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Kapitel 12

Wandel und Unwandelbarkeit der Strafe —
Zur Revision des Geschichtsbildes im Strafrecht

Edmund Mezger widmet in seinem Lehrbuch des Strafrechts der Geschichte seiner Disziplin längere, freilich klein gedruckte Kapitel. Der größte Teil dieser Darstellung umfaßt die positive Geschichte des Strafrechts und die Entwicklung der modernen Strafrechtstheorie. Entstehung und Grundlagenproblematik werden auf nur einer Seite abgehandelt. Er beschränkt sich hier darauf, das zusammenfassende Werk von Hippel zu zitieren und übernimmt im übrigen als zentrale These Sätze von Gerland, die er wie folgt wiedergibt35:

„Strafrecht ist, wie jedes Recht, erst im menschlichen Gemeinschaftsleben möglich; denn Recht ist seinem Wesen nach Gemeinschaftsregelung, also ein soziales Phänomen. Aber verständlich ist es hinwiederum nur aus den unbewußten Triebgrundlagen des primitiven Rachegefühls, in dem man zutreffend eine Projektion der Persönlichkeitsvorstellung nach außen gesehen hat; erst dieser „Reaktivismus des Gefühls” läßt den späteren „Rationalismus der Reflexion” in der Zweckstrafe zur Entwicklung kommen.”

Mir scheint, daß hier stillschweigend eine weitreichende Entwertung der Geschichte vollzogen wird. Denn das bloße „reaktive Gefühl” ist gegenüber der reflektierenden Vernunft rationaler Rechtsfindung inferior, im besten Fall eine durch grundsätzliche Überwindung längst belanglos gewordene Vorstufe. Die Geschichte spaltet sich. Soweit sie zur Erklärung vorfindlicher Rechtseinrichtungen herangezogen wird und werden muß, leistet sie den praktischen Dienst, die konkreten Besonderheiten verstehen zu lehren, die an sich ohne Bedeutung, aber nun einmal nicht zu übersehen sind, die aber ebenso auch durch bessere Lösungen jederzeit abgelöst werden können. Die andere Seite dieser Geschichte ist der endgültige Aufstieg zur Vernunft. Geschichte, die eine lebensmäßige Bedeutung hat, gibt es nicht. Oder — was auf dasselbe herauskommt — das Wesentliche dieser Geschichte hat sich schon dergestalt vollzogen, daß in bedeutender Hinsicht ein Endgültiges erreicht ist: Der Mensch ist vom Gefühl zur Vernunft, aus ungeklärter, ungesteuerter Dumpfheit triebhafter Vorzeit zur Helligkeit des Wachbewußtseins, zur vernünftigen Gegenwart und gegenwärtigen Vernunft emporgestiegen. Diese Geschichte liegt hinter ihm; was nun kommt, ist höchstens die Überwindung der Reste der vorrationalen Vergangenheit und der Gebrauch, die Gestaltung der vernünftigen Freiheit.


35 Mezger: „Strafrecht”, 3. Aufl., 1949, S. 10.

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Die Haltung Mezgers trägt im Gegensatz zum Fortschrittsoptimismus Gerlands ausgesprochen resignierte Züge: Für die gegenwärtige Problematik, die allzu groß ist und den Menschen bedroht, hilft uns auch keine Geschichte etwas. Warum die Dinge noch komplizieren! Wenn schon die Gewinnung eines zulänglichen rationalen Strafrechtssystems solchen Schwierigkeiten gegenübersteht, wenn der Glaube an ein geschlossenes System des rationalen Weltbildes geschwunden ist, warum dann auch noch die erst recht problematische Perspektive der Zeit, der Entwicklung noch hinzunehmen? Der Optimismus ist geschwunden, die Entwertung der Geschichte ist geblieben. Welch ein Ende einer Disziplin, die neben der Geschichtsschreibung selbst sich im hervorragendsten Maße als eine historische verstand! Mit einem Satz hat ein führender Dogmatiker die Bemühung eines Jahrhunderts abgetan und preisgegeben.

Bei Gerland sieht es noch anders aus. In einem ausführlichen, freilich auch schon im Kleindruck eingeschränkten Einleitungskapitel unternimmt er es, eine geschichtlich-psychologische Ableitung für die Entstehung des Strafrechts zu geben und daraus den gegenwärtigen Stand im grundsätzlichen Sinne verständlich zu machen. Die bei Mezger zusammengefaßten Begriffe Gefühl und Vernunft als tragende Gedanken bilden die Achse seiner Darlegung. Aber sein Schluß aus alledem ist ein völlig anderer, ja eigentlich entgegengesetzter. Strafe ist, so definiert er ein für allemal, tatgemäße Übelzufügung. Dann aber fährt er fort: Sowohl die Intuition wie die Vernunft kommen zu diesem gleichen Ergebnis. Dieser für Gerland entscheidende Gedanke ist erstaunlicherweise bei Mezger unversehens fortgefallen. Dessen Zitat wird kaum ein Leser anders verstehen als im Sinne eines inhaltlichen Fortschritts und Aufstiegs. Erst wenn man die Gerlandschen Ausführungen liest, sieht man, wie vorsichtig Mezger formuliert hat. Er läßt offen, worin der Fortschritt liegt, ob im Ergebnis oder in der Erkenntnismethode. Gerland jedoch meint eindeutig nur das letztere und spricht es auch aus. Was in den 30 Jahren zwischen beiden Büchern weggefallen ist, ist klar, und darauf allein kommt es an: Es ist die idealistische Rechtsmetaphysik zeitloser Ideen, die sich als vorgegeben immer wieder durchsetzen, mögen die Erkenntnis- und Darstellungsmethoden so oder so, besser oder schlechter sein. Der Inhalt der Geschichte ist die Entfaltung der Idee, welche in frühen Zeiten noch nicht vollständig war.

Ja, man fragt sich, ob es eigentlich jemals Strafrecht gegebne hat. Das ältere Strafrecht, der Form und dem Anspruche nach Recht, ist doch wesentlich bestimmt durch die ungeklärten ungesteuerten Triebmomente des reaktiven Gefühls. Dieses Recht ist eigentlich noch nicht Recht. Die neuere Zweckstrafe setzt dagegen voraus, daß der Mensch gelernt habe, wie Gerland selbst sagt, seine Gefühle durch den Verstand zu beherrschen. „Denn auch beim entwickeltsten

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Individuum sind . . . die Gefühlsvorgänge vorhanden und können beobachtet werden (!)36.” Ist also nunmehr die Strafe wesentlich vernünftiger Zweck und deshalb zugleich zweckhaft verfügbar, so fragt sich, ob sie noch Recht ist. Denn mit dieser Verfügbarkeit wird der Charakter des unverbrüchlich Richtigen in Frage gestellt. Gerland lebt in einer Zeit, in der das Zweckstrafrecht noch nicht durch radikale Konsequenz an seine Grenze gelangt war. Demgegenüber ist es die gemeinsame Erkenntnis der heutigen Reformbestrebungen, daß ein reines Zweckstrafrecht zur Bewältigung des Phänomens wie zur Erfüllung seiner sozialen Aufgaben nicht ausreicht.

Hält es aber Mezger aus solchen Gründen nicht für notwendig, daß seine Leser sich an seiner Hand mit der Problematik der geschichtlichen Grundlagen und nicht nur am nackten Stoff sich mit der Strafrechtsgeschichte auseinandersetzen, meint er, seine Auffassung auch so zulänglich darstellen zu können, so müssen wir uns mit Gerland befassen, für den diese Geschichte noch eine wirkliche Bedeutung hat. Bei ihm fällt eine einigermaßen umständliche psychologische Ableitung für die Entstehung der Strafe auf, die stark an die Aufklärungspsychologie des 18. Jahrhunderts erinnert. Es handelt sich im alten Strafrecht vor allem un die Gestaltung des magischen Strafrechts, sachlich um das Problem der Vergeltung, dem Gerland seine psychologischen Bemühungen widmet. Im Ganzen macht er den Versuch, die Vergeltung als psychologische Reaktion zu erklären, welche sekundär unzulänglich reflektierte Gedanken und Rechtsvorstellungen erzeugt habe, die erst durch die Erhebung zur vernünftigen Rechtsbildung überwunden seien. Trotzdem unterscheidet er sich im Ergebnis nicht allzusehr von den Ergebnissen jenes Rechtsdenkens. Dies deutet der Begriff Intuition an. Intuition ist weit mehr als bloßes Gefühl. Es enthält das Moment der echten Seinsanschauung (intueri [lat.], theorein [griech.]), welche ohne hinreichendes rationales Reflektionsvermögen durch unbewußte Steuerung doch den Kern des Rechtes zu erfassen vermag. Bloßes Gefühl dagegen ist ebenso steuerlos wie eine kritisch ungeschulte Vernunft. Der Begriff der Intuition enthält also eine sehr starke positive Wertung, die sogar zur Überwertung führen kann. Dies vermeidet freilich Gerland.

Die Grundthese ist also, daß das alte — gedacht ist wesentlich an das magisch-reale — Strafrecht der vernünftig freien Zweckhaftigkeit entbehre und deshalb, wenn auch im Ergebnis vom „Richtigen”, von der Idee nicht sosehr entfernt, doch auf den Emanation und Reaktionen des Gefühls beruhe.

Bei alledem ist zunächst merkwürdig, daß ein Jurist vom Range Gerlands den Rechtsgedanken der Restitution gar nicht wesentlich im Auge hat und den Umweg über eine jenseits des Juristischen liegende Psychologie einschlägt.


36 Deutsches Strafrecht, S. 30 Anm. 2.

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Ist es bloßes „reaktives Gefühl”, daß die schädliche Tat nach einem Ausgleich rufen läßt, daß aus der Tat Ansprüche an dem Täter entstehen — wie auch immer sie verstanden und verfolgt werden —, oder ist es ein elementarer Rechtsgedanke? Wir schlagen ja auch keine komplizierten psychologischen Umwege ein, um die bürgerlich-rechtliche Schadenersatzpflicht, um Haftungsverhältnisse aller Art für schädliches Verhalten zu begründen. Jene Art der Betrachtung zeigt, daß hier eine Trennung von Strafe und Schadensersatz schon vorausgesetzt wird und zugleich eine begriffliche Abstraktion den Strafbegriff zu einem absoluten gemacht, d.h. von den Beteiligten, Täter, Verletzter, Richter, abgelöst hat. Diese Anschauung ist in hohem Grade geschichtlich bedingt; sie setzt diese geschichtliche Gestaltung absolut und beruht auf mehr als einer petitio principii.

Da Gerland nun offensichtlich kein Verhältnis zu den Strukturen des Denkens hat, die jenen Formen des Strafrechts zugrunde liegen, muß versucht werden, diese wenigstens in Kürze für unser Gebiet nachzuzeichnen. Ich folge hier wesentlich Gerardus van der Leeuw (Phänomenologie der Religion) und Leopold Ziegler (Überlieferung), deren auf juristische Fragen kaum abzweckende Werke gerade für den Juristen höchst aufschlußreich sind.

Der magische Mensch lebt in einem sehr weitgehend durchdachten, vielgestaltigen und komplizierten Weltbild. Er verfügt über ein bedeutendes mathematisches und astronomisches Wissen. Sein Weltbild, seine Vorstellung von der Welt und seiner Stellung in ihm ist alles andere, nur nicht primitiv, im Gegenteil eher so kompliziert, daß die Nachzeichnung auch heute noch nicht ganz gelingt. Aber es beruht auf bedeutenden geistigen Leistungen. Konkrete und fleißige Naturbeachtung und weitreichende Spekulation treffen sich in einem zentralen Gedanken: dem der Entsprechung, der Analogie und Korrespondenz. Makrokosmos und Mikrokosmos entsprechen einander und beeinflussen einander unausgesetzt wechselseitig. Nicht allein die allgemeinen Ordnungen bestimmen die besonderen und die Lage des einzelnen. Auch das einzelne, das Handeln in ihm, das richtige wie das falsche, beeinflussen das Ganze und lassen es reagieren. Er benutzt nicht nur wie der rationale Mensch die vorfindlichen, unveränderlichen, experimentell erprobten Gesetze. Er macht nicht zuerst nach, Er macht vor. er ahmt nicht nach, er ahmt vor. Noch heute zeichnen die australischen Zwergvölker im Sande das gesuchte Wild ab, durchbohren die tödliche Stelle, suchen dann das Wild auf, treffen es an Ort und Körperteil, den sie vorgebildet, nicht abgebildet haben. Der Bauer besprengt das Feld, um den Makrokosmos anzuregen, dies durch fruchtbaren Regen nachzumachen. Überall sieht sich der Mensch in Bezügen seines kleinen Lebens zu großen kosmischen Geschehnissen; dem Lauf der Gestirne, der

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ganzen Weltordnung, als eines gewaltigen, geordneten Geschehens. Aber eingespannt in diese Bezüglichkeiten, hört er dennoch nicht auf oder hat er dennoch gelernt, diesen auch gegenüberzustehen,in ihnen nach ihren Gesetzen zu wirken. Auch er kennt Verknüpfung von Ursache und Wirkung, wobei der Grad der Sicherheit des Eintreffens nicht jene lückenlose Determination einschließt, welche selbst die heutige Physik nur noch innerhalb gewisse Bereiche annimmt und grundsätzlich als statistische Größe ansieht. Diese Verknüpfung von Ursache und Wirkung ist hier freilich nicht mechanisch vermittelt, sondern abbild-vermittelt. Will er also in einer durch Vorbild und Nachbild, durch Korrelation von Bildern und Geschehnisabläufen verbundenen Welt etwas wirken und erreichen, so muß er selbst zum Bild greifen, vorbilden oder in unseren Sprachgebrauch abbilden.

Dieser Mensch begegnet nun ebenso wie der moderne dem Schädlichen, dem Verbrechen. In irgendeiner Weise bedeutet das Verbrechen immer eine Verletzung, einen Einbruch in den Rechtsstand, eine Störung und Zerstörung, gerade auch dort, wo ein tabu verletzt wird. Denn wer etwa unbefugt in einen geheiligten Tempelbezirk eindringt, stört und entmächtigt das, was nicht gestört und entmächtigt werden darf, und dessen Störung zugleich die unheilvollsten Wirkungen auslöst. Wer dem einzelnen sein Totem, sein Amulett, seine Medizin wegnimmt, nimmt ihm in tödlicher Weise den wesentlichen Teil seiner Existenz, der darin verkörpert ist. Auch der übrige Besitz des Menschen ist so von seinem magischen Feld her durchdrungen, in dieses einbezogen, daß der Angriff auch immer ein Angriff auf die Person ist. Person und Sache sind noch nicht in dem heutigen Sinne des kausalen Verhältnisses von Subjekt und Objekt getrennt. Über das Verhältnis von Mensch und Sache und seine rechtsgeschichtliche und geistesgeschichtliche Entwicklung habe ich in meinem Aufsatz „Mensch und Sache”37 gehandelt.

Welchen Weg beschreitet nun der magische Mensch, um den gegenwärtig schon eingetretenen Schaden zu beseitigen, den zukünftigen zu verhindern? Auch er ist Subjekt genug, um diese höchst vernünftige und zweckmäßige Erwägung anzustellen. Er kann dies aber nur in den Vorstellungen von Ursache und Wirkung praktisch versuchen, die für ihn gültig sind. Ein bloßes reaktives, gefühlsmäßiges Gegenschlagen nützt ihm gar nichts. Er lebt nicht in einer mechanisch verstandenen Welt. Insofern ist schon die Annahme eines bloßen reaktiven Gefühls eine Verkennung des Tatbestandes. Mit der Störung ist die Ordnung gestört, und zwar eine rechte, gesunde Ordnung, zugleich mit der mikrokosmischen aber die jene bestimmende und garantierende makrokosmische Ordnung der Welt.


37 Z. f.d. ges. Staatswissenschaft 1954, S. 239f.

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„Viele Völker des Altertums kennen die Vorstellung eines Weltweges, der aber nicht so sehr begangen wird, als er vielmehr selber geht, der nicht eine abstrakte Gesetzmäßigkeit ist wie unsere Naturgesetze, sondern vielmehr eine lebendige, sich in der Welt auswirkende Kraft. Tao bei den Chinesen, Rta in Indien . . ., Dike in Griechenland sind solche Ordnungen, die zwar theoretisch die Gesamtrechnung der Welt ausmachen, dennoch aber als lebendige und unpersönliche Mächte manaartigen Charakter haben38.”

Das Recht ist von der Phänomenologie der Religion nicht abzulösen39.

Dies zeigt sich insbesondere dadurch, daß hier schon in diesem kosmologischen Zusammenhang der Begriff der dike und damit das griechische Wort für Recht auftritt. Ich halte es nicht für zulänglich, die Geistesgeschichte des Rechts als Philosophiegeschichte in dem Sinne darzustellen, daß man mit der Rechtsphilosophie oder einer ihr vergleichbaren theologischen Rechtslehre einsetzt, wie sie etwa aus dem Alten Testament erhoben werden kann. Dies ist eine Verwechslung von philosophischer Besinnung und geistiger Wirklichkeit, welche der vorphilosophischen Geistigkeit der Menschheit auf dem Wege einer petitio principii die Bedeutung abspricht.

Die Weltordnung ist, bedeutet und garantiert das Recht. Um das gestörte Recht wieder herzustellen, nützt ein wütendes Einprügeln auf den Täter noch weit weniger, als man Kinder durch fortgesetztes Schlagen erziehen kann, es nützt nämlich überhaupt nichts. Der verletzte Mensch muß vielmehr, um die Rechtsordnung und damit die Weltordnung wieder herzustellen, streng den Weg des Rechts beschreiten, der identisch ist mit der abbildlich-kausalen Verknüpfung der Mächte und Gewalten. Der Tat wird „begangen” — auch nach unserer heutigen Redeweise. Aber sie wird in ihrer Schädlichkeit ebenfalls durch eine Begehung, durch einen Prozeß im strengen Sinne aus der Welt geschafft und bereinigt. Der strenge Realismus des alten Rechts beruht nicht auf der Unfähigkeit zur Ausbildung abstrakter und geistiger Formen, sondern ist sachgemäß, solange das kosmische Weltbild streng geordneter Abläufe und Korrelationen in Wirksamkeit ist. Der gelehrte Geschichtsschreiber des Naturrechts Flückiger etwa ist, wie die meisten heutigen Juristen, von einem humanistisch-rationalen Weltbild aus ganz außerstande, den Sinn dieser Vorstellung von der Weltordnung zu erfassen. Überall erscheint ihm der Ritus im Recht ebenso wie Gerland abstrus und sonderbar. In Wahrheit ist dieser angebliche weiße Fleck auf der Landkarte der Geistesgeschichte der


38 Van der Leeuw: „Phänomenologie der Religion”, S. 10/11.
39 Vgl. auch Dombois: „Naturrecht und christliche Existenz”, S. 12ff.

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Menschheit längst erforscht und vermessen. Entspricht aber die eine Begehung der anderen Begehung, so ist die einfache Folgerung, daß die erstrebte restitutio in integrum durch einen realen Vollzug bewirkt wird und werden muß. Es ist also ganz verfehlt, in dem Satze „Auge um Auge” einen Ausdruck der Rachsucht zu entdecken. Es ist die Korrelation von Tat und Ausgleich in einer bestimmten realen Form. In diesem Vorgang des Ausgleichs macht die reale oder symbolistische Abbildlichkeit nur eine Form aus, so das Abhauen der Hand, das Ausreißen der Zunge. Wesentlicher ist die Realität und Gleichwertigkeit des Vollzuges, die Zufriedenstellung durch einen ausgleichenden Machterwerb im Rechtsvollzuge. Realismus und Symbolismus schließen sich gegenseitig nicht aus. Eines jedoch ist wesentlich:

Strafzweck und Strafvollzug, aber auch Strafzweck und prozessualer Rechtsvorgang decken sich völlig. Der Zweck kann nur durch die Abbildung erfüllt werden, diese erfüllt ihn aber nach menschlichem Ermessen auch. Freies Zweckhandeln und Unbedingtheit religiös-sakraler Verpflichtung fallen so in eins zusammen, daß sie nicht getrennt werden können. Es gibt aber auch keine für sich bestehende Rechtsmetaphysik und Rechtsidee, die ausschließlich um ihrer selbst willen vollzogen wird, noch ein bloßes Zweckhandeln des Menschen, der als rechtlich Handelnder irgendwie unabhängig sein könnte von der Gesamtordnung der Welt, die ihr Recht fordert. Es findet kein Gegensatz statt zwischen Zweck und Seinsordnung, zwischen Mensch und Gesamtweltordnung, aber auch nicht zwischen Vollzug und Erfolg, zwischen Innen und Außen. Dieses Denken gehört einer ungespaltenen Welt an, welche weder ein Einerlei belangloser Wirkungen noch ein Chaos, sondern ein Gefüge von Entsprechungen ist. Die hier entworfene Skizze kann naturgemäß nur ein knapper Hinweis auf einen vielfältigen und tiefgründigen Tatbestand sein.

Die Bedeutung des Gesagten wird aber erst deutlich durch den Vergleich mit dem modernen rationalen Strafrecht, eben jenem, welches sich nach Gerland und Mezger aus dem Strafrecht der Reaktion, richtiger demjenigen realer Entsprechungen entwickelt hat. Der Übergang von einem zum anderen hat sich sehr langsam in Jahrhunderten vollzogen. Diese Entwicklung hat Mischformen und Mißbildungen mit sich gebracht, welche die Herausschälung des Wesentlichen sehr erschweren.

Auch das moderne Strafrecht ist nur verständlich auf dem Hintergrunde des Weltbildes, das für uns gültig ist. Es ist erst zur vollen Entfaltung gekommen mit dem Weltbild der klassischen Physik, also erst vom 17. Jahrhundert an. Der rationale Zweckgesichtspunkt tritt jetzt kräftig hervor, wie auch immer die Zwecke umschrieben werden. Wichtiger sind die jetzt verwendeten Mittel. Sie beruhen auf einer spezifischen Verknüpfung von mechanischen und psychologischen Einwirkungen. Das menschliche Subjekt, in diesem Falle

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der Täter, ist getrennt von dem Objekt seines Handelns. Soll also im Sinne der Wiederherstellung etwas erreicht werden, so muß auf das Subjekt, sein Bewußtsein und seinen Willen eingewirkt werden. Die reale Abbildlichkeit der Strafe verliert ihren Sinn, weil und soweit sie nicht auf die subjektive Innerlichkeit des Täters bezogen, sondern wesentlich objektiver Vollzug ist. Wiederum handelt das Strafrecht unweigerlich nach den Kausalitätsvorstellungen, die für uns gültig sind. Es stößt den Menschen nach mechanische Mittel soweit an, als Aussicht besteht, daß dieser Anstoß sich in Bewußtsein und Willen des Menschen umsetzt. Es ist mechanisch und psychisch zugleich vermittelte Kausalität, wobei die Abwägung und das Verhältnis beider erheblich wandelbar ist. Die Strafformen gehen immer stärker von der Leibesstrafe zur Freiheits- und Geldstrafe über. Diese beiden haben große Ähnlichkeit: Sie sind beide quantitativ meßbar und teilbar, nicht einzigartig und bildhaft wie die körperliche Strafe. Beide bedeuten in gleicher Weise einen Verlust der Freiheit, weil auch die Geldstrafe als mildere Form den Verurteilten zwingt, sich zum Ersatz des Verlorenen zu bemühen, mindestens auf Bewegungsmöglichkeiten insoweit zu verzichten. Die regelmäßige Strafe, die auf Bewußtsein und Willen einwirken soll und, durch direkte psychische Beeinflussung nur ergänzt, nicht grundsätzlich ersetzt werden kann, bedeutet also immer einen Freiheitsverlust, einen Verlust an Möglichkeit autonomer Selbstbetätigung, Macht und Lebensgestaltung. Dies wird ganz im Rahmen des kausalen Weltbildes gedacht, in welchem die beobachtende und handelnde Innerlichkeit des Menschen der äußeren Kausalität des Geschehens grundsätzlich getrennt gegenübersteht, nicht mehr in sie wesentlich eingespannt ist. Die mechanische Beeinflussung findet anderseits ihre Sinngrenze dort, wo sie nur als solche wirkt und die subjektive Innerlichkeit und Spontaneität des Verurteilten aufhebt. Das gilt sogar für pädagogische Maßnahmen, wo diese einen gewissen Grad der geleiteten Abhängigkeit überschreiten. In dieser Trennung von Innen und Außen ist das moderne Strafrecht spiritualistisch. Dieser Spiritualismus ist immer das Spiegelbild des kausalen Denkens. Zugleich entsprechen sich kausales und ethisches Denken wie Außen und Innen.

Damit verändert sich ebenso zwangsläufig der Horizont dieses Strafrechts. Die ontische Kategorien gehen in ethische über. Nicht mehr die Störung der Seinsordnung, sondern die Verletzung der Rechtspflicht ist jetzt der Grundgedanke. So rechtfertigt sich auch der früher schon angedeutete Satz, daß das Schuldproblem erst eine Abzweigung des allgemeinen Verhältnisses von Mensch und Sache, Mensch und Tat, Mensch und Welt ist, welches erst im Laufe der geistesgeschichtlichen Entwicklung dieses Verhältnisses auftreten kann. Dieses Problem teilt auch das Schicksal seiner Entartung in einer völligen Trennung von Schuld und Kausalität. Dies muß an anderer Stelle noch weiter entfaltet werden.

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Hier interessiert eine andere Beobachtung. Das moderne Strafrecht steht wesentlich unter dem Zweckgesichtspunkt psycho-physisch, nicht abbildlich vermittelter Kausalität. Aber seine morphé, seine Gestalt, zeigt eine erstaunliche Ähnlichkeit mit dem realen Strafrecht der alten Zeit. Die Mittel und die Vorstellungsweisen, das Weltbild, haben sich gänzlich verändert — geblieben ist die Korrelation als formale Struktur. Auch heute verliert der Täter in der Strafe immer noch an körperlicher oder ökonomischer Freiheit so viel, als er sich in der Tat angemaßt hat.

Es geschieht nämlich noch heute genau das gleiche, was im Vergeltungsstrafrecht der altrechtlichen Talion vollzogen wurde, nur an einem anderen Ansatzpunkt: am Willen. Der Überhebung angemaßter Selbstmächtigkeit entspricht nach wie vor die Entmächtigung des Täters. So viel falsche Freiheit wir uns genommen haben, so viel Freiheit büßen wir durch die Strafe der Einschließung wieder ein. Wo diese durch Geldstrafe ersetzt wird, müssen wir oft ebensoviel Bewegungsfreiheit und Entfaltung unseres Lebens entbehren. Dem Wellenberg der Überhebung entspricht nach wie vor das Wellental der Entmachtung. Daß dieses eherne Gesetz von Aktion und Reaktion auch psychologische Folgen hat und unter diesen betrachtet werden kann, ist klar. Aber diese psychologische Seite gehört in den Komplex hinein, ist nicht ihr Grund oder Zweckmotiv; auch nach der Subjektivierung des Strafbegriffs, der durchgängigen Beziehung auf den Willen kann vielmehr das Phänomen der Strafe als vorgegebener Wirklichkeit schlechthin nicht aufgehoben werden. Wer einmal eine abgegrenzte Menschengruppe bei der Ausübung strafrechtlicher Gewalt sich gegenüber gehabt hat wie ein Truppenkommandeur oder der Richter eines ganzen Bezirks, wird wissen, wie sehr jeder Fehler der Strafrechtspflege, sei es Schwäche oder falsche Strenge, gespürt wird und sich auswirkt, aber er wird nicht glauben, dies nur psychologisch deuten zu sollen. Der Vorgang, der sich hier vollzieht, ist sehr viel umfassender. Die rechte Wirkung hängt schlechthin davon ab, daß das Verhältnis von Wirkung und Gegenwirkung im Urteil richtig bestimmt wird40.

Es ist also tatsächlich falsch, dem alten Strafrecht lediglich reaktiven Handeln, kein Zweckdenken zu unterstellen. Es ist ebenso falsch, dem modernen Strafrecht wesentliche Zweckgesichtspunkte zu unterlegen und die Unaufhebbarkeit des Korrelationsmoments zu verkennen. Beide Momente sind in beiden Epochen da. Aber ihr Verhältnis ist ein anderes. Im realen Strafrecht decken sie sich völlig, und für den Blick tritt der Realcharakter wesentlich hervor. Im modernen Strafrecht stehen beide Momente in ständiger Spannung; der Zweckgesichtspunkt, der ethisch-normative Typus, der Forderungen aufstellt, damit sie frei verwirklicht werden, tritt so hervor, daß die Vorgegebenheit und innere Zwangsläufigkeit des Korrelationsschemas weitgehend verdeckt wird. Beide fallen so weit


40 Hochland, aaO. S. 353.

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auseinander, daß eine konservative Strafrechtstradition sich dem opus operatum des Vollzugs sehr weit nähert, die umgekehrten Zwecktheorien in der Gesamttendenz mit der geschilderten Zwangsläufigkeit zur Auflösung des Rechtscharakters und damit zur Auflösung des Phänomens selbst kommen. Recht und Zweck finden nicht mehr zueinander, sondern stehen gegeneinander. Zwischen objektivierender Verhärtung und subjektivierender Auflösung wird das Problem zerrieben.

Das Ergebnis dieser Betrachtung ist also scheinbar nicht so sehr weit von demjenigen entfernt, zu dem Gerland im Gegensatz zu Mezger kommt. Intuition und Ratio kommen zu gleichem Ergebnis. Genauer gesehen ist es indessen anders. Die Intuition ist in Wahrheit eine spekulativ weit durchgebildete Vorstellung von der Entsprechung von Tat und Strafe, während die moderne Theorie mehr als Bewahrer einer nur behaupteten, aber wesentlich tradierten Rechtsüberzeugung fortlebt und keinen Ausgleich mit dem Zweckgedanken findet. Wo dieser letztere stärker hervortritt täuscht man sich darüber, in welchem Maße das Strafrecht mit einer gewissen Automatik dieses Korrelationsgesetz vollzieht und immer wieder durchsetzt. Dies wird insbesondere verkannt, wo man meint, nach irgendwelchen neueren psychologischen Methoden die Grundstruktur der Strafe aufheben zu können. Auch wenn man mit den Vorschlägen der UNO jede Bewachung in den Haftanstalten beseitigt und alles auf die Freiwilligkeit stellt, so bleibt doch der Tatbestand des Freiheitsverlustes bestehen, ohne den der Strafcharakter entfällt.

Anderseits unterscheiden wir uns mit diesen Feststellungen sehr scharf von jeder idealistischen Rechtsmetaphysik im Sinne von Kant und Hegel, welche die Idee des Rechts irgendwo zwischen Himmel und Erde als ein Wesen für sich annehmen müssen. Das sind Abstraktionen, die das Gemeinte nun gerade aus den Bezügen von Mensch und Tat, von Mensch und Mensch, von Gesamtrechtsordnung und Einzelfall, von Sein und Verpflichtung herauslösen. Sie stellen sich uns heute in einer grundsätzlich anderen Weise als Relationsschemata und Vorgänge dar. Damit sind wir den älteren Vorstellungsweise, so unvollziehbar sie inhaltlich ist, in der Denkstruktur sehr nahe gerückt. Spengler und Toynbee haben es ausgesprochen, daß wir unseren Großvätern näher sind als unseren Vätern. Der Geschichtsbruch dieser Zeit ist nicht rückgängig zu machen. Mit der Schärfe des Blicks, welche Kinder für ihre Eltern haben, muß man dabei auch sagen, daß die bisherige Strafrechtstheorie hinsichtlich des sie konstituierenden Welt- und Geschichtsbildes sich in erstaunlichem Maße im Stande unreflektierter Unschuld, um nicht zu sagen der Bewußtlosigkeit befunden hat und befindet. Denn erst auf Grund der hier versuchten Bereinigung des Geschichtsbildes kann die doppelte Frage nach den wirklichen,

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grundsätzlichen Wandlungen des Strafrechts und nach dem Wesen der Strafe als Machtausgleich gestellt werden, auf welche man bisher mit geschichtlichen Selbsttäuschungen auf der einen, mit Tautologien auf der anderen Seite geantwortet hat.

Bedauerlich ist, daß auf diesem Gebiete der Theologie uns nahezu völlig im Stich läßt. Wiewohl sie sich auf die Heilstatsache des stellvertretenden Strafleidens gründet oder doch gründen sollte, wiewohl sie so viel von Strafe, Gnade, Buße und Sühne zu handeln hat oder hätte, hat sie alles dies in einem solchen Maße in die geistliche Sphäre verwiesen, daß für die Frage des weltlichen Strafrechts nicht allzuviel übriggeblieben ist. Auch hier zeigt sich die gleiche Spiritualisierung und Ethisierung. Ein sehr schätzenswerter Professor der Theologie konnte auf einer Juristentagung die Frage eines Richters, was sich in der weltlichen Strafe eigentlich vollziehe, als überraschend und neu bezeichnen. Die theologischen Ethiken aller Richtungen und durch mehrere Generationen betrachtet bieten auch nicht wesentlich mehr dar, als ein leidlich grundsätzlich denkender Jurist sich auch allein sagen kann, ohne von der Heiligen Schrift belehrt zu sein. Die Vorstellung, daß der durch den Glauben Gerechtfertigte alle Dinge in Freiheit handhabe, haben den Blick dafür nahezu vollständig ausgeschlossen, daß es sich hier um ganz spezifische Beziehungen handelt, denen ein unverfügbarer und unablösbarer existenzieller Gehalt innewohnt. Als unbeabsichtigte Folge führt diese Position in ihrer Weise in das Subjekt-Objekt-Schema hinein.