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Kapitel 11

Absolute und relative Strafe

Strafe ist in Kapitel 7 als wechselseitige Restitution beschrieben worden, als ein doppelseitiger Vorgang, der zur Wiederherstellung des Rechtsstatus beider Teile, des Täters wie des Geschädigten, zu führen bestimmt ist. Dieser systematischen Korrelation der Personen entspricht die Tatsache, daß auch der Gegenstand und Inhalt von Strafe und Genugtuung ein abbildlicher, ermäßigter, geminderter ist und an die Stelle des unwiederbringlich Zerstörten tritt. Die meisten und jedenfalls die wesentlichsten Gegenstände strafbaren Tuns sind immer nur annäherungsweise ersetzbar. Diese doppelte Relativierung und Ermäßigung scheint die sog. absolute Strafe, insbesondere die Todesstrafe systematisch auszuschließen und damit die Zulänglichkeit dieser Anschauung überhaupt in Frage zu stellen. Denn wie man auch immer zur Todesstrafe stehen mag: zum Phänomen der Strafe gehört sie geschichtlich auf alle Fälle so, daß ihre Ausscheidung und der Verzicht auf Einbeziehung, auf Erklärung in seinem Rahmen nur auf die Anwendung des Morgensternschen Satzes hinauslaufen würde: „denn also schließt er messerscharf, daß nicht sein kann, was nicht sein darf.” Deshalb ist die Frage auch nicht identisch mit der gesetzespolitische Frage nach der Einführung oder Abschaffung der Todesstrafe oder ihrer Beschränkung auf bestimmte Delikte und Fälle. Es geht vielmehr um die systematische Frage: In welchem Verhältnis steht die absolute Strafe zum Strafbegriff? Diese Frage kann nur auf zwei Wegen gelöst werden. Entweder gelingt es nachzuweisen, daß in dem Begriff der „absoluten” Strafe eine petitio principii liegt, daß also auch die sog. absolute Strafe in Wahrheit ebenso relativ ist wie die relative, d.h. begrenzte Strafe. Oder durch den Nachweis, daß sie einen echten, die Regel nicht durchbrechenden, sondern bestätigenden Grenzfall darstellt. Die dritte, negative Möglichkeit wäre dann, sie als eine echte Regelwidrigkeit und Sinnlosigkeit zu erweisen. Es ist allerdings meine Überzeugung, daß dieser letztere negative Nachweis infolge der dogmatischen Naivität der Philosophien gegenüber ihren eigenen Voraussetzungen und zugleich der ständigen Verwechslung der gesetzespolitischen mit der prinzipiellen Frage angesichts der weitreichenden Phänomenalität der Todesstrafe noch keineswegs gelungen ist. Erst eine kritische Übersicht über die Dogmengeschichte der Rechtsphilosophie ermöglicht hier ein Urteil.

Man kann also hierüber nur weiterkommen, wenn man zwischen der Phänomenalität des Gegenstandes und der Geschichtsbedingtheit der Lösungen einen Ausgleich findet.

Den vielfältigen Erscheinungen, die wir im weitesten Sinne als Strafrecht zusammenfassen und die einschließlich des Rechtes der Blutrache, der Buße, der Friedloslegung historisch im Strafvorgang

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und Strafbegriff zusammengewachsen sind (Integration und Desintegration der Elemente des Strafrechts), liegt ein zentraler, allgemeiner und fundamentaler Rechtsgedanke, der der Restitution zugrunde. Der Schaden drängt nach Ausgleich. Was zerstört ist, soll wieder geheilt werden und hat Anspruch darauf. Im Verhältnis zu diesem Rechtsgedanken sind die einzelnen Gestaltungen einschließlich der Abstraktion des Strafbegriffs als einer Zusammenordnung von Rechtsfolgen und Rechtsvorgängen sekundär.

Jeder Rechtsbruch stellt die Rechtsgemeinschaft in mehr oder minder hohem Grade in Frage. Jeder Rechtsbruch aber verlangt nach Heilung. Aber die Taten haben von vornherein verschiedenes Gewicht. Wiewohl jede Tat den Täter aus der Gemeinschaft absondert, sind doch die meisten Taten relativ so gering von Bedeutung, daß der Bruch nicht in die Tiefe geht, die Heilung als das Normale erscheint. In einem Liebesverhältnis kann ein objektiv ganz geringfügiger Vorgang wegen des sich darin ausdrückenden Vertrauensbruches zur völligen Aufhebung der Beziehung führen. Die relative Äußerlichkeit rechtlich-institutioneller Verbundenheit schließt das aus. Der institutionelle Charakter der Ehe ist gerade eine Lebenshilfe gegen die ungeschützte Verletzlichkeit rein spiritueller Beziehungen. Der Begriff der Schwere des Verbrechens ist trotz unserer mechanischen Strafskala ein primär qualitativer, erst sekundär quantitativer Begriff. Ein schweres Verbrechen ist ein solches, welches die Zugehörigkeit des Täters zur Rechtsgemeinschaft von Grund auf in Frage stellt, welches sich nicht von vornherein als interne, auf Heilung angelegte Verfehlung darstellt. Hier taucht wieder die Frage der Externität und Internität auf. Jener Satz läßt sich auch umkehren: wo immer auf Grund einer Straftat, gleichviel welcher Art, die gesamte Rechtsexistenz des Täters in Frage gestellt wird, wird diese Tat offenbar als fundamentale und externe angesehen. Man muß, um dies zu verstehen, die alles verwirrende Zweckvorstellung herausnehmen, sie auf dasa ihr zukommende Maß beschränken, ihr die naive Ausschließlichkeit nehmen. Soweit etwa Diebstähle mit dem Tode bestraft werden, ist es ein Zeichen dafür, daß sie als Tat eines out-cast angesehen wurden — jedenfalls im Regelfall, als eines Externen, der den Rechtsfrieden im Ganzen bedroht wie der Viehdiebstahl einer Räuberbande unter bäuerlichen Verhältnissen. Abgelöst von diesem Sinn und den konkreten Verhältnissen rechtloser Zeiten hat dann die Bestrafung des Diebstahls, eine bloße Tradition barock übersteigend, sinnlose Schärfen erreicht.

Fundamentaldelikte sind geschichtlich weit eher der Mord, gewisse Sexualdelikte einschließlich der Verletzung ständischer Geschlechtsgrenzen und der politische Verrat. Der Täter hat sich hier aus der Gemeinschaft entfernt, sie und ihre Ordnung von Grund auf in Frage gestellt und wird daher aus ihr entfernt. Diese gemeinschaftsaufhebenden Fundamentaldelikte ziehen sämtlich den Tod nach sich.

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Von ihnen sind noch heute mehr oder minder weit in Kraft die absolute Strafe für den Mord und den Verrat. Das Sexualdelikt hat seinen grundlegenden Charakter verloren, da die Geschlechterordnung keine Prägnanz mehr besitzt und der rationale Mensch die Geschlechtsbezüge in die Reihe der verfügbaren Bezüge eingereiht hat, freilich unter Verkennung ihrer Mächtigkeit.

In der Friedloslegung, die sich aus dem Fundamentaldelikt ergibt, wird der Täter für die Tötung freigestellt, aber diese nicht positiv erfordert. Nehmen die Angehörigen des Getöteten etwa dem Täter das Leben, so vollziehen sie eine einseitige Restitution, indem sie sich im Zug magischer Vorstellungen die Lebensmächtigkeit des Täters zueignen und so den Schaden wettmachen, den sie — mit dem Getöteten wesentlich identisch — erlitten haben.

Ausgehend von der gesicherten geschichtlichen Tatsache, daß die Strafe die Rechtselemente auf diesem Gebiet zusammenfaßt, ist zu fragen, wie sich die Todesstrafe von der Tötung des Ächters unterscheidet. Inwieweit kommt der Rechtscharakter der Strafe beiden Beteiligten zugute? Die Gemeinschaft stellt zwar ideell die Unverletzlichkeit ihres Grundbestandes heraus, indem sie sie sichtbar dokumentiert. Für den Täter bleibt das äußere Ergebnis das gleiche, getötet wird er so oder so. Die Formen haben sich freilich wesentlich geändert. Er erlangt grundsätzlich d en Anspruch auf gerechtes Gericht, Ausscheidung jeder Rechtsüberschreitung und Willkür. Ist dies lediglich sekundär, wie es im Verhältnis zum Endergebnis erscheint? Zunächst hat er bis zum Urteil, ja bis zur Vollstreckung eine Rechtsposition, welche ihm die Friedlosigkeit völlig nahm. Ist dies nun lediglich eine schützende Rechtsvermutung, die jeden Unverurteilten dem Unschuldigen gleichstellt, welche mit der endgültigen Feststellung der Todeswürdigkeit dahinfällt, die ihm nur zur Vermeidung von Irrtum und Willkür eingeräumt wird?

Was hier über die Prozeßrechtsstellung hinaus vorliegt, wird in der Rechtssprache deutlich, wenn es heißt, der Hinzurichtende werde „justifiziert”. Das heißt nicht: er wird gerichtet — das ist er schon. Er wird auch nicht bloß hingerichtet (Nachrichter). Er wird vielmehr dem Wortsinne nach „gerechtgemacht”. Das kann nicht anders verstanden werden, als daß er durch die schuldbefreiende Wirkung der Strafe wieder einen Rechtsstatus erlangt, eine Art postmortale Reinigung des Gedächtnisses. Da es sich hier um vorzugsweise ideelle Rechtswirkungen handelt, die sich in relativ unwichtigen Nebenwirkungen äußern, ist dieses Verständnis weder eindeutig noch durchgängig feststellbar. Es konkurriert deutlich mit der Vorstellung der völligen Auslöschung, des bürgerlichen Todes, also einer eindeutigen Aufhebung des Rechtsstatus, und der Tendenz zur Austilgung des Gedächtnisses. Die Konkurrenz der Anschauungen zeigt deutlich den Grenzcharakter des Phänomens, auf den noch einzugehen ist.

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Wesen und Art dieser Anschauungen wird man besser verstehen, wenn man sie im geschichtlichen Zusammenhange betrachtet. Wie gesagt, bewirkt die Tötung des Ächters nur eine einseitige Restitution und gewährt diesem keine ideelle Restitution, hat keine sühnenden Wirkung. Andererseits fallen mit der modernen Rationalisierung des Strafgedankens alle diese Erwägungen hinweg. Der Vollzug als solcher schafft hier nichts mehr, sondern nur noch die psychologischen Wirkungen, die mit ihm verbunden sind und allein angestrebt werden. Deshalb verliert das strafrechtliche Zweckdenken so leicht den Rechtscharakter, weil es höchstens noch unbewußt Momente des Restitutionsgedankens in sich enthält. Andererseits hat die moderne Rechtsstrafe im strengen Sinne den Bezug auf die Restitution verloren, weil ihr Rechtsbegriff apersonal, metaphysisch ist und Absolutheitscharakter beansprucht. Auch hier steht die personale Relativität des Restitutionsgedankens höchstens unklar im Hintergrunde. Grundsätzlich ist hier der Mensch nur Substrat und Objekt eines objektiven Rechtsgedankens — und dieser Verzicht bringt sich erst in der Gesamtrechnung der Welt irgendwie wieder ein. Die logische Rechenoperation der Hegelschen Negation der Negation ist ohne personales Element. Das ist nicht weniger Rationalismus als das entgegengesetzte Zweckdenken.

So bietet scheinbar die Rechtsgeschichte nur zwei (oder anders drei) Abschnitte in der Behandlung des Problems: die bis in die Gegenwart irrational weiterwirkende magische Epoche der einseitigen Restitution durch vernichtende Ergreifung des Täters und Aneignung seiner Macht, und die Epoche des rationalen Rechts, gespalten in objektiven Rechtsvollzug und zweckhafte Verfügung über den Menschen unter widerstreitenden Gesichtspunkten der Zweckhaftigkeit. Nirgends geht es dabei — im Kapitaldelikt — zugleich um den Täter: dieser hat immer sein Leben verwirkt, und es wird nur noch erwogen, was man aus seinem verlorenen Leben noch macht, ob man seine eigene Macht durch seine Besiegung erhöht, ob man ihn der Rechtsidee opfert, ob man ihn zur Abschreckung benutzt oder ihn steril beiseite räumt, wie man überhaupt Krankheit und Tod steril hinter Mauern isoliert. Ihnen allen ist gemeinsam das konsequente Absehen vom Täter, und ich vermag hier keinen Fortschritt der Humanität, sondern nur eine Spiritualisierung der Formen zu sehen. Diese drei Epochen oder Rechtsformen, magische, metaphysische und zweckhafte, sehr ähnlich der Dreistadienlehre Auguste Comtes, würden uns ein lückenloses Bild des rechtsgeschichtlichen Ablaufs geben, wenn nicht ein völlig anderes Moment dazwischenträte. Es ist der Prozeß Gottes mit der Welt, der im Alten und Neuen Testament bezeugt ist, der im Prozesse Jesu seinen Höhepunkt, im Jüngsten Gericht seinen Abschluß, seine letzte Instanz findet. Denn gerade hier zeigt sich, daß es nicht um die Wiederherstellung des Verletzten für sich in metaphysischer

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Isoliertheit geht — denn Gott ist der Verletzte —, sondern daß es sich um die wechselseitige Restitution handelt, die in einem inneren Zusammenhang steht. Denn der status quo ante kann nur hergestellt werden, wenn beide, Gott und der schuldige Mensch, zusammen restituiert werden. Darum muß der menschliche Täter justifiziert, gerecht gemacht werden, einen neuen Rechtsstatus erhalten, der schuldige Mensch, Kain und seine Erben unter ihrer Bewährungsfrist stehen, auf ihre Taten belangt, dem verletzen Richter und Herrn ebenso einseitig und hoffnungslos gegenüber wie nur irgendein Täter einer todeswürdigen Tat in den sich wandelnden Rechtsformen den Verletzten und dem Staat, die die Restitution, Rechtsvollzug oder Sicherung suchen. Deshalb muß sich zunächst der Verletzte selbst zum schuldigen Täter machen lassen, in die Rolle des Täters eintreten und für diesen die Strafe auf sich nehmen. Ob das Karfreitagsurteil ein Urteil von typisch menschlicher korrekter Gerechtigkeit und eben deshalb ungerecht oder ob es auch nach menschlichen Maßstäben nur durch Rechtsbrüche möglich war, ist seither umstritten und hier nicht entscheidend. Das Bemerkenswerte und Anstößige ist vielmehr, in welchem Maße hier sich die Heilsgeschichte der innerweltlichen Rechtskategorien bedient. Dabei ist sicher, daß dieses Geschehen vom metaphysischen Rechtsdenken her gar nicht zu verstehen ist — sonst hätte Gott schon der Todesstrafe gegen Kain freien Lauf lassen müssen. Ebensowenig ist hier der Zweckgedanke ausreichend und angemessen. Hier wird weder abgeschreckt noch gebessert — das Recht nimmt seinen Lauf. Auber nicht allein dem Recht dieser Welt ohne Rücksicht auf dessen geistige Form, sondern einem jedenfalls vorrationalen Rechte, welches — horribile dictu! — die Vorstellungen des magischen Realismus in sich enthält, wonach das vergossene Blut durch das zu vergießende wettgemacht wird. In zweifacher Richtung freilich transzendiert die dem Prozesse Gottes mit der Welt zugrunde liegende Rechtsvorstellung ihren Ausgangspunkt, ihre Grundlage im magischen Realismus und sprengt sie. Es ist nicht einseitige Restitution, in welcher der Verletzte zum Ausgleich seines Schadens sich des Täters bemächtigt. Es ist doppelseitige Restitution, weil der Vorgang sich über die Todesgrenze erstreckt und sich in einem neuen Status der Versöhnung und Erhöhung des stellvertretenden Schuldigen vollendet. Der von Adam bis zur Apokalypse sich erstreckende Heilsprozeß ist nicht entmythologisierbar, weil in den Kategorien des metaphysischen und des Zweckstrafrechts das gleiche Ergebnis der wechselseitigen Restitution nicht darstellbar ist — denn diese Denkformen sind dem hier Ausgesagten nicht adaequat. Die Annahme also, daß derselbe Gedanke in verschiedenen Denkformen mutatis mutandis ausgesagt werden könne, ist irrig und beruht auf Rechtsunkenntnis. Ein spiritualistisches oder symbolisches Verständnis, welches mit dem Realcharakter auch den

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Rechtscharakter verneint, hilft hier nicht, weil ja auch das Bild nur in den Formen dieses Realismus vollständig, ohne Herausnahme inhaltlicher Momente wiederzugeben wäre. Dabei ist mit Entschiedenheit festzuhalten, daß der magische Charakter grundsätzlich transzendiert ist: der Verfügungscharakter des magischen Handelns ist dadurch gebrochen, daß im Überschreiten der Todeslinie das menschlich Unmögliche möglich geworden ist32a.

Es geschieht also das Erstaunliche, daß der Heilsprozeß mit peinlichster Strenge in den Denk- und Vollzugsformen des magischen Realismus ausgetragen wird und daß dennoch dieser Charakter völlig transzendiert wird und die Alleinmächtigkeit Gottes erweist.

Aus dem Gesagten ergibt sich zweierlei:
1. Die christliche Anschauung von Person, Geschichte und Verantwortlichkeit steht in einem engen Bezuge zu Todesschuld und Todesstrafe32b. Der Christ kann die Berechtigung der blutigen Todesstrafe nicht grundsätzlich leugnen, ohne die alleinige Grundlage seines Heils zu einem rechtsgeschichtlichen Anachronismus zu machen. Man stelle sich nur vor: Jesus als gefährlicher Aufrührer in lebenslänger Haft oder nach dem Grundsatz der Religionsfreiheit freigesprochen. In einem Fall ist die Grenzsituation entschärft, im anderen wird ihr dissimulierend völlig ausgewichen.
2. Nach allen geschichtlich feststellbaren Rechtsanschauungen führt das Fundamentaldelikt, insbesondere aber durchgängig der Mord, zur Verwirkung des Lebens. Ob der Vollzug blutig oder unblutig ist, ist gegenüber dieser Grundanschauung sekundär,


32a Über den Rechtsgehalt (die „Rechtsmystik”) des Johannesevangeliums vgl. Theo Preiss: „Die Rechtfertigung im johanneischen Denken”, Ev. Theologie 1956, S. 289ff.
32b Die christliche Rechtslehre folgt in ihren älteren Formationen, im thomistischen Katholizismus, in der altprotestantischen Orthodoxie beider Bekenntnisse sowie im stark idealistischen Neuluthertum überwiegend der metaphysischen Rechtstheorie — die neuere kritische protestantische Theologie beschränkt sich, ihrer rationalistischen Tendenz entsprechend, auf die innerweltlichen Zweckerwägungen und führt diese kritisch ad absurdum. Eine rechtsgeschichtliche und morphologische Übersicht über das Problem fehlt — es erscheinen mehr oder minder thetische Aussagen. Beide Richtungen verwechseln ihre Stellung in Postion und Negation mit Gesetz und Evangelium, und zwar die Metaphysik mit dem Gesetz und die Kritik mit dem Evangelium. So hebt das Evangelium das Gesetz auf — immer genau so weit, als es die Fortschrittlichkeit des Theologen für angezeigt hält — oder es werden Gesetz und Evangelium völlig getrennt. Infolge des allgemeinen, schon im Thomismus verborgenen Nominalismus fallen der Charakter der Strafe als Vorgang und die allgemeinen systematischen Zusammenhänge zwischen Heilsgeschichte und weltlicher Strafe aus.

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da ohne Zweifel in jeder der Vollzugsformen der Mensch zum Objekt gemacht wird32c. Es erfolgt — unter dem Prüfgesichtspunkt der Restitution betrachtet — immer nur einseitige Restitution. Eine darüber hinausgehende Rechtswirkung des Kapitalprozesses ist nur in schwachen Ansätzen feststellbar. Das Fundamentaldelikt bezeichnet also eine Grenzsituation: denn es erzeugt Strafe, aber im Gegensatz zur sonstigen Strafe in einer eigentümlich einseitigen Form. Von einer Betrachtung der Grenzsituation her muß also das Problem weiter erörtert werden.

Ich folge nunmehr in weitem Umfange einem Aufsatz „Der Tod im Recht”33, dessen Gedankengang dann weitergeführt wird.

Die Frage der Todesstrafe beschäftigt die deutsche Öffentlichkeit nach wie vor in starkem Maße, obwohl oder vielleicht weil der Überraschungsbeschluß des Parlamentarischen Rats auf verfassungsmäßige Abschaffung eine Änderung praktisch ausgeschlossen erscheinen läßt. Die hier im Für und Wider auftretenden Beweisgründe befriedigen recht wenig. Es ist schon fast die halbe Aufgabe, unzulängliche und vordergründige Gesichtspunkte beider Seiten, insbesondere aber die Zweckmäßigkeitserwägungen auszuscheiden, die in der Bundestagsdebatte von 1952 zu stark im Vordergrund standen.

Die Abschreckungswirkung der Todesstrafe läßt sich exakt weder nachweisen noch verneinen. Das liegt einfach daran, daß unter den für und gegen die Tat wirkenden Momenten die Strafdrohung immer nur eines unter mehreren ausmacht, während der Kriminalpolitiker vorzugsweise der Wirkung der Strafe nachforscht. Unbestritten überwiegen bei der schwersten Kriminalität die Gesichtspunkte der Sicherung und Sühne. Erschütterungen des politischen und sozialen Gefüges können die schwere Kriminalität schnell stark erhöhen, lassen aber gerade dann nach einer Gegenwirkung fragen. Die Wirksamkeit der Todesstrafe für Ausnahmezustände, in Katastrophenlagen, bei Verhängung des Standrechts gegen die dann


32c In den Auseinandersetzungen um die Todesstrafe wird vielfach, so z.B. in den „Frankfurter Heften”, mit fortschrittlichen Pathos gegen die hier traditionelle „Blutmystik” polemisiert. Daran ist etwas, weil ohne Zweifel sehr alte Rechtstraditionen solcher Art unreflektiert wirksam sind. Von Hentig hat auf solche Dinge besonders aufmerksam gemacht. Aber die nüchterne Übersicht über den Stand der Diskussion zeigt, daß es ebenso einen „Anti-Blut-Komplex” gibt. Alles darf geschehen, nur darf nicht Blut fließen. Es sind philosophische Bluter, die zu sterben fürchten, wenn die Haut geritzt wird. Das innerste Motiv wird, typisch für die Selbstverfangenheit des Hochintellektuellen, nicht ausgesprochen: es darf nichts Unwiderrufliches geschehen — menschliches Handeln muß immer verfügbar, rücknehmbar bleiben.
33 Hochland 1956, Heft 3.

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aufbrechenden asozialen Kräfte kann kaum bestritten werden. Gerade dann aber ist man bei grundsätzlicher Abschaffung wehrlos. Die Strafe ist kein Leuchtbrei, den man im sozialen Organismus mit dem statistischen Röntgenapparat jederzeit mit Sicherheit feststellen kann; aber das sagt wenig über ihre Wirksamkeit. — Ebenso ist der Besserungszweck (bei Abschaffung) ein inadäquater Gesichtspunkt. Auch der lebenslängliche Zuchthäusler verwirkt praktisch sein Leben und wird einer tödlichen Verstumpfung preisgegeben Man kann einen Täter möglicherweise während einer befristeten Strafzeit dann erziehen, nicht zu stehlen oder zu betrügen, kurz sich ehrlich zu ernähren. Man kann ihn aber nicht dazu erziehen, nicht zu morden, weil dies in der Regel eine einmalige und aus sehr tiefen, kaum erreichbaren Schichten hervortretende Handlung ist.

Unzulänglich ist auch der Hinweis auf die fortschreitende Humanisierung des Strafrechts, welche Leibesstrafen verbiete. Nicht nur die Strafen, sondern auch die Straftaten haben sich humanisiert. Betrug und Diebstahl sind heute die Massendelikte, während man in rauheren Zeiten häufig dem Raub und Mord begegnete. Es ist deshalb auch unzulässig, ohne genaue Erörterung der Deliktschichtung früherer Zeiten einfach nur die Hinrichtungszahlen von damals ins Feld zu führen. Hätten wir an Stelle von zehntausend Verkehrstoten eine vergleichbare Zahl von Morden, so würde der Ruf nach der Todesstrafe alle Einwendungen hinwegfegen. Unzweifelhaft war die Einstellung zum Tod in früheren Zeiten eine andere als heute, und hier liegen viel stärkere Gründe als Zweckfragen. Das einzige Delikt aber, das sich keinesfalls humanisieren läßt, ist eben doch der Mord. Eine eigene Anschauung von der Realität dieser Tat hat nur, wer schon an einem Tatort, einem Obduktionstisch, einer Hinrichtungsstätte gestanden hat. Wir erfahren zwar von sehr vielen Dingen und erfassen alles mechanisch in der Statistik. Aber damit geht Hand in Hand ein Verlust an Wirklichkeit für uns selbst. Je mehr wir auf diese Weise von den Dingen wissen, desto weniger gehen sie uns an, und deshalb kann man auch so leicht über Dinge reden, von denen man „in Wirklichkeit” nichts weiß.

Die starke Verwirrung der Gesichtspunkte geht zum erheblichen Teil darauf zurück, daß das Problem von vornherein auf die kriminelle Todesstrafe oder womöglich das Mordproblem allein eingeengt wird. Das Problem des Todes im Recht ist aber keine positivistische und Einzelfrage; sie muß existentiell interpretiert und in den größeren Zusammenhang der Frage gestellt werden, in welchen Fällen denn überhaupt heute der Mensch vom Menschen mit den Anspruch auf Rechtmäßigkeit zum Tod befördert wird. Dies geschieht auf fünffache Weise: im Kriege — in der Revolution — in der politischen Gerichtsbarkeit — in der Notwehr und erst in letzter Linie im bürgerlichen Strafprozeß, hauptsächlich wegen Morden. Diese fünf Fälle aber hängen innerlich zusammen.

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Im Kriege stehen die Kämpfer einander außerhalb der Rechtsordnung gegenüber; die Tötung ist straflos. Aber dieser rechtlose Raum ist durch rechtliche Beschränkung des Kampfes, durch Ausscheidung von Verwundeten, Gefangenen, Nichtkombattanten nicht ohne Erfolgt eingeengt. Daß heute diese Schranken fallen und durchbrochen werden, wird sehr lebhaft empfunden und ist ein zentrales Rechtsproblem. Der so rechtlich begrenzte Krieg gleicht einem Brand, den die Feuerwehr nicht löschen, sondern nur eindämmen kann, bis er sich selbst verzehrt. In ihm ist die Kampfentscheidung offen und von keiner anderen Rechtsinstanz abhängig. Nun hat man den Krieg völkerrechtlich geächtet. Das hat die Kriege nicht beseitigt, sondern ihnen nur ihre Rechtsform genommen. Es ist der Versuch, gewaltsame Auseinandersetzungen entweder überhaupt auszuschließen, oder sie doch innerhalb einer vorausgesetzten oder zu schaffenden geschlossenen Ordnung einer vollständigen rechtlichen Beurteilung zu unterwerfen, wie Streitigkeiten zwischen Zivilpersonen innerhalb eines Staates. Daraus ergibt sich der Anspruch, die leitenden Personen grundsätzlich für ihr kriegerisches Handeln strafrechtlich verantwortlich zu machen. Die Kämpfenden selbst sind nicht mehr durch die objektive Rechtslage des Kriegszustandes gedeckt, sondern nur durch ihre Befehlsabhängigkeit und Untergeordnetheit subjektiv entschuldigt. Der Krieg im alten Sinne ist ein aussterbendes Phänomen. Er wird durch übernationale Bürgerkriege ersetzt, die jener Eingrenzung spotten, jedermann in den kriegerischen Vollzug wie in die ideologische Auseinandersetzung hineinsaugen. Aber übrig bleibt der jetzt revolutionär verstandene Kampf und mit ihm die Tötung. Daran schließt sich der Anspruch an, den Gegner nicht nur straflos im Kampf zu töten, sondern auch wegen seines Kämpfens zu richten und zu bestrafen.

In Revolutionen werden zunächst die Machthaber und ihre Verteidiger getötet; daran schließen sich regelmäßig mehr oder weniger umfassende Massenhinrichtungen an, und zwar typisch nebeneinander durch summarisch urteilende, haßerfüllte Revolutionstribunale wie durch direkte Vernichtungsaktionen. Die ohne Verfahren und richterlichen Ausspruch erfolgten Tötungen werden regelmäßig amnestiert oder faktisch straflos gelassen, also gebilligt. Alle diese Merkmale treffen auch auf das rechtsstaatliche Frankreich von 1944 zu. Das Pathos der abendländischen Revolution ist regelmäßig das der Gewaltlosigkeit und schließt die Abschaffung der Todesstrafe mit ein. Der Widerspruch zwischen politischem Massenmord und humanitärer Bekämpfung der Todesstrafe wird dadurch überbrückt, daß die Revolution als der letzte Akt des Kampfes gegen eine verderbte Welt, als Endgericht erscheint. Die spätere Vernichtung politischer Gegner ist dann die Beseitigung von menschlichen Anachronismen, deren Auflehnung gegen das schon erschienene Heil ebenso absurd wie böse ist.

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Krieg und Revolution sind von verschiedener Struktur: Der Krieg ist ein Außenverhältnis, die Revolution ein Innenverhältnis. Die Ächtung des Krieges ist der Versuch, ihn ebenso in ein Innenverhältnis zu verwandeln. Die Liberalen wie die Bolschewisten stimmen in dem Bestreben überein, den Krieg in den Bürgerkrieg ideologischen Charakters umzuformen, und das ist ihnen gelungen. Ein Revolutionär ist ein Pharisäer, der das metaphysische Recht in Anspruch nimmt, zu schießen, aber auch denjenigen vor Gericht zu stellen, der wiederschießt. Zwischen dem Soldaten, der sein Leben gleich auf gleich einsetzt, und dem Revolutionär ist deshalb Feindschaft gesetzt von Anbeginn, wie zwischen dem Weib und der Schlange. Aber es gelingt immer weniger, den kämpfenden Soldaten von Bürgerkrieg führenden Bürger, dem Verfechter von Ideologien, zu unterscheiden. Das ist die bekannte Kehrseite und Konsequenz der allgemeinen Wehrpflicht, des Bürgers als Soldaten wie des Soldaten als Bürger.

Die politische Gerichtsbarkeit in großer und markanter Ausdehnung schließt sich regelmäßig an revolutionäre Vorgänge an. Daneben gibt es sie natürlich auch innerhalb eines befestigten Gemeinwesens, bei Hoch- und Landesverrat. Es ist kennzeichnend, daß die grundsätzlichen Anhänger des Revolutionsrechtes das regelmäßige Recht des Staates, sich gegen Hoch- und Landesverrat zu schützen, bestreiten, einschränken, zersetzen, während sie es dann nach vollzogener Revolution in größter Ausdehnung unbedenklich in Anspruch nehmen. Leider hat sich unsere Jurisprudenz selbst durch die Ereignisse der Gegenwart nicht zu einer wirklichen Auseinandersetzung mit dem Phänomen der politischen Gerichtsbarkeit veranlaßt gesehen. Sie wird immer noch wie ein kleiner Fehltritt in guter Familie behandelt. Über politische Gerichtsbarkeit habe ich fast als Einziger in einer zusammen mit Hermann Ehlers veröffentlichten Schrift gesprochen. Hier besteht ein Dilemma einerseits zwischen dem Versuch, politisches Handeln nachträglich einem absoluten moralisch-strafrechtlichen Urteil zu unterwerfen, anderseits der ebenso unmöglichen Freigabe politischen Handelns und einer Loslösung von allen Maßstäben. Man kann diesem Widerspruch nur entgehen, wenn man es ehrlich auf sich nimmt, das Urteil hier immer ein unablösbares Moment politischer Entscheidung mitenthält. Gerade diesen Mut aber haben diejenigen nicht gehabt, welche am leidenschaftlichsten nach einer juristischen Bereinigung der Kriegsvorgänge riefen. Sehr zu Recht hat der bekannte internationale Strafverteidiger Professor Grimm darauf hingewiesen, daß die alten Friedensschlüsse regelmäßig umfassende Amnestieklauseln enthielten. Die Möglichkeit, miteinander zu leben, beruht nicht auf unserem Rechthaben, sondern auf der Vergemeinschaftung und der Vergebung. Spannt man die Anforderungen an ein zwischenstaatliches Rechtssystem wegen der Verdichtung aller Beziehungen höher, so wird auch die Verantwortung um so höher, die nicht durch juristische Prinzipien verdeckt werden kann, sondern offen getragen werden muß. Der

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Widerspruch liegt eigentlich und bleibt darin, daß man die irrationale Entscheidung des Kampfes zur Grundlage für die eigene Gerichtsbarkeit und eine rationale Rechtsprechung nimmt.

Der scheinbar am wenigsten Probleme darbietende Fall der Notwehr enthält einen wesentlichen, wenn auch schwer erkennbaren Tatbestand. Ein Gendarm meines Amtsbezirks kam vor Jahren in die Lage, kurz hintereinander zwei bewaffnete Verbrecher in Notwehr erschießen zu müssen. Es war ihm dabei kein Vorwurf zu machen. Der Beamte, ein ruhiger und gesunder Mann, kam darüber nur schwer hinweg. Das entsprang einem begreiflichen menschlichen Gefühl. Der tiefere Grund ist mir erst später klargeworden. Warum wäre es dem Mann fast eine Erleichterung gewesen, wenn ich ein Verfahren gegen ihn eingeleitet hätte?

Wir gehen in der Betrachtung der Notwehrlage von dem zweifellos zutreffenden Endurteil aus, daß der Angreifer im Unrecht, der Verteidiger im Recht sei. So richtig das ist, verdeckt doch diese fast räumliche Vorstellung zum Teil den existentiellen Tatbestand. In Wahrheit bleibt der Angegriffene nicht einfach im Recht, sondern der Angreifer reißt ihn zugleich aus dem bürgerlichen Friedenszustand heraus und versetzt ihn in einen urtümlichen Kriegszustand. In dieser Lage nützt ihm das Recht nichts; es tritt zurück; jetzt gilt zunächst nur: er oder ich. Auf der einen Seite hört der Angreifer nicht auf, in der Rechtsgemeinschaft zu sein, sonst könnte er sich nicht gegen sie verfehlen; in actu aber sind beide miteinander im Kriege. Daß dieses Doppelverhältnis nun so einfach in dem Urteil über sein Notwehrrecht aufgehen sollte, empfand jener einfache Mann als Widerspruch, ohne es verstehen und ausdrücken zu können, und ich selbst als Jurist verstand es zunächst nicht zu deuten.

Der innerste Grund dieses Mißverstehens liegt an einem Punkt, an dem wir selbst, aber auch die Rechtslehre und besonders die Strafrechtslehre meinen, den Menschen und das Recht mit der größten Bestimmtheit verteidigen zu müssen: in der Eindeutigkeit menschlicher Personalität und der daraus fließenden Verantwortlichkeit. Der Mensch ist nach dieser Sicht und gerade in Hinblick auf die Tat ein eindeutiges, auf alle Fälle als Person für sich bestehendes Subjekt. Das Recht scheint jede Bedeutung zu verlieren, wenn es nicht eindeutig ist. Deshalb ist der eine eindeutig „im Recht”, der andere „im Unrecht”. Das ist nun nach der einen Seite auch unbestreitbar der Fall: Der Täter ist auf seine Tat zu behaften und setzt sich etwa im Fall der Notwehr deren Folgen selbst aus. Anderseits transzendiert der Mensch in seinen freien Möglichkeiten immer noch jede Tat, ist nicht einfach mit ihr identisch, immer noch mehr als „ein Mörder”, so daß wir nicht einfach ausschließlich auf die Tat zu blicken haben. Aber auch der im Recht Befindliche ist durch dieses Recht nicht eindeutig bestimmt; er kann es so oder so

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gebrauchen, es einschränken, bedingen, mildern, darauf verzichten. Die eigentlichste, tiefste Schuld des Mörders im Angriff besteht darin, daß er für den Angegriffenen diese Freiheit aufhebt, ihn entweder zu tödlicher Abwehr zwingt oder ihn als Opfer ebenso eindeutig vernichtet, während er selbst versucht, der so geschaffenen eindeutigen Lage sich durch unangefochtenes Weiterleben zu entziehen. In der Tatsache, daß ein hoher Prozentsatz der Mörder Selbstmord begehe, die Totschläger aber nicht (vgl. Kap. 2), wird sichtbar, daß im Mord die Offenheit der menschlichen Existenz, die Fähigkeit, sich zu transzendieren, angegriffen wird — für beide: Täter wie Opfer —, so daß die Mörder — ohne philosophische Reflexionen — dies empfinden und die Folgerungen daraus ziehen. Die Situation ist für beide „geschlossen”. Bei der Verletzung von verzichtbaren oder wiederherstellbaren Rechtsgütern wie Eigentum, Ehre, meist auch der körperlichen Unversehrtheit tritt diese Zuspitzung nicht ein. Im Mord liegt ein Eingriff in die letzten Dinge vor, ein angemaßtes Jüngstes Gericht, eine Pseudoeschatologie — und damit stimmt die schrankenlose Mordbereitschaft aller wirklichen Revolutionäre überein, welche die letzte Gerechtigkeit, den letzten Weltsinn zu verwirklichen trachten. Danton war erschüttert, als Robespierre ruhig schlief, während der revolutionäre Mord auf sein Geheiß sich an Tausenden in Paris vollzog. Der Mord ist ein crimen laesae majestatis dei, weil der Tod der Sünde Sold und deshalb in der Hand Gottes ist, weil die letzten Dinge mit dem Tode selbst, nicht in einer formalen und spiritualistischen Transzendenz beginnen. In den Zeiten, deren Hinrichtungsziffern Thomas Dehler erschrecken, hat man davon mehr gewußt als heute. Bei Shakespeare, der Fundgrube für christliches Rechtsdenken, wird es als ganz unmöglich angesehen, den todeswürdigen Verbrecher im Rausch, ungebeichtet hinzurichten. Er hat zwar die zeitliche Freiheit gänzlich verloren, aber soll die Freiheit, sind in Buße und Absolution noch transzendieren zu lassen, unbedingt haben. Dem Menschen, der den andern in seiner Sünden Maienblüte dahingerafft hat (schaudervoll, höchst schaudervoll! läßt Shakespeare im „Hamlet” den Geist des ermordeten Königs sagen), wird Zeit gelassen, seine Rechnung mit dem Himmel zu machen. In der absoluten Strafe antwortet nicht der Richter mit einem absoluten Urteil auf eine Tat in der zeitlichen Relativität; sondern er sühnt gerade jenes crimen laesae majestatis, den Angriff auf Gottes Erhaltungswillen in der Zeitlichkeit und auf seine Souveränität, die sich im Tode ausdrückt. In der Strafe wird nicht in erster Linie der durch eine objektive Rechtslage determinierte Mensch geschützt, sondern gerade die Freiheit, alle diese zeitliche und relative Existenz zu transzendieren. Diese Freiheit hat er freilich nicht ohne die Unterstellung unter das Gesetz. Der Vorwurf des Pharisäismus an den Richter, er identifiziere sich mit der fragwürdigen Objektivation vorfindlicher Rechtsverhältnisse

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und verleihe ihnen eine unverdiente Heiligkeit, ist also desto weniger begründet, je schwerer die Taten sind, je mehr sie an das Leben greifen. Gerade hier aber wird die richterliche Gewalt am stärksten in Frage gestellt. Es ist nicht von ungefähr, daß gerade die schwärmerische Aufhebung des Rechtes auf einer falschen Trennung von Gebundenheit und Freiheit und dem Ausspielen der einen gegen die andere beruht.

Daß in diesem Tatbestand ein Problem liegt, wird auch an den Fehllösungen deutlich, die er bereits hervorgerufen hat. Die eine ist die bekannte Formel, nicht der Mörder, sondern der Ermordete sei schuld. Die banale relativistische Erklärung, hier sei die beiderseitige Schuldverstrickung gemeint, wird durch die entschlossene, ja zynische Umkehrung ausgeschlossen. Der anstößige Satz hat seine begrenzte Evidenz gerade dadurch, daß er die selbstverständliche Sicherheit des bürgerlichen Urteils: für den Angegriffenen, auf den Kopf stellt und damit seine Fragwürdigkeit enthüllt. Sein einziger sachlicher Grund liegt in dem, was er nicht ausspricht: daß zwischen den Partnern dieses Kampfes eben auch Krieg ist und nicht allein eine Auseinandersetzung innerhalb einer von vornherein eindeutigen Rechtsordnung. Indem nun hier apodiktisch im umgekehrten Sinne Stellung genommen und nicht etwa die freie Kampfsituation (und damit die Doppelschichtigkeit, weil ja das Endurteil nötig ist) offengelegt wird, zeigt sich, daß alles Schwärmertum immer nur umgekehrtes, pervertiertes Gesetz, nicht Befreiung vom Gesetz ist, und zwar gerade da, wo es sich am gesetzlosesten gebärdet.

Die zweite Fehllösung ist der Gedanke des „Freund-Feind-Verhältnisses” als angeblicher Grundverfassung politischer Beziehungen. Hier wird gegen die eingleisige Selbstsicherheit einer vollkommenen Rechtsstaatlichkeit und deren Übertragung auf internationale Verhältnisse das Prinzip des Kampfes als ebenso durchgängige Regel gestellt. Wie im Notwehrfall das „Im-Recht-Sein” eindeutig gegen das „Im-Unrecht-Sein” gesetzt wird, so hier die als Einheit gedachte Innenexistenz der Gruppe, des Volkes, gegen die Außenwelt, das Ich gegen das Nicht-Ich. Genau wie in der hier bekämpften rechtsstaatlichen und universalistischen Lösung wird die Doppelschichtigkeit verkannt und deshalb auch von Grund auf verzerrt.

In Wahrheit ist der Mensch in allen diesen Vorgängen, für welche die Notwehrlage nur der äußerste Ausdruck ist, in einer unaufhebbaren Doppellage, in einer Gemeinsamkeit und zugleich mindestens potentiell außerhalb ihrer. Er ist mit dem anderen sowohl in der Rechtsgemeinschaft — nicht nur partikular, sondern ganz universal gedacht! — verbunden, mit ihm identisch, als doch auch wieder unüberbrückbar von ihm getrennt, mit ihm nicht identisch. So wird die dritte falsche Auflösung des Problems erst richtig verständlich: die nihilistische Formel Sartres: „L’autre, c’est l’enfer — der andere, das ist die Hölle.” Weil man unter Überspringung jenes Tatbestandes

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versucht hat, aus der Gemeinschaft den Himmel zu machen, wird jetzt im Gegenschlag der andere zur Hölle. Die idealistische Selbstverwirklichung kann diesen Tatbestand weder verstehen noch bewältigen und deshalb auch die Versuchung Sartres nicht begreifen.

Der Mensch muß sich immer an das Fremde wagen und kann doch seine vorgegebene Eigenexistenz mit ihrem Willen zur Fortdauer nicht willkürlich aufgeben. In dieser Zwischenexistenz ist er zu verstehen, und gerade aus ihr versucht er sich zu vollkommener Identität mit sich und der Weltordnung zugleich zu befreien.

Der Mensch ist keine eindeutige Größe, in sich selbst auf Identität angelegt, um sich und seine natürlichen Anlagen zu entfalten. Er kann nicht auf eine monistische Formel der Freiheit oder der Determination gebracht werden, wie denn beide Formeln sich immer nur wechselseitig hervorbringen. Er kann weder durch Vergöttlichung noch durch Verteufelung erfaßt werden.

Dieses Phänomen der Doppelschichtigkeit menschlicher Existenz oder, anders ausgedrückt, der Zwischenlage des Menschen steht hinter den erörterten Problemen, und erst von hier aus ist der grundsätzliche gleichgelagerte Fall der Todesstrafe als unser Thema zu beurteilen. Ihre Abschaffung geht davon aus, daß der Mensch in seiner Vernunftentwicklung grundsätzlich zu sich selbst gekommen sei; eine innerweltliche Wiederbringung aller, eine apokatastasis panton sei bereits eingetreten oder in einem grundsätzlichen Fortschritt möglich und werde gerade in der Abschaffung der Todesstrafe sichtbar. Wer sich gegen dieses „heilsgeschichtliche” Ereignis wendet, ist dann von absoluter Nichtswürdigkeit. Nicht das stellvertretende Strafleiden des Sohnes Gottes, der, Gott und Mensch zugleich, in unsere Zwischenexistenz eingeht und ein ungerechtes Todesurteil (ist es nicht vor der Welt gerecht?) erleidet, sondern die vernünftige Selbstverwirklichung des Menschen bewirkt ein für allemal das Heil.

Hier wird somit nicht etwa nur naiv und schwachköpfig der Widerspruch zwischen humanitärer Verneinung der Todesstrafe und revolutionärer Mordbereitschaft mit faulen Argumenten abgeleugnet, sondern ganz konsequent gedacht; und doch enthüllt sich am Leben die Unwahrheit. Es geht also hier bei der Bekämpfung der Todesstrafe nicht primär um die Erhaltung der Täter, sondern um die Verteidigung einer geglaubten Wahrheit, um die Durchsetzung einer Glaubensgewißheit, an deren Früchten dann auch der Täter teilhat. Das dennoch auftretende Böse wird wie Krankheit und Sterben als ein eigentlich zum Menschen nicht Gehöriges steril hinter Krankenhaus- und Gefängnismauern verbannt.

Der geistesgeschichtliche Ort dieser Anschauung ist unschwer im subjektiven Idealismus nachzuweisen. Es ist eine entschlossene Immanenzphilosophie. In der Vernunftentwicklung kommt der Mensch zu sich selbst, und zwar streng geschichtlich, so daß hinter

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dieses Geschehen nicht zurückgegangen werden kann. Daran hat jeder Mensch Anteil und gewinnt so einen character indelebilis der Humanität. Deswegen wird hier so entschlossen um den Kopf jedes Mörders — selbst eines Haarmann — gekämpft33a.

Das deutliche, diese Beurteilung bestätigende Gegenbild zeigt sich in der Gestalt des objektiven Idealismus, der vor allem in den totalitären Systemen des Nationalsozialismus und Bolschewismus seine konkrete Ausprägung erfahren hat. Hier tritt die entschlossene Bereitschaft auf, den „Schädling” durch die Todesstrafe oder entsprechende „Maßnahmen” der „Liquidation” auszumerzen. Die innere Rechtfertigung dafür liegt in dem Gedanken, daß man so die objektive, rational erkennbare Geschichtsvernunft, ihre Gesetzlichkeit durchsetze und gegen sinnlose Störungen verteidige. Während im subjektiven Idealismus subjektive und objektive Vernunft in der Personalität des Menschen zusammenfallen, wird hier ein radikaler Abstand zwischen objektiver und subjektiver Vernunft gesehen. Die subjektive Einzelvernunft des Menschen wird dieser objektiven Vernunft rücksichtslos unterworfen. Die philosophischen Kategorien der Immanenz und Transzendenz treten einander mit der stärksten Wirkung für die praktische Strafrechtspolitik rein gegenüber.

Bemerkenswerterweise haben aber diese Anschauungen so sehr den Charakter von dogmatischen Glaubensaussagen gewonnen, daß ihre Verfechter sich gegen die Aufdeckung ihres geistesgeschichtlichen Standortes wehren. Eine solche Relativierung widerspricht dem Pathos, dem Gefühlswert dieses Glaubens, dessen Aussagen tabu, unantastbar werden. Es sind Dogmen, die den dogmatischen Charakter bestreiten und sich zugleich den denkerischen Kritik in einer Weise entziehen, wie es die kirchliche Dogmatik grundsätzlich nicht getan hat. Auch dieses innerweltliche Vernunftdogma ist bezeugtes Heilsgeschehen. Höchst bedenklich ist freilich, daß selbst die theologischen Ethiken in weitem Umfang dieses tabu respektieren und


33a In einem Aufsatz der „Frankfurter Hefte” wird eine Äußerung des vom Kommunismus bekehrten Arthur Koestler zur Todesstrafe abgedruckt. Er klagt sich bitter an, der „blutigen Reaktion” Vorschub geleistet zu haben, weil er wie seine Kollegen von der „fortschrittlichen” Presse angesichts der Volksstimmung von damals es unterlassen hätten, sich gegen den Vollzug der Todesstrafe an Haarmann zu wenden. Nichts kann deutlicher machen, daß es hier nicht um den Menschen, sondern um die eigene ideologische Unbeflecktheit geht. Nach einem zweiten Weltkrieg, nach Auschwitz, Hiroshima, Budapest und dem eigenen Scheitern seines politischen Glaubens hat ein solcher Mann nichts Besseres zu tun als seine Haltung im Falle Haarmanns zu beklagen! Was muß in der Weltgeschichte noch geschehen, um diese Leute aus ihrem Vernunfthimmel auf die blutig-verstrickte, schuldbeladene Erde zurückzurufen, ihnen den gedanklichen Fluchtweg abzuschneiden, auf dem sie sich der Allgemeinheit der Schuld zu entziehen trachten!

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jene Aufdeckung nicht vollziehen. Man ist versucht, auf eine verborgene Affinität zu schließen.

Der große geschichtliche Vorgang des Auseinanderfallens von subjektivem und objektivem Idealismus, der unsere politische Wirklichkeit bestimmt, wird auch auf diesem Teilgebiet mit großer Deutlichkeit sichtbar. Die Selbstinkarnation des Guten im Menschen tritt der Prädestination des objektiven Geschichtsverlaufs gegenüber, so daß sich das doppelte Dekret der Erwählung oder Verwerfung des Menschen ergibt. Wie nach dem berühmten Wort Carl Schmitts die präzisen Begriffe der Staatsrechtslehre säkularisierte Begriffe der Theologie sind, so auf ihre Weise auch die geistigen Grundmotive der Strafrechtspolitik. Daß jede Philosophie unzulänglich ist, die jene Momente trennend gegeneinander stellt, sollte keines Beweises bedürfen. Beide Richtungen aber benehmen sich seltsam paradox: die selbstbewußten Gegner jedes biologischen oder ökonomischen Materialismus behandeln den Menschen so, als ob mit dem Tode „alles aus” wäre, weil niemand zwingend zugemutet werden könne, eine andere Wirklichkeit anzuerkennen als diese banale Außensicht. Während so die Idealisten sich konsequent materialistisch verhalten, verhalten sich die konsequenten Materialisten idealistisch: sie opfern bedenkenlos den Menschen der alleinigen und unbedingten Wirklichkeit des geschichtlichen Prozesses, der Idee.

Für beide Anschauungen ist der Tod leer: entweder ein Fallen in ein Nichts, welches unbedingt so lange wie möglich zu vermeiden ist, oder in ein Nichts gegenüber der transpersonalen Unsterblichkeit des Weltsinns. Die Wirklichkeit des Todes aber, der unvertretbar von uns allen gestorben werden muß, scheidet aus dem Raum des Rechts — er wird verboten oder „Maßnahme”. Er wird zugleich zum banalen Erbscheinsdatum, wiewohl er so vielfältig durch das Recht geistert. Der Tod spiritualisiert sich: er scheidet sich in einen äußeren medizinischen Vorgang und eine rein subjektive, zu glaubende oder nicht zu glaubende Innerlichkeit. Subjekt oder Idee einerseits, leibliche Wirklichkeit anderseits haben von vornherein nichts miteinander zu tun und deshalb auch am Ende, im Tod. Gerade die Spiritualisierung des Todes und der von ihr nicht abtrennbare Wunsch, ihn dem Menschen, soweit und solang wie irgend möglich zu ersparen, nimmt eben diesem Tod den personalen Charakter und den menschlichen Gehalt. Wie ein Kind ein Uhrwerk, so haben die Philosophen die Elemente menschlicher Existenz auseinandergenommen und versuchen nun, sie wieder zusammenzusetzen, nicht ohne dabei eine Handvoll Teile übrigzubehalten.

Beide Anschauungen sind solche der grundsätzlichen Gewaltverneinung — die eine schon jetzt und hier, die andere gibt die schrankenlose Gewaltanwendung im Blick auf zukünftige Gewaltlosigkeit frei. Die erstere Anschauung spricht es nicht summarisch aus, versucht aber überall die Gewaltanwendung so

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einzuschränken und zu vermeiden, daß sie als illegitim erscheint. Beim Problem der Todesstrafe bricht die Frage dann eigentlich auf. Es hängt also die Stellungnahme zur Todesstrafe nicht von der freien Beurteilung einer einzelnen kriminalpolitischen Frage, sondern schlechthin von der Stellung zum Gewaltproblem ab. Diese wiederum ist ebensowenig eine freie und isolierte Entscheidung, sondern wird bedingt durch das geschichtstheologische und geschichtsphilosophische Urteil über die Beschaffenheit und den gegenwärtigen Zustand dieser Welt. Der subjektive Idealismus nimmt, wie gesagt, eine schon zur Vernunft gekommene und damit eigentlich schon vom Bösen befreiten Welt an. Die sittliche Gemeinschaft der Vernunft ist für ihn schon gegenwärtige, vorweggenommene endzeitliche Vollendung, verweltlichte vorweggenommene Eschatologie. Die sittliche Gemeinschaft, von welcher etwa der Strafrechtslehrer Hellmuth Mayer spricht, ist eine Verweltlichung der sakramentalen Kirche gerade in ihrer geschichtlichen Immanenz. Anders die Gegenmeinung. Sie ist ungleich realistischer. Sie rechnet wirklich mit dem Bösen und hat eine noch zu vollendende Geschichte vor sich. Aber in der schrankenlosen Freigabe der Gewalt in der Umkehrung und rücksichtslosen Benutzung der Begriffe von Gut und Böse, von Wahrheit und Lüge macht sie zugleich deutlich, in welchem Maße menschliches Zusammenleben in seiner Vorläufigkeit durch bedingte Ordnungen unter Einschluß begrenzter Gewalt erhalten und gehlaten wird. In der Enthemmung und Zerstörung aller Elemente, welche den Absturz in die rücksichtslose Gewaltherrschaft hindern, zeigt sich zugleich, wie notwendig diese begrenzten Mittel sind. Die Entwertung aller Geschichte, jeder besonderen geschichtlichen Existenz zugunsten des einen eschatologischen Gegensatzes vernichtet die begrenzten Möglichkeiten des Zusammenlebens, macht die Erde erst recht friedlos. Weil man sich mit einem Teilfrieden nicht begnügt, vernichtet man jeden Frieden. Die geschichtlichen Scheidungen, welche im Konfliktsfalle auch mit dem Leben bezahlt werden, dienen also gerade in ihrer Vorläufigkeit der Erhaltung des Menschen.

Subjektiver und objektiver Idealismus sind es, deren Grundkonzeptionen über Mensch und Welt unser politisches Leben wie die Strafrechtspolitik grundlegend bestimmen. Sie sind in einer tödlichen Haßliebe aufeinander bezogen, weil sie Bruchstücke des gleichen Ganzen sind. Der objektive Idealismus glaube an die Geschichte, die sich durch ihn vollzieht und die er bewußt zu vollziehen berufen ist. Es geschieht etwas Wirkliches, was einen echten Bezug zum Sinn aller Geschichte hat, ja dieser Prozeß hat seine dramatische Zuspitzung erfahren. Sein Handeln ist ihm nicht leer, sondern im höchsten Maße sinnerfüllt; alles was darauf nicht bezogen ist, ist eben deswegen wertlos, nichtswürdig. Weil aber etwas geschieht, darf auch an Menschen etwas Wirkliches, Unwiderrufliches geschehen. Aber mit dieser radikalen Geschichtlichkeit verliert er

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zugleich die Personalität der ihm dienenden Menschen, opfert er sie bedenkenlos dem Weltsinn dieses Geschehens, in welchem alles Einzelne und jeder Einzelne wiedergebracht sein wird. Objektiver Idealismus ist Geschichte ohne Personalität. Er hat das Unbedingte nur im Absoluten und Allgemeinen, niemals im Konkreten und in der Person. Aber genau umgekehrt ist subjektiver Idealismus Personalität ohne Geschichte. Der in der Vernunftentfaltung zu sich selbst gekommene Mensch hat alles, was er braucht, wenn er es nur recht benutzt. Es kann in einem wesentlichen Sinne mit ihm nichts mehr geschehen. Seine sittliche Selbstverwirklichung, Selbstverpflichtung ist der einzig mögliche Sinn des Geschehens. Jede Heteronomie und Transzendenz verliert ihren Sinn. Sinnlos ist es, ihm etwas abzunötigen, was nicht aus dieser subjektiven Freiheit entspringt. Deshalb kann auch keine geschichtliche Forderung ihn mehr mit verbindlicher Kraft in Bewegung setzen, und die Erhaltung dieser Selbstentfaltungsmöglichkeit ist schlechthin alles. Daher jene Haltung gegenüber dem Tode, welche — äußerlich gesehen — materialistisch erscheint. Deshalb aber darf auch am Menschen nicht geschehen, was nicht rücknehmbar ist, was nicht auf diese Freiheit bezogen ist.

Der christliche Glaube muß beiden widersprechen. Er selbst hat das gefährliche zweischneidige Schwert der Geschichtlichkeit, der Zielgerichtetheit auf die letzten Dinge in die Welt gebracht. Er hat das Ebenmaß der Antike, ihre zyklische Geschlossenheit unwiderruflich aufgebrochen. Seither ist für unseren Blick sichtbar, daß in der Geschichte etwas Wirkliches, Relevantes, Unwiderrufliches und Unumkehrbares geschieht, daß sich das Geschehen nicht im Auf und Nieder der Zeiten, Völker und Geschlechter erschöpft. Was vom Größten gilt, gilt auch im Innerlichsten und Kleinsten: Unsere äußere Schuld, unsere Sünde und Straftat bedeutet etwas in dieser Gesamtrechnung der Welt; sie sind es Gott dem Herrn höchstpersönlich wert, sie nicht für Nichts zu achten. Das Entscheidende dieser Geschichte aber liegt in dem konkreten Verhältnis, im personalen Bezug zwischen Gott und Mensch, in dem, was nach Gottes verborgenem Ratschluß und Gottes geoffenbartem Willen dieser Mensch zu tun und was an ihm zu geschehen hat. Aber es ist eben eine grundsätzlich unvollendete und vom Menschen nicht zu vollendende Geschichte. Die Flucht aus der Geschichte wie deren selbstmächtige Vollendung ist dem Menschen nicht allein untersagt, sondern auch unmöglich. Das Fallenlassen der Geschichte in der sittlichen Autonomie der Selbstbestimmung wie der radikale Versuch endgültiger Geschichtserfüllung sind unmögliche Wege. Der Rückweg in einen geschichtslosen ethischen Humanismus wie das Vorwärts zum letzten Gefecht ist dem Menschen verwehrt: Er muß da aushalten, wo es ihm am wenigsten angenehm ist: in der Geschichte, deren Herr er nicht ist, in der er doch handeln muß und in der er unausgesetzt verantwortlich gemacht wird.

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Christlicher Glaube und christliche Erkenntnis sind der einzige Ort, wo Geschichte und Personalität, Prädestination und Inkarnation verbunden sind. Aus der geistigen Seinsform, in die dieser personale Geschichtsglaube die von ihm berührte Menschheit gebracht hat, kann sich niemand mehr befreien, noch nicht einmal um den Preis der Selbstzerstörung. Objektiver und subjektiver Idealismus sind häretische Bruchstücke dieser Einheit, und diese ist mehr als eine Denkeinheit oberhalb jener innerweltlichen Denkgegensätze. Denn eben jene Einheit von Person und Geschichte vermag keine philosophische Denkoperation zusammenzuhalten. Sie liegt in der Tatsache der Fleischwerdung und ist beim Menschen eine im Glauben aus der Gnade gelebte Einheit. Deswegen wird eine rationale Geschichtsphilosophie leer, die, um den allgemeinen Weltsinn wissend, diesen zu verwirklichen trachtet, wie ein radikaler Personalismus, der die zugleich offene wie verborgene Kontinuität und Sinnhaftigkeit dieser Geschichte verliert.

Der unmittelbaren Bedeutsamkeit beider idealistischen Denkansätze für die Strafrechtstheorie und -politik entspricht auch diejenige der christlichen Geschichtsanschauung. Diese sieht die Geschichte offen für das, was nach Gottes Willen unverfügbar am Menschen zu geschehen hat. Wenn in den großen Rechtsdramen Shakespeares immer wieder bei den zahlreichen Hinrichtungen Schuldiger wie Unschuldiger Wert darauf gelegt wird, daß der Betreffende beichte und sich absolvieren lasse, so entspringt dies jener Anschauung. Die Situation des Menschen ist eine offene, auch wenn sein zeitliches Leben zu Recht verwirkt ist. So kann man sagen: Der Mensch ist das, was er ist und potentiell ist einschließlich seiner „erhöhten Geistnatur”. Er ist aber immer zugleich etwas, was er nicht ist, was jedes Sein überschreitet, was er zu werden bestimmt ist. Seine Würde beruht letztlich nicht in dem, was er ist, einschließlich jener Idealität, sondern in dem, was er schlechthin nicht ist, aber zu werden bestimmt ist. Gerade der Mord tastet jene Offenheit an, in der der Mensch noch gehalten ist. Darin liegt eigentlich seine Verwerflichkeit.

Jene Formulierung von der „erhöhten Geistnatur” bleibt grundsätzlich in der Innerweltlichkeit, auch wenn sie meint, mit dieser geistigen Existenz die geistliche Existenz, die Existenz vor Gott, umgriffen zu haben. Hier ist unversehens eine Verschiebung eingetreten, die Vernunft an Stelle des Heiligen Geistes getreten.

Karl Barth lehrt mit aller Deutlichkeit einen gemeinchristlichen Satz34: „Der natürliche Mensch hat keine Existenz vor Gott.” Die positive, rechtlich-bedeutsame Umkehrung dieses Satzes enthält der Canon 87 des Codex juris canonici: „baptismate in ecclesia catholica homo constituitur persona.”


34 Vgl. Dombois: „Naturrecht und christliche Existenz”, S. 37.

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Dies ist ein Satz des gemeinchristlichen Kirchenrechts, dessen Gültigkeit nicht auf die römische Kirche beschränkt ist. Er ist auch nicht in erster Linie als eine Umschreibung der Voraussetzungen für die Mitgliedschaftsrechte in der Kirche zu verstehen, wie auch andere Rechtskörper solche Voraussetzungen normieren. Entscheidend ist die darin enthaltene Aussage. Die Taufe ist nach Wesen und Sinn ein Sterben des alten Adam mit Christus. Mit dem Sterben des natürlichen Menschen wird der Mensch hier erst Person. Er wird vom Tode her verstanden, vom Tode als Grenze wie als realem Vorgang. Gerade der Nicht-Status begründet den Status, das Setzen in den Nicht-Status setzt den Menschen in ein neues Recht, läßt ihn aber erst als Person bezeichnen. Aller Rechtsstatus weist sonst über sich hinaus auf einen ihn begründenden, tragenden und rechtfertigenden Setzungsakt auf fremde onder eigene Macht. Hier wird er gerade im vollen Gegensatz durch die Entmächtigung Gottes und mit ihm des Menschen begründet, und zwar gerade durch die gehorsame Annahme der Todesstrafe, des Todes, der der Sünde Sold ist. Sollte diese Erwägung nicht in eine Lehre vom Strafrecht hineingehören!? Auch hier wird der Status durch eine Relation begründet, als Relation verstanden, durch das Mitsterben, durch die Teilhabe an dem fremden, unvertretbaren Tode des Sohnes Gottes. Dem Menschen selbst nutzte es nichts, wenn er aus eigener Macht seinen Leib brennen ließe — und hätte dieser Teilhabe nicht.

Das am Menschen zu vollziehende Mitsterben mit Christus, welches er an sich selbst nicht zu vollziehen und durch keine Selbstverurteilung und Selbstverstümmelung zu ersetzen vermag, konstituiert ihn kraft dieser Teilhabe als Person, im strengen theologischen wie rechtlichen Sinne. Nur hier wird durch die radikale Verneinung aller Idealität des Menschen alle Immanenz gesprengt, überboten, transzendiert auf die einzige Weise, die keine idealistische Steigerung ist.

Aus diesem Grunde hat es der christlichen Kirche nie um die Abschaffung der Todesstrafe gehen können als eine Erhaltung der innerweltlichen Idealität, der idealen aufgegebenen Möglichkeiten des Menschen. Sooft und soviel sie sich auch Anschauungen und Rechtsgewohnheiten der Welt in falscher Weise angepaßt hat, sowenig hätte sie diesen Protest unterlassen können und unterlassen, wenn dies ein theologisch-legitimes Ziel gewesen wäre. Erst seit dem Schwärmertum und dann in breiter Front seit der Aufklärung erscheint den Angriff gegen die Todesstrafe, insbesondere vom Dogma der Gewaltlosigkeit her. Deswegen haben schon das Augsburgische Bekenntnis und die Apologie zu diesem Bekenntnis (Artikel XVI) sich ausdrücklich gegen die Lehre von der Gewaltlosigkeit und damit die Aufhebung der Todesstrafe gewendet. Die Sorgsamkeit anderseits, mit der in den erwähnten Shakespeare-Dramen Raum für Buße und Absolution gelassen wird, entspringt

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dem gläubigen Interesse, daß dieses Eigentliche, auf das ewige Heil, auf die Existenz vor Gott Bezügliche auch wirklich geschehen könne und in Freiheit geschehe.

Aber diese radikale eschatologische Haltung wie der ihr entsprechende präzise Satz des Kirchenrechts hat nun allerdings sehr bedeutende Folgen für das innerweltliche Recht. Das Kirchenrecht ist nicht eine vorbildliche Sozialordnung, wie eine moralisierende Anschauung es versteht. Es bezeugt vielmehr Tatsachen, rechtlich relevante und existenzbegründende Relationen, welche spezifische Rückwirkungen auf das weltliche Recht haben.

Die Würde des Menschen gründet eben nicht in seinen innerweltlichen Möglichkeiten, sondern auf der gottgewollten Möglichkeit, daß er mit Christus sterbend kraft der Auferstehung lebe. Aber um dessentwillen eben hat der Mensch eine Würde, die einen unvergleichlich anderen und höheren Respekt erfordert als irgendeine denkbare Innerweltlichkeit. Das Geheimnis der Personalität liegt im Geheimnis und der Geschichtlichkeit des Todes. Sie liegt in der Verantwortlichkeit menschlichen Handelns. Ohne diese radikale Transzendenz ist auch die Geschichtlichkeit, die Unumkehrbarkeit und Bedeutsamkeit seines innerweltlichen Handelns, sind Verantwortlichkeit und Schuld nicht aufrechtzuerhalten. Zwischen der Eigenmächtigkeit des lebens und der Unmächtigkeit des Todes gibt es keinen billigen Kompromiß. Die Transzendenz begründet die Möglichkeit innerweltlicher Geschichtlichkeit.

Diese Geschichtlichkeit kennt das magisch-reale, vorchristliche Rechtsdenken und Strafrecht noch nicht. Denn es geht davon aus, daß mit menschlichen Mitteln des Ritus der Schaden behoben, die Dinge wirklich in das Gleichgewicht gebracht werden können. Das Ödipusdrama überschreitet diese Anschauung schon; aber es läßt den Menschen in der Tragik seiner Verfehlung. Das nachchristliche Strafrecht der Moderne lebt zum großen Teil von den mißverstandenen, ungedeuteten Resten dieser Geschichtlichkeit im Begriff von Verantwortlichkeit und Schuld, kann sie aber nicht festhalten, weil ihm der eschatologische Hintergrund fehlt. Das Zweckstrafrecht als typischer Ausdruck ist wiederum der Versuch, mit innerweltlichen rationalen Mitteln die Schäden zu beheben; es ist rationale Magie. Aber durch die zwangsläufige Übersteigerung des pädagogischen und terroristischen Aspekts verliert es gerade das, worum es ihm geht: den Menschen. Wer sein Leben lieb hat, wird es verlieren. Das gilt nicht nur für die kleine Selbstsucht des Menschen; es gilt vor allem für den großangelegten, idealistischen Versuch der menschlichen Selbstverwirklichung.

Demnach gewinnt die absolute Strafe den absoluten Charakter im strengen Sinne überhaupt nur dort, wo der eschatologische

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Hintergrund und eben damit ihre Relativität auf diesen verlorengegangen ist. Dies ist aber eben nicht eine Frage eines wesentlich subjektiven und persönlichen Glaubens. Es hat seine Rückwirkungen auf das Gesamtsystem des Strafrechts, auf die Möglichkeit, Verantwortlichkeit und Schuld durchzuhalten. Die absolute Strafe ist absolut nur unter den dogmatischen Voraussetzungen der Immanenzphilosophie, deren Voraussetzungen man nur glauben oder nicht glauben kann, die sich als letzte, auf Glaubenstatsachen gegründete Überzeugungen der Kritik entziehen. Es handelt sich also nicht darum, daß der Christ als Mystiker, Asket oder Weltflüchtiger das Leben billig wegwerfe und deshalb auch das Leben anderer als billig ansehe. Es handelt sich nicht um eine Würde als eine neugewonnene und zu begründende Qualität, sondern um die Verantwortlichkeit des Menschen, die erst auf dem Hintergrunde des Jüngsten Gerichts ihre eigentliche Bedeutung gewinnt, ihren eigentlichen Grund erkennen läßt.

Die sog. absolute Strafe ist zugleich ein Grenzphänomen. Denn der Tod im Recht tritt gerade an den Nahtstellen zwischen Externität und Internität auf. Es ist wiederum ein Merkmal jener Philosophie, daß sie die Unterscheidung zwischen Externität und Internität grundsätzlich aufzuheben versucht, indem sie das Urteil Gottes über Kain und damit die Grundverfassung menschlicher Existenz überspringt. Zeitlich dagegen tritt der Tod im Recht an den Punkten geschichtlicher Entscheidung auf, wo die Alternativen des Geschehens unbedingt ausgetragen werden müssen, vom Kriege ud von der Revolution bis zur Notwehr. Wo ich so, wie mir zugemutet wird, schlechthin zu leben nicht bereit sein kann, dort tritt der tödliche Konflikt auf. Gäbe es aber solche geschichtlichen Alternativen nicht mehr, so hörte auch die Geschichte auf. Das wäre das Reich Gottes auf Erden ohne Gott, ein unerhörtes Zwangssystem, welches jeden Widerstand, jede Freiheit ausschließt und unterdrückt, und zwar gerade um den Menschen aus der Konfliktsituation ein für allemal zu entnehmen.

Relativität der absoluten Strafe und ihr Grenzcharakter im Sinne der beiden eingangs formulierten Fragestellungen sind also keine ausschließenden Gegensätze. Sie bedingen einander vielmehr, weil der eschatologische Hintergrund die Möglichkeit der Geschichte und damit die Grenzsituation, damit aber auch Freiheit und Verantwortlichkeit aufrechterhält, und zwar in Raum und Zeit. Anderseits führt die Preisgabe des eschatologischen Hintergrundes zur Perversion der Geschichte, im subjektiven Idealismus fortschrittlich, optimistisch, im objektiven rigoristisch und revolutionär. Beide heben mit der Geschichte ebensosehr Würde und Freiheit wie umgekehrt Schuld und Verantwortlichkeit auf, weil sie entgegen einem fundamentalen Rechtsgrundsatz zwar den guten Tropfen genießen, aber den bösen Tropfen vermeiden wollen.

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Die Theorie der Grenzsituation erklärt allein die im Bereich der Todesstrafe auftretenden oft erörterten Fragen.

1. Die Grenzsituation tritt wesentlich häufiger auf beim Nebeneinander zahlreicher begrenzter Rechtsgebiete, beim Mangel wirksamer großräumiger Rechtsordnung. Der Räuber und Einbrecher ist im engen Gebiet noch fast ein Feind, mit dem man im Kampfe liegt. War etwa die rasche Justiz der Sheriffs im wilden Wesen der Pionierszeit, welche Pferdediebe nach dem Urteil einer Jury aufknüpften, eine grundsätzliche Rechtsverletzung und Unmenschlichkeit? Die Frage stellen heißt sie verneinen. Anderseits ist sicher die Grenzsituation heute sehr weit gerückt. Die Größe der Rechtsgebiete, die Wirksamkeit und annähernde Lückenlosigkeit der Strafverfolgung bei Kapitalverbrechen senkt fortschreitend die Strafhöhen, wenngleich die positive Fähigkeit der Gemeinschaft zur Resozialisierung gleichlaufend absinkt. Dieser Degression der Strafhöhen entspricht auch eine merkliche Verminderung der Kapitaldelikte, aber eben nicht unter einen gewissen Punkt — ein Bodensatz bleibt. Ebenso verliert naturgemäß die Einzeltat nichts an ihrer Schwere. Der sozusagen chemisch reine Grenzfall ist und bleibt der Mord, nachdem man aus dem Bereich der vorsätzlichen Tötung systematisch schon alle Sonderfälle, den Totschlag, den Kindesmord, die Tötung auf Verlangen usw., herausgenommen hat. Der Tendenz, den Grenzfall klar herauszuheben, entspricht aber nicht die Bereitschaft, ihn nun auch mit um so größerer Bewußtheit festzuhalten. Umgekehrt wirken die Sonderfälle, solange sie wesentlich undifferenziert gesehen werden, fast wie eine Schutzschicht.

2. Die Grenzsituation erklärt aber auch hier auftretende Zeitprobleme. Daß geschichtliche Entscheidungen 50 Jahre zuvor noch nicht und 50 Jahre danach sich nicht mehr in der gleichen Unausweichlichkeit stellen, daß in gewissen Lagen das Problem des Hoch- und Landesverrats in einer Weise auftritt, deren Gegenstand nicht auf absolut zeitlose Prinzipien zu bringen ist, sollte uns nach den Ereignissen der Gegenwart einleuchten. Wer die Waffe gegen ein legales, aber illegitimes Regime erhebt, weil er den Gegensatz von Recht und Gesetz auszutragen sich genötigt fühlt, und wer in diesem Kampfe unterliegt, darf sich nicht beklagen, wenn er wegen Hochverrats hingerichtet wird. Das ehrwürdige Andenken der Männer des 20. Julie 1944 wird durch nichts so befleckt wie durch weinerliche Klagen über die Unrechtsurteile des Volksgerichtshofs. Es hätte der Hysterie Freislers nicht bedurft. Jeder Gerichtshof eines befestigten Staates mußte sie sans phrase verurteilen.

Aber freilich gibt es eine grundsätzliche Überdrehung der geschichtlichen Grenzsituation. Die Bereitschaft, jede Abweichung von der Parteilinie als todeswürdiges Verbrechen zu behandeln, den „Diversanten” lebenslänglich einzusperren und hinzurichten, bedeutet, daß man sich im Wege der Geschichtsphilosophie zum Herrn der Geschichte

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macht. Man läßt sich ihre Entscheidungspunkte nicht im aufbrechenden Konflikt zukommen, sondern erklärt die Grenzsituation in Permanenz. Das Gegenbild ist der Versuch, die geschichtliche Grenzsituation grundsätzlich aufzuheben, indem man sie einfach fallenläßt. Das ist eine böse Selbsttäuschung. Denn Geschichte macht der, der sich zu entscheiden vermag. Die Fragen, die sich als Grenzsituation früher von selbst stellten und beantwortet wurden, sind heute durch die geschichtsphilosophische Reflektion in ein potenziertes Bewußtsein erhoben und deshalb in noch höherem Grade verfehlbar geworden.

Das Problem und Phänomen der Grenzsituation wird dadurch kompliziert, daß sich hier zwei Wellen geschichtlicher Problematik überlagern, die Verminderung solcher Situationen im allgemeinen Strafrecht durch die Ausdehnung der Rechtsgebiete und umgekehrt die Verschärfung und Ideologisierung letzter Konflikte im politischen Strafrecht. Damit aber tritt noch eine Quantitätsfrage auf. Es ist hier zu bemerken, daß das idealistisch normative Strafrecht kein Quantitätsproblem kennt. Die Norm ist immer gleich, trotz des Grenzsatzes „minima non curat praetor”; diesem Grundsatz muß als entsprechender Satz ein „maxima non curat praetor” entsprechen. Aber dem Gesetz der Degression der Grenzsituationen im allgemeinen Strafrecht entspricht ein solches der Progression im politischen Strafrecht, welches unsere ganze Aufmerksamkeit verdient. In einem grundsätzlich höheren Maße als je zuvor wird der Mensch heute in der politischen Entscheidung vor die Verratssituation gestellt, weil diese Entscheidung immer tiefer in den Bereich seiner Subjektivität hineinverlagert wird, und zwar in einem noch höheren Grade als dies selbst im Zeitalter der Glaubenskämpfe der Fall gewesen ist. Denn damals waren wenigstens die Formen des bürgerlichen Alltagslebens nicht umstritten, während heute sowohl die Wahlentscheidung wie die banalste Vereinsmitgliedschaft und die soziale Stellung zum Anknüpfungspunkt tiefgreifender Konflikte gemacht werden kann.

Wir sind also in der gefallenen Welt unaufhebbaren Grenzsituationen gegenübergestellt und durch sie genötigt, zur sog. absoluten Strafe zu greifen. Wir können diese Grenzsituation nicht dadurch willkürlich herbeiführen, daß wir sehr relativen Verfehlungen gesetzlich den Charakter absoluter Verbrechen geben. Das wäre rechtswidrige Tyrannei. Aber wir können die Grenzsituation auch nicht aus der Welt schaffen. Eine Gesetzgebung, die das Versuchen würde, verkennt die Wirklichkeit, die sie zu bewältigen hat. Im Brudermord ist die Grenzsituation prototypisch vorgezeichnet.

Der Gedanke, daß der Morde nicht mehr die Grenzsituation darstelle, weil wir heute in der Lage sind, den Täter durch Verwahrung unschädlich zu machen, geht jedenfalls zutreffend von der Vorgegebenheit der Grenzsituation aus, welche gerade die christliche Theologie niemals verleugnen kann. Deshalb hat auch Karl Barth bei

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lebhafter Ablehnung der Todesstrafe als regelmäßiger Strafe doch niemals dem Staat unter allen Umständen das Recht der Tötung absprechen können, wie das die ideologische Theorie verlangt. Dies kann in der Tat kein biblischer Theologe.

Die absolute Strafe steht also wie die Strafe überhaupt zwischen dem Gedanken des objektiven Rechtsvollzugs und relativierender Zwecksetzung — diese Spannung im Strafproblem tritt in ihr besonders scharf hervor. mit der einen Gedankenlinie teilt sie die Unabdingbarkeit der Lebensverwirkung, die auch durch unblutige Vollzugsformen nicht beseitigt wird, mit der anderen den Mangel einer positiven Wertigkeit des Vollzugs als solchen. Die absolute Strafe versetzt gleichsam einen unlösbaren Streit in eine zweite höhere Instanz — der Verzicht darauf würde der Versuch der Lösung des Unlösbaren bedeuten. Als die Legaten des römischen Stuhls im Jahre 1054 die Bannbulle auf dem Alter der Hagia Sophia in Konstantinopel niederlegten und damit das große Schisma der Kirche vollzogen, fügten sie unwillkürlich hinzu: deus videat et judicet! Neben die Unbedingtheit des dogmatisch-kirchenrechtlichen Anspruchs in diesem geistlichen Todesurteil tritt auf einmal die Offenheit der Lage und die Anrufung der höheren Instanz. Man kann nicht verzichten in aller geschichtlichen Verantwortlichkeit zu richten, weil man sich selbst und die eigene Gemeinschaft aufgeben würde — und doch schwebt darüber die eschatologische Offenheit des Urteils. Der Widerspruch zwischen Recht und Zweck kann in den Fällen der relativen Strafe noch ausgeglichen werden — in extremis kann er rational nicht gelöst werden. Ich kann mich für meine eigene Person für die Ergebung entscheiden — für die Gemeinschaft muß ich den Widerstand auf mich nehmen und das Endurteil in die Hände Gottes geben.

Das Fundamentaldelikt hat etwas von der Sünde wider den heiligen Geist an sich, die nicht vergeben werden kann — und wo man meint, daß alles vergeben werden kann, gibt es auch keinen Geist mehr. Die Würde der absoluten Strafe im Falle des Mordes liegt darin, daß hier die Kontingenz der politischen Verratsstrafe vermieden ist, das Politicum und Humanum zusammen verletzt sind. Die Aufhebung der absoluten Strafe könnte nur dort erfolgen, wo nicht mehr der Gemeingeist und die Selbstbehauptung weltlich-politische Verbände, sondern die Gemeinschaft des — heiligen — Geistes allein entscheidend — end-scheidend — wäre, aber selbst Ananias und Saphira sterben an der Aufdeckung ihrer Sünde wider den Geist. Eine solche klerikalisierende Aufhebung des Gesetzes hat noch nicht einmal die scholastische Kirche des Hochmittelalters versucht — sondern allein die allgemeine Kirche der Aufklärung, welche den heiligen Geist in die Allgemeinheit der Vernunft übersetzte und verweltlichte. Die spiritualistische Gleichsetzung von (heiligem) Geist und Vernunft ist in eben den Zeiten und Gebieten vor sich

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gegangen, in denen die Umsetzung der Strafrechtsformen sich vorzugsweise und zuerst vollzog.

„Die absolute Strafe als Todesstrafe ist noch nie von einem Mörder grundsätzlich bestritten worden. Ein gläubiger Christ, der sich eines Mordes schuldig weiß, müßte sie selbst fordern und willig auf sich nehmen, wie das Gretchen im Faust. Diese echte Bereitschaft, die Strafe auf sich zu nehmen, ist andererseits die echte Voraussetzung der Gnade” (Dombois, Krise, aaO. S. 76).

Den sich schuldig Wissenden ist das Pathos der verletzten Menschenrechte versagt — sie müssen also von den Lehrern des Rechtes eines Besseren belehrt werden, sofern sich diese nicht von dem reuigen Schächer ihrerseits eines Besseren belehren lassen.

Die Frage nach der absoluten Strafe ist hier nicht als gesetzgeberische behandeld worden. Hierzu noch einiges Wenige. Es bestehen in der Tat in Deutschland zwei ernsthafte Bedenken gegen die Wiedereinführung der Todesstrafe.

1. Es fehlt eine einigermaßen einhellige Rechtsüberzeugung. Eine solche müßte für eine so wesentliche Bestimmung doch bestehen. Die streitenden Anschauungen mögen noch so primitiv, vordergründig, weltfremd, schwärmerisch sein — der Mangel einer solchen Gemeinsamkeit wäre an sich schon ein schwerer Mangel. Es ist meine Überzeugung aus jahrzehntelanger Beobachtung strafrechtlicher Entwicklungen, daß Versäumnisse auf solchen Gebieten sich rächen. Für jeden gemeinen Verbrecher, den zu richten die Weimarer Republik zu schwach war, haben tausend Unschuldige leiden müssen. Eine politische Gemeinschaft, die sich nicht zu gemeinsamer Rechtsüberzeugung durchringen kann, muß das Risiko gefährlicher Irrtümer tragen. Die Geschichte ist keine Lebensversicherung, und die Freiheit ist auch eine Freiheit zum Irrtum.

2. Die geschilderten idealistischen Theorien haben ein solches Maß von Zweckdenken in die Rechtsgesinnung eingeführt, daß eine sinngemäße Handhabung der Todesstrafe in erheblichem Maße in Frage gestellt ist. Man wird zwischen terroristischen Neigungen und zitternder Schwäche hin- und herschwanken. Jene Anschauungen machen zusammen den Tatbestand der abendländischen Schizophrenie aus. Ist es nicht in der Tat allzu gefährlich, einem Kranken eine solche Waffe in die Hand zu geben? Freilich muß ja dieser Kranke weiterleben, handeln und in diesem Handeln wieder gesunden. Es wäre ein großer Schritt auf diesem Wege der Gesundung, wenn man an Stelle eines Fortschrittspathos ehrlich eingestände, daß wir zu schwach und zerrissen sind, um mit sicherer Hand Recht zu üben. Und die Frage nach dem, was rechtens ist, ist der berechtigte Kern in den vielfach so unzulänglich begründeten Fragen des Volkes auf diesem Gebiet.