Am Ende der Betrachtung des Täter-Tat-Verhältnisses sind wir bereits auf die zweite, dem Phänomen des Strafrechts eingestiftete Relation gestoßen: die des Täters zum Verletzten. Hier haben sich die gleichen Einsichten in die Grundverfassung menschlicher Existenz zu bewähren
In einem Vortrag über das Strafrecht und die Würde des Menschen16 hat der Kölner Strafrechtslehrer Richard Lange es beklagt, daß das Strafrecht dazu nötige, für seine Urteile moralische
16 Vortrag vor der Evangelischen Akademie Berlin, 1955 (ungedr.).
|71|
Unbedingtheit in Anspruch zu nehmen und dadurch eben die Würde des Menschen, seine Einzigartigkeit in Frage stelle. Das Strafrecht in diesem Sinne aber habe erst das Hochmittelalter ausgebildet, indem es das Bußrecht ablöste. Diesem habe jener Zug nicht angehaftet. Als moderner Kriminalist denkt Lange naturgemäß nicht daran, das heutige Strafrecht zu beseitigen. Er stellt vielmehr eine unangenehme, aber nicht rückgängig zu machende Tatsache heraus, um eine vielfach empfundene Spannung zu erklären und zugleich ein falsche Pathos des Strafens möglichst zu ermäßigen.
Zeiten tiefer Erschütterung des Rechtsbewußtseins bringen in der Tat vielfach Brüche, Widersprüche, unerledigte Probleme in Erinnerung, die in den vorfindlichen Institutionen enthalten sind und in ruhigen Zeiten überdeckt bleiben. So scheint mir der Hinweis echt, aber der Gedanke nicht zu Ende geführt zu sein. Er bedarf der weiteren Durchdenkung.
Zunächst ist der geschichtliche Tatbestand etwas verkürzt dargestellt. Es folgt nicht einfach das Strafrecht auf das Bußrecht. Auch zu den Zeiten des Bußrechts gibt es Strafrecht — ja es hat es immer gegeben. Aber es ist auf den inneren Kreis der Sippe, des Geschlechtsverbandes beschränkt. Das Strafrechtsproblem hat grundsätzlich eine interne und eine externe Seite. Diese Unterscheidung ist dem heutigen Strafrecht verlorengegangen oder vielmehr in der Frage der räumlichen Geltung und des internationalen Strafrechts grundsätzlich eine sekundäre Frage geworden, die für die Konstruktion des Strafbegriffs nicht mehr wesentlich erscheint. Indessen ist dies irrig und reicht für eine grundsätzliche Darstellung, zu der wir heute mehr denn je genötigt sind, nicht aus.
Es gibt also internes Sippenstrafrecht. Es stammt hauptsächlich aus der Gewalt des Sippenoberhauptes, wie sie etwa in der Strafbefugnis des römischen pater familias in verhältnismäßig später geschichtlicher Zeit noch bezeugt ist. Sie erstreckt sich auf die Sippenangehörigen im weitesten Sinne, Frau, Kinder, Gesinde usw. Es erscheint für uns nicht eigentlich als Strafrecht im objektiven Sinne, weil es nicht zu konkreten Normbildungen geführt hat. Es ist wesentlich personal und diskretionär. Es ist mehr „Recht zum Strafen” als Strafrecht. Aber in der Sache unterscheidet es sich nicht. Es ist archaisch-streng und wird erst allmählich durch Sitte und Rechtsüberzeugung der Gesamtheit, schließlich durch Übergang auf die res publica gemildert oder beseitigt. Es beruht gerade in diesem archaischen Charakter auf einer noch hochgradigen Vergemeinschaftung des Lebens, welche eine Einzelpersönlichkeit im heutigen Sinne nicht kennt. Der Mensch ist immer Subjekt genug, um für die Entfernung aus der Gemeinschaft haftbar gemacht zu werden. Aber die Gemeinschaft bildet so sehr eine Realität, daß eben diese Entfernung mit der größten Härte bestraft wird. Der aus der Gemeinschaft sich absondernde, sich gegen sie stellende Mensch kommt dadurch nach
|72|
deren Begriffen nicht zu sich selbst, sondern verfehlt hier seine Existenz in besonderem Maße. Darum wird auch dieses Einzelgängertum in keiner Weise respektiert. Dieses Recht zum Strafen ist also eine Erscheinung innerhalb des Verbandes und ergreift darüber hinaus nur den, der durch eine Tabuverletzung in den Machtraum des Verbandes eindringt und innerhalb dieses Raumes festgehalten wird.
Das Bußrecht dagegen entsteht im Außenverhältnis. Es ist eigentümlich doppeldeutig. Mit dem Täter wird zunächst jede Rechts- und Lebensgemeinschaft abgebrochen. Jeder darf ihn straflos töten. Aber er muß es nicht, wenn er auch zu vermeiden hat, mit dem excommunicatus vitandus in Berührung zu kommen. Friedloslegung und Blutrache sind nicht identisch. Denn nur in der letzteren kommt es darauf an, daß der Täter wirklich ergriffen und getötet wird. Der Friedlose dagegen lebt in einer offenen Welt, in der es noch Möglichkeiten der Flucht und damit der neuen Existenz gibt, der Selbstverbannung in unerreichbare Zonen.
Der Friedloslegung aber entspricht die Buße, die Beilegung, die compositio. Mit verfügbaren Mitteln wird die Wiederherstellung des Friedens erkauft. Die Buße ist zwar meist recht hoch, ist keine Bagatelle, entspricht einigermaßen der Schwere der Tat, aber sie ist nicht unerschwinglich.
Im externen Strafrecht kann demnach die Tat zu zwei ganz entgegengesetzten Folgen führen: zur Tötung oder Vertreibung, also immer zum Existenzverlust im weitesten Sinne, oder zur Abgeltung, einer Relativierung auf verfügbare Güter, damit zu einer merklichen Entwertung. Auf der einen Seite geht man schrankenlos gegen den Täter vor, auf der anderen Seite handelt man um Vieh und Gold wie auf dem Markte, mit bäuerlichem Besitztrieb und Zähigkeit.
Diesen Gegensatz überwindet in einer großen geistigen Anstrengung das Strafrecht, aber doch nur dadurch, daß es die Elemente des früheren Zustandes verdeckt und zusammenzwingt. Auf der einen Seite tritt jetzt an die Stelle einer schrankenlosen Verfeindung und Existenzvernichtung eine bestimmte, der Tat entsprechende Strafe. Die Unbedingtheit der Verfeindung wird auf die Korrelation Tat-Strafe relativiert. Die verfügbare, quasi-kommerzielle Buße aber gewinnt als Strafe einen unbedingten Charakter, von dem nicht dispensiert werden kann. Aus einem verfügbaren Geschehen wird die Bestrafung zu einen solchen, das seinen eigenen Rechtswert besitzt. Der Rechtscharakter wird auf der einen Seite absolut, auf der anderen in der strengen Korrelation Tat-Strafe relativiert.
Dieser Vorgang entbehrt nicht der Großartigkeit. Aber die Problemlösung hebt doch ihre Elemente und deren inneren Widerspruch nicht völlig auf. Er liegt nunmehr darin, daß eine in der Form und konkreten Bemessung und Gestaltung sehr wandelbare Strafe, die von Zweckgesichtspunkten nicht freizuhalten ist, doch zugleich mit einem Moment und Anspruch von Unbedingtheit
|73|
behaftet ist, auf das sie nicht verzichten kann, ohne ihren Grund, ihre Ernsthaftigkeit und Würde zu verlieren. Hier liegt recht eigentlich der Grund für das Gefühl, dem Lange Ausdruck verliehen hat.
Erst im Strafrecht kommt das Problem ganz zur Darstellung, welches im Sippenstrafrecht, in der Friedloslegung und im Bußrecht noch in der Vereinzelung der Gestaltungen vorliegt. Aber es bleibt ein Problem, weil die Unbedingtheit des rechtlich-moralischen Anspruchs, der Übereinstimmung mit der Weltordnung, gleichviel in welchem Sinne, auf der einen, mit der Relativität der Gestaltung auf der anderen Seite nicht einfach miteinander übereinzubringen ist, weil sie in der Antinomie verbleiben. Im Grunde ist hier das Problem des Strafrechts gestellt, welches sich heute wieder mit neuer Schärfe darbietet.
Es ist deshalb nötig, der Lage der Beteiligten noch genauer nachzugehen.
Was tut der Täter, der nicht sofort bei dem Einbruch in den Machtbereich der fremden Sippe, des fremden Volkes, bei der Verletzung des tabus festgehalten und getötet wird? Er flieht, weil er fliehen muß: er geht entweder in unerreichbare Fernen, oder er verschanzt sich hinter der Macht seiner eigenen Sippe. Beides kommt auch heute noch vor: ein Defraudant oder Mörder versucht nach Südamerika oder hinter den eisernen Vorhang zu entkommen, oder der Täter sucht die Deckung der sozialen Macht seines korrupten Verbandes, der mehr oder minder offen die Strafverfolgung hindert, der Aufklärung sich entgegenstellt. Flucht oder Verschanzung ist der Versuch, sich der Identität mit der Tat zu entledigen, dem Anspruch des Verletzten auf Wiedergutmachung, auf Genugtuung, kurz der Mitmenschlichkeit zu entziehen, die in der Verantwortlichkeit liegt.
Genau umgekehrt der Geschädigte. Gerade er macht sich jetzt seinerseits, indem er den Täter verfolgt, von der Mitmenschlichkeit frei. Die Tat dient ihm zur Selbstrechtfertigung gegen denjenigen, der sich als böse und rechtsunwürdig erwiesen hat, der mit dem Rechtsbruch sich selbst aus dem Recht gesetzt hat. Die tiefe Lust der Rache liegt darin, daß der Mensch mit dem Titel des Rechts sich gerade von den Beschränkungen des Rechts, seiner Begrenztheit und Relativität befreien und nun hemmungslos vorgehen kann. Der Geschädigte identifiziert sich gerade mit der Tat, auf der er sein Recht und sein Pathos aufbaut. Nichts ist für den Menschen gefährlicher und versuchlicher, als wenn er durch die Ereignisse gerechtfertigt wird, in die Schwarz-Weiß-Situation gestellt wird — und auf die weiße Seite kommt. Vae victis! Aber mehr noch: vae victoribus! Jetzt kann man jede Gemeinheit, jede Brutalität für Recht ausgeben und immer noch der Wiederhersteller der sittlichen Weltordnung zu sein beanspruchen.
|74|
Es tritt also eine völlige Perversion ein: Der Täter, der Schuldige, löst sich von der Verantwortung für die Tat, von der Identität mit ihr, und der Geschädigte löst sich von dem personalen Band der Rechtsgemeinschaft und identifiziert sich in seiner Rechtsposition mit der Tat.
Die Strafe bringt diese Perversion wieder in das rechte Gleis. Sie verhindert den Täter, sich der Verantwortung zu entziehen, hält ihn auf der Identität mit der Tat fest; sie verbietet zugleich auf der anderen Seite dem Geschädigten, Rache zu nehmen, sich selbst zu entfesseln und in der Gegenwirkung sich auf die Tat zu stellen, sich mit ihr zu identifizieren. Sie führt also beide in die Mitmenschlichkeit zurück. Dies ist freilich nur dadurch möglich, daß sie beiden ihre willkürliche Freiheit nimmt. Sie kann dies aber nur, indem sie auch beiden etwas gibt; es geht nicht umsonst. Sie gibt dem Täter die Möglichkeit, durch eine bestimmte Strafe die Tat abzugelten, und gibt ihm Sicherheit dagegen, daß der Geschädigte auf dem Wege des Rechts noch mehr oder Beliebiges fordert. Sie muß aber auch dem Geschädigten etwas geben: eine Genugtuung, aber auch eine gewisse Sicherheit, daß sich, soweit als möglich, von diesem Täter die Tat nicht wiederholt. Denn sonst kann auch dem Geschädigten der Verzicht auf sein eigenes Vorgehen nicht zugemutet werden. Wieweit die Strafe diese Funktion erfüllen kann, muß man sehr nüchtern prüfen; das ideale und schematische Bild, so notwendig der Aufriß ist, reicht allein nicht aus.
Aus dem Gesagten ergibt sich aber, daß die Strafe nicht ein für sich bestehendes Institut, sondern wesentlich ein Vorgang ist, und zwar ein doppelter, gegenläufiger, von welcher Seite man ihn jeweils betrachtet, also ein ganz bestimmt strukturiertes Geschehen. In dem Maße, in dem die Strafe diesen Vorgangscharakter verliert und dieser nicht mehr verstanden wird, entartet sie. Von einer Jurisprudenz, die den Zusammenhang mit ihrem Ursprung, dem Prozeß, theoretisch und praktisch verloren hat, kann man nicht mehr viel erwarten. Einen berühmten Buchtitel abwandelnd könnte man von der Geburt des Rechts aus dem Geiste des Prozesses sprechen. Der Prozeß ist nicht die kunstvolle technische Veranstaltung zur Verwirklichung des Rechts, scharf geschliffen wie das Skalpell eines Chirurgen, Diagnose und Therapie in einem zu ermöglichen bestimmt, vielmehr ist der Prozeß die Mutter des Rechts. Sobald sich dieses Verhältnis umkehrt, die höhere Theorie des für sich bestehenden Rechts der niederen Praxis des Prozesses, der konkreten Verwirklichung gegenübergestellt wird, können beide, Theorie und Praxis, nur auseinanderfallen, muß die Theorie lebensmäßig unfruchtbar werden, die zweitrangige Praxis sich durch höfliche Nichtachtung an der Theorie rächen.
Jeder dieser Vorgänge ist in sich mehraktig und geht von der spezifischen Lage der beiden Tatbeteiligten, des Täters wie des Verletzten, aus. Wir verfolgen den Vorgang zunächst im Bußrecht.
|75|
Der aus der Rechtsgemeinschaft durch die Tat ausgeschiedene Täter kann sich der Verantwortung entziehen, aber auch, wenn er es für ratsam und vorteilhaft hält, die Wiederherstellung des Rechtsfriedens suchen. Dies ist hier eine grundsätzlich freie Entscheidung. Sie zwingt ihn aber zu Mehrerem. Er muß seine Haftbarkeit (um den späteren Begriff der Schuld zu vermeiden), sein Im-Unrecht-Sein, die Nichtberechtigung der Tat zugeben. Er muß auf dieser Grundlage direkt oder indirekt mit der Gegenseite wieder anknüpfen, und zwar in der Rolle des Bittenden, der etwas, nämlich den Rechtsfrieden, begehrt. Er muß sodann etwas Effektives zum Ausgleich leisten und geht schließlich bei Realisierung der Beilegung das Risiko ein, daß die Gegenseite zwar die Buße nimmt, den Frieden aber nicht gewährt. Hiergegen muß er sich durch Solennitätsakte zu sichern versuchen17.
In der umgekehrte Lage ist der Verletzte. Auch die durch nichts gebundene Rache enthält das Moment der Restitution in sich. Man versucht, sich der Mächtigkeit des Gegners so zu bemächtigen, daß man eben durch diese Zueignung einen Ausgleich für den erlittenen Verlust erreicht. Das ist eine insbesondere dem magischen Realismus geläufige Vorstellung. In den nordischen Sagas kommen Leute vor, die sich rühmen, niemals Bußgelder, Wergeld angenommen zu haben — sie trügen ihre Verwandten nicht im Beutel. Sie ziehen es vor, Blutrache zu nehmen. Ihr Ansehen, ihre Ehre, ihr „Gesicht” ist ihnen über alles Subjektive hinaus ein Stück ihrer Macht, die durch die Tat gemindert, durch die Rache wieder hergestellt, gemehrt, erhöht wird, wie schon im Kainskapitel der Genesis Lamech sich zweifacher Rache rühmt und siebenundsiebzigfache Rache voraussagt. Die Restitution ist zu allererst ein objektiver Vorgang der Satisfaktion, der freilich subjektive Befriedigung hervorruft. Aber auf dem Wege der Rache geht man auch das Risiko des Kampfes, der verzweifelten Gegenwehr des zum Äußersten Gebrachten und seiner Freunde ein. Läßt sich der Geschädigte auf die Bußverhandlung ein, so verzichtet er hierauf und begnügt sich mit einer verhältnismäßigen Ausgleichsleistung, vermeidet aber jenes Risiko. Er läuft nicht so sehr die Gefahr, daß er ohne Leistung die Gegenleistung erbringt; denn er braucht erst nach Zahlung den Friedenszustand herzustellen; aber auch er geht das Wagnis ein, daß der Versöhnungsbereite bei nächster Gelegenheit wieder in Feindschaft ausbricht. Die Lage ist eine merklich verschiedene: Für den Täter ist die Buße das Mittel zur Erlangung des Rechtsfriedens, für den Verletzten ist die Gewährung des Friedens das Mittel zur Erlangung der Buße. Beides kommt also bei beiden vor, aber mit verschiedenem Akzent. Beides läuft auf eine Restitution hinaus; auf die Restitution des Täters in die Rechtsgemeinschaft (personal) und auf die Restitution des Verletzten in seinen früheren
17 Über analoge Strukturen vgl. Dombois: „Naturrecht und christliche Existenz”, Kassel 1952, S. 49ff.
|76|
Besitzstand (sachlich). Buße ist ein Vorgang der wechselseitigen Restitution. Hieran ändert die Wandlung und Erhebung der Buße in die Strafe zwar im Einzelnen sehr viel, im Grundsätzlichen dagegen nichts. Im Grunde sind in diesem archaischen wechselseitigen Rechtsvorgang auch schon die Elemente des modernen Strafproblems enthalten. Wer heute wesentlich auf die Restitution (Resozialisierung) des Täters blickt, dem tritt die Restitution des Rechts zurück; und wer umgekehrt wesentlich auf die Restitution des Rechts sieht, der vernachlässigt die Restitution des Täters. Der Rechtscharakter und der Zweckcharakter der Strafe in ihrer Komplementarität sind schon hier deutlich vorgezeichnet. Die streitenden Standpunkte sind weiter nichts als häretische Vereinseitigungen des Problems. Häresie ist nicht ein einfacher Irrtum, sondern die Absolutsetzung einer erkannten echten Teilwahrheit.
Die Buße wandelt sich durch den Eintritt des Richters in das Verhältnis Täter-Verletzter zur Strafe. Damit tritt die dritte personale Relation des Strafrechts bereits hervor. Bevor wir uns ihr zuwenden, muß der Gedankengang zur Relation Täter-Verletzter noch zu Ende geführt wreden. Oben wurde ausgeführt, daß die dialektische Grundverfaßtheit menschlicher Existenz sowohl die absoluten wie die relativen Straftheorien begrenze und relativiere. Hier wird nun sichtbar, was bei dieser Begrenzung übrigbleibt. Es läßt sich in einem freilich nur scheinbaren Paradox ausdrücken. Gerade die Rechtsstrafe in ihrer scheinbaren Absolutheit hat ihre Wirksamkeit darin, daß sie die Partner des Täter-Verletzter-Verhältnisses wieder in die Relativität einer neuen und erneuerten Rechtsbeziehung hineinführt, die Absolutheit der Trennung durch den Rechtsbruch relativiert und aufhebt. Denn Recht ist wesentlich Relation. Die Zweckstrafe dagegen darf, wenn sie nicht in pädagogische Anmaßung oder terroristische Willkür und Brutalität verfallen will, bei ihrem Versuch der Zurückführung und Resozialisierung des Täters nicht an die Wiederherstellung des Rechts, sei es auch durch eine formalisierte und stellvertretende Genugtuung, vorbeigehen, sondern nur durch sie hindurch. Beides sind nur unterschiedliche Blickrichtungen, nicht sachlich-kontradiktorische Gegensätze.
Wenn hier das Problem auf das Modellverhältnis Täter-Verletzter zurückgeführt ist, so soll damit der Sachverhalt weder auf das Verhältnis von Einzelpersonen eingeengt noch vorzugsweise psychologisch-subjektiv verstanden werden. Im Einzelnen ist immer die Gesamtheit mitverletzt, in der er seinen Rechtsstatus, seinen Standort hat, wie auch immer diese Gesamtheit soziologisch strukturiert ist. In der Gesamtheit ist durch die Störung der Ordnung der Einzelne mitbetroffen. Denn auch in diesen Fällen vollzieht sich der gleiche menschliche Vorgang, nur mit dem Unterschied, daß die verletzte Gemeinschaft selbst die Organe stellen muß, um das Urteil über das beiderseitige Verhältnis zu fällen. Das bedingt, daß der Richter sich auch von der von ihm repräsentierten Gemeinschaft bis
|77|
zu einem gewissen Grade distanzieren muß. Er ist Richter und nicht Rächer. Das kann in verschiedenen Formen geschehen. Im angelsächsischen Prozeß klagt die Krone vor dem — den König repräsentierenden — Richter gegen den Täter. Auf dem Kontinent ist dies in Gestalt der Staatsanwaltschaft funktionalisiert. Aber in der Pflicht des Staatsanwalts, auch die entlastenden Momente zu ermitteln und zur Geltung zu bringen (von der der angelsächsische Staatsanwalt rechtlich und traditionell freigestellt ist), ist über eine formale Konsequenz der Inquisitionsmaxime hinaus diese grundsätzliche Distanzierung erhalten. Daß aber auch auf der Seite der Gemeinschaft als Verletzter dieselben Folgen der Selbstrechtfertigung aus dem Unrecht des Täters erfolgt, kann doch nicht bezweifelt werden. Und diese existentielle Relation erscheint mir als die entscheidende.
Ebenso entspricht dem hier psychologisch dargestellten Vorgang der „objektive” Rechtsvorgang selbst und sollte ihm entsprechen. In der Problematik des Richteramts, der Prozeßrechtsgeschichte und der Entwicklung des Schuldbegriffs werden die sehr tiefen geschichtlichen wir prinzipiellen Gründe sichtbar werden, welche eine solche sinnvolle Gestaltung von innen her in Frage stellen.
Wir gehen damit auf die dritte Relation des Strafrechts über, diejenige zwischen Richter und Täter, innerhalb deren auch das Verhältnis Täter-Verletzter noch einmal hervortreten wird.