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1. Die Rechtswissenschaft steht vor der Notwendigkeit, den neuen erkenntnistheoretischen Einsichten der Gegenwart Rechnung zu tragen. Nichtobjektivierbarkeit und Komplementarität haben über den Bereich naturwissenschaftlicher Erkenntnis hinaus für die Geisteswissenschaften methodische Bedeutung und sind geeignet, Zusammenhänge gerade auch der Strafrechtswissenschaft zu klären.
2. Jeder Rechtstheorie liegt ein Menschenbild und ein Geschichtsbild, beide zusammengefaßt in einer Religionsphilosophie, zugrunde (Emge). Die rationale Rechtswissenschaft muß ohne unwissenschaftliche Vorabwertung (dogmatisierte Philosophie) die vorrationalen Rechtsepochen in ihre Betrachtung einbeziehen, wenn sie mit der Entwicklungsgeschichte den gegenwärtigen Stand ihres Gegenstandes zutreffend interpretieren will. Die philosophische Ideengeschichte deckt sich nicht mit der Realgeschichte der vorfindlichen Institute und den ihrer Bildung zugrunde liegenden geistigen Entwicklungen und Entscheidungen.
3. Der Täter tut nicht allein, was er nicht soll, sondern versucht, was er nicht kann. Verbrechen ist nicht Rechtsgüterverletzung, sondern Machtanmaßung, und zwar Anmaßung einer falschen personalen Rolle. Was in ethischen und rechtlichen Imperativen ausdrückbar ist, ist es notwendig auch in ontischen Aussagen und umgekehrt. Beide Denkformen ergänzen einander; keine von ihnen hat vor der anderen einen Vorrang.
4. Die Grundverfassung des Menschen ist dahin zu bestimmen, daß er mit dem Mitmenschen immer zugleich identisch wie nichtidentisch ist (implizite Definition des Zwischenexistenz).
5. Hieraus (4) ergibt sich:
a) der Charakter des Rechtes als Grenzsetzung für einen
Lebensraum in konkreten und unablösbaren Bezügen, in denen der
Mensch gehalten wird;
b) die doppelte Richtung verbrecherischen Handelns: Antastung
heteronomer Existenz und illegitime Verbindung (amor sui und
falsa communicatio).
Mit ihren Prototypen: Mord und Blutschande nimmt die Genealogie
des Verbrechens von hier ihren Ausgang.
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6. Die strafrechtlich geschützten Anforderungen an den Menschen sind strukturell verschieden: Respektierung fremden Statusrechts und positive Erfüllung sozialer Funktionen. Die moderne Ausdehnung der letzteren führt an die Grenze der Judiziabilität, wo mit der Erfüllbarkeit auch der Rechtscharakter der Aufhebung unterliegt.
7. Humanisierung und Sozialisierung des Strafrechts sind keine absoluten Fortschritte, sondern bedingen Isolierung des Einzelnen und Formalisierung des Rechts. Das Strafrecht kann ohne Berücksichtigung der soziologischen Strukturen und ihrer Wandlungen nicht voll verstanden werden. In der Geschichte, auch der Rechtsgeschichte, wird jeder Fortschritt durch einen Verlust erkauft.
8. Tatstrafrecht und Täterstrafrecht enthalten einen verschiedenen Tatbegriff. Tatfeststellung und Wertung können nicht systematisch getrennt werden.
9. Das Täterstrafrecht ist die Frucht einer dem Tatstrafrecht innewohnenden Dialektik. Beide sind einander ergänzende legitime Formen. Das Tatstrafrecht enthält ein Moment bewußter Beschränkung der Verantwortlichkeit, welches sich mit dem Phänomen der Gnade berührt. Es bildes aus diesem Grunde den Schwerpunkt unseres Strafrechtssystems.
10. Kausale Verknüpfungen erklären nicht positiv das Verhältnis von Täter und Tat, sondern können nur negativ diejenigen Zusammenhänge ausscheiden, welche für eine Verknüpfung von Täter und Tat grundsätzlich nicht in Betracht kommen.
11. Strafrecht vollzieht sich in drei Grundrelationen:
a) Täter — Tat
b) Täter — Verletzter
c) Täter — Richter
Für jede dieser drei Relationen gilt die Grundstruktur der
Zwischenexistenz (4) sowohl als ontische Gegebenheit wie als
ethische Aufgabe.
Rechtliche Gestalt, Vollzug und Zusammenhang dieser Relationen
unterliegt geschichtlichem Wandel (Integration und Desintegration
des Strafprozesses).
12. Der Prozeß ist nicht eine technische Veranstaltung zur Findung des vorauszusetzenden Rechts, sondern das Recht entsteht aus dem prozessualen Vollzuge.
13. Strafe ist wechselseitige Restitution. Sie löst Täter und
Verletzten aus der wechselseitigen Perversion: der
Schuldverleugnung des Täters, der Selbstrechtfertigung des
Verletzten.
Rechts- und Zwecktheorien der Strafe sind nur Vereinseitigungen
dieses Verhältnisses und bedingen einander.
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14. Die im Strafrecht zu achtende Würde des Menschen liegt in seiner Bestimmung, sich über die Schuldverstrickung hinaus transzendieren zu lassen. Sie wird bedingt durch die Bereitschaft, der Verantwortung zu stehen.
15. Der Richterspruch als personaler Akt hat Unverbrüchlichkeit und Unerfüllbarkeit des Gesetzes miteinander auszugleichen. Der Richte ist weder über noch unter, sondern mit dem Gesetz.
16. Der Schuldbegriff entlastet nicht nur den Menschen von Erfolgshaftung, sondern radikalisiert den Vorwurf. Er ist nur so lange durchzuhalten, als der Glaube an die schuldbefreiende Wirkung der Strafe lebendig ist. Das magische Strafrecht hat den Schuldbegriff noch nicht, das moderne vermag ihn nicht mehr zu bewahren.
17. Der Schuldbegriff ist dreischichtig: Schuld ist Tatschuld, Täterschuld und Gesamtschuld zugleich. Die erste ist unbedingt, die zweite bedingt, die dritte nicht judiziabel.
18. Die Strafzwecke sind nicht nur komplex und antinomisch, sondern auch Grenzwerte, bei deren Überschreitung der Rechtscharakter der Strafe entfällt. Die Strafe liegt zwischen Terror und Pädagogik.
19. Die Stellung zur absoluten (Todes-)Strafe ist abhängig von der Stellung zum Gewaltproblem überhaupt und kann nicht als kriminalpolitische Frage isoliert werden. Die Entscheidung des Gewaltproblems hängt am Geschichtsverständnis. Hier stehen sich heute wesentlich subjektiver und objektiver Idealismus gegenüber. Sie bedeuten in der Konsequenz Personalität ohne Geschichte und Geschichte ohne Personalität.
20. Die absolute Strafe rechtfertigt sich aus der Unaufhebbarkeit der Grenzsituationen.
21. Die Grundstruktur des Strafphänomens: Korrelation von Tat und Strafe als Machtausgleich ist unaufhebbar. Es ändern sich jedoch die Ansatzpunkte und Mittel des Vollzugs.
22. Strafe ist Institution, daher weder abschließend definierbar noch aufhebbar. Sie ist im Verhältnis zu anderen positiven Institutionen (Ehe, Eigentum, Staat) die negative Institution, der Vorgang, durch welche ein Mensch in einen vorübergehenden oder dauernden status negativus versetzt wird.
23. Wie alle Institutionen ist die Strafe immer zugleich absolutsetzender Verhärtung wie schwärmerischer Auflösung ausgesetzt. Zu ihrer Wirksamkeit sind realer Vollzug und subjektiver Glaube erforderlich.
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24. Das Problem der Strafrechtsgeschichte ist nicht die Überwindung gefühlsmäßiger Reaktion durch geklärte Vernunftanschauung oder die Erhebung zu einem „späten und hohen” Menschentum, von dem es nur noch einen Absturz gibt. Es ist vielmehr die Frage der Geschichtlichkeit des menschlichen Handelns in Verbrechen und Strafe selbst und seine rechtliche Gestaltung als Verantwortlichkeit und Rechtsvorgang.