Schon der erste Abschnitt hat gezeigt, daß es hier mit einer noch
so gründlichen Neubesinnung, ex nunc oder der historischen
Orientierung an einem maßgeblichen Vorbild, etwa der Reformation
allein, nicht getan ist. Wir stehen, ob wir wollen oder nicht, in
einem Gesamtzusammenhang, auch wenn wir uns bewußt gegen
bestimmte Ergebnisse dieser Entwicklung und Tradition
wehren. Der Horizont auch unserer Kritik und unserer neuen
Lösungen ist niemals frei von den vorausgehenden Bildungen — und
ohne ihr Verständnis gehen wir erst recht fehl. Unsere heutige
Sicht ist insbesondere dadurch geformt, daß uns
individualistische Tendenzen und Vorstellungen im Sinne
menschlicher Autarkie besonders fragwürdig geworden sind, daß die
soziale Dimension und ihre Erforschung uns neue Einsichten
vermittelt hat, ohne daß wir deswegen einer
Gemeinschaftsromantik, der Soziologisierung oder Kollektivierung
Raum geben dürfen und wollen. Wie auch die Studie von Roth in der
Zusammenfassung der Lehrunterschiede der
Reformatoren20 zeigt, tritt unser Problem in
verschiedenen, und zwar jeweils sozial verschiedenen Formen auf.
Es sind diese:
1. die Beichte vor Gott,
2. die offene Schuld,
3. die consolatio fratrum,
4. die Privatbeichte,
5. das Einzelbekenntnis vor der Kirche.
Zu 1.: Die Beichte des einzelnen vor Gott hat insofern eine wesentliche kirchenrechtliche Bedeutung, als sie eine menschliche Mitwirkung durch Zuspruch der Sündenvergebung, sei es durch das Amt, sei es durch den Mitchristen, gegenstandslos macht. Dadurch ist sie zu einer Art Prüfstein für die jeweiligen Anschauungen geworden, aber auch mit polemischen Frontstellungen und einem Antipathos belastet worden, als ob es sich um die einfache Alternative: Beichtzwang oder Beichte vor Gott handelte. Aber auch die römisch-katholische Theologie bejaht
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die Selbstbeichte, obwohl sie die Beichte sonst sakramental versteht und die Amtsbeichte fordert21.
Nach Roth tritt bei Luther keine einzige Stelle hervor, in welcher ein aktives Interesse an der Beichte vor Gott als einer regelmäßigen, jederzeitigen Möglichkeit neben anderen sichtbar wird. Wesentlich ist der negative Gedanke, daß der Christ, der des brüderlichen und priesterlichen Zuspruchs entbehren muß, besonders in articulo mortis, sich des rechtfertigenden Glaubens so gut getrösten kann, als wenn er gebeichtet hätte. Die Vorstellung, daß von der konkreten Absolution schlechthin das Heil abhänge, die etwa Hamlet für seinen ermordeten Vater bewegt („in seiner Sünden Maienblüte, schaudervoll, höchst schaudervoll”), ist damit abgewehrt. In merklichem Gegensatz dazu, in verschiedenem Grade stehen sämtliche Oberdeutschen von Butzer bis zu Zwingli und Calvin. „Zwingli traut dem Menschen, wenn er Christ ist, mit etwas größerer Unbeschwertheit die Übersicht seiner eigenen Situation zu, gerade auch in der Sündenerkenntnis und Vergebungsgewißheit”22. Das ist kein zufälliger oder bloßer Gradunterschied. Es ist ein deutliches humanistisches Element und Interesse. Bezeichnend sind die Verschiebungen und Verzerrungen in der Exegese, wie schon bei Calvins Auslegung der Handauflegung23 und von Acta 6, 6. Denn die Berufung auf den Schächer am Kreuz ist gegenstandslos, da er ja dem Herrn selbst bekennt und von ihm den Zuspruch der Vergebung empfängt. 1. Joh. 1, 9, nicht von ungefähr in der liturgischen Wir-Form, ist weit eher als offene Schuld der Gemeinde anzusehen. Zutreffend ist nur Psalm 32 angezogen24. Aber eben jene Fähigkeit zur Übersicht über die eigene Situation ist uns fraglicher geworden als je zuvor. Ich nehme hier Fragen auf, die schon in Kap. IV über das Priestertum berührt, aber dort nicht weiter in dieser Richtung verfolgt wurden, um den Fehlschluß zu vermeiden, es gehe das Problem in der Bußfrage auf.
Die Behauptung, daß der Mensch sich nicht selbst zu richten vermöge, scheint der Tatsache zu widerstreiten, daß er ja ein Gewissen hat. Dieses Gewissen als ein gleichsam zweiter Mensch, in dem er sich selbst noch einmal kritisch gegenübersteht, richtet ihn, indem es ihn solange anklagt, bis in einem Spruch, einem Endergebnis und einer Urteilsfolge in seinem Handeln der Anklagegrund beseitigt ist. Aber ist das Urteil des Gewissens gerecht? Was bürgt dafür? Wie jedes Urteil kann es nach zwei Seiten ungerecht sein — der Mensch entschuldigt sich selbst in eigener Sache, wie wir wissen, durch Verdrängung der Schuld um jeden Preis. Aber wenn nun sein Gewissen geschärft ist und etwa durch die Predigt wachgehalten wird — ist es darum schon gerecht in seinem Urteil? Was steht dagegen, daß es nun umgekehrt sich selbst falsch anklagt, zum Skrupulanten wird?
Daß der Mensch alle diese Dinge nicht an sich selbst vollziehen kann, zeigt auch die Erfahrung der weltlichen Berufe, die solche Aufgaben
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haben. Die sachlichsten Richter werden, wenn sie in eigener Sache klagen, zu Querulanten; gerade weil die Richter aufs schärfste zur kritischen Sachlichkeit erzogen sind, drängt nun die ergänzende Seite der Willkür im Urteil des Menschen so deutlich hervor.
Ebenso bekannt ist, daß nicht leicht ein Arzt in ernsthaften Fällen ein Familienmitglied behandelt. Er muß zum Handeln eine Distanz haben, die in der lebensmäßigen Identität mit dem hier Leidenden aufgehoben ist, so sehr gerade der Arzt ohne die lebendigste Mitmenschlichkeit ein unzulänglicher Techniker wird. Aber wenn auch in seinem Berufe diese Identifizierung mit dem Leidenden die innere Voraussetzung ist, so kumuliert sich das in der Behandlung des eigenen Fleisches und Bluts und macht die heteronome Seite des Arztberufs unwirksam. Der medizinisch über sich selbst urteilende Arzt ist ebenso der Euphorie wie der Hypochondrie ausgeliefert wie der medizinische Laie — nur vielleicht etwas später und komplizierter.
Der Prozeß des Gewissens kommt im Menschen nicht zu Ende, weil er als Kläger und Beklagter in einer Person zwar immerfort urteilende Meinungen über die Sache von sich gibt, auch wohl einmal zu einem Endergebnis kommt, über das hinaus seine Erwägungen schlechterdings nicht weiterführen — aber er vermag diesem Urteil keine Rechtskraft zu verleihen. Das Urteil mag noch so richtig sein, seine Rechtskraft liegt nicht in ihm selbst, sondern in einer grundsätzlich transzendenten Gewährleistung seines Rechtsbestandes. Der Versuch, sich selbst zu beurteilen, ist letztlich ein untauglicher Versuch. Er kann sehr lange durchgehalten werden — und scheitert doch endlich an der vorgegebenen Struktur unseres Menschseins. Es braucht nicht weiter dargelegt zu werden, daß die Verdrängung der nicht bereinigten, nicht vergebenen Schuld zu den gefährlichsten seelischen wie leiblichen Krankheiten führt. Das Urteil setzt eine letzte Unabhängigkeit gegenüber dem zu Beurteilenden voraus, freilich nicht diese allein. Es liegt jener Meinung von der Möglichkeit der Selbstbeurteilung ein humanistischer, metaphysisch-transpersonaler Wahrheitsbegriff zugrunde. Es ist die Meinung, man könne als einzelner in eigener Sache grundsätzlich ebenso gut wie der andere die objektive, für sich bestehende Wahrheit erkennen und dann die Folgerungen daraus ziehen, auch die Wahrheit über den Menschen sei eine solche objektive Wahrheit, losgelöst und lösbar von seiner Person. Wir haben also mit dem Gedanken der Selbstverurteilung die ganze Summe einer objektivierenden Metaphysik im innersten Bereich unserer Bußgesinnung unversehens mit drin. Mit dieser Entwicklung hängt zusammen eine Zersetzung und Vergegenständlichung der Begriffe von Sünde und Schuld. Sünde und Schuld sind sowohl die einzelne für sich erkennbare und ausgrenzbare Handlung, wie die unerkennbare oder nicht vollständig erkennbare Verstrickung, die unerkannte Sünde, die Gott vor sein Angesicht stellt. Je mehr die Erkenntnis der einzelnen
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und aktualen Sünde in der Vordergrund gestellt wird, desto mehr schwindet die existenzielle Sündhaftigkeit aus dem Blick und umgekehrt. Die Forderung der römischen Beichtlehre, alle Sünden zu erkennen und zu beichten, ist deshalb ebenso unmöglich und sinnwidrig wie die protestantische Vorstellung, man könne um dieser Unerschöpflichkeit der Sünde willen eine ernsthafte, erkennbare, das Gewissen belastende eigene Schuld außerhalb des Bekenntnisses lassen. In beiden Anschauungen ist das Verhältnis von aktualer Schuld und Verschuldung in Unordnung geraten. Schließlich aber haben Sünde und Schuld eine dritte Dimension, die der Gemeinschaft. Sie entstehen in der Gemeinschaft, trennen von ihr und tangieren sie also auf das tiefste. Der Christ und die Kirche als Leib Christi sind keine getrennten Subjekte, die sich gegenüberstehen, sondern stehen auch im Vorgang der Trennung in tiefster Verbindung.
Nicht allein die Sündenvergebung geschieht in der Gemeinde25, sondern schon die Sünde des Christen ist ein Leiden des Leibes Christi. Leidet ein Glied, so leiden die anderen mit. Wird der Christ durch die Sünde vom Leibe Christi getrennt, so ist dies einer Krankheit des Ganzen zu vergleichen, die dann durch Amputation beendet wird.
„Ärgert dich ein Glied…”26
Nun hat die Abschaffung der gesetzlichen Beichte und die Schärfung der Gewissen zur geistlichen Selbstbeurteilung eine ungeheure positive Wirkung hervorgebracht. Es ging so wie mit der Miquelschen Steuerreform von 1891 bei Einführung der Selbstveranlagung anstelle der amtlichen Einschätzung. Es kam wider Erwarten nicht viel weniger, sondern erheblich mehr auf, weil die Wahrheitsbereitschaft und Ehrlichkeit der Menschen viel größer war als heute (freilich war das nur bei den damaligen niedrigen Steuersätzen und in einem intakten Staatsgefüge möglich). So hat auch die Bußgesinnung des reformatorischen Christentums den Menschen sehr viel nachdrücklicher und wirksamer sich selbst zu verurteilen gelehrt als die komplizierte Moraltheologie der römischen Kirche, die für alles ein Urteil bereit hat. Andererseits hat dies jedoch immer mehr dazu geführt, daß die Sünden nicht mehr vergeben wurden, weil die Sündenvergebung der Selbstgewißheit des Glaubens anheimgestellt wurde. So tritt notwendig, je länger je mehr, eine schizophrene Spaltung unseres Bewußtseins auf, weil der Prozeß, den wir gegen uns selbst zu führen veranlaßt sind, niemals zu Ende kommt und wir doch nicht leben können, wenn er nicht beendet wird (um dann wieder neu anzufangen). Entweder also kommt der auf sich selbst gestellte Mensch dazu, sich nach langer ernsthafter Besinnung doch seufzend damit zufrieden zu geben, wie es ist, und sich notwendig mit irgend etwas selbst zu rechtfertigen, woran er sich klammert. Oder aber eine ständige Tendenz zur Selbstzerstörung tritt auf. Man bleibt in einer ständigen zerstörerischen Kritik alles und jedes. Es muß
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immerfort ein Anlaß zur Buße gesucht und gefunden werden: alles und jedes wird kritisch in Frage gestellt, nichts darf eigentlich mehr geschehen, und der erscheint als der am echtesten geistlich Urteilende, der immer mit dem erhobenen Zeigefinger Bedenken geltend macht, nicht einmal der wirklich Urteilende, weil dieser ja immer auch darauf gehen wird, daß anstelle des Falschen das Richtige geschehe. Das ist die sublimste Selbstrechtfertigung. Denn wenn man immer dagegen gewesen, immer bedenklich gewesen ist, hat man doch im möglichen Maße seine Bußbereitschaft kundgetan und bewahrt und kann insoweit jedenfalls nicht beschuldigt werden. Daß man durch Bejahung wie durch Versäumung genau gleich schuldig werden kann, wird nicht mehr gesehen.
Wenn nun die Schärfung der Gewissen in der protestantischen Sündenauffassung jene Wirkung ausgeübt hat, die ich mit dem Vergleich der Steuerreform geschildert habe, so ist die entgegengesetzte Wirkung im römischen Katholizismus zu verzeichnen. Hier wird zwangsmäßig gebeichtet und tatsächlich absolviert. Aber daß jene Absolution so regelmäßig erreichbar ist, hat nun die merkliche Entschärfung der Gewissen herbeigeführt, welche den durchschnittlichen Katholiken in jener auffälligen Weise zwischen positivistischer Strenge, ja Gesetzlichkeit und Laxheit schwanken läßt. Biete ich also die Absolution so selbstverständlich durch die Bereitstellung des fremden Urteils an, so bringe ich den Menschen allzusehr in die Versuchung, an den ganzen Schärfe des Urteils vorbeizugehen. Verweise ich ihn auf die Selbstgewißheit des Vergebungs- und Rechtfertigungsglaubens, so kommt er nie zu Ende und gerät in die geschilderte Schizophrenie.
Dies zeigt also, daß das Problem nicht durch einfache institutionelle Lösungen zu bewältigen ist. Wir müssen daher tiefer gehen. Priesterliches Handeln ist, grundsätzlich unabhängig von der institutionellen Form, in jenem unablösbaren Tatbestand gegründet, daß die genannten zentralen Dinge des Menschen nicht von ihm selbst und an sich selbst vollzogen werden können.
Es wird aber auch immer wieder dem Menschen die in Psalm 32 ausgesprochene Erfahrung begegnen:
Denn Dein Hand war Tag und Nacht schwer auf mir, daß mein Saft vertrocknete, wie es im Sommer dürre wird. Darum bekannte ich Dir meine Sünde und verhehlte meine Missetat nicht. Ich sprach: Ich will dem Herrn meine Übertretungen bekennen. Da vergabst Du mir die Missetat meine Sünde.
Hier wird eine unmittelbare Begegnung mit dem richtenden und gnädigen Gott beschrieben. Die Exegese ist sich jedoch einig, daß die in Psalm 32 beschriebene Begegnung sich im Tempel, nicht privat, sondern in der Gemeinschaft des Gottesvolkes vollzieht. Die darin bezeugte Unmittelbarkeit und die Eingebundenheit des Menschen in das Gottesvolk und seinen Kultus schließen sich nicht aus.
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Diese Begegnung geschieht ubi et quando visum deo, wie dies auch für das auftragsgemäße Handeln des Menschen gilt. Verhängnisvoll aber ist nur die eigentümliche Vergesetzlichung und Exklusivität, welche diese Erfahrung des geistlichen Lebens durchgemacht hat. Aus der Möglichkeit nämlich, daß Gott in so überwältigender Weise dem Menschen richtend und begnadigend begegnet, wird die Behauptung, daß diese Unmittelbarkeit die menschliche Vermittlung ausschließe. Weil Gott so dem Menschen begegnen kann und es auch tut, wird geschlossen, daß er es im Gnadenzuspruch des priesterlichen Amtes nicht tue, oder daß dies bis zur Unwesentlichkeit zurücktrete. Gott muß geradezu sich dem bußbereiten Menschen stellen, wie er sich angeblich dem sakramentalen Priester in den liturgischen Verrichtungen in die Hand gegeben habe. Und daraus wird dann der Anspruch, sich dem Urteil und Gnadenzuspruch des brüderlichen Priestertums zu entziehen. Der höchste Anspruch der Reichsunmittelbarkeit wird zum Deckmantel des Libertinismus — einer Meisterlosigkeit, welche sich immer dann am wenigsten etwas sagen läßt, wenn es offenkundig am allernötigsten ist. Damit aber wird in Wahrheit auch jene Bußbereitschaft in Frage gestellt, welche sich in Ernst Gott stellt. Die Unbereitschaft, sich dem Bruder zu stellen, wird zum Zeichen der Unbereitschaft, sich Gott zu stellen. „Wer nicht beichtet, ist kein Christ”, hat Luther gelegentlich mit einiger Härte gesagt.
Man muß die Gründe für diese so wirksame Verirrung aufdecken. Der erste Grund liegt im einlinigen Denken, dessen Begrifflichkeit nicht duldet, daß mehrererlei Dinge nebeneinander stehen und sich ergänzen.
Der zweite Grund liegt in dem geschichtlichen Gefälle zur Verallgemeinerung der Exemtion des Klerus auf die ganze Gemeinde, welche die immanenten Gefahren des Priestertums vervielfältigt.
Drittens setzt sich in dieser Anschauung die von der lateinischen Kirche eingeleitete Tendenz zur Juridifizierung des geistlichen Lebens in fortschreitender Verengung fort. Gemeinhin wird die Aufhebung oder Zurückdrängung der priesterlichen Beichtjurisdiktion als eine Überwindung dieser Tendenz angesehen und damit diese Entwicklung gerechtfertigt. Das ist eine Selbsttäuschung. Es verlagert sich vielmehr lediglich die Jurisdiktion in das forum internum unter Abstreifung der sichtbaren, personalen, institutionellen Momente.
Die Verweisung des Menschen auf seine Selbstkritik hat nun jene verhängnisvolle Intellektualisierung und Akademisierung hervorgerufen, an der unsere Kirche leidet. Denn wenn diese Selbstkritik dergestalt im Zentrum des geistlichen Lebens steht, so liegt es gefährlich nahe und ist auch nicht vermieden worden, damit die intellektuelle Fähigkeit zu kritischem Denken zu verwechseln und alles auf deren Schärfung zu stellen. So konnte schließlich der liberale Protestantismus27 es für ganz selbstverständlich halten, daß die breiten Massen des
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kontinentalen Protestantismus entkirchlicht und säkularisiert sind, weil ja natürlich die hohen Anforderungen dieses Glaubens nur von einer Minderzahl erfüllt werden können, im Kern der Bildungsschicht, die gelernt hat, sich vom kritischen Denken des Humanismus und der Wissenschaft selbst kritisch gegenüberzustehen. Die geistliche Selbstkritik verweltlicht sich zum kritischen Denken als Merkmal höherer Bildung. Mit einem schlimmen Überlegenheitsgefühl wird hier das Evangelium der Mühsamen und Beladenen zu einem Privileg der Gebildeten und derjenigen, welche sich geistig und sozial ihnen einigermaßen anzuschließen in der Lage sind.
Die reformatorische Theologie hat auch in ihrem modernen und radikalen Denken nicht vermocht, erkennbare Grenzen dagegen zu ziehen und ernstlich zu vermeiden, daß ihre Lehre vom Menschen sich in ein humanistisches oder idealistisches Selbstbewußtsein verläuft. Es sind nur Zwirnsfäden, die sie hier spannt, wenn sie überhaupt die Frage sieht. An dem streng abgegrenzten Phänomen und Begriff des Priestertums aber entscheiden sich die Dinge. Es wurde hier so deutlich und scharf gegen das exklusive Priestertum Stellung genommen, um auszuschließen, daß man sich mit der polemischen Wendung gegen dieses und durch die Berufung auf den Mißbrauch an den Fragen vorbeidrückt. Erst auf der Grundlage einer so entschlossenen Kritik kann dann auch deutlich gemacht werden, was es mit den priesterlichen Dienst auf sich hat.
Das Seltsame ist nun, daß alle diese bedrückende Einsichten uns weit eher außerhalb der Theologie begegnen: in Philosophie, Naturwissenschaft, Anthropologie, Soziologie, Psychologie, Jurisprudenz: nur die Theologie stellt sich dem nicht. Soll die Welt die Kirche bekehren?
Da nun aber einmal jene Summe der Vorurteile nicht ohne unsere tiefe Schuld eingeprägt und verfestigt sind, so kann man nicht dringen genug aussprechen, daß es hier, im Bereich von Beichte und Absolution um das „Sakrament des Bruders” geht, um jenen Dienst, der gemeint ist, wenn es in der Schrift heißt „beichtet einander”. Darum haben wir uns an das altkirchliche Wort erinnert, daß „in der Kirche sein heiße, unter dem Bischof sein”, nicht weil wir dem Bischofsamt hier eine neue Exklusivität zumessen wollen, sondern weil wir schuldig sind, einander vice Christi Hirten und Bischöfe unserer Seelen zu sein, und weil wer ohne Hirten ist, eben außerhalb der Herde ist.
2. Die mutua consolatio fratrum gehört, für sich allein betrachtet, wie ihr Name zeigt, nicht direkt zu unserem Thema. Sie bildet, wie auch Roth erkennt, eine Art Mittel zwischen Alleinbeichte und Privatbeichte. Aber charakteristisch ist, daß sie aus dieser Mittelstellung bei Luther nach der Seite der (sakramentale) Privatabsolution, bei Zwingli und den Oberdeutschen überhaupt nach der Seite der Alleinbeichte fällt. Die Selbstgewißheit des Glaubens auch als Gewißheit der Sündenvergebung
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steht bei diesem im Vordergrund. Daher bildet Zwingli28 den Gegensatz: die Beichte vor dem Priester oder dem Nächsten sei „nit nachlassen der sünd, sunder radtforschung”. Die Aufgabe ist also, ihn „auf die rechte Fährte zu setzen”, der Selbsterkenntnis wie des Glaubens. Dadurch wird selbst die ausdrückliche Beichte zu einem Weg zu jener Selbstgewißheit, zur Alleinbeichte. Bei Luther dagegen wird die consolatio nicht mit der Privatbeichte gleichgesetzt, aber als ein belehrendes und tröstendes Element in sich eingebaut29.
3. Um das Problem einzugrenzen, nehme ich den oben als letzten genannten Fall, den des Einzelbekenntnisses vor der Gemeinde vorweg. Die harte Bußzucht der alten Kirche, aber auch ein anderes Verständnis des Verhältnisses von Person und Gemeinschaft ermöglichte eine öffentliche Gemeindebeichte oder doch ein konkretes und spezielles Sündenbekenntnis, auf welches hin, sofort oder nach Leistung von Bußauflagen, eine öffentliche liturgische Rekonziliation erfolgte30. Diese Gemeinschaftsform der Beichte und Übung der Schlüsselgewalt durch die versammelte Gemeinde hat sich im großen und ganzen überlebt. Sie wurde schon ausgangs des 1. Jahrtausends als nicht mehr tragbar empfunden. Dies war eines der Momente, welches zur Ausbildung der Privatbeichte führte. Eine Verfeinerung des Schuldbegriffs, eine Individualisierung, welche zwar auch aus säkularen Quellen stammte, aber zugleich doch auch eine Frucht der tieferen Entfaltung des christlichen Sündenbegriffs war (die Befruchtung der abendländischen Psychologie von hier aus ist bekannt), ließ dies nicht mehr zu. Jene Mischung von Rigorismus und geschlossenem Gemeinschaftsbewußtsein kommt heute hauptsächlich in sektenhaften Gruppen vor, ist aber deshalb trotz aller Wirksamkeit obsolet und gewaltsam, weil sich hier die christliche Gemeinde den geistigen Wirkungen und Problemen nicht stellt, die sie selbst ausgelöst hat, und für die sie mit verantwortlich ist. Deshalb wird die Bannung und Wiederaufnahme der öffentlichen Sünder nach Art. XXVIII CA gewiß öffentlich sein können — aber ihr Bekenntnis als seine Voraussetzung wird es regelmäßig nicht sein; Calvin rechnet noch damit31. Gerade dadurch entsteht hier ein Bereich, in welchem zweifellos das Amt allein tätig sein kann. Gehört ihm der Bann, so auch die Wiederaufnahme und deshalb auch das Bekenntnis. Ist hier — und das ist die Voraussetzung — die Gemeinde tangiert, so kann nicht ein einzelner außer dem Amt dem Betreffenden die brüderliche Absolution zusprechen und von der Gemeinde die Respektierung dieses Aktes und deshalb die Wiederaufnahme fordern. Es gibt keine geistlichen „Persilscheine”. Die Frage hat in den Zeiten der frühchristlichen Verfolgung gegenüber den öffentlichen Verleugnern des Glaubens, den traditoren, die als ipso facto exkommuniziert galten, erhebliche Bedeutung gehabt. Denn ihnen gegenüber nahmen die confessoren nach der Gleichung: martyrium = ordinatio das Recht der Absolution und Rekonziliation in
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Anspruch, was zu großer Verwirrung führte. Im Gegensatz zu sittlichen Verfehlungen aller Art wird heute allein noch die Frage des Widerrufes von Irrlehren in der öffentlichen Wiederaufnahme eine Bedeutung haben können. Wenn etwa ein dem Rassenglauben verfallener DC-Pfarrer sich bekehrt und der Gemeinde, der gegenüber er diesen Glauben vertreten hat und an der er schuldig geworden ist, seinen Irrtum bekennt und dann Wiederaufnahme (nicht in das Amt, aber in die Kirche) erhält, so kann dies in angemessenen Formen sinnvoll sein — eben um der Öffentlichkeit dieser Verantwortung willen. Praktisch sind solche Entscheidungen nach 1945 durch die Kirchenleitungen ergangen und haben Öffentlichkeit dann in begrenzter Weise durch die Wiederverwendung an anderer Stelle erlangt, sofern diese möglich war.
4./5. Dies vorausgesetzt, ist die eigentliche, auch für das Handeln, das Recht und die Struktur der Kirche wesentliche Frage diejenige nach dem Verhältnis von offener Schuld und Privatabsolution. Dies hat freilich solange eine offene Flanke, als die zuvor als legitime Grenzsituation erörterte Alleinbeichte in einem humanistischen Mißverständnis christlicher Existenz Ausgangspunkt und Regelfall bildet.
Aber gib es hier eine Art Ökonomie, ein inneres, informelles, aber von der Sache her vorgegebenes Verhältnis? Für das erste Jahrtausend wird man dies mit einem gewissen Vorbehalt der großen Vielfalt doch sagen können. Im Zentrum, im Leben der ganzen Kirche steht das im Gottesdienst sich vollziehende Bußbekenntnis der Gemeinde. Gleichsam zur Rechten stehen die einzelnen Fälle der öffentlichen Exkommunikation, Exhomologie und Rekonziliation. Zur Linken steht ein weiterer, das Verhältnis zur Gemeinde und damit zum Amt nicht unmittelbar berührender Bereich der Seelsorge. Es sind in jedem dieser drei Fälle verschiedene personale Beziehungen. Das eine ist die Gemeinde, die bußfertig ihrem Herrn im Gottesdienst begegnet und sich zugleich in der Kommunion Vergebung und Gemeinschaft neu geben läßt. Das andere sind diejenigen, die von der Gemeinschaft getrennt sind und erst wieder zugelassen werden müssen. Er ist hier an die Bedeutung zu erinnern, welche für die Struktur des Bekenntnisses Subjekt und Adressat des Bekenntnisses hat — dies gilt nicht nur für das Glaubensbekenntnis, sondern auch für das Sündenbekenntnis. Der dritte Fall ist die völlig außeröffentliche Seelsorge.
Unbestritten ist für alle Zeiten die Schlüsselgewalt der Kirche, welche durch einen konkreten Akt der Absolution die Sündenvergebung zuspricht, die deshalb weder durch bloße Zulassung zum Abendmahl auf die Sündenvergebung durch dieses, noch auf die Selbstgewißheit derselben verweist und hinweist. „Schlüsselamt der Kirche und Beichtinstitut … gehören” — auch für Luther und gerade für ihn — „zu den unaufgebbaren Kennzeichen der Kirche. Die Schlüsselgewalt ist eine göttliche Stiftung und die Beichte mit der absolutio privata eine besondere
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Form der Darreichung des Evangeliums neben Taufe und Abendmahl, die im Großen Katechismus als das ,dritte Sakrament’ bezeichnet wird”32.
Wer ein Christ sein will, ist gehalten, diese Absolution der Kirche zur suchen, wenn die Kirche ihn ausgeschlossen hat oder wenn er sich bewußt von der Kirche getrennt hat. Sonst aber kann die Kirche ihn nicht wie einen zu vermutenden Abgefallenen behandeln und die vorgängige Absolution vor dem Abendmahl fordert, so wenig sie die admissio von der Konfirmation abhängig machen kann. Es kann sich aber auch der getaufte Christ nicht auf die Taufe als ein Recht berufen und vorbei an der von ihm geforderten täglichen Buße die Gemeinschaft in Anspruch nehmen. Über diese grundsätzlich offene Lage hinaus kann hier nichts geklärt, geordnet und vorentschieden werden. So haben das gottesdienstliche Sündenbekenntnis (isoliert und verdunkelt in der offenen Schuld) und die Privatabsolution je ihren eigenen Platz und drücken erst zusammen die Lage des Christen aus.
Dem angefochtenen Gewissen, das sich selbst beschuldigen muß, ist in der Vollmacht zur Sündenvergebung ein zwischen Taufe und Abendmahl, auf dem Wege von dem einen zum anderen unübersehbar stehendes Angebot gemacht, das auszuschlagen verderblich ist. Auf diesem Wege freilich kann dies — auch hier ähnlich der Konfirmation — falsch verstanden und falsch gebraucht, sowohl zur iniuria baptismi wie zur iniuria coenae werden. Denn der legitime Gedanke, daß die Buße ein tägliches Hineinkriechen in die Taufe sei, kann unseren Taufglauben verdunkeln und gegenstandslos erscheinen lassen, und er kann ebenso ein Hindernis für den freudigen Zugang zum Heiligen Mahl werden. Mir scheint, daß nur in dem umfassenden Horizont des „sacramentum spiritus sancti” diese Gefahr vermieden werden kann. So hat bei allen Formen der Versöhnung mit der Kirche, auch wo sie nicht bußförmigen Charakter hatte, die alte Kirche die Hand aufgelegt, ein Zeichen, daß die Anwendungsfälle des sacramentum spiritus sancti zwar deutlich unterschieden, aber nicht voneinander getrennt werden können.
Im engeren Sinne von kirchenrechtlicher Bedeutung ist die Schlüsselgewalt in diesem Bereich nur von Bedeutung im Falle des Art. XXVIII CA und soweit etwa im Wege der Kirchenzucht aus der Absolution eine Admissionsbedingung für das Abendmahl gemacht wird. Aber zugleich wird auch hier die Gesamtstruktur des Kirchenrechts ebenso deutlich wie vorentschieden, und in diesem Sinne ist hier mit Recht gekämpft worden. In der Amtskirche wie der Genossenschaftskirche treten die Fremdgewißheit und die Eigengewißheit als häretische Vereinseitigungen heraus: die Gefangenheit der Gewissen, die immer und überall und in allen noch so verschiedenen Lagen ausschließlich an die Vermittlung des Amts gewiesen sind, und die Selbstgewißheit, die in einen selbstmächtigen Humanismus führt. Thematisch ist aber hier, wie schon entwickelt wurde, die Verbindung von Eigengewißheit und Fremdzuspruch,
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die zueinander finden müssen. Das ist eine Sachfrage, nicht etwa nur eine noëtische oder konfirmatorische.