So tief nach alledem das materielle Strafrecht mit der Grundverfassung menschlicher Existenz verknüpft ist, so erschöpft doch diese Sicht noch nicht einen Problembereich, der in der Moderne wie in allen Zeiten der Zivilisation als besonders wichtig hervorgetreten ist. Gerland schrieb vor 30 Jahren, die Geschichte des Strafrechts sei nicht so sehr diejenige der Tatbestände als die der Reaktionen. Die Tatbestände seien trotz aller zeitlichen und nationalen Unterschiede erstaunlich gleich. Schon der Dekalog enthalte eigentlich alles, womit sich noch heute der Strafrichter befasse. Die Bedeutung dieser relativen Gleichartigkeit ist eigentlich noch nicht recht gewürdigt worden. Die These von der annähernden Vollständigkeit des traditionellen Strafrechts ist dagegen längst falsch geworden. Das Recht des Verkehrs und der Organisation und dit damit verbundenen Strafvorschriften breiten sich zu immer größerer Bedeutung aus. Zu dieser Frage sagt Adolf Arndt8:
„Dieser aristotelische Dualismus wirkt sich bis in die Gegenwart äußerst folgenschwer beispielsweise darin aus, daß — a priori und axiomatisch — zweierlei Qualität unserer Rechtssätze unterstellt wird: ein gleichsam ursprünglicher traditioneller, klassischer Kernbestand, zu dem insbesondere die Eigentumsordnung und bestimmte Teile des Strafrechts gehören, die in einer wesenhaften und radikalen Weise als moralgeladen behandelt werden, anderseits ein Neubestand an vermeintlichem Kunstrecht, namentlich Wirtschaftsbestimmungen, Steuervorschriften, Verkehrsregelung, nicht zuletzt aber die Staatsverfassung. An dieser Stelle begegnen wir jener doppelten Rechtsmoral, die den großen Steuerbetrüger so anders ansieht als den kleinen Dieb, den gewissenlosen „Verkehrsmörder” soviel
8 Adolf Arndt: „Rechtsdenken in unserer Zeit — Positivismus und Naturrecht”, Tübingen 1955, S. 16f.
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glimpflicher als den tragisch verzweifelten Totschläger, den Bankrotteur soviel empörter als den volksverderbenden Feind der Demokratie.”
Dieser polemische Absatz ist bei Arndt eingesprengt in einen sehr umfassenderen Gedankengang. Er wendet sich gegen einen bestimmten philosophischen Dualismus, der Leib und Seele, Recht und Ethik, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit usw. gegeneinanderstelle. Er fragt, ob nicht die Zeit reif sei, dieses Trennungsdenken zu überwinden. Der oben zitierte Absatz und das in ihm angerührte Problem und Beispiel ist aber hier mehr eingeschoben und selbst nicht zu Ende geführt. Die Frage ist aber systematisch und praktisch so dringlich, daß sie hier ihren Platz finden muß.
Arndt fügt diesen Ausführungen ohne besondere Kommentierung zwei annähernd gleiche Beispiele von besonders schwerer verkehrsfahrlässiger Tötung an, in denen ein deutsches Gericht 2 Jahre 9 Monate Gefängnis, ein amerikanisches Militärgericht 8 Jahre Gefängnis verhängt habe.
In diesen Ausführungen ist die eigentlich zentrale Frage von anderen Momente so überdeckt, daß man sich die Mühe machen muß, sie erst einmal herauszulösen.
1. Zunächst sind die Beispiele wenig geeignet. In Deutschland rechnet man im allgemeinen mit der Verbüßung der vollen Strafe oder mindestens ihres Hauptteils, soweit nicht eine verderbliche Gnadenpraxis einreißt, welche vor 1933 nicht unwesentlich zur Durchsetzung des Nationalsozialismus beigetragen hat, weil sich daran deutlich die Schwäche des Staates zeigte. An dieser Praxis warne die Tendenzen und Personen nicht unschuldig, die Arndt nahestanden. Es ist heute die Sorge vieler Beobachter, daß wir wieder in diesen Fehler verfallen und den schon erwähnten Teufelskreis in Gang halten. Das angelsächsische Recht dagegen kennt Freiheitsstrafen in einer uns unbekannten und anstößigen Höhe, setzt sie aber aus oder begnadigt in einer wiederum für uns ungewohnten Weise, die zu Unrecht deshalb sogar den Anschein mangelnder Ernsthaftigkeit hervorruft. Da aber jeder Amerikaner diese Praxis kennt, kann also auch eine so hohe Strafe nicht ebenso bewertet werden, wie eine bei uns ganz ungewöhnliche Straf von 8 Jahren. Sodann entstammt das hier angewendete Strafgesetz (fahrlässige Tötung — § 222 StrGB) dem Bereich des klassischen Kernbestandes des Strafrechts, der Leib und Leben schützt. Was sich hier ausdrückt, ist nicht oder nicht in der Hauptsache die von Arndt gestellte wichtige Grundsatzfrage, sondern die dem Praktiker in hohem Maße bedrängende Schwierigkeit der rechten Strafbemessung von Fahrlässigkeitsdelikten. Denn von minimalen Versehen, bei denen oft das echte Moment der Schuld höchst fraglich ist und deren Ahndung bedenklich in die Nähe der von Arndt anderwärts abgelehnten Erfolgshaftung für Unglück führt, bis zur völligen
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Gewissenlosigkeit, die der Schwere nach in den Bereich des zuchthauswürdigen Verbrechens hineingreift, liegen hier Tatbestände jeder Art nebeneinander. Diese Frage und Schwierigkeit besteht also gerade auch innerhalb des klassischen Strafrechts. Sie wird voll sichtbar und empfindlich, wenn man vor der Frage des Strafmaßes in Plädoyer und Urteil steht, schon nicht mehr ganz nachher, wenn man d as Urteil liest; immer aber nur in der Vergleichung zahlreicher Fälle und der sich aus ihr bildenden Skala der Schwere. Es ist immer verhältnismäßig leicht, einzelne Fälle herauszugreifen und die Entscheidung heftig zu kritisieren. Der Ertrag für die Grundsatzfrage ist trotzdem gering.
2. Das gilt auch für die von Arndt im zitierten Text gegeißelten Fälle doppelter Rechtsmoral. Ich stimme ihm durchaus darin zu, daß eine Trennung klassischen, allgemeinen und künstlichen Verkehrsstrafrechts und die Abwertung des letzteren zu unmöglichen Ergebnissen führt. Aber wie kann man den Rechtspositivismus bekämpfen, wenn man gleichzeitig an dem Satz „Norm gleich Norm” festhält und den Richter theoretisch auf ein ungeklärtes Wertsystem, praktisch auf gefühlsmäßige Wertungen verweist?! Das Ergebnis jenes Versuchs der Unterscheidung ist zweifellos abzulehnen; den Versuch als solchen, sein Anliegen muß man bejahen. Arndt schüttet hier das Kind mit dem Bade aus.
3. Auch das Beispiel des „volksverderbenden Feindes der Demokratie” ist fragwürdig und ungeeignet. Gegenüber einer solchen Formulierung erscheint man geradezu der Begünstigung verdächtig, wenn man nüchtern nach dem juristischen Gehalt des gemeinten Delikts fragt. Das politische Strafrecht gehört als Hoch- und Landesverrat zu wesentlichen Teilen dem klassischen Strafrecht an. Daß die Staatsverfassung und ihr strafrechtlicher Schutz dem geringwertigen Kunstrecht angehöre, wie Arndt nach dem Zitat unterstellt, entspricht weder notwendig der angegriffenen Theorie noch der rechtsgeschichtlichen Entwicklung. Anderseits führt der Versuch des strafrechtlichen Verfassungsschutzes in der Fortentwicklung zu so schwierigen, problematischen und künstlichen Regelungen, daß eine genaue juristische Durchleuchtung und Begrenzung schon vonnöten ist. Politische Gerichtsbarkeit ist in solchem Maße mißbraucht worden und mißbrauchbar, daß solche schlagwortähnlichen Formulierungen nur Unbehagen erwecken können. Solange die Strafrechtswissenschaft weder den moralischen Mut noch die gedankliche Kraft aufbringt, die Frage der politischen Gerichtsbarkeit umfassend phänomenologisch darzustellen und systematisch zu klären, wird man aus diesem Bereich nicht leicht für Grundsatzdebatten Beispiele entnehmen können9.
9 Vgl. Dombois: „Politische Gerichtsbarkeit”, mit einem Vorwort von Dr. Hermann Ehlers, Gütersloh 1950.
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4. Kaum weniger problematisch und fragwürdig sind die übrigen gewählten Beispiele. Der tragisch verzweifelte Totschläger als Gegenstück zum Verkehrsmörder gehört in die Problematik einer rein quantitativen Strafbemessung hinein. Etwas näher kommen wir der Sache in der Gegenüberstellung von großem Steuerbetrüger und kleinem Dieb. Wenn der Dieb wirklich klein ist, so hat er genau dasselbe zu erwarten wie der mittlere und vielleicht zu Unrecht auch der große Steuersünder, nämlich eine mäßige Gefängnis- oder Geldstrafe. Die Gegenüberstellung ist also wiederum nicht richtig. Man muß schon den großen Dieb mit dem großen Steuerhinterzieher vergleichen.
Die von Arndt durch eine wenig glückliche Beispielbildung fast verdeckte Frage ist nun allerdings die nach der verschiedenen Rechtsqualität der geschützten Rechtsbestände. Aus der ganzen Systematik unserer Rechtsordnung schützt das klassische Strafrecht — dies zunächst einmal ganz für sich betrachtet — auf der Ebene des Vermögensrechts nur Sachenrechte und diesen gleichgestellte Verfügungsmacht, aber nicht obligatorische Rechtsverhältnisse. Bei der Untreue wird der Mißbrauch der übertragenen Verfügungsmacht bestraft, beim Betrug nicht die Vorspiegelung als solche, sondern die Erschleichung einer sachenrechtlichen Verfügung, die mangels Gegenleistungswillen ohne Rechtsgrund ist. Das Eigentum, das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die Ehre, aber auch der Grundbestand der öffentlichen Ordnung sind insgesamt Statusrechte, welche Respektierung verlangen und dementsprechend strafrechtlich geschützt werden. Davon wohl zu unterscheiden sind Verpflichtungen, die diesen Status erst herstellen sollen. Weil sie Verpflichtungen und Ansprüche, aber eben nicht vorfindliche Rechte sind, kann ihre Verletzung nicht in dem Maße strafrechtlich gedeckt werden, wie es bei den Statusrechten möglich ist. Das hat selbst die strengste Ausbildung des Handelsrechts nicht unternommen, dem es doch wahrhaftig auf Geld und die Sicherheit des Kredits allein ankommt. Deswegen hat das Handelsrecht das quasi-sachenrechtliche Wertpapierrecht geschaffen. Der hier gegebene Sachunterschied zwischen Statusrecht und Verpflichtung, das hier liegende Gefälle ist kategorial und axiomatisch und nicht anders als gewaltsam aus der Welt zu schaffen. Es handelt sich gar nicht allein um eine metajuristische Wertfrage, sondern zu allererst um eine Strukturfrage der Rechtssystematik selbst. Nun ist aber das von Arndt mit Recht wegen seiner besonderen Bedeutung angezogene Straßenverkehrsrecht eine Summe von Leistungsverpflichtungen, damit zugleich aber eine künstliche, kunstvolle aber lebensnotwendige Verlängerung des Systems der Statusrechte. Das Statusrecht der körperlichen Unversehrtheit geht nicht allein darauf, daß man nicht vorsätzlich geschädigt wird, sondern unter modernen Verkehrsbedingungen vor allem darauf, daß man nicht gefährdet
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wird. Denn statistisch entfallen auf tausend Gefährdungen soundsoviel Beschädigungen. Es ist niemand erlaubt, in dieser Lotterie in der Hoffnung zu spielen, daß die meisten Lose Nieten sind. Wo aber kein Verkehr ist, tritt auch die Verkehrsordnung zurück, und man kann auch nach Belieben links fahren. Auf den alten Landstraßen gab es kein wesentliches Problem der Verkehrsregelung; im Seeverkehr existiert es von jeher, wird aber verhältnismäßig selten praktisch; im Straßenverkehrsrecht ist es heute eine Lebensfrage für Millionen geworden. Nichtsdestoweniger ist es ein künstliches System der statistischen Risikoverminderung, eine Art Prothese für eine Zusammenordnung von Menschen, die sich nicht mehr unmittelbar zwischen den Verkehrsteilnehmern nur durch ihren konkreten Entschluß allein vollziehen kann. Der Entschluß, sich auf den anderen einzustellen, wird durch die Verkehrsregelung, abgesehen von allen konkreten Ausweichbewegungen, in die abstrakte Verkehrsregel gleichsam zurückverlegt oder, wenn man will, vorverlegt und zugleich formalisiert. Darin liegt eine bestimmte Struktur und ein Problem. Die vorsätzliche Verletzung des Statusrechts ist (Kausalität und Schuld vorausgesetzt) ein leidlich eindeutiger Tatbestand, eben genau das, was sie besagt und wie sie heißt. Geschützt dabei wird jeder Rechtsträger, ohne daß seine Berechtigung noch weitergehend geprüft wird. Das statusrechtliche Strafrecht schützt Gute und Böse und selbst den verurteilten Verbrecher vor der Lynchjustiz. Das Verkehrsrecht aller Art, nicht allein das Straßenverkehrsrecht, sondern auch das Wirtschafts- und Steuerrecht, ist dagegen ein Recht der Zwecke, der Funktionen.
Die von Arndt hervorgehobenen Fälle der verbrecherischen Verkehrsgefährdung sind systematisch gesehen solche, in denen sich Statusstrafrecht und Verkehrsstrafrecht sozusagen kumulieren. Es sind Fahrlässigkeitsdelikte mit der sachlichen Qualität von Verbrechen. So müssen sie auch behandelt werden. Aber damit können sie immer noch in gewohnte und geklärte Begriffe eingeordnet werden. Diese Fälle jedoch machen trotz der Optik des Zeitungslesers nur einen sehr begrenzten Bruchteil der tödlichen Verkehrsunfälle aus. Neuartig, erregend, unser Nachdenken erfordernd sind die ungleich zahlreicheren Fälle, daß ein sehr begrenztes Versagen gewissenhafter Fahrer immense Schäden hervorbringt. Die jährliche Zahl der Verkehrsopfer entspricht den Verlustziffern von Kriegen vergangener Jahrhunderte. Der moderne Verkehr beruht darauf, daß dem Menschen die Gefährdung anderer in sehr hohem Maße erlaubt wird; aus dieser Summe von Gefährdungen entsteht mit statistischer Notwendigkeit eine gewisse Zahl von Schäden. Dies aber hebt nicht im mindesten die Verantwortlichkeit des einzelnen Täters auf und rechtfertigt ebensowenig eine Entschärfung der Strafdrohungen und der Strafpraxis. Man fühlt sich an das Wort erinnert: „Es muß ja wohl Ärgernis kommen, aber wehe dem, durch den Ärgernis kommt.” Selbst ein ideales Zusammenwirken von Verkehrspolitik,
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technischer Gestaltung und strafrechtlichem Schutz hat keine Aussicht, diesen Tatbestand entscheidend zu treffen, d.h. auf Ausnahmen zu vermindern. Der Mensch gerät in den vollen Bruch zwischen seiner Verantwortlichkeit im einzelnen, die ihm nicht abgenommen werden kann, und der Unerfüllbarkeit des Gesetzes, der statistischen Determination. Das gleiche Spannungsverhältnis zeigt sich in dem Mißverhältnis zwischen der relativen Geringfügigkeit des vorwerfbaren Versäumnisses und der unberechenbaren Größe des Schadens. Die zivilisierte Menschheit hat auch das Verbrechen in hohem Grade humanisiert und das direkte Gewaltverbrechen bis auf einen Bodensatz eingeschränkt (so sehr, daß sie dem Wahn verfiel, es gänzlich beseitigen oder als Anomalität verstehen zu können) Im selben Augenblick aber ist sie genötigt, ihren funktionalen Lebensformen Hekatomben von Opfern auf dem Wege der funktionalen Tötung darzubringen. Damit steht sie vor einem nicht zu bewältigenden Schuldproblem, welches an die Grenze der Judiziabilität heranreicht und ständig darüber hinausführt. Die Schuldverfallenheit des Menschen wie der Aspekt der Gesamtschuld wird in einer neuen Weise sichtbar — eine metaphysische Ironie gegen den juristisch-rationalen Optimismus, alle Dinge unter der Sonne justizförmig ordnen zu können! Diesen Tatbestand sollte man mit Ernst bedenken, statt sich über Einzelfälle aufzuregen. Wie zukunftsreich wäre es, wenn die Masse der verkehrsfahrlässigen Tötungen in der Trunkenheit begangen würden! Denn dann könnte man mit Recht hoffen, sie entscheidend vermindern zu können. Aber eben dies ist nicht der Fall.
Die Statusrechte sind nur einzelne und nicht beliebig vermehrbar. Sie beschränken sich im wesentlichen auf politische und menschliche Rechte, Staatsordnung, Leben, Ehre und Eigentum. Das Verkehrsrecht ist beliebig vermehrbar und vermehrt sich auch unvermeidlich mit der Verdichtung sozialer Beziehungen, mit der steigenden Unmöglichkeit für den Menschen, seine Bedürfnisse ohne allgemeine Regelung unmittelbar zu befriedigen. Immer mehr regelungsbedürftige Umwege bestehen; mit der sozialen Leitung und Leistung entstehen Verpflichtungen, und diese müssen strafrechtlich gesichert werden. Damit dehnt sich die Heteronomie der Regelungen immer mehr aus; sie zwingt jeden Einzelhändler, bis in die Nacht hinein Bücher zu führen, jeden Schneider, die letzte Nadel aufzuschreiben usw. Das Netz wird immer enger, aber auch formaler. Der innere Gehalt der einzelnen Pflichtversäumnis wird im ganzen immer geringer. Das Gegenüber, um dessentwillen die Pflicht geleistet wird, rückt immer ferner, wird unpersönlicher. Trotzdem wird das Ganze immer lebenswichtiger. Die Rechtspflichten, die nicht mehr in der Respektierung bestehender fremder Rechte, sondern in der auferlegten Erfüllung eigener Verpflichtungen bestehen, verändern ihr Wesen in ganz bedeutendem Maße. Damit widerlegt sich der Satz Norm gleich Norm als eine wirklichkeitsfremde Fiktion wie das
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Festhalten des Reichsgerichts an dem Satze Mark gleich Mark in der Inflation, der ja in einem bestimmten Bereich durchaus in Ordnung ist. Die hier liegenden Unterschiede werden am Grenzwert sichtbar: Dann nämlich, wenn die Zahl der heteronomen Verpflichtungen so umfangreich wird, daß sie weder subjektiv mehr erkennbar noch objektiv erfüllbar sind oder eines von beiden. „Von einer gewissen quantitativen Steigerung an tritt ein geradezu hegelisch anmutender Umschlag aus der Quantität in die Qualität ein. Es wird eine Stufe oder Grenze erreicht . . . Niemand kann mehr dem entgehen, in irgendeiner Weise gegen das Gesetz zu verstoßen. Es tritt etwas hervor, was im Bereich der Theologie unter dem zweiten Gebrauch des Gesetzes verstanden wird. Die verborgene Totalität des Gesetzes dient nur noch dazu, den Menschen seiner völligen Unfähigkeit zur Erfüllung zu überführen. Dieser überführende Gebrauch des Gesetzes (usus elenchticus) ist in der Theologie zugleich der sog. pädagogische Gebrauch, der den Menschen zum Bewußtsein seiner Erlösungsbedürftigkeit führt. Die weltliche Anwendung dieses Gefälles von dem partikularen Einzelgebot zur totalen Inanspruchnahme liefert den Menschen völlig dem Staate aus, hebt gerade das Gesetz als Selbstbindung des Staates und zugleich den Rechtsstatus des Menschen auf. Denn da alle straffällig werden, ist es nur noch die Frage, gegen wen sich praktisch die Verfolgung wendet. Da das Gesetz höchstens noch teilweise erkennbar ist, kann man sich auch nicht vor der Verfehlung schützen. Die daraus entstehenden Konflikte können bei gutem Willen für den einzelnen und für kleine Bereiche praktisch überwunden werden. Man braucht deswegen die Dinge nicht zu dramatisieren. Bei verantwortlichem Handeln in größerem Rahmen aber wird häufig eine Entscheidung unmöglich, treten unlösbare Rechtsfragen auf. Das Prinzip des überführenden, unerfüllbaren Gesetzes wird in der Sowjetzone mit Konsequenz und Geschick zur Vernichtung selbständiger Existenzen verwendet, ein weiterer Beleg für den pseudotheologischen Charakter der modernen politischen Ideologien10.”
Dieser Zustand ist aber auch dort für den Menschen in hohem Grade bedrängend und beschwerlich, wo er nicht in totalitärer Form bewußt gesteigert und mißbraucht wird. Denn je größer die Abhängigkeit des Menschen von der öffentlichen Ordnung als künstlichem System der Lebensvorsorge ist, desto mehr ist er versucht, von dieser Ordnung noch weit mehr zu erwarten und zu fordern, als sie jemals leisten kann. Um so mehr muß er notwendig enttäuscht werden. Die unvermeidlichen Reibungen und Mängel werden nicht mehr ausbalanciert, sondern führen zur kurzschlüssigen Verdammung des Ganzen oder zu lähmender Resignation. Es ist das Phänomen der Überlastung der Institutionen, welches die Soziologen
10 Dombois: „Strafrecht und menschliche Existenz”, aaO. S. 349; Lange, Jur.-Ztg. 56, S. 73ff.
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Schelsky und Gehlen beschrieben haben. Der Überforderung und dem Versagen des einzelnen Menschen entspricht das gleiche bei der Staatsorganisation. Die Hoffnung auf vollkommene Lebenserfüllung in der Form innerweltlicher Heilserwartung und die Verdammung der totalen Ungerechtigkeit alles Vorfindlichen liegen sozialpsychologisch notwendig dicht beieinander11.
Was hier eintritt ist die Tendenz zur Eschatologisierung des funktionalen Rechts und des zugehörigen Strafrechts. Eine umfassende Ordnung der Lebensbeziehungen versucht alle erreichbaren Kräfte zu erfassen, um sie auf einen Gesamtzweck hin auszurichten, der in wesentlichen Beziehungen bereits über sich hinausweist. Das ist nicht nur in totalitären Staaten so. Es liegt auch in der geistigen Struktur des modernen Staates überhaupt. Ein umfassendes System der Daseinsvorsorge kann auch von durchaus humanistischen Prinzipien her diese Tendenz nicht vermeiden.
Wohin das in der Praxis führt, zeigt in Beispiel: Die Altmetallhändler unterliegen gewissen Preisbindungen und haben Richtlinien zu beachten, die von den Wirtschaftsministerien der Länder herausgegeben werden. Sie müssen also die Verordnungsblätter des Ministeriums in häufiger Folge lesen. Das ist auch bei gutem Willen nicht immer leicht, setzt aber den Kaufmann der Gefahr der Bestrafung wegen Rechtsfahrlässigkeit aus. Eines dieser Ministerien vertrat in Strafverfahren die Auffassung, daß auch bei entschuldbarer Unkenntnis der Richtlinien der Betreffende sich „marktgericht” zu verhalten habe. Hier zeigt sich der Umschlag in eine neue Erfolgshaftung, die aus dem formalisierten Schuldgedanken hervordrängt. In Bagatellfällen sind diese Schwierigkeiten meist zu beheben; sie werden aber unausweichlich, wenn es sich um größere komplexe Wirtschaftsvorgänge handelt. Dann erweisen sich die Dinge als nicht mehr judiziabel. Man ist gezwungen auf Strafverfolgung zu verzichten und sogar den Verdacht korrupter Begünstigung auf sich zu nehmen, weil ein sinnvolles Urteil nicht mehr möglich ist. Oder das Urteil schwankt mit unvermeidlicher Willkür zwischen bedeutenden Freiheitsstrafen, scharfer moralischer Verurteilung und formaler Ahndung, je nachdem, welches der im Grunde unvergleichbaren Momente man hervorhebt. Weil die Summe der Vorschriften gar nicht mehr eingehalten werden kann, tritt die Tendenz zur Erfolgshaftung hervor, wenn ein Schaden eingetreten ist, aber zugleich immer nur dann, wenn ein Sündenbock gebraucht wird und gefunden ist. Wo dieses Bedürfnis nicht besteht, können die gröbsten Verstöße begangen werden, ohne daß eingeschritten wird. In den letzten Monaten des Krieges bedrohte die Hysterie höherer Kommandostellen, die trotz aller Unmöglichkeiten noch bestimmte Dinge durchsetzen wollten, jeden unteren Truppenführer
11 Schelsky: „Über die Stabilität von Institutionen, insbesondere Verfassungen”, Archiv für Sozialwissenschaft III, H. 1 S. 1ff.
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mit den schwersten Kriegsgerichtsstrafen. Diese Drohung löste sich bei eingetretener Beruhigung oft in Nichts auf, führte aber ebensooft zur größten Willkür.
Aber ebenso wie jene sehr speziellen Gebiete des Wirtschaftsstrafrechts zeigt das heute die Gerichtssäle füllende Straßenverkehrsrecht ein kaum mehr zu bändigendes Gefälle zur Erfolgshaftung, zur Ausdehnung der Begriffe des öffentlichen Interesses, der Gefährdung der Öffentlichkeit, welche an die Verhältnisse totalitärer Staaten erinnert. Aber diese Erscheinung sollte nicht allein von daher und unter dem Gesichtspunkt des Mißbrauchs, sondern im systematischen Zusammenhang des Problems und seiner immanenten Tendenzen begriffen werden.
Die quantitative Vermehrung der Normen, zu der nur das Verkehrsrecht fähig ist, die aber in seinem Wesen liegt, führt also zur allmählichen Veränderung ihrer Rechtsstruktur und schließlich zu ihrer Aufhebung. Es gibt also eine entwicklungsmäßige Folge zwischen Statusrecht, Recht der Funktionen und ihrer beider Aufhebung bei Erreichung eines bestimmten Grenzwertes. Eine Rechtstheorie, die dies verkennt und nicht deutlich sondert und ins Bewußtsein hebt, wird der Rechtswirklichkeit von heute nicht mehr gerecht. Der positive Satz „Norm gleich Norm” gehört dem Zeitalter der Postkutsche an, in dem diese Probleme noch nicht existierten. Zugleich ist damit nicht gegen die Lebensnotwendigkeit beider Bereiche irgend etwas ausgesagt. Es sind also zwei Trennungen gleichermaßen unmöglich: Die von Arndt mit Recht abgelehnte Gegenüberstellung von klassischem und Kunstrecht, wenn damit deren innerer Zusammenhang gelöst und ein negatives Werturteil über das letztere gefällt werden soll. Für eine solche falsche statische Betrachtung ist gerade kennzeichnend, daß sie den entwicklungsmäßigen Zusammenhang zwischen Statusrecht, Funktionsrecht und dem nicht zu übersehenden Grenzwert aufhebt, jenseits das Recht selbst zur Aufhebung kommt. Aber ebenso ist eine Anschauung abzulehnen, die im wesentlichen den Satz Norm gleich Norm aufrechterhält und die Bewertung von transjuristischen Maßstäben und der willkürlichen Bewertung des Einzelfalls abhängig macht. Die von Arndt vorgetragene Anschauung ist im Grunde genommen nur die philosophische Umkehrung der von ihm bekämpften Auffassung. Sie bleibt dem Positivismus verhaftet und bleibt ebenso im Rahmen einer bloßen Antithese zu der von ihm abgelehnten Scholastik.
Wer diese Sachunterschiede zwischen Statusstrafrecht und Funktionsstrafrecht nicht aufdeckt, kann der Versuchung nicht entgehen, den jeweils interessierenden schweren Fall herauszunehmen und mit Willkür zu beurteilen. Auch das Funktionsstrafrecht trägt jene Spannung zwischen Existenzialität (oder anders gesagt: Notwendigkeit) auf der einen und Formalismus auf der anderen Seite in sich,
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denselben Gegensatz, den das Statusrecht zwischen Zufälligkeit des Status und Unbedingtheit des Schutzes enthält und durchhält. Es liegt die Versuchung deshalb sehr nahe, beim Statusstrafrecht wesentlich auf das Eigentum zu sehen und dem mit Pathos das Recht der sozialen Funktionen gegenüberzustellen, die viel härter zu schützen seien. Dabei tritt aber der Blick auf den Formalismus des Funktionsrechts und seine notwendige Künstlichkeit zurück. Es ist ein seltsamer, aber nicht zufälliger Wahn, daß die Funktionalisierung an sich ein Fortschritt sei. Sie ist eine Not und damit notwendig, aber auch nicht mehr. Sie ist auch eine Versuchung über die Notwendigkeit der Vorsorge und des Schutzes des Menschen gerade den Menschen zu verlieren und dies mit dem Pathos gegen das traditionelle Statusrecht auf dem Gebiet des Eigentumsschutzes zu rechtfertigen und zu verdecken.
Das ontische Statusstrafrecht und das ethische Funktionsstrafrecht enden in der letzten Steigerung, im totalen Strafrecht. Dieses totale Strafrecht hebt beides deshalb auf, weil Sein und Sollen einfach gewaltsam identifiziert werden. Das Versäumnis des Sollens erscheint bereits gleichzeitig als ein Angriff auf das Sein, weil das nur Gedachte, Geplante und damit Gesollte als bereits identisch mit der statusmäßigen Wirklichkeit betrachtet wird. Das ist die große Versuchung der idealistische Identitätsphilosophie. Dann wird der Fehlbetrag einer volkseigenen Fabrik zur Veruntreuung von Volksvermögen, die Rücknahme einer unhaltbaren Frontlinie zum Verrat usw. Es ist ein schwerer Fehler der rechtsstaatlichen Rechtstheorie, daß sie alle diese Dinge nur als Monstrositäten, nicht als echte Phänomene versteht. Aber man vergleiche das Pathos der Arndtschen Beispiele der Steuerhinterziehung und des politischen Delikts, welches gar nicht weiter konkretisiert ist. Man wird sehen, daß der Abstand nur ein gradweiser ist. Ein solches juristisches Fieberthermometer kann man mit etwas Reiben sehr leicht hochtreiben. Jene idealistische Versuchung tritt auch schon in der Überbewertung des funktionalen Strafrechts hervor. Eine funktionale Idealordnung wird vorgestellt und die Unterbietung des Ideals mit moralischem Pathos zum Verbrechen gestempelt.
Der Unterschied zwischen Sein und Sollen, zwischen Respektierung bestehender Rechte und Erfüllung geforderter Verpflichtungen muß als echter juristischer Strukturunterschied klar festgehalten, gelehrt und praktiziert werden.
Sowenig die Zusammenhänge dieser Bereiche verkürzt werden dürfen, so handelt es sich doch um eine Mehrschichtigkeit der Wirklichkeit und des Denkens.
Sucht man nun jener falschen Scheidung und Abwertung zu entgehen, so stellt sich die Frage nach einem gemeinsamen Maßstab. Es geht insgesamt um den Grad der existenziellen Dichte, und dazu gehört von vornherein die Unmittelbarkeit des Bezuges. Es ist etwas
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wesentlich Schwereres, 1946 einen Waggon Haferflocken oder drei fette Ochsen zu verschieben, als den Haushaltsplan eines öffentlichen Steuergläubigers durch eine größere Hinterziehung zu schädigen. Nicht die Macht des Forderungsberechtigten, sondern seine Not bestimmt diesen Grad. Der gleiche existentielle Maßstab tritt als Gegenmaßstab in der Person des Täters auf und ist ja mit anderen Begriffen auch bisher weitgehend berücksichtigt worden. Der Bankrotteur verdient Strafe in dem Maße, in dem er Existenzen gefährdet. Die Härte des Eigentumsschutzes ist in weitem Umfang ein Schutz der Person, weil die Masse der Diebstähle sich zugleich, vor allem beim schweren Diebstahl, auch gegen die Rechtssicherheit des Eigentumsträgers wendet und überwiegend solches Eigentum betrifft, das als persönliches dem Menschen mehr zugeordnet ist als die Kapitalmittel eines Unternehmens. Der Betrug betrifft im größten Teil der Fälle die bescheidene Sicherheit und das Vertrauen von Leuten, die weder begütert noch imstande sind, sich selbst zu schützen. Ich werde nie vergessen, daß in den Zeiten der höchsten sozialen Not eine schwache Strafrechtspflege gerade solche Täter begünstigte, welche die Not der Arbeitsuchenden ausbeutete. Im Vergleich dazu sind die Strafen wegen hoher Veruntreuungen in größeren Unternehmungen relativ niedrig, weil sich der erwähnte Gesichtspunkt schon allein durchsetzt. Die hohe und zeitweilig zu hohe Bewertung des Eigentums hat sich durch die Funktionalisierung der Wirtschaft und des Rechtes schon sehr stark ermäßigt. Die harten Strafen von ehedem stammen aus einer Zeit, in der der Angriff auf das Eigentum vor allem durch Landfremde und vagierende Täter zugleich eine viel höhere Bedrohung der persönlichen Rechtssicherheit bedeutete als heute.
Aus den dargelegten systematischen Gründen, die sich mit in der Erfahrung des Devisen- und Wirtschaftsstrafrechts zu sehr verschiedenen Zeiten überzeugend erhärtet haben, habe ich mich auf der Tagung der Studiengemeinschaft der Evangelischen Akademien in Unkel 1952 über die Frage der Steuermoral in Anwesenheit von Bundesfinanzminister Dr. Schäffer und seiner führenden Mitarbeiter mit aller Entschiedenheit gegen die Einführung eines Zuchthausparagraphen in die Reichsabgabeordnung gewendet. Ich begrüße es, daß das Bundeskabinett die Unmöglichkeit einer solchen Regelung gegenüber den fachlichen Gesichtspunkten des Steuerverwaltung im größeren Zusammenhang eingesehen und die Vorlage fallengelassen hat.
Denn die sicherlich vorhandenen begrenzten Fälle, die, in nominalistischer Vereinzelung betrachtet, zuchthauswürdig wären, lohnen nicht die Verwirrung der Begriffe, die Preisgabe wesentlicher Unterscheidungen, welche die Theorie herauszuarbeiten und ins Bewußtsein zu heben bisher versäumt hat.
Ein Rechtsstaat kann gegenüber der formalen rechtsstaatlichen Phrase diesen Namen nur verdienen und den Menschen bewahren,
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wenn er das Schottensystem vorgegebener Unterscheidungen nicht zerstört, sondern gegen den Einbruch gestaltloser Gefühlsfluten festhält. Im Gegenteil muß der geistige Bestand unserer Rechtsordnung und die in ihr innewohnenden Entwicklungstendenzen mit der erbarmungslosen Klarheit herausgestellt werden, aus der früher die sozialistische Bewegung durch die Aufdeckung soziologischer Gesetzlichkeiten ihre Kraft gezogen hat.
Autonomie oder Heteronomie: Das Maß menschlicher Willkür bleibt dasselbe und verlagert sich nur an eine andere Stelle. Es ist im Grund nur Romantik, das eine gegen das andere auszuspielen — die Romantik unabhängiger rechtlicher Personalität wie die Romantik neuer, funktional geordneter, gerechter Gemeinschaft, Romantik der Beharrung und Romantik des Fortschritts. Das zeigt sich darin, daß beide den Tatbestand nicht aufdecken: die eine nicht die unerbittliche Notwendigkeit weitreichender funktionaler Ordnung, die andere nicht die Gefährdung personaler Existenz und Freiheit. Wenn dieses Denken nicht überwunden wird, wird die gewaltsame Identifizierung von Sein und Sollen, die Eschatologisierung des Strafrechts die Gegensätze vernichten, deren Dialektik man weder zu erkennen noch durchzuhalten imstande ist.
Statusstrafrecht und Verkehrsstrafrecht stellen also zwei wesentlich verschiedene morphologische Typen und Bereiche dar, deren Ausbildung auch in einem gewissen entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang steht. Das Statusstrafrecht ist das ältere von beiden und bleibt immer die Grundlage allen Strafrechts. Es geht darum, beide in sich recht zu verstehen und sie zugleich im rechten Verhältnis zu halten. Schließlich ergibt die Untersuchung, daß dem Verkehrs- und Funktionsstrafrecht die Tendenz zur pseudoeschatologischen Selbstauflösung durch Totalisierung innewohnt, durch die schließlich sowohl der Rechtscharakter wie der Strafcharakter aufgehoben wird.
Die Genealogie des klassischen Strafrechts zeigt dieses als eine streng gegliederte, doppelwertige Größe, die immer nebeneinander die Antastung der heteronom-tremenden wie des autonom-fascinosen Bereichs enthält. Aber das klassische Strafrecht ist im ganzen wesentlich Statusstrafrecht. Es verhält sich als Ganzes zum Funktionsstrafrecht in ähnlicher Weise wie in ihm selbst die tremende zur fascinosen Seite. Auch die Antastung der Grenze zum Fascinosen ist hier immer noch Verletzung eines Fremden, während das Funktionsstrafrecht die Versäumung der positiven Gemeinschaftspflicht zum Gegenstande hat. Zugleich wird der Rechtscharakter des Funktionsstrafrechts gerade dadurch gefährdet und schließlich im Extrem aufgehoben, daß der Versuch der vollkommenen Vergemeinschaftung in Gestalt einer umfassenden Sozialordnung gemacht wird. Aus diesem Verhältnis beider Bereiche ergeben und erklären
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sich auch die deutlich erkennbaren Tendenzen zur Fehlwertung des einen wie des anderen, bei Arndt wie seinen Gegnern.
Der unmittelbare Zusammenhang der Mehrschichtigkeit des Gesetzesbegriffs im Strafrecht mit den anthropologischen Grundtatsachen war hier deutlich zu machen. Jene Grundeinsichten sind hier in die ontologischen Strukturen ethischer und rechtlicher Anforderungen übersetzt.
Erik Wolf stellt in seiner Studie „Vom Wesen des Täters” (Tübingen 1932) verschiedene Typen der Täterschaftsmäßigkeit auf, den gemeinfeindlichen, gemeinlässigen usw. Täter. Aber diese Typen sind keine bloßen Formen des „Gesinnungsverfalls” als subjektiven Vorgangs, sondern wesentlich bedingt durch die Struktur der Anforderungen. Der gemeinfeindliche und gemeinschädliche, um in dieser Terminologie zu reden, greifen aktiv, wenn auch aus sehr verschiedenen Beweggründen Statusrechte an, der gemeinlässige entzieht sich Funktionsverpflichtungen. Dies sind also nicht einfach Abstufungen und Grade des Gesinnungsverfalls in einer Linie, sondern zugleich Grenzwerte und Korrespondenzformen. Diese Frage hat aber noch zwei weitere Dimensionen, die damit nicht verwechselt werden dürfen: die Unterschiedlichkeit der Intensität und die des Tatbeitrags. Die stärkste Tatintensität ist im allgemeinen den aktiven Angriffen auf die Statusrechte, nicht dem Versagen gegenüber sozialen Pflichten eigen. Aber sie kann bei den letzteren dem ersteren in groben Fällen etwa der unterlassenen Hilfeleistung sehr nahekommen (vgl. die Räuber und der Levit im Gleichnis vom barmherzigen Samariter). Hier geht es nur um dieses Strukturproblem. Auf das hier liegende Identitätsproblem und damit auch auf die Frage der Mittäterschaft ist in Kapitel 6 einzugehen.