralentscheidung des Papstes unter allen Umständen anzunehmen, zu rezipieren. Damit ist die Freiheit der Entscheidung des Geistes in der Kirche aufgehoben. In juristischen Begriffen könnte man auch sagen, daß das Recht der Rezeption bestehen geblieben, aber seiner Substanz beraubt worden ist. Diese Aufhebung der Freiheit des Geistes innerhalb der regelmäßigen Ordnung der Kirche ist der entscheidendste Einwand gegen das römische Kirchenrechtssystem.

Durch die Bulle „Execrabilis” von 1460 versuchte Pius II. (Aeneas Sylvius Piccolomini) die Appellation an das allgemeine Concil zu verbieten. Er war ursprünglich selber Anhänger des Conciliarismus gewesen, hatte dann aber die Partei gewechselt und war schließlich Papst geworden.

|828|

Wie Jedin (Geschichte des Konzils von Trient, I, 52) sagt, hatte die Bulle nicht die erhoffte Wirkung. Sie stieß in Frankreich und Deutschland auf starken Widerstand und wurde außerhalb Roms nur sporadisch anerkannt.

Hier interessiert nur das Grundsätzliche. Der Versuch, hier das Erfordernis der Anerkennung päpstlicher Entscheidungen auszuschalten, beruht selbst wieder auf der Anerkennung, welche mit diesem Satz ausgeschlossen werden soll. Es handelt sich um einen Zirkelschluß, eine petitio principii. Das Papsttum als absolutes beruht und kann nur beruhen auf einem geschichtlichen Akt. Dieser Tatbestand steht in einer bedeutenden Parallele zu dem Traditionscharakter der Schrift. Man kann jedenfalls nicht den Traditionscharakter der Schrift betonen und die Rezeptionsgrundlage des Papsttums verneinen. Traditionsfreie Schrift und absolutes Papsttum entsprechen einander als Versuch, beide als evidente Letztautoritäten zu objektivieren. Wer die Infallibilität bekämpft, muß die Schrift als Tradition begreifen, und der Katholik, der das Schriftprinzip als unzulänglich bekämpft, muß das „ex sese, non ex consensu ecclesiae” aufgeben. Nur bei solchen Widersprüchen in der eigenen Position kann man nicht stehenbleiben.

In der alten Kirche war, wie das Zitat von Sohm zeigt, der Grundsatz der Rezeption ein allgemein anerkannter. Es ging dabei immer um die Gewährung oder Versagung der Kirchengemeinschaft, wesentlich verstanden als Abendmahlsgemeinschaft, als Koinonia. Von dem fundamentalen Charakter der Koinonia für die alte Kirche hat Elert in seinem schönen, wiederholt zitierten Buche ausführlich gehandelt. Die Gemeinschaft mit einem Irrlehrer schloß auch denjenigen aus, der mit diesem Irrlehrer Kirchengemeinschaft hielt, weil es um die Identifizierung, ein personales Verhältnis ging. Die vom Papst Formosus (891-6) geweihten Bischöfe und Kleriker wurden, weil er das Versetzungsverbot für die Bischöfe durch die Annahme der Papstwahl verletzt hatte, als solche nicht anerkannt. Die griechische Kirche behauptet noch heute, daß die Beschlüsse des Unionskonzils von 1439 niemals in kirchenrechtliche Wirksamkeit getreten seien, weil die Gesamtheit der Gläubigen der orthodoxen Kirche sie nicht angenommen habe.

In der Lage der gesamten nachapostolischen Kirche besitzt der Vorgang der Rezeption überragende Bedeutung. Denn ihr Lebensproblem ist ja gerade die Frage, ob das Handeln und Entscheiden der Teilkirchen und Gemeinden hier und dort echtes, evangeliumsgemäßes Handeln ist, eine Frage, die gegenüber der unmittelbaren Autorität der Auferstehungszeugen so nicht auftritt. Mit Recht hat diese Differenz immer gedankliche Schwierigkeiten bereitet. Jetzt sind immer wieder echte geistliche Entscheidungen darüber nötig, ob das Handeln der jeweils anderen als rechtes Handeln anerkannt werden kann. Man kann sich nicht damit begnügen, diese anderen als subjektiv nach dem Rechten

|829|

Strebende anzuerkennen, wie es Karl Barth in seiner Schrift über die Ordnung der Gemeinde in einer grundsätzlichen Relativierung des Problems für ausreichend hält. Die Unbedingtheit der Sakramentsgemeinschaft erfordert ein einfaches ja, ja, nein, nein. So vollzieht sich Kirchenrecht nunmehr in weitestem Maße als wechselseitige Anerkennung geistlicher Entscheidung.11

Weder Autorität der Oberen noch Autonomie der Unteren und einzelnen kann diesen Vorgang überflüssig machen. Denn die einzelne Gemeinde und Teilkirche, subjektiv überzeugt, das Rechte zu tun, kann doch nur im Verbande der Kirche bleiben und gewiß sein in der Kirche zu sein, wenn sie in ihrem Verhalten Anerkennung findet. Ebenso aber muß sich die Autorität dadurch bewähren, daß sie Gefolgschaft findet. Wo sich aber die Autorität nirgends der Freiheit des Geistes stellt und die Unterwerfung vorweg zur Glaubenspflicht erklärt, monopolisiert sie den Geist auf das Amt und mach im Grunde gerade zunichte, um dessentwillen das Amt bestellt ist. Denn die Gemeinde ist, wie Chrysostomos sagt, das Pleroma des Bischofs. Darin eben ist die Zerstörung des pneumatischen Rechts der alten Kirche die Quelle der abendländischen Kirchenspaltung, ja der abendländischen Schizophrenie, weil mit der Zerstörung dieses Verhältnisses Autorität und Freiheit nicht mehr zueinander finden. Die Geschichte der römischen Kirche ist die Geschichte der planmäßigen Zerstörung des alten Kirchenrechts. Wenn die Reformation eine Revolution genannt worden ist, so ist sie eine Antwort auf die Revolution von oben, auf die Zerstörung überlieferter Gemeinschaftsordnung durch Einführung herrschaftlicher Souveränität.

Der Vorgang der Rezeption entfaltet sich in der Kirche demnach in drei einander ergänzenden und bedingenden Grundsätzen:
1. Jede Ekklesia, ob groß oder klein, ob Gemeinde oder allgemeine Synode, steht als gottesdienstlich „im Heiligen Geist versammelt” kraft des ihr verheißenen Geistes für die ganze Kirche.
2. Was jedoch die einzelne Ekklesia, was auch das oekumenische Konzil beschließt, hat nur soweit verbindliche Kraft, als es von den anderen Ekklesien angenommen, rezipiert ist.
3. Keine Gemeinde oder Teilkirche kann für sich allein bestehen, sich allein auf ihren Geistbesitz berufen, wenn sie nicht gewiß ist, mit der allgemeinen Kirche in Gemeinschaft zu leben, koinonia, Altargemeinschaft und Lehrübereinstimmung zu besitzen. Sie kann also nicht dahingestellt sein lassen, ob sie in der Kirche ist
.12

Dieses pneumatische Recht kennt keine Repräsentation. Der Versammlung (wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind …) ist der Geist verheißen. Dieser ist nicht ein subjektiver Besitz des einzelnen, den dann die einzelnen sozusagen in der Versammlung zusammentragen. Die konziliare Formel „universam ecclesiam repraesentans” ist nur insoweit korrekt, als darauf abgezielt wird, für die gesamte Kirche zu

|830|

handeln, allgemeine Fragen zu entscheiden, nicht partikulare. Sie ist insofern aber theologisch nicht korrekt, als sie ex se, non consensu ecclesiae für ihre Beschlüsse Gültigkeit beansprucht. Denn auch die Beschlüsse des allgemeinen Konzils bedürfen der Rezeption durch die Gesamtheit der Ekklesien, und der im Konzil beteiligte Bischof verfügt nicht darüber, auch wenn durch seine Anwesenheit das vorbereitet und eingeleitet wird. Auch die auf das allgemeine Konzil so ungemeinen Wert legende orthodoxe Kirche lehrt nicht, daß das Konzil unfehlbar sei. Unfehlbar ist nur die Kirche als Übereinstimmung aller — Sohm hat mit Recht darauf hingewiesen, daß dieser Vorgang nicht rationalisierbar ist.

Bonhoeffer irrt also, wenn er die drei Kirchen dahin unterscheidet, in der römischen sei der Papst, in der griechischen das Konzil, im Protestantismus die Gemeinde unfehlbar.13

Ohne rechtsbegriffliche Erfassung bestätigt Harnack für die staatskirchenfreie vorkonstantinische Zeit die umfassende Wirkung und Bedeutung der Rezeptionsvorgänge im Zusammenhange des Missionsrechts. Er beschreibt14 in einem Exkurs „Die katholische Konföderation und die Mission” wie folgt:

„Bevor es Generalsynoden und Patriarchen in der Kirche gegeben hat, ja bevor noch das Metropolitansystem vollständig ausgebildet war, gab es eine katholische Konföderation der meisten christlichen Gemeinden in Ost und West. Sie hat sich in den Kämpfen mit den Gnostikern gebildet, hat in den montanistischen Krisen ihren relativen Abschluß erhalten und hatte ihren Mittelpunkt an der Gemeinde von Rom. Sie war eine Tatsache, obgleich kein geschriebenes Recht und auch nicht ein Buchstabe eines gemeinsamen Statuts bestand. Aber gemeinsam war die apostolische Glaubensregel, der apostolische Schriftenkanon und die Überzeugung von der apostolischen Einsetzung des Episkopats; ja schon bevor diese gemeinsamen Güter überall als Besitz anerkannt waren, wußte man sich durch die Behauptung derselben Lehre als eine Einheit. Äußerlich trat diese Einheit in der Interkommunion, in der brüderliche Aufnahme der Zugereisten und Wandernden, in der regelmäßigen Anzeige des Wechsels der Amtspersonen, hin und her auch schon in der Beschickung der Synoden über den Kreis der eigenen Provinz hinaus und in der Sendung von Unterstützungen hervor. Was von Anfang an in freier Weise, aber eben deshalb auch oft willkürlich und Unwürdigen gegenüber geschehen war, erhielt nun eine gewohnheitsrechtliche Ordnung und feste Formen.
Für die Ausbreitung der Kirche bedeutete die Tatsache dieser katholischen Konföderation sehr viel. Überall war der Christ nun heimisch und konnte sich so empfinden; überall war er beschützt und überall kontrolliert. Die Kirche schuf sozusagen in ihren Kreisen ein neues

|831|

einheitliches Reichsbürgerrecht. Eben in derselben Epoche, in welcher Caracalla das römische Bürgerrecht an die Provinzialen verlieh — eine ziemlich wirkungslose Konzession, die nicht erreichte, was sie sollte —, würde das katholische Bürgerrecht eine wichtige Sache.”

Was hier dargestellt wird, sind nicht einzelne Institute frühen Kirchenrechts, auch nicht nur einzelne Rezeptionsvorgänge, sondern ein Bestreben, die reale Einheit des Leibes Christi in der wechselseitigen Annahme und im Festhalten der gemeinsamen Grundlagen zu verwirklichen. Es stammt nicht nur der Zusammenhang aus der Mission als traditio, sondern wird entfaltet durch diesen mächtigen und fruchtbaren Trieb zur wechselseitigen Vergemeinschaftung. Ohne diese rechtsverbindliche Wirklichkeit, die abhebt und vereint, wäre die große, ja damals noch nicht entfernt abgeschlossene Mission undenkbar. Fast alle die von Harnack geschilderten Gewohnheiten sind gewohnheitsrechtliche Bildungen. Auch Constantin hätte keine Konzile zusammenbringen können, wenn nicht Bischofsamt und Zusammenhang der Ekklesien bereits ausgebildet gewesen wären.

„Unfehlbarkeit der Gemeinde” (Bonhoeffer) bedeutet zunächst die Übernahme eines römisch-scholastischen Begriffes. Wer ist diese Gemeinde aber konkret? Wohl kaum die verfaßte Ortsgemeinde als solche. Wenn aber nicht sie, dann wohl die jeweils zur Entscheidung veranlaßte (Teil-)Kirche. Damit ist von der Universalität der Kirche und der Frage abgesehen, wie sich eine solche „unfehlbare” Entscheidung zu anderen „unfehlbaren” Entscheidungen der Gemeinde verhält. Unfehlbarkeit der Gemeinde würde also einen einseitig aktualistischen und partikularistischen Kirchenbegriff bedeuten, der zugleich im Widerspruch zu dem verwendeten Wahrheitsbegriff vorausgesetzt wird. So geht es also nicht. Jene Gewißheit erwächst, sieht sich bekräftigt und bestätigt in dem jeweiligen konstituierenden Gegenüber: das Konzil hat sein Gegenüber in der Gesamtheit der Gläubigen, die einzelne Gemeinde in der Gesamtkirche. Das konstituierende Gegenüber bricht die Souveränität des einzelnen und der Teilgemeinschaft.

Die Vorstellung, daß der (nicht rationalisierbare) consensus fidelium in dem möglichen Maße die Richtigkeit der Entscheidung gewährleistete, ist eine notwendige Denkfolge jedes Offenbarungsglaubens, weil dieser ja die Fortdauer des Geistes in der glaubenden Gemeinde glauben muß, wenn sich nicht die Bedeutung der Offenbarung in der Aktualität des einzelnen Offenbarungsaktes erschöpfen und dieser eben dadurch für alle anderen nicht-existenziell werden soll. So finden wir die gleiche Vorstellung in dem analogen Begriff des „idschma” im Islam und dem Mohammed zugeschriebenen Satz: „Mein Volk kann nie in einem Irrtum übereinstimmen.” Unbeschadet des prophetischen Amtes kann nie ein einzelner allein übrigbleiben, wenn selbst die Masse der Kirche

|832|

samt ihren Oberen als abgefallen vorausgesetzt wird: der Geist ist der Gemeinde verheißen, den zweien und dreien, die im Namen des Herrn versammelt sind, nicht dem einzelnen als solchen. Die Wahrheit kann also sehr wohl bei der Minderheit sein, aber gewiß nicht beim einzelnen. Auch die biblische Verheißung der Gebetserfüllung ist ausdrücklich nicht dem einzelnen gegeben, sondern für das, worüber zwei übereinkommen es zu erbitten. So schicken die Apostel die Missionare paarweise aus usf. An der Einzelpersönlichkeit für sich ist die Bibel uninteressiert, sie sieht sie immer im Zusammenhang, in der Gemeinsamkeit des Geistes. So hat denn von jeher die Kirche die rechte Gewißheit, keine menschliche Sicherheit eben in der moralischen Einstimmigkeit der Beschlüsse gesucht. Gerade die moralische Einstimmigkeit, nicht die formale ist dafür charakteristisch. Denn diese darf nicht wiederum nach Art eines liberum veto durch die Uneinsichtigkeit und den Eigenwillen eines oder weniger einzelner formal behindert werden. Das pneumatische Recht verläuft also durchaus in konkreten Strukturen und läßt uns nicht schlechthin bei dem Satze stehen, daß das Rechte sowohl bei der Mehrheit wie bei der Minderheit sein könnte. Die recht verstandene Katholizität mißtraut ihrem eigenen Für-sich-sein, dem bloßen Eigenwillen, der incurvatio des Intellekts wie des Willens und sucht die Bestätigung im freien consensus.

Die receptio tritt nun im Kirchenrecht in zwei verschiedenen Formen auf, als ordentliche und außerordentliche. Diese Unterscheidung hat Rudolf Sohm eingeführt und in den zitierten Schriften belegt.15

Die ordentliche Rezeption hat ihren Platz in allen regelmäßigen Entscheidungen des Kirchenrechts, vor allem aber auch bei der Ämterwahl, wie schon an dem Beispiel von Acta 6, 6 gezeigt wurde. Die Apostel rezipieren die auftraggemäß von der Gemeinde gewählten Diakone. Wo sie selbst Amtsträger bestellen, rezipiert die Gemeinde diese in freiem Gehorsam gegen ihre Autorität. Daß die Lage der nachapostolischen Gemeinden ein höheres Maß an kritischer Freiheit gegenüber dem Vorschlag der Oberen grundsätzlich einschließt als gegenüber den Aposteln, ändert nichts an der völligen Gleichartigkeit des Vorgangs. Es ist durchaus Rechtens, wenn auch im heutigen evangelischen Kirchenrecht Änderungen etwa des Gesangbuches, der Liturgie, der Dinge, die unmittelbar in das Leben der Gemeinden eingreifen, ihrer freien Annahme nach bester Einsicht anheimgegeben werden. Aber das schließt gleichzeitig ein, daß diese Gemeinde nicht einfach von sich aus selbständig beliebige Ordnungen an die Stelle der von der Gesamtkirche vorgeschlagenen setzen kann, sofern diese nicht von der Gesamtkirche anerkannt werden. Sie kann daher immer nur bei der alten Ordnung bleiben, wenn sie die neue nicht annimmt. Wieder begrenzen sich hier wechselseitig die Rechte. Andererseits ist die wechselseitige Rezeption nicht als Gewaltenteilung zu verstehen.16

|833|

Das Recht der Rezeption ist jedoch von Anfang an auf Wechselseitigkeit hin angelegt.

Die außerordentliche Rezeption tritt ein, wenn diese Lebensform der Wechselseitigkeit und überhaupt die regelmäßige Ordnung gestört ist, wenn die Gültigkeit einer Ordnung oder Ordination zweifelhaft geworden ist und nach den allgemeinen Grundsätzen nicht eindeutig entschieden werden kann. Sohm schildert als frühestes und markantes Beispiel einen Vorgang, der sich auf den Kirchenvater Cyprian bezieht. Ein Confessor, ein Gemeindeglied, das in der Verfolgung das Martyrium überstanden hatte, sozusagen ein bewährtes Mitglied der Bekennenden Kirche, warf Cyprian vor, er sei durch Preisgabe der heiligen Schriften während der Verfolgung ein traditor, ein Verräter geworden. Cyprian berief sich demgegenüber nicht einfach auf seine Weihe und auf sein Amt, sondern verteidigte sich sachlich gegen diesen Vorwurf, der ihn amtsunfähig gemacht hätte. Entschieden aber wurde die Sache dadurch, daß die Gemeinde über diesen Vorwurf hinweg Cyprian als ihren rechten Bischof anerkannte. Dies ist die an keine Kompetenz und keine Form gebundene außerordentliche Rezeption, welche in dem oben wiedergegebenen Sohm-Zitat beschrieben wird. Sie konnte deshalb sowohl vom Bischof wie von der Gemeinde vollzogen werden und brachte gerade durch die Unsicherheit des pneumatischen Rechts soviel neue Zweifelsfragen auf, daß sie zur Zerstörung des Rechts der alten Kirche wesentlich beigetragen hat. Man suchte durch Übergang zu absoluten Kriterien, vor allem durch die absolute Ordination diese Momente der Ungewißheit auszuschalten. Das pneumatische Recht ist gerade durch die Tendenz zur Rationalisierung geschichtlich gesprengt worden. Eben dies zeigt seine Echtheit an. Aber diese Zweckmomente hätten sich nicht durchsetzen können, wenn nicht ein anderes Subjektverständnis, eine andere Gottesdienstlehre, eine andere Theologie Platz gegriffen hätte.

Der Vorgang der Rezeption erweist sich als eine kategoriale Struktur, die immer wieder und überall da hervortritt, wo sich kirchenrechtliche Subjekte im konkreten Handeln begegnen. Als kategoriale kann sie auch durch positive Setzungen nicht außer Kraft gesetzt werden. Das zeigt das Beispiel des vatikanischen Konzils, dessen Beschlüsse eben sogar entgegen ihrem eigenen Wortlaut durch Rezeption in rechtliche Wirksamkeit getreten sind. Aber auch der einfache Beschluß eines evangelischen Gemeindekirchenrats, ein von der Synode beschlossenes neues Gesangbuch tatsächlich einzuführen, enthält diesen Rezeptionsvorgang.

Jedoch werden natürlich Rezeptionsvorgänge um so deutlicher, je mehr mit eigenständigen Subjekten des Kirchenrechts gerechnet wird. Enthält auch die einfache strikte Gehorsamsbindung immer noch dieses Element, so wird dies vollends dort manifest, wo mit freier, nicht vorweg gebundener Entscheidung gerechnet wird. Das war in dem episkopalen Gefüge der alten Kirche vor ihrer Unifizierung in sehr viel

|834|

höherem Maße der Fall als in der abendländischen Einheitskirche des Mittelalters. Wenn nun die Wittenberger Konkordie das Beispiel der Rezeption eines differenten Bekenntnisses zeigt, so bedürfte das Verhältnis der Untersuchung, in welches nach dem Zerbrechen der Kircheneinheit die konfessionsverwandten Kirchengemeinschaften überhaupt eingetreten sind. Das negative „satis” von CA VII stellt nur die als unwesentlich betrachteten Momente beiseite, äußert sich aber nicht über die verbindliche Tragweite des consensus de doctrina. Denn der feststellbare consensus würde ja folgerichtig nötigen, die consentierende Kirche als rechte Kirche anzuerkennen. Diese konkrete, nicht in der Willkür stehende Verbindlichkeit wird hier nicht angesprochen. So tritt an die Stelle der äußeren Einheit die äußere Nicht-Einheit. Dadurch wird die mit dem Consensus gegebene Einheit zu einer jeweils zu vollziehenden congregationalen Selbstverpflichtung. An die Stelle der Heteronomie der Einheitskirche tritt die Autonomie der Partikularkirchen, die in sich ebenso eine abgeschlossene Einheit bilden wie die Einheitskirche im größeren Maßstabe — eine Körperschaft, aber nicht ein Glied am Körper, am Leibe der Christenheit. Das Problem kann hier nur aufgewiesen, es muß in der Verfassungssystematik weiterverfolgt werden.

Das Rezeptionsmoment bleibt also in den reformatorischen Kirchen fast in dem gleichen Maße im Hintergrund wie in der römischen Kirche. Erst die ökumenische Bewegung, aber auch die modernen Bedingungen weltweiter Kommunikation haben das Phänomen und Problem wieder hervortreten lassen. Konnte man solange territorialkirchlich in einem nur theoretisch-theologischen Lehrkonsensus praktisch unverbunden und unverbindlich nebeneinander herleben, so stellt sich jetzt erneut die Frage nach der Anerkennung und Rezeption anderer Kirchengemeinschaften, sowohl innerhalb der engeren Konfessionsgrenzen, wie in der Ökumene überhaupt. Hier zeigt sich nun eine bedeutsame Weiterentwicklung. Ging es bis dahin, auch im Horizont von CA VII immer um die Alternative zwischen voller Kirchengemeinschaft und Nicht-Gemeinschaft, so ergeben sich jetzt Zwischenbildungen. Es gibt jetzt partielle Anerkennungen. Denn die Vereinigung im Ökumenischen Rat der Kirchen ist nur äußerlich eine vereinsrechtliche Aktionsgemeinschaft mit voller Wahrung der Souveränität aller Glieder. Sie beruht kirchenrechtlich auf einer eigentümlichen partiellen, aber wiederum fundamentalen Anerkennung und Rezeption solcher Kirchengemeinschaften, deren wesentliche Unterscheidungsmerkmale in Lehre und Ordnung gerade nicht von den jeweils anderen angenommen oder anerkannt werden können. Diese Lage bedarf ebenfalls der Analyse. Es zeigt sich aber dabei schon deutlich zweierlei: auch ein sich selbst als vereinsrechtlich verstehender Zusammenschluß enthält unvermeidlich echte kirchenrechtliche Elemente. Andererseits können Minimal- oder Basisformulierungen noch eigen eigentliche Lösung des Problems bedeuten.

|835|

Denn die Christenheit hat noch keine Form gefunden, in welcher sie ihre Einheit in der Unterschiedenheit — nicht in der verhältnismäßig problemlosen Gleichheit — zum verbindlichen Ausdruck bringt. Der bei den Konzilsvorbereitungen von dem namhaften katholischen Ekklesiologen Yves Congar O.P. geäußerte Gedanke einer komplementären Zuordnung unterschiedlicher, ja gegensätzliche Kirchengemeinschaften ist von der Klärung, geschweige der Verwirklichung noch weit entfernt. Die Partikularkirchen haben bisher regelmäßig zweierlei getan:
1. Sie haben ihre Lehre mit aller ihnen wünschenswerten und möglichen Deutlichkeit formuliert,
2. sie haben in der gleichen Weise das verworfen, was ihnen zu Verwerfungen Anlaß gab.

Beides hängt ineinander und beides ist an und für sich legitim. Freilich enthält das erste Moment eine Schwierigkeit und eine Versuchung. Man kann so nur in der Überzeugung und Voraussetzung sprechen, daß diese Formulierungen ein gültige Ausdruck der einen Wahrheit in dem Sinne ist, daß also eine damit nicht vereinbare Lehre nicht Lehre der Kirche sein kann, sondern von der Kirche trennt, daß es sich also um „katholische” Lehre handelt. Solches Handeln erfordert eine große Weite und das verantwortliche Bewußtsein dafür, daß allen erkennbaren legitimen Anliegen Rechnung getragen oder wenigstens Raum gelassen sein muß.

Die Vorstellung von der jederzeitigen und überall vorhandenen Möglichkeit der gültigen Formulierung der christlichen Wahrheit hat sich mit der Partikularisierung der Kirchen nicht vermindert, sondern eher gesteigert. In unberechenbarem Maße wirkt hier ein Glaube an die Wissenschaftlichkeit, d.h. an die jederzeitige Übertragbarkeit der Erkenntnisse mit. Faktisch aber sind die Partikularkirchen gerade nicht imstande, die Erfahrungen, Einsichten und Erkenntnisse in ihrem Wahrheitsgehalt mitzuumfassen, gegen deren Vereinseitigungen sie sich gerade abgesetzt haben. Sie besitzen auch regelmäßig nicht die praktisch Kapazität, um über ihren begrenzten Bereich eine allgemeinere Verantwortung wahrzunehmen: d.h. zu sehen und zu praktizieren. So türmt gerade ihr redliches und gewissenhaftes Handeln immer neue Hindernisse gegen jede mögliche Form der Verständigung und Einigkeit auf.

Diese Lage ist deshalb nicht ganz hoffnungslos, weil gerade in der heutigen extremen Gespaltenheit praktisch der größte Teil der Anliegen, oft sogar in einer gewissen Reinkultur, ausgeprägt und sichtbar geworden ist.

Die partikularen Kirchen müssen daher — rein methodisch gesehen — neben jenen beiden legitimen Formen der Aussage einen dritten Gebrauch der Lehre entwickeln, den man den usus catholicus oder usus charitatis nennen könnte. Sie müßten nämlich sagen, was sie mit ihren eigenen positiven Aussagen entgegen naheliegenden Deutungen gerade

|836|

nicht meinen. So sollte etwa die römische Kirche in der Abendmahlslehre ihren Substanzbegriff erläutern, die lutherische Lehre von der Rechtfertigung von vornherein sagen, welchen Platz sie den Werken positiv zuweist usf. Damit sind die faktisch nicht überwindbaren Unterschiede nicht aufgehoben. Wer aber in der Sünde der Trennung lebt, und sie gewissenhafterweise nicht ohne Preisgabe der Wahrheit überwinden kann, ist schuldig, soweit als irgend möglich seine Lehre vom skandalon vermeidbarer Anstöße zu reinigen. Die einzige Kirche, die ein Bewußtsein für diese Frage in kirchenrechtlich wirksamer Weise aufbewahrt hat, ist die orientalische. Sie spricht nur dem ökumenischen Konzil das Recht der Lehrbildung zu und bestreitet daher formell der Lehrbildung nach dem 8. Konzil die Verbindlichkeit späterer Dogmenbildung. So kann man freilich nicht vorwärtskommen. Aber das hier ausgesprochene ökumenische Rechtsbewußtsein ist trotzdem nicht ohne Bedeutung. In der vorgegebenen, aber faktisch aufgehobenen Einheit der Kirche ist die kanonische Rechtspflicht zur Bundesfreundlichkeit begründet.