Kapitel 10

Die Strafzwecke als Grenzwerte

Wenn sich im Sinne des in der Einleitung Ausgeführten der Schulenstreit erledigt hat, nachdem alle denkbaren Argumente ins Feld geführt worden sind, so ist eine gewisse Zurückhaltung gegenüber dem Versuch verständlich, der jetzt geforderten Vereinigungstheorie einen positiven Ausdruck zu geben. Anerkannt wird zunächst nur die Tatsache, daß die Strafe ein komplexes Phänomen ist, welches von keinem der möglichen und durchaus legitimen Aspekte her allein zureichen verstanden werden kann.

„Die gedankliche Bewältigung des Phänomens Strafe gelingt nur dann, wenn sie alle seine verschiedenen Aspekte interpretiert29.”


29 Bockelmann, Jur.-Ztg. 1951, S. 495.

|102|

Indessen ist damit doch schon sehr viel mehr gesagt als die Tatsache einer Komplexität, einer strukturlosen Anhäufung von Momenten, welche Antinomien einschließen, zu deren Hinnahme man gezwungen ist. Es ist dies keineswegs das Ende einer Betrachtung der Strafe unter Zweckgesichtspunkten, der sorgsamen Erwägung und Begrenzung der mit ihr zu erstrebenden und erreichbaren Zwecke. Aber es ist das Ende des Zweckstrafrechts, d.h. der Vorstellung, daß die Strafe eine zweckhafte Einrichtung sei, die man bei Erfindung besserer Mittel zur Erreichung des gleichen Zwecks zu ersetzen in der Lage und befugt sei. Diese Meinung tritt erfahrungsgemäß überall dort auf, wo von den denkbaren Zwecken ein einzelner zum schlechthin beherrschenden Gesichtspunkt gemacht wird. Die Strafe wird damit zu einem ausschließlich kausalen Geschehen. Gerade aber von einer solchen eingleisig-kausalen Betrachtung her verdrängt dieser eine vorgestellte Zweck die Strafe als Phänomen. Das gilt sowohl für den Besserungszweck wie für den Abschreckungszweck. Radikale Vertreter pädagogischer Gesichtspunkte in Strafrecht und in Strafvollzug kommen zur verdeckten Sprengung oder offenen Verneinung des Strafbegriffs wie Brucks30 oder zeitweilig auch Radbruch. Wird umgekehrt der Abschreckungszweck zum wesentlich Bestimmenden, so tritt die gleiche Sprengung oder Verneinung hervor. Die Strafe wird unter formaler, aber nur scheinbarer Wahrung ihres Rechtscharakters oder überhaupt offen zum Terror oder planmäßigen Vertilgung gewisser Menschengruppen.

Pädagogik oder Terror sind beide transjuristisch. Sie gehen beide davon aus, daß der Mensch mit menschlichen Mitteln umformbar sei und umgeformt werden müsse. Die radikale Besserungsstrafe ist dann immer noch staatlich, aber nicht mehr im strengen Sinne rechtsstaatlich, weil sie die Rechtsstellung des Menschen, die unaufhebbare Eigenständigkeit und Verantwortlichkeit seiner Entscheidung auch bei theoretischer Anerkennung im Kern aufhebt, indem sie ihn den nach jeweiliger Erkenntnis aussichtsreich erscheinenden pädagogischen Mitteln unterwirft.

Weiter aber zeigt sich, daß bei so eingleisig kausaler Betrachtung auch ein wesentlich pädagogisch-human orientiertes Strafrecht vor dem Umschlag in das Gegenteil nicht bewahrt werden kann. Der Mensch versucht zwar zweckhaft über die Strafe zu verfügen, aber vermag so, auf sich selbst gestellt, seiner selbst nicht Herr zu bleiben. Die scheinbar verfügbaren Mittel werden vermöge ihrer eigenen Konsequenz und einer ihnen innewohnenden Dialektik seiner Herr.

Die Anerkennung komplexer, konkurrierender und antinomischer Zwecke erzwingt also zugleich die Anerkennung des phänomenalen


30 Zitiert bei Bockelmann, aaO.

|103|

Charakters der Strafe, ihrer Vorgegebenheit als eines sozialen Vorgangs, der in der Struktur menschlichen Zusammenlebens unablösbar vorhanden ist. In der Anerkennung der Phänomenalität liegt also ein Moment der Bewahrung gegenüber den Sprengungstendenzen, welche der ausschließlichen Zweckbetrachtung innewohnen.

Im Rahmen der — wie zu wiederholen ist — durchaus legitimen Zweckbetrachtung ist die Strafe aber auch mehr als eine Anhäufung von Strafzwecken, die zuweilen miteinander vereinbar sind, zuweilen einander widersprechen, und von denen in sehr vielen Fällen praktisch nur der eine oder andere zum Zuge kommt. Mit Recht ist vielfach hervorgehoben worden, daß auf manche Fälle wesentlich der Gesichtspunkt der Sicherung, nicht der der Erziehung zutrifft und umgekehrt, je nach Art der Tat und des Täters. Bei schwerer Kriminalität tritt unzweifelhaft die Sicherung, im Jugendstrafrecht die Erziehung in den Vordergrund. Der Versuch, diese widerspruchsvolle Mehrheit von Zweckgesichtspunkten gemeinsam zur Darstellung zu bringen, scheitert an diesen Antinomien; diese können von einer sehr allgemeinen Umschreibung nur verdeckt werden. Die Wahrheitsmomente der absoluten und relativen Straftheorie können erst recht so nicht verbunden werden. Die geforderte Vereinigungstheorie kann deshalb niemals eine bloße Kumulationstheorie sein. Anderseits kann die Strafrechtstheorie auf eine wissenschaftliche geklärte Aussage nicht verzichten. Sie kann sich der frage nicht entziehen, in welchem logischen Verhältnis die verschiedenen Aspekte des Phänomens Strafe zueinander stehen.

Gegenüber diesem Phänomen versagt die logische Form der expliziten Definition, die bisher allgemein das juristische Denken beherrscht hat. An ihrer Stelle ist hier an diesen wesentlichen Punkten die implizite Definition zu setzen. Die von Bockelmann so genannten Aspekte des Phänomens Strafe sind als Grenzwerte zu verstehen und darzustellen.

Der Grenzwertcharakter des Strafzwecks der Erziehung oder Besserung wird am deutlichsten im Jugendstrafrecht. Hier hat pädagogische Beeinflussung unbestritten und gesetzlich den Vorrang. Wo aber dieses Moment einen gewissen Grad erreicht, tritt der Strafcharakter überhaupt zurück und die pädagogische Maßnahme überschreitet den Bereich der Strafe grundsätzlich und praktisch. Dieser gewisse positiv nicht ausdrückbare, aber unzweifelhaft vorhandene Grad bedeutet den Grenzwert. Er könnte praktisch nicht eingehalten werden, wenn nicht zugleich andere Momente und Aspekte immanent wirksam wären, welche einer einseitig pädagogisch ausgerichteten Strafrechtstheorie und Strafvollzugspraxis entgegenstehen und von dieser immer wieder unter dem Widerspruch aller übrigen verkannt werden. Dieser Widerspruch hat freilich immer nur ein relatives Recht, weil er den pädagogischen Aspekt

|104|

nicht zu bestreiten, sondern eben nur zu begrenzen berechtigt ist und selber an entsprechende Grenzwerte gebunden ist.

Den gleichen Grenzwertcharakter hat die Abschreckung. Immer wieder muß an die uralte Erfahrung erinnert werden, daß eine Verschärfung der Strafdrohung und des Strafvollzugs wirkungslos ist, weil sich die Rechtsgenossen hiervon nicht beeinflussen lassen, weil auch immer nur zufällige Einzelne betroffen werden, vor allem aber weil auch hier der Strafcharakter an einem formal nicht zu bestimmenden Punkt preisgegeben wird.

Ein entsprechendes Verhältnis besteht zwischen Generalprävention und Spezialprävention. Eine Strafbemessung unter dem wesentlichen Gesichtspunkt der ersteren muß die individuellen Umstände des Falles in mehr oder minder hohem Grade zurücktreten lassen. Das Umgekehrte aber greift bei einer vorzugsweisen Berücksichtigung der Spezialprävention Platz, auch wenn diese nicht einfach mit einer Strafmilderung, der Berücksichtigung individueller Entschuldigungsgründe durch Anpassung an die Besonderheit des Täters gleichzusetzen ist. Unvermeidlich muß ein so beträchtliches Schwanken in der Bewertung objektiv gleicher oder ähnlicher Fälle eintreten, daß die Urteile von der Rechtsgemeinschaft nicht mehr verstanden werden können, der Öffentlichkeitscharakter und damit die generalprävenierende Wirkung deutlich leidet. Beides ist gleich willkürlich. Eine allzu große Vertiefung in die subjektive Besonderheit des Falles läßt auch die Bewertungsmaßstäbe immer fragwürdiger werden, macht sie immer mehr abhängig von der individuellen Eigenschaft des Richters und seiner Verständnisfähigkeit. Die umgekehrte Behandlung ist insofern willkürlich, als man auf die Berücksichtigung selbst der deutlich erkennbaren, durchaus judiziablen Unterscheidungen bewußt oder aus falscher Skepsis verzichtet und damit von der anderen Seite her dem menschlichen Tatbestand Gewalt antut.

Der wiederholt in der Kommissions-Diskussion zitierte Satz „Um Generalprävention braucht man sich nicht zu sorgen” (den Bockelmann in ein „Nicht-Sollen” statt „Nicht-Brauchen” verwandeln will), ist angesichts dessen nur eine halbe Wahrheit. Er ist unbedingt richtig in dem Sinne des Grundsatzes, daß die erschwerenden Tatbestandsmerkmale nicht noch einmal in der Strafbemessung zur Geltung kommen dürfen. Insofern erhält die Strafe überhaupt die generalprävenierende Wirkung in dem möglichen Maße in sich. Aber ebenso fundamental unrichtig ist der Satz in dem Sinne, daß die generalprävenierende Wirkung nicht eben auch in sehr bedenklicher Weise verfehlt und versäumt werden könnte. Der Satz ist falsch, wenn er eine unbeschränkte Individualisierung des Falles freigibt. Denn der Fall ist wiederum nicht nur Einzelfall. Alles dies mag wohl anerkannt werden. Die Debatte zeigt aber, daß ohne die Gewinnung einer logischen Form für dieses grundsätzliche

|105|

Verhältnis die vereinseitigenden Tendenzen nicht gebändigt werden können. Jene Verfehlung der generalprävenierenden Wirkung liegt erfahrungsgemäß vor, wenn ein gewisser Grad von Individualisierung überschritten wird.

Nach dem Gesagten ist das logische Verhältnis der Strafzwecke zueinander das der Komplementarität. Es sind korrespondierende Momente, die nicht weggedacht werden können, ohne das Ganze zu zerstören, die aber die Eigenschaft haben, einander gegenseitig aus dem Blickfeld zu bringen. Betrachte ich den Gegenstand unter dem einen Aspekt, so verschwindet mir der andere Aspekt und umgekehrt. Die Entwicklung der Theorie wie der Praxis liefert ein überwältigendes Anschauungsmaterial für dieses Axiom, während wir es für einigermaßen selbstverständlich halten, daß man verschiedene Aspekte miteinander im Blick behalten könne.

Dieses Komplementaritätsverhältnis besteht sowohl zwischen den Strafzwecken der Abschreckung und der Besserung wie zwischen denen der Generalprävention und Spezialprävention. Daraus ergibt sich zugleich die Frage nach dem Verhältnis dieser beiden Gegensatzpaare zueinander, nachdem wir eine nur kumulative Vereinigungstheorie abgelehnt haben. Die beiden Paare sind nicht einfach einander parallel, wiewohl Abschreckung und Generalprävention auf der einen und Besserung und Spezialprävention wenigstens statistisch eine gewisse Verwandtschaft aufweisen. Die Spezialprävention braucht nicht immer zugunsten pädagogischer Beeinflussung den Strafgesichtspunkt zurücktreten zu lassen und kann gelegentlich ein hartes Anfassen, eine Verschärfung bedingen, welche sie in die Nähe des Abschreckungszwecks bringt. Die Generalprävention braucht nicht immer notwendig in Richtung der Abschreckung zu weisen. Von Hentig31 berichtet als ein höchst eindrucksvolles Beispiel, daß die englische Regierung durch bewußte gesetzgeberische Bagatellisierung von Attentaten auf die Königin Viktoria mit entscheidendem Erfolg diesen Taten den Herostratenruhm und damit den massenpsychologischen Anreiz genommen hat. Dennoch darf nicht verkannt werden, daß hier nicht das Schwergewicht der Erscheinung liegt und daß, sachlich gesehen, General- und Spezialprävention in ihrem Verhältnis dem Verhältnis der beiden anderen Strafzwecke ziemlich weitgehend entsprechen. Was hinzukommt, ist in der Hauptsache ein personales Moment: Der Gegensatz und die Korrelation von Einzelnem und Gemeinschaft. Die Strafzwecke ohne diesen personalen Gesichtspunkt sind sozusagen unbenannte Zahlen: man weiß noch nicht, auf wen sie sich beziehen. Abgeschreckt werden kann der Einzelne und die Gemeinschaft, gebessert werden nur der Einzelne. Gerade unter diesem personalen Gesichtspunkt tritt die Komplementarität besonders klar hervor. Individualisiere ich den Fall über ein


31 Hentig: „Die Strafe”, Band II S. 128.

|106|

gewisses Maß hinaus, so verletze ich, wie bereits gesagt, den Öffentlichkeitscharakter und vernachlässige die Rechtsgemeinschaft und umgekehrt. Ich habe schon früher diesen Vorgang im Bereich des Strafprozeßrechts dahin formuliert, daß es im Strafprozeß um sittliche Integration geht, wie in politischen Akten um politische Integration. Zu jedermanns Kunde wird öffentlich die Grenze des Erlaubten noch einmal scharf umrissen aufgezeigt und zugleich eine bestimmte Bewertung vollzogen. Das ist eine Funktion, auf die nicht verzichtet werden kann, und die dem Versuch vollkommener Anpassung an den Einzelfall deutliche Grenzen setzt32.

Genau umgekehrt ist es unsachlich, in einem reinen Gesetzesfunktionalismus etwa nach den Vorstellungen der französischen Revolution lediglich festliegende generalisierte Urteile zu vollziehen. Man kann aus den schwerwiegendsten subjektiven Gründen einen Totschlag nicht mit 3 Tagen Gefängnis bestrafen. Man kann ebensowenig auch aus den begreiflichsten Gründen der Spezialprävention auf einem geringfügigen Tatbestand nicht schwerweigende Straffolgen aufbauen. Beides verträgt und trägt die Tat nicht. Die Strafrechtspraxis hat sich von jeher stillschweigend geweigert, die Strafverschärfungen auszuschöpfen und Sicherungsstrafen auf allzu begrenzten Taten aufzubauen. Es bedurfte der Einführung der Sicherungsverwahrung und der Doppelgleisigkeit des Strafrechts, um zu einem Ergebnis zu kommen, welches an sich mit den Rückfallvorschriften intendiert war. Mit dieser Erkenntnis sind ganz konkrete Fragen bereits beantwortet, die sich in der Diskussion ergeben haben. Alles dies ergibt sich nicht erst aus allgemeinen Gerechtigkeitsregeln, auch nicht aus der Tatbestandsmäßigkeit, sondern bereits aus der impliziten Definition des Strafphänomens und der ihm innewohnenden Struktur. Die gesetzlichen Höchst- und Mindeststrafen sind deshalb auch nicht einfach abstrakte gesetzliche Bewertungen bestimmter Dialekte, sondern eine notwendige Erinnerung an diese Grenzbestimmungen, die gefühlsmäßig ohnehin vom Richter erkannt und gewahrt werden, vor deren Überschreitung er damit aber zugleich bewahrt wird. Das Gebäude der Strafe wird so von den vier Eckpfeilern der Strafzwecke zugleich getragen wie begrenzt. In dem so abgesteckten Raum hat sich der Strafrichter zu bewegen, wenn er nicht den Bereich des Rechts verlassen will. Aber eben daraus ergibt sich, daß die von den Strafzwecken als Grenzwerten implizit zu definierende Strafe positiv grundsätzlich mehr ist als deren Summe und Ausgleich, daß sie positiv zwar zu beschreiben, aber nicht erschöpfend zu definieren ist.


32 Vgl. Dombois: „Krise des Strafrechts”, S. 91ff.