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III. Folgen

Kapitel 9

Die Entwicklung des Schuldbegriffs und seine Mehrschichtigkeit

A

Das alte, vorrationale, insbesondere das magische Strafrecht kennt keinen entwickelten Schuldbegriff. Es findet in ihm keine Trennung zwischen ursächlicher, objektiver und schuldmäßiger, wertender, subjektiver Zurechnung statt. Demgegenüber wird die Abtrennung des subjektiven Tatbestandes und die Differenzierung der Schuldformen als ein entscheidender Fortschritt in der Geschichte des Strafrechts dargestellt.

Die Bedeutsamkeit dieser Entwicklung ist in der Tat eine sehr hohe. Aber so billig und problemlos sind geschichtliche Entwicklungen nicht einfach nur auf der positiven Seite zu buchen. Das Realstrafrecht der strafrechtlichen Haftung ohne Schuldbegriff trifft den Menschen hart, indem es ihn für den verderblichen Erfolg in für uns oft unvollziehbaren Kausalverknüpfungen einstehen läßt. Aber die Einführung des Schuldbegriffs radikalisiert das Strafrecht erst recht.

Die Wandlung von da in das Schuldstrafrecht ist bedingt durch eine Wandlung des Weltbildes und Weltverhältnisses. Ursprünglich ist die Tat eine Emanation des Täters — und dieser Mensch wird als eine Einheit von Schicksal, Eigenschaften und Willen verstanden, die psychologisch nicht aufgelöst werden kann. Was freier Wille scheint, ist zugleich Schicksal, und was Schicksal erscheint, ist zugleich freier Tat. So stehen Tat und Täter in verborgener Kommunikation mit der Gesamtweltordnung, ohne in ihr im Sinne eines rationalen Determinismus einfach aufzugehen. Das Schuldstrafrecht stellt den Tatbereich der übrigen, von der Tat unberührten Welt radikal gegenüber. Das Subjekt als Nicht-Welt wird auf sich selbst und seine Tat begrenzt und auf sich selbst zurückgeworfen. Die Tat wird nicht mehr in jenem Zusammenhang gesehen; aber der Schuldvorwurf trifft dafür nunmehr den Täter mitten ins Herz. Der Täter des alten Strafrechts steht im Gefüge einer ganzen Welt, der Täter des Schuldstrafrechts ist mit seiner Schuld tödlich allein. Wir haben die positiven Gründe für den Absolutheitscharakter der Strafe schon

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erörtert. Im Schuldbegriff zeigt sich nun eine empfindliche Kehrseite des Vorgangs, die sich auch in den Erwägungen von Lange bemerkbar macht.

Die Schuldstrafe bedeutet eine grundsätzliche und weitgreifende Spiritualisierung des Strafrechts. Sie ist deshalb auch zeitlich parallel mit der Spiritualisierung der anderen großen Rechtsinstitute (neukatholisch-scholastische Kirche, souveräner Staat, consensuale Ehe, absolutes Eigentum, die sämtlich ebenfalls im 12. und 13. Jahrhundert zur Ausbildung kommen oder angelegt werden).

Die Einführung und Durchbildung des Schuldbegriffs aber beruht auf einer bisher in der Strafrechtstheorie nicht bedachten Voraussetzung: der Überzeugung nämlich, daß der Mensch von seiner Schuld auch befreit werden könne. Dies ist eine Glaubensüberzeugung, die nicht selbstverständlich ist. Wenn dem Menschen die Schuld nicht durch einen konkreten, real-wirksamen Akt abgenommen werden kann, würde sie ewig auf ihm bleiben und damit ihn unerträglich belasten. Die Befriedigung darüber, daß durch die Einführung des Schuldbegriffs dem Menschen die Haftung für schuldlose Verursachung abgenommen ist, ist relativ bedeutungslos gegenüber der mit der Schuld auftretenden Problematik. In der gewohnten Sicht dieser Dinge ist allzusehr von dem Ausnahmefall der schuldlosen Verursachung her gedacht worden, nicht vom Regelfall des Zusammentreffens von Verursachung und Schuld. Die Wandlung der Vorstellungsweise wird an der Ausscheidung schuldloser Verursachung nur sichtbar, wird aber nicht von dieser Frage ausgelöst. Es handelt sich um ein Symptom oder allenfalls einen Anlaß, nicht um die geistesgeschichtliche Ursache.

Der Schuldbegriff kann nur durchgehalten werden, wenn die Strafe wirksam imstande ist, von der Schuld zu befreien. Der Beweis für die These von dem Zusammenhang von Schuld und Wirksamkeit der Strafe liegt in der Gegenwart, in welcher eben dieser selbstverständlich erscheinende Glaube in Frage gestellt ist. Damit tritt eine Auflösung oder Eliminierung des Schuldbegriffs in zwei verschiedenen Richtungen, auf entgegengesetzten, aber miteinander in Zusammenhang stehenden Motiven auf.

In der einen Linie werden die moralisch und die rechtliche Schuld in steigendem und so hohem Grade in Gegensatz gestellt, daß die rechtliche Schuld und folgeweise die Strafe in eben dem Maße entwertet wird. Die wesentlich als innerlich verstandene rechtlich angeblich nicht erfaßbare Schuld tritt jedoch nicht unter die radikale Strenge einer Beichtjurisdition, welche sie als einen Teil der gänzlichen Gefallenheit des Menschen im Angesicht der letzten Dinge verstehen lehrt. Indem sie der angeblichen bloßen Äußerlichkeit des Strafrechts entkleidet und in die Innerlichkeit verwiesen wird, wird sie zunächst der Selbstverurteilung des Menschen anheimgegeben, zu der dieser jedoch aus fundamentalen psychologischen Gründen

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regelmäßig nicht in der Lage ist. Damit wird sie entschärft und löst sich in eine Summe von Verknüpfungen auf. Nicht mehr ein drohender Hintergrund göttlich-kosmische Mächte, deren unerforschlicher Schicksalsschluß den schuldlosen Menschen dennoch belastet und verstrickt, sondern ein ganzer Götterhimmel freundlich-befreiender Mitursachen steht jetzt im Hintergrund. Die scharfe Zuspitzung des Schuldvorwurfs und die streng isolierende, beide scharf belichtende Zuordnung von Täter und Tat, welche das Schuldstrafrecht ausmacht und begründet, wird nicht durchgehalten. Der Mensch will den guten Tropfen der Personalität genießen, ohne den bösen der Schuldverantwortung auf sich zu nehmen. Der Mensch als freier Herr aller Dinge und Ausgangspunkt des Koordinatensystems der Weltordnung will doch zugleich sich von der Welt lösen, die er selbst geschaffen hat, wo er finden muß, daß sie nicht gut sei. Das ist ein mehr als göttlicher Anspruch, das selbstgeschaffene Böse verleugnen zu können.

Man kann diese Linie als die individualistisch-liberale bezeichnen, welche das Subjekt durch die Entschärfung des Schuldvorwurfs und die spiritualistische Kritik an der Strafe um jeden Preis zu retten sucht. Nachdem man ehedem glücklich war, Mensch und Tat in der Schuld zulänglich gegen nur objektive Verknüpfungen zu verbinden, gibt man sich jetzt alle Mühe, beide wieder zu trennen. Diese Trennung ist die innere Konsequenz der kausalen Betrachtung, die in Wahrheit zwischen Mensch und Tat eine Scheidewand aufrichtet.

Die umgekehrte, korrespondierende Linie ist die sozialistisch-kollektive. Auch bei ihr ist die Eliminierung des Schuldbegriffs deutlich. In den großen politischen Schauprozessen der kommunistischen Staaten ist zwar das Schuldbekenntnis und die Bezeugung der Reue in pseudoreligiösen Formen ein wesentliches Stück. Aber dies ist nur der Akt der endgültigen Selbstvernichtung. Wer sich dergestalt als Schädling selbst brandmarkt, ist zur Liquidierung reif. Dieser reuige Sünder bezeugt noch in der Hölle die alleinige, ausschließliche und unfehlbare Gerechtigkeit der Partei, des Regimes. Die Schuldformel wird gebaucht, aber die Strafe hat die befreiende Wirkung verloren. Sie ist nur noch Vernichtung. Zugleich findet eine wirkliche Scheidung von subjektivem und objektivem Tatbestand, die Differenzierung der Schuldformen, die Berücksichtigung des Irrtums nicht mehr statt. Sie sind sämtlich nicht mehr nötig. Die Strafe wird wesentlich wieder zur Erfolgshaftung. Die idealistische Identifizierung von Sollen und Sein verbietet die Scheidung von subjektivem und objektivem Tatbestand.

Der Weg des Strafrechts durch das Schuldproblem ist hier wie dort umsonst gewesen. Daß man auf ihm bleibt, hängt nicht von der Ausbildung des Schuldbegriffs und seiner Verfeinerung selbst, sondern von dem Glauben an die Strafe ab.

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In beiden Denkrichtungen werden Schuld und Strafe zugleich geleugnet und zersetzt, aber mit wesentlich verschiedenen Akzenten. Eine radikal ausgebildete Lehre vom freien Willen kann die in der Tat erfolgt Selbstdetermination zum Bösen nicht ernst nehmen und muß daher den Realcharakter der Strafe, ihre Wirksamkeit angreifen und entwerten. Eine ebenso radikale Lehre von der Determination des Menschen nimmt die Determination des Menschen zum Bösen tödlich ernst, vollzieht damit mit mitleidloser Strenge ihre Strafe, leugnet aber eben damit zugleich den personalen Charakter der Schuld und nimmt der Strafe die befreiende Wirkung.

Liberum arbitrium und Prädestination treten als rein innerweltliche Philosophumena in einen ausschließenden Gegensatz, und dieser Gegensatz zerreißt Schuldbegriff und Strafphänomen. Die Bewußtheit rationaler Rechtsphilosophien ist offenbar außerstande, die Mächtigkeit und innere Konsequenz solcher geistesgeschichtlicher Vorgänge entscheidend zu beeinflussen; sie werden vielmehr im Zustande der Unbewußtheit von ihnen getragen. Die Rechtsphilosophie als Teil der autonomen Jurisprudenz ist außerstande gewesen, aus dem geistigen Raum der theologischen Grundprobleme auszubrechen, welche durch jene Begriffe bezeichnet sind, deren Gegensätzlichkeit aber nur im Raum der Theologie zusammengehalten werden kann. Damit aber droht eben diese Rechtsphilosophie ihren eigensten Gegenstand, hier Schuld und Strafe, aus dem Griff zu verlieren oder hat sie schon verloren.

Noch einmal: Das Problem der Schuld hängt an dem Glauben an die befreiende Wirkung der Strafe. Die Schuldfähigkeit ist keine Eigenschaft des Menschen als Rechtssubjekt an sich. Sie ist nicht ablösbar von der Vorstellung, daß um dieser Schuld willen und zu ihrer Ablösung am Menschen etwas Wirksames zu geschehen hat. Mensch und Sache machen das Problem des Eigentums aus. Mensch und schuldhafte Tat dasjenige des Strafrechts.

Das alte Strafrecht ist keine Gegenbegehung, um die Schädlichkeit der Tat objektiv wettzumachen. Das moderne Strafrechtsdenken läßt entweder überhaupt nichts mehr geschehen oder macht den Menschen als negativ Determinierten zum Objekt seiner Berechnung. Das Phänomen der Strafe ist zwischen beiden nur eine Art von lucidum intervallum; es unterliegt, dargestellt und darstellbar an den Rollen der Prozeßpersonen, einer bedrohlichen Auflösung seiner integrierenden Elemente.

Mit diesem Nichts oder Alles verliert die Strafe ihren geschichtlichen Charakter; es geschieht nichts Relevantes mehr. Entweder ist der Mensch im Fortschritt, der Vernunft, dergestalt zu sich selbst gekommen, daß auch jeder einzelne an diesem unverlierbaren Charakter Anteil hat. Zu diesem Klerus gehört jedermann, und dieses geweihte Haupt darf ein weltlicher Richter nicht antasten, er darf es nur noch belehren und ermahnen. So ist jedermann ebenso von der

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Gerichtsbarkeit exemt, wie der Klerus der mittelalterlichen Kirche dies beanspruchte. Oder dieses Zusichselbstkommen befindet sich in einem entscheidenden Stadium des Durchbruchs, des Kampfes, in einer riesenhaften innerweltlichen Apokalypse. In diesem tödlichen Kampfe zwischen den prädestinierten Guten und den ebenso prädestinierten Bösen gibt es keinen Pardon. Über sie ist kraft eines doppelten Dekrets schon vorweg entschieden, und diese Vorentscheidung ist nur nachzuvollziehen: der Richter wird zum Henker, zum Nachrichter, zum Liquidator.

Im alten Strafrecht geschah etwas Wirksames; aber der Kosmos, der Weltweg (v.d. Leeuw), in dem dies geschah, besaß noch keine Zielgerichtetheit, keine Eschatologie. Das moderne Denken, welches das Strafrecht auflöst, lebt gänzlich in den Zeitkategorien der Eschatologie; aber es kehrt sie in die Innerweltlichkeit und verliert damit die Geschichte. Denn Geschichte geht auf ein transzendentes, unverfügbares Ziel. Diese Innerweltlichkeit hat ihr Ziel in der Vernunftentwicklung schon erreicht oder ist im Begriff, es zu erreichen, braucht es im Prozeß der Durchsetzung nur mehr zu verteidigen.

Schuld und Strafe sind voneinander und gemeinsam vom Problem der Geschichte und Geschichtlichkeit nicht abzulösen. Und Geschichte ist eigentlich und wesentlich Heilsgeschichte — in Gesetz und Evangelium (hierzu ausführlicher in Kapitel 12 und 13).

Damit wird die Frage entscheidend, wie denn die Strafe wirkt. Im Vergleich zur alten Realstrafe ist sie eine Ermäßigung. Die Korrelation Tat-Strafe bleibt unablösbar bestehen, aber die Strafe ist ein vermindertes Abbild der Tat. Die Strafe hat in der Identität der Talion, des Auge um Auge, Zahn um Zahn, ihre unüberschreitbare obere Grenze; sie darf diese Grenze nicht überschreiten, ja sie noch nicht einmal berühren, um ihren eigenen Sinn nicht zu verdunkeln. Auf der anderen Seite darf die Strafe, wenn sie ihren Wirklichkeitscharakter nicht verlieren soll, dem Menschen nicht aus der Wirklichkeit von Schuld und Strafe entlassen; sie darf weder eine bedingungslose, grenzenlose Entschuldigung zulassen noch ihn zum bloßen Objekt machen, wodurch er zwar äußerlich um so härter getroffen, innerlich aber nicht mehr betroffen, nicht mehr ernst genommen wird. Sie darf den Menschen nicht freistellen und nicht fallenlassen. Nicht sinnlose Routine, sondern der echte Glauben an die Strafe ist der Grund, weshalb der zum Tode Verurteilte am Selbstmord verhindert oder gesund gepflegt wird. Man braucht daraus kein absolutes Gesetz zu machen, aber soll auch nicht umgekehrt von hier aus das Gesetz unter dem Schein der Menschlichkeit in Frage stellen.

Wer mit der Realität der Strafe rechnet, rechnet mit dem Menschen, und wer es nicht tut, kann auch das andere auf die Länge nicht tun. Der schlechthin und auf alle Fälle zu entschuldigende

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Mensch hört auf, ein Mensch zu sein, weil er keine Geschichte mehr hat, weil er weder etwas Verantwortliches zu tun och zu erleiden imstande ist. Tun und Leiden gehören zusammen. Der Mensch, der nur tut und nicht leidet, ist ebenso außerhalb der Geschichte wie derjenige, der nur leidet und nicht tut. Die spirituale Scheidung beider gefährdet den Menschen am tiefsten, indem sie ihn zu erhalten sucht. „Wer sein Leben lieb hat, der wird es verlieren.” Dieser ontologische Satz richtet den bestgemeinten Humanismus. Die Straffähigkeit des Menschen ist ein Korrelat seiner Geschichtsfähigkeit. Man kann einen geschichtslosen, die Welt frei und beliebig beherrschenden Menschen ebenso konstruieren wie eine sich nur durch den Menschen vollziehende absolute Geschichte. Aber man hat in Wahrheit weder eine Geschichte noch keinen Menschen mehr, keine Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, keine Paradoxie von Gegenwart und Zukunft, von Immanenz und Transzendenz. Man hat nur noch Gegenwart, der die Geschichte, oder Geschichte auf eine absolute Zukunft, der die Gegenwart und der Mensch geopfert wird.

Schuld nun sollen wir hier nicht zu schnell als Chiffre benutzen, deren Inhalt nur scheinbar klargestellt wäre. Es gibt nicht Schuld an sich, sondern nur Schuld an jemandem und etwas. Schuld als Vorwerfbarkeit ist Verantwortlichkeit für eine Existenzverfehlung. Verbrechen als Existenzverfehlung ist in mehrfacher Weise zu beschreiben.

Es ist Häresie, indem es eine Seite menschlicher Existenz zur alleinigen zu machen sucht — indem der Mensch über den Anderen hinweg zu sich selbst zu kommen sucht — oder indem er über die Getrenntheit menschlicher Existenz hinweg zum Anderen zu kommen versucht. Der amor sui und die falsa communicatio entsprechen einander.

Es ist schuldhafter Irrtum über die Grundverfassung menschlichen Lebens, weil der Mensch der Aufdeckung dieser herben Bitterkeit ausweicht, weil er das Urteil über Kain nicht annehmen will, wiewohl es ihn nicht vernichtet, sondern am Leben erhält. Es ist Ungehorsam, weil der Mensch aus der bedrängenden Lage der Zwischenexistenz auszubrechen sucht, ihr nicht stehen will. Das Verbrechen ist Ungehorsam, der sich das, was dem Menschen gesagt und über ihn gleichzeitig wirksam geschehen ist, nicht gesagt und geschehen sein lassen will. Es ist Auflehnung gegen Gebote und Tatbestände zugleich. Es ist zugleich Unglaube, weil der Mensch dieser wirksamen Mächtigkeit ihre Wirksamkeit und Mächtigkeit nicht glaubt, sie nicht annimmt.

Der amor sui ist nicht die einzige Quelle des Verbrechens. Die unendliche Bereitschaft des Menschen zur Hingabe unter Überspringung seines unaufhebbaren Fürsichseins ist gleichermaßen die Quelle seiner Verfehlungen. Nur in einem sehr allgemeinen und den

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Tatbestand eher verdeckenden Sinne könnte beides miteinander unter den Begriff amor sui gebracht werden. Auch die falschen Opfer verstricken den Menschen.

Was aber ist dann auf die Schuld bezogene, auf sie gegründete Strafe? Beide, Schuld und Strafe, werden durch den Urteilsspruch verbunden und finden ohne diesen nicht zueinander. Der Spruch stellt fest — deklaratorisch —, die Strafe vollzieht es — konstitutiv —, daß der Täter sich ganz oder partiell aus der Rechtsgemeinschaft entfernt hat. Die Deckung beider zeigt schon an, daß das Urteil nicht einfach auf den Vollzug verzichten kann. Strafe ist reales Handeln am Täter, welches doch zugleich auf sein Bewußtsein gerichtet ihm verkündet wird, von ihm angenommen werden will. Wiederum ist es von dieser Annahme in seinem Rechtsbestande nicht abhängig, wohl aber in eigentümlicher Weise in seiner Wirkung. Denn der Vollzug ohne subjektive Annahme wirkt nur die äußeren Rechtsfolgen des Verbrauchs der Strafklage, des Verbots auch an den Geschädigten, erneut strafrechtliche Folgen zu fordern. Aber sie kann dem Täter von der Schuld nicht befreien, solange er diese selbst leugnet und sich gegen die Strafe überhaupt oder nach ihrem Maße sperrt. Zugleich ist diese Strafe irgendwie korrelativ zur Tat, abbildlich, aber wie gezeigt in einer homöopatischen Verdünnung, deren obere Grenze der Vergeltung grundsätzlich gegeben und nur selten erreicht oder auch nur erstrebt wird. Sie ist Mittel wechselseitiger Restitution und geht doch im bloßen Zweck nicht auf, weil sie notwendig mit der Restitution des Täters auch die des vom Verletzten repräsentierten Rechts enthalten muß. Dieser komplexe Begriff, der keineswegs eine gestaltlose Summe von Merkmalen, sondern voller innerer Bezüge ist, widerstrebt der Erfassung in einem explizit beschreibenden, abschließenden Begriff. Strafe kann auch im Vollzug verfehlt werden, wenn nämlich der Täter sich nicht annimmt — dann wird sie um einen wesentlichen Teil ihrer möglichen Frucht gebracht. Die recht verstandene begrenzte Strafe nimmt gerade ein Teilopfer als Ersatz für die Wiederherstellung des ganzen Verhältnisses an. Das wird dann gefährdet, wenn ein wesentlich pädagogisches Verständnis mit dem Ziel bekehrungsmässiger Sinneswandlung pseudoreligiöse, den ganzen Menschen beanspruchende Formen annimmt. Gerade der einfache Mensch hat ein Gefühl für die Untauglichkeit und Unsachlichkeit dieses moralischen Versuchs und die darin liegende Grenzüberschreitung, die metabasis eis allo genos. Die strafende Gerechtigkeit muß also bereit sein, die Teilstrafe für das Ganze zu nehmen, wie der Täter bereit sein muß, diese Strafe wirklich auf sich zu nehmen, sie nicht nur „abzumachen”. Wenn auch nur eines dieser subjektiven Momente fehlt, muß die Strafe fruchtlos bleiben und bleibt es allzu häufig. Der Täter versperrt sich diese Wirkung selbst; die Gemeinschaft aber sündigt an ihm, wenn sie selbst nicht bereit ist, dies so anzunehmen. Nur unter

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dieser Bedingung trifft eine Wandlung und Heilung des gestörten Verhältnisses in dem möglichen begrenzten Maße ein. Damit wird die Halbwahrheit des Satzes sichtbar, daß die Strafe ihren Sinn in sich selbst trage, ebenso wie die Versuchung, sie pseudoreligiös umzudeuten. Auch der Strafe steht zwischen opus operatum und Schwärmertum, welches immer zugleich ethisch-pädagogischen Perfektionismus und Auflösung enthält.

Verfehlt scheint es mir, der recht verstandenen Strafe den Charakter des Übels zu bestreiten, wie Lange es aaO. tut. Dem negativen Verhalten des Täters entspringt ein negatives der Gemeinschaft in der Strafe. Das ist der Wahrheitskern der im übrigen so verhängnisvoll abstrakten Hegelschen These. Das Strafübel in Gegensatz zu Rüge und Ermahnung zu stellen, scheint mir systematisch verfehlt. Das negative Moment kann aus ihr nicht entnommen werden. Für manche Täter ist freilich schon der Urteilsspruch, der seine Schuld endgültig feststellt, ja schon das Verfahren soviel wie eine Strafe. Aber das berührt den Strafbegriff nicht. Denn dann kann man eben bei einem Täter mit noch so empfindlichen Gefühl von der Strafe im Einzelfall absehen. Aber auch die Rüge ist strafendes Wort. Sie ist nicht schmerzlos. Das ungehorsame Kleinkind aber stellt man in die Ecke, bis der Bock überwunden ist und man ihm erlauben kann, zurückzukommen. Die im gewissen Maße objektive Tendenz zur Subjektivierung zeigt die deutliche Neigung, damit zugleich die Sache selbst zu verlieren, wie eine solche Verwirrung der Begriffe zeigt.

Bei aller Komplexität ist der Grundzug des Ganzen doch deutlich: Strafe ist reales Handeln (auch das strafende Wort ist gänzlich bedeutungslos, wenn es nicht wirkendes Wort ist), dieses fordert die Annahme durch den Menschen und ist zugleich auf eine heilsame Zukunftswirkung gerichtet. Nur formale Teilwirkungen sind durch ihren Vollzug an sich zu erreichen; ohne Realcharakter aber ist sie wirkungslos und verkennt sich moralisierend. In der eigentümlichen Verbindung von realem Handeln und Innerlichkeit trägt sie den Charakter eines personalen Geheimnisses an sich.

Die gegebene Form ist die ermäßigte stellvertretende Abbildlichkeit, die den Menschen nicht zum Objekt macht, sondern ihn im personalen Bezug hält. Sie fordert zugleich seinen Glauben, daß hier etwas Wirksames geschehe, einen sehr einfachen Glauben ohne metaphysische Spekulation, aber auch den Glauben wie das Wissen derjenigen, die zum Handeln an diesem Menschen berufen sind. Die hier erforderlichen Einsichten hat die Rechtsphilosophie offensichtlich weder freizuhalten noch zu verteidigen vermocht. Daß hier der Mensch nicht fallengelassen wird, gilt auch für die Grenzsituation der absoluten Strafe, auf die noch einzugehen ist.

Diese personalbezogene, realwirkende Sinnbildlichkeit ist am ehesten unter dem Begriff des Sakraments verständlich zu machen,

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so belastet dieser Ausdruck ist23. So könnte man die Strafe als ein Sakrament des alten Bundes bezeichnen, wenn man daraus nicht sogleich wieder eine billige und notwendig mißverständliche Definition einer so tiefgründigen und vielschichtigen Erscheinung machen wollte. Die Sakramente des neuen Bundes sind nicht willkürliche Zeichensetzungen, sondern wurzeln im stellvertretenden Strafleiden. In ihnen wird das Gesetz erfüllt, nicht aufgehoben. Das stellvertretende Strafleiden ist nicht ein Beil unter Bildern, etwa gar eine anthropomorphe Deutung eines gänzlich anderen metaphysischen Vorgangs, dessen geheimnisvolle Undeutbarkeit so einigermaßen menschlichem Verständnis angepaßt wird; es ist echte geschichtliche Wirklichkeit. Die Strafe hat mit dem sakramentalen Handeln die Problematik gemeinsam. Sie steht zwischen der Denkmöglichkeit des opus operatum, die sich an den exakten Vollzug als solchen haftet, und der subjektivierenden Reduktion in das bloße Zeichen, welches den Realcharakter immer stärker abstreift, entbehrlich macht und durch moralisierende Ermahnungen ersetzt. Alle großen Institutionen, in deren Rechtsraum der Mensch gehalten und verfaßt ist, Ehe, Eigentum, Staat, Kirche, sind der gleichen doppelseitigen Verfehlung ausgesetzt — der objektivierenden Verhärtung äußeren gesetzlichen Vollzugs und subjektivierender Auflösung mit chiliastischem Hintergrund24.

Die Strafe ist die negative Institution zu den großen positiven Institutionen. Der Mensch, der sich in den status negativus privatus durch die Tat begeben hat, wird durch den status negativus publicus, den das ganze Strafverfahren potentiell und die Strafe dann aktuell bedeutet, wieder in den status positivus zurückgeführt.

Von den herkömmlichen Betrachtungen des Strafrechts unterscheidet sich die vorliegende bewußt dadurch, daß sie überall auf die Morphologie und Problematik anderer Rechtsbereiche vergleichend Bezug nimmt. Dies erscheint mir ebenso wichtig wie die Heranziehung theologischer Erkenntnisse einschließlich gewisser in der Theologie auftretender, mit der Jurisprudenz eng verwandter Denkstrukturen25.

Auf die Parallelität der Entwicklung des Schuldbegriffs im Strafrecht und dem ebenso personalen Bereich des Ehescheidungsrechts habe ich in der Abhandlung über Grundprobleme des Ehescheidungsrechts26 im Einzelnen hingewiesen. Auch hier zeigt sich eine


23 Vgl. Dombois: „Krise des Strafrechts”, aaO. S. 77ff.
24 Vgl. „Recht und Institution”, Glaube und Forschung, Band 9, Witten 1955.
25 Vgl. über die Gemeinsamkeit von Denkstrukturen in beiden Disziplinen die Abhandlung des Verfassers zum Naturrechtsproblem in der Ev.-Luth. Kirchenzeitung 13/55.
26 Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht, Band V Heft 1 S. 32ff.

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steigende Subjektivierung des Schuldbegriffs, bis dieser im Nebeneinander von Verschuldensscheidung und Zerrüttungsscheidung in die objektive Prognose ebenso umschlägt, wie das Tatstrafrecht das Täterstrafrecht herausfordert und hervorbringt. Abhängig aber ist auch diese Entwicklung nicht von der Subjektivierung des Schuldbegriffs für sich allein, sondern von der Bewahrung der Auffassung, daß im Eheschluß etwas wirklich Geschichtliches, nicht einfach frei Verfügbares, d.h. grundsätzlich Irreversibles geschehe. Strafrechtliche Verantwortlichkeit (Schuld) und Strafe, Eheschluß und Verschuldensscheidung, die nicht in Vertragsscheidung übergeht, ist ls konkretes Rechtsinstitut von einem Geschichtsbild, von der Vorstellung echten irreversiblen und damit verantwortlichen Geschehens abhängig, welches im vorchristlichen Weltbild noch nicht und im säkularen Weltbild nicht mehr begriffen und durchgehalten wird. Im einzelnen darf ich auf die Darstellung aaO. verweisen, welche die rechtsgeschichtlichen Abschnitte dieses Vorgangs genau darstellt.

Diese Geschichtlichkeit und damit zugleich Verantwortlichkeit menschlichen Handelns konstituiert den Menschen als Person, nicht der Anspruch seines An-sich-Seins auf Respektierung. Geschichtlichkeit und Verantwortlichkeit bedingen sich gegenseitig und gemeinsam den Menschen.

Geschichtliches Handeln ist nicht nur Handeln im politischen Raum, sondern jedes menschliche Handeln, weil ihm mit der Unumkehrbarkeit zugleich Verantwortlichkeit eignet, weil es nur vorwärts, nie rückwärts gewandelt werden oder sonst als beliebig Verfügbares ebenso beliebig aus der Welt geschafft werden kann.

 

B

Dieser Schuldbegriff ist nun kein eindeutiger, sondern ebenso wie die menschliche Existenz ein widersprüchlich-mehrschichtiger.

Das Verhältnis des Täters zur Tat ist nach dem früher Gesagten ein doppeldeutiges. Es hängt von dem vorausgesetzten Tatbegriff ab, von dem Gesichtswinkel, unter dem es der Betrachter sehen muß. So bilden sich Tatschuld und Täterschuld. Die gleiche Mehrdeutigkeit gilt für den Schuldbegriff. Im Tatbegriff ist der Schuldbegriff schon vorgeformt. Der aktualen, begrenzten, vom Täter ablösbaren Tat entspricht die ebenso scharf auf die Einzeltat bezogene Tatschuld. Dem existentiellen, dem Wesen des Täters entspringenden, ihm unablösbar anhaftenden verbrecherischen Hang, aus dem Einzeltaten als Anzeichen hervorgehen, ohne ihn zu erschöpfen, entspricht die Täterschuld.

Die Täterschuld steht schon am Rande des Schuldbegriffs, überschreitet sie schon zum Teil. Hier sind wesentlich objektive Feststellungen möglich, welche immer ein Moment der Schuld und damit der Freiheit enthalten, aber nicht mehr allein von diesen bestimmt sind. Deshalb ist hier eine schlüssige Trennung von objektiven und

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subjektiven Momenten nicht mehr möglich. Der Begriff der Täterschuld berührt die Grenze der Nicht-Judiziabilität und verlagert das dennoch erforderliche Urteil in die vom Gesetz geforderte objektive Prognose. Zwischen Tatschuld und Täterschuld steht als Mittelbegriff die im Gesetz vom 20. Dezember 1934 (§ 20 a StrGB) eingeführte und auch von der Nachkriegsrechtsprechung bejahte „Lebensführungs- oder Charakterschuld”. Dieser systematisch wenig befriedigende Begriff ist nicht die Grundlage für das Sicherungsstrafrecht, für das zweite Gleis des Strafrechts, sondern nur ein Versuch, die Tatbestände des Sicherungsstrafrechts, des Täterstrafrechts, mit dem Tatschuldbegriff auszugleichen. Die Vorentscheidung für ein bestimmtes gewohnheitsmäßiges Tun als Bettler, Landstreicher, Kuppler, Hehler, Bandendieb, die Entscheidung für einen bestimmten status negativus, schafft Determinationen, die nicht mehr einfach gelöst werden können. Dieser Sachverhalt gleicht in etwa der actio libera in causa, d.h. einem vorauslaufenden Tun, welches dann ohne speziellen Entschluß schädliche Folgen zeitigt, wie in jenem Schuldbeispiel der Mutter, die den Säugling ins Bett nimmt, um ihn im Schlaf zu erdrücken.

Auch hier darf sich der Jurist die Erkenntnisse und Begriffsmittel der Theologie zunutze machen. Die lutherische Theologie lehrt einen dreifachen Gebrauch des Gesetzes (triplex usus legis), von denen hier zunächst die beiden ersten, der usus primus oder civilis und der usus secundus oder elenchticus interessieren. Der usus civilis, der bürgerliche Gebrauch, entspricht ungefähr dem Begriff der Tatschuld, indem er bestimmte konkret umrissene Taten als Verletzung göttlicher Gebote ins Auge faßt. In den positiven Geboten des Dekalogs kehrt ja der sachliche Grundbestand des klassischen Strafrechts wieder. Religiöse Schuld ist aber immer zugleich und vor allem existentielle Schuld, Wesensschuld, Folge des dem Menschen anhaftenden Falls, seiner Gefallenheit. Indem dem Menschen die Unerfüllbarkeit der Gebote in ihrer Radikalisierung durch das Evangelium (begehrlicher Blick, Schelten des Bruders) gezeigt wird und damit auch die Verderbtheit seiner scheinbaren Gesetzeserfüllung, wird dieser Gebrauch des Gesetzes zum überführenden. Durch das Scheitern am Gesetz wird dem menschen seine Erlösungsbedürftigkeit vor Augen geführt. Dieses Urteil geht jeden Menschen an und trifft auch den gesetztestreuen Richter untadeliger Lebensführung. Der Begriff ist also keinesfalls mit der juristische Täterschuld zu verwechseln und direkt vergleichbar. Dennoch eröffnet er dem Juristen eine Dimension des Schuldproblems, die vom alleinigen Gesichtspunkt der Tatschuld her nicht einsichtig ist und die im Bereich des Sicherungsstrafrechts hinter der objektiven Prognose zu Unrecht verschwindet. Er erinnert daran, daß ein mit dem Menschen in der Tiefe wesenhaft verbundene Determination vorhanden ist, die nicht auf äußere Ursachen abgelastet und nicht als bloße

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Folge und auch nicht als bloße Subtraktion von der vorausgesetzten Willensfreiheit betrachtet werden kann. Denn eine wesenhafte Verfallenheit bleibt auch als existentielle, als Erbsünde Sünde, bleibt Schuld. Ja sie ist gerade Sünde und Schuld im eigentlichen Sinne27.

Richter und Verbrecher leben beide in existentieller, in Täterschuld. Beim Verbrecher aber wird sie in rechtlich erfaßbaren Vorstößen gegen die institutionelle Ordnung sichtbar und faßbar, sowenig sie damit erschöpft wird. Weit früher als die Strafrechtstheorie hat sich die Theologie mit dem Nebeneinander von einzelner Schuld und Wesensschuld un ihren Beziehungen auseinandersetzen müssen und bietet nun dem Juristen die geformte Erkenntnis dar, daß die letztere an die Grenze des Schuldbegriffs als überführende heranführt. Bis zur Entstehung des strafrechtlichen Naturalismus gab es theoretisch im Recht nur Tatschuld. Die Form der Täterschuld konnte begrifflich nicht erfaßt werden. Die schweren Fälle des Hangverbrechens wurden entweder durch die absolute, die Todesstrafe gedeckt oder in der Theorie als besondere nicht erkannt. Mit der Einführung des zweigleisigen Strafrechts wurde die Täterschuld judiziabel, aber in einer Form, welche den Schuldbegriff notwendig schon überschritt. Durch die Brücke des § 20 a StrGB, den man jetzt mit Recht als nutzlos aufgeben will, kann diese grundsätzliche Differenz nicht ausgeglichen werden. Das Sicherungsurteil beruht auf einer Feststellung, die das Schuldmoment zwar einschließt, es aber nicht mehr präzise von der objektiven Determination abgrenzen kann und sich gleichzeitig auf diese und die Prognose als drittes Moment stützt. Das Sicherungsstrafrecht befindet sich also in einer ausgesprochenen Randsituation, die aber nicht vermeidbar ist.

Die dritte Dimension des Schuldbegriffs ist die der Gesamtschuld. Für unser Rechtsgeschichtsbild scheint das keine echte Frage mehr zu sein. Denn Schuld und Individualverantwortlichkeit scheinen grundsätzlich identisch. Gesamtschuld könnte so nur Gesamthaftung bedeuten, auf einer Vergemeinschaftung beruhend, deren Auflösung gerade die Einführung des Schuldbegriffs voraussetzt. Das ist richtig, Gesamtschuld ist nicht judiziabel, genau so wie Täterschuld nicht als solche, sondern nur durch die Einführung objektiver Momente der Determination und der Prognose judiziabel geworden ist. Aber was nicht judiziabel ist, ist damit noch nicht aus der Welt. Schuld ist eine dreidimensionale Größe, von der nur eine Seite, die der Tatschuld im strengen Sinne rationabel und damit judiziabel ist. Man rechnet merkwürdigerweise in der Generalprävention mit der Gesamtheit der Gruppe, aus der das Verbrechen eines Einzelnen hervorgegangen ist, nicht aber bei der Betrachtung der Tat und der Schuld selbst. Wer als Richter eines Bezirks, als Truppenführer eine längere Zeit einer geschlossenen Einheit gegenübergestanden hat, kennt nicht


27 Vgl. im anderen Zusammenhang Dombois: „Krise des Strafrechts”, S. 76ff.

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nur die empfindlichen Wirkungen jedes Fehlgriffs in der Strafbemessung nach der scharfen wie nach der milden Seite. Strafrecht erweist sich als ein Vorgang sittlicher Integration, in welcher das Rechtsbewußtsein der Gesamtheit immer wieder neu abgegrenzt und bekräftigt wird. Er weiß auch, in welchem Maße Taten untergründig aus der Haltung der Gesamtheit hervorgehen. Daß dies in vielen Fällen scheinbar völlig ausgeschlossen werden, in ebenso vielen Fällen durchaus nicht deutlich gemacht werden kann, ändert nichts daran. In manchen Formen der Öffentlichkeit des Verfahrens, in der Haltung des Volkes gegenüber dem hinzurichtenden Verurteilten wird zuweilen rechtsgeschichtlich das Bewußtsein deutlich, daß der Täter bei aller persönlichen Schuld immer auch in Stück allgemeiner Schuld trage und abtrage28.

Diese unreflektierte Empfindung und Haltung führt aber gerade dort, wo sie wirksam ist, nicht zu dem Kurzschluß, den Täter durch die Gemeinschaftsschuld entschuldigt zu sehen. Daß das so ist, beruht wohl wesentlich darauf, daß der christliche Glaube von der Realität existentieller Schuld, der Täterschaft aller, weiß. Es heißt nicht umsonst „Vergib uns unsere Schuld” und nicht „meine” Schuld. Da die Rechtstheorie die Täterschuld lange Zeit überhaupt nicht erfaßt oder als ihrem Denkbereich und Personbegriff inadäquat abgelehnt hat, konnte sie diese Brücke zum Verständnis der Gesamtschuld auch nicht besitzen. Mit dem Auftreten der Täterschuld wird uns aber auch dieser Aspekt wieder sichtbar. Sie ist aber auch für Handhabung des Tatschuldbegriffs damit konkret rechtlich nicht bedeutungslos. Denn diese Mehrschichtigkeit des Schuldbegriffs entnimmt gerade die Tatschuld der moralischen Absolutheit, ohne sie aufzuheben, und bietet den Maßstab zu einer sehr viel richtigeren Bewertung.


28 Vgl. Dombois: „Krise des Strafrechts”, aaO.