Kapitel 2

Das Verbrechen als Machtanmaßung

Der Revision überkommener Vorstellungen in der Jurisprudenz steht nichts so entgegen als der grundsätzliche und ausschließliche Normativismus des juristischen Denkens. Normativismus ist nicht mit Positivismus zu verwechseln und auf ihn zu verengen. Das naturrechtliche Denken der Rechtsmetaphysik ist ebenso normativistisch. Der Begriff, die explizite Definition und die Sollensstruktur der Norm (metaphysischer oder positiver Art) erscheinen als die allein rechtsfähigen, als die einzigen Denkformen, in denen rechtlich relevante Erkenntnisse ausgedrückt werden können. Im Begriff werden die Gegenstände rechtlicher Erkenntnis mit möglichster Eindeutigkeit objektiviert, durch die Sollensstruktur werden sie handhabbar, praktikabel. Andere Denkformen, etwa die implizite Definition, das Denken von Grenzwerten her, wird ausgeschlossen. Die Jurisprudenz wird abhängig von bestimmten, höchst zeitbedingten

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Denkformen, die freilich eine große Tradition und vielfältige Entwicklungsmöglichkeiten umschließen. Aber sie haben auch ihre grundsätzlichen und geschichtlichen Grenzen. Wer sich weigert, in diesen Grenzen zu leben, macht Würde und Lebensfülle des Rechts gegen die Jurisprudenz geltend. Aber erst eine gegenwärtige Nötigung, die Bedrohung des Menschen, macht diese Verteidigung recht eigentlich unabweislich. Wir werden den Naturalismus nicht in Wahrheit überwinden und immer wieder vor seinen Fragen stehen, wenn es nicht gelingt, das Verhältnis von normativer Sollensstruktur und Ontologie in diesem Bereich in anderer Weise zu bestimmen als in dem Gegensatz von Determinismus und Indeterminismus. Die in der Heisenbergschen Unsicherheitsrelation ausgedrückten Sachverhalte, die Nichtobjektivierbarkeit menschlicher Erkenntnis, d.h. daß das erkennende Subjekt vom Gegenstand seiner Erkenntnis nicht abgetrennt werden kann, gilt für alle Erkenntnis, auch für die sog. Geisteswissenschaften.

Das Grundaxiom alles gegenwärtigen Strafrechts ist, daß der Mensch etwas tue, was er könne, aber nicht soll. Die Alternative in der kausalen Betrachtung kann nur sein, daß der Mensch etwas tut, was er nicht soll, aber aus irgendwelchen Gründen nicht lassen kann. Es ist dann grundsätzlich offen, ob dieses Unvermögen zu seiner Entschuldigung oder zu seiner Belastung dient. So sind die Dinge bisher betrachtet worden.

Die Legitimität und Unentbehrlichkeit jenes Axioms soll nicht bestritten werden, wohl aber seine Ausschließlichkeit. Seine Legitimität ergibt sich schon daraus, daß es in einem anwendbaren und vollständigen Strafrechtssystem sowohl konsequent durchführbar wie unentbehrlich ist. Aber es gilt wie die euklidische Geometrie eben nur innerhalb ihrer eigenen Voraussetzungen und auf deren Grundlage.

Die echte Umkehrung jenes Axioms ist eine andere als die deterministische. Sie ist in dem Satz zu formulieren: Jeder Täter, auch der Täter einer vollendeten Tat, versucht etwas, was er nicht kann. Daß es sich dabei nicht um die Bagatellisierung des strafbaren Erfolgs handeln kann, dürfte klar sein.

Diese Umkehrung des strafrechtlichen Grundaxioms soll hier kurz an den hauptsächlichen Straftatbeständen durchgeführt werden.

Der Diebstahl besteht darin, daß sich der Dieb die fremde Sache verschafft und sich objektiv und subjektiv benimmt, als ob er Eigentümer wäre. Das Recht versagt ihm hier vollständig den Erfolg. Noch in der hundertsten Hand bleibt die Sache Eigentum des Bestohlenen. Aber auch praktisch gelingt die Zueignung nur sehr bedingt. Bekanntlich fließt den Dieben von der Beute im Durchschnitt höchstens ein Zehntel des Wertes zu. Der Satz „Urecht Gut gedeihet nicht” ist kein moralischer Gemeinplatz, sondern entspringt einer echten Erfahrung. Die Unmöglichkeit, von der gestohlenen Sache öffentlich Gebrauch zu machen, hindert entscheidend die

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Auswertung des angemaßten Besitzes, nicht allein die Kontrollmaßnahmen, etwa in Gestalt von Metall- und Trödelbüchern.

In anderer Weise macht der Betrüger den Scheincharakter des Verbrechens sichtbar. Er baut ein kunstvolles Gebäude auf, das eines Tages notwendig zusammenbrechen muß. Nur soweit hat er echten Erfolg, als der Betrogene dadurch, daß er sich betrügen läßt und also eine Mitursache setzt, ihm einen echten Besitz gewährt, an den sich der gute Glaube im Gegensatz zum Diebstahl heften kann. Beide, Dieb und Betrüger, versuchen etwas zu erreichen, was sie ehrlich nicht vermögen; denn der ehrliche Erwerb setzt die Hingabe eigener Werte an Gut oder Mühe voraus.

Beim Sittlichkeitsverbrechen finden wir das gleiche Zeichen. Der Kontaktschwache, der Krüppel, der senile Alterstäter versuchen eine Geschlechtsbeziehung herzustellen, zu deren echter Gestaltung sie in Wahrheit nicht imstande sind. Sie können allenfalls den grobsinnlichen Erfolg der geschlechtlichen Befriedigung, aber gerade nicht die vermißte echte Beziehung herstellen, um derentwillen sie eigentlich handeln.

Bei der Beleidigung und üblen Nachrede vollzieht der Täter ein angemaßtes falsches Urteil oder versucht, sich durch bewußte Herabsetzung des anderen zu dessen Herrn und Richter aufzuwerfen. Während die Ehre des einzelnen immer wesentlich auf der Anerkennung der Gemeinschaft beruht, macht sich der Beleidiger zum Richter, indem er sein Urteil an die Stelle des allgemeinen setzt. So findet auch die Vorschrift des § 193 StGB. ihre Erklärung: Der berufliche Vorgesetzte ist in echter Weise befugt, ein Urteil über Leistungen auszusprechen, auch wenn es kränkend ist; aber er darf damit nicht die persönliche Würde des Untergebenen verletzen. Ein schlechter Trompeter ist noch kein schlechter Kerl.

Der gleiche Sachverhalt zeigt sich beim Mord. Hier versucht der Täter sich fälschlich zum Herrn des Unverfügbaren, des fremden Lebens, aufzuwerfen. Der Mörder gleicht einem Schachspieler, der eine hinderliche Figur des Gegners gegen die Regel beseitigen und doch weiterspielen will. Sieht er jedoch ein, daß er so nicht weiterspielen kann, so wischt er nach der Tat das ganze Spiel vom Tisch, indem er sich selbst umbringt. Um keinen Preis aber will er die Figur dulden, die an dem einen bestimmten Punkt ihm im Wege steht, sei es nun Dame oder Bauer. Das erklärt auch die Tatsache, daß so viele Morde an Menschen begangen werden, mit denen der Täter keinen tieferen Konflikt hat. Aus dem vorgestellten Ablauf des Geschehenen beseitigt der Täter entschlossen alle Hemmnisse, auch die zufällig auftretenden, oder benutzt die ebenso zufällig auftretenden Gelegenheiten. der Mörder macht sich um jeden Preis zum Herrn der Lage. Thomas Dehler hat in der Bundestagsdebatte über die Todesstrafe auf die Tatsache hingewiesen, daß sich ein sehr großer Teil der Mörder selbst töte, nicht dagegen die Totschläger. Der Totschläger erwacht auf dem Rausch des Affekts, sieht

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was er angerichtet hat und findet sich in einer Gemeinschaft wieder, aus der er sich nie hat entfernen wollen. Der Mörder hat sich schon mit dem ersten Entschluß aus ihr entfernt, indem er sie einfach als nicht existent behandelt.

Gewisse Formen der Tötung werden noch heute im englischen Recht unter dem juristischen Begriff der Felonie, der Lehensuntreue verstanden. Der König gewährleistet mit dem Landfrieden auch die Unversehrtheit des Lebens seiner Untertanen. Wer an Stelle dieser schützenden Herrschaft den anderen tötet, macht sich seinerseits nicht zum schützenden, sondern zum zerstörenden Herrn. Der Mord zeigt sich hier als Majestätsverbrechen. Auch hier tritt wieder hervor, daß nicht das gesetzliche Verbot, sondern der öffentliche und persönliche Status die Strafbarkeit begründet. Ebenso zeigt sich deutlich die Analogie zu dem Mordverbot der Zehn Gebote, welches ebenso um der Herrschaft Gottes willen ausgesprochen wird2.

Das gleiche gilt auch für das Verkehrsrecht. Der Verkehrssünder benimmt sich auf der Straße so, als ob er allein da sei. Gerade hier wird deutlich, in welchem Maße er sich selbst damit gefährdet. Er darf sich aber so benehmen, wenn er keinen Gegenverkehr hat.

Mit dem Nachweis der Durchführbarkeit dieses Gegenaxioms ist gezeigt, daß die normative Struktur des Strafrechtsdenkens nicht die einzig mögliche ist. Diese wird hier durch den Blick auf die seinsmäßige Gegebenheit ergänzt. Das normative Gebot — ethisch wie rechtlich — verbietet um des Nächsten willen. Die ontologische Einsicht zeigt dem Menschen, daß er mit seinem Tun zugleich seine eigene Existenz verfehlt. Sie ergänzt sogleich die ethischen Kategorien durch das, was in diesen zu Unrecht wegen ihrer Einseitigkeit in eine metajuristische Wertlehre verbannt werden muß.

„Strafwürdig ist also nicht etwa nur die Verletzung eines normativen Tatbestandes, den wir nach gewissen außerrechtlichen Gesichtspunkten gesetzt haben und bejahen oder verneinen können. Strafwürdiges Verbrechen ist immer nur die Anmaßung einer uns nicht zustehenden Macht” (aaO. S. 351).

Die ethisch-strukturierte Norm ist konstitutiv — aus guten oder schlechten Grunden, die grundsätzlich außerhalb ihrer selbst liegen, verbietet sie. Die ontologische Einsicht wirkt deklaratorisch — sie zeigt, was ist. Wenn ich mit einer Flinte auf den Mond schieße, so ist das ein harmloser Unsinn, wenn nicht das Geschoß jemand auf den Kopf fällt. In der Straftat aber verfehle ich meine eigene Existenz, die nach ihren Bedingungen eine korrelative ist, um das verbrauchte Wort sozial zu vermeiden. Ich kann Eigentum nur durch redliche Arbeit oder Hingabe anderer Güter erwerben, geschlechtliche Erfüllung nur durch Hingabe — beide Male durch Preisgabe,


2 Dombois: „Strafrecht und menschliche Existenz”, Hochland April 1954, S. 346f.

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durch Opfer, nicht durch List oder Gewalt. Auch der radikalste soziale Umsturz hat in seinen ernsthaften Vertretern nie gemeint, durch das Lumpenproletariat der Diebe die Welt ändern zu können, auch wenn man sich gern der Deklassierten bediente. In dem Maße aber, in dem ich jenes Gesetz des Opfers verletze, habe ich nicht nur Mißerfolg — ich kann sogar gewisse äußere Erfolge haben —, sondern sinke ich. Es ist kein belangloser Versuch, sondern er schlägt auf mich zurück. Am deutlichsten ist es beim Sittlichkeitsverbrecher. Je mehr er Befriedigung durch Gewalt oder Mißbrauch erzielen will, desto mehr sinkt er. In der Tat liegt nicht nur Schuld gegen den Verletzten, sondern auch Verfehlung des Täters gegen sich selbst. Der Täter scheitert mit der Aufdeckung seiner Tat, die in ihrer wirklichen Gestalt das Tageslicht scheut. Der Täter ist gefallen; das Urteil steht fest — deklaratorisch; die Strafe vollzieht es zugleich — konstitutiv. Soviel falsche Macht er sich angemaßt hat, pseudologisch in der Täuschung seiner selbst und der Welt, so viel hat er eingebüßt und büßt er jetzt sichtbar in der Strafe ein. Durch den Zusammenbruch seiner Täuschung muß der Täter hindurch. Die Strafe bedeutet, daß dem Täter unausweichlich das reale Erlebnis dieser Katastrophe, des durch die Tat eingetretenen Existenzverlustes, auferlegt wird.

Jene uns nicht zustehende Macht ist das, was uns nicht „zukommt”. Der Mensch nimmt die Bestimmung nicht an, die ihm einen begrenzten Platz anweist. Er wählt einen anderen Platz, er spielt eine Rolle, die nicht die seine ist. Das ist eine durchaus personale Frage. Er setzt sich an die Stelle anderer Rechtsträger, an die Stelle Gottes in der Verfügung über das Leben, an die Stelle der Gemeinschaft im Angriff auf die Ehre, an die Stelle eines einzelnen Berechtigten bei anderen Delikten. Nicht die Verletzung sog. objektiver Rechtsgüter macht die Straftat aus, welche dem abstrakten Subjekt wie scholastische Modifikationen und Accidentien anhängen und der entsprechenden Schutzverbote, sondern das Spielen der nicht zukommenden personalen Rolle. Nicht die Verletzung des als Objekt gedachten Ruchtsgutes, sondern die Verdrängung des Subjekts dieser Befugnisse ist entscheidend. Subjekt und objektive Rechtsbefugnisse können nicht getrennt werden. Sie sind verbunden im Begriff des Rechtsstatus. Der personale Rechtsstatus verbindet unscheidbar Person und Recht. In einer Darstellung der parallelen Entwicklung des Schuldbegriffs in Eherecht und Strafrecht habe ich den Begriff der Schuld für beide Bereiche zu umschreiben versucht als:

die rechtliche Verantwortlichkeit für die Verfehlung einer notwendig institutionell verfaßten Wirklichkeit, in welcher die Verpflichtung gegenüber dem Nächsten konkret gestaltet ist3.


3 „Grundprobleme des Ehescheidungsrechts”, Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht, Band 5 Heft 1 S. 50 f.

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Die objektivierende Ablösung der sog. Rechtsgüter von der Abstraktion eines unterschiedslosen Subjekts als Rechtsträger verdeckt also den personalen Charakter der Straftat und damit wesentliche Aspekte. Man ist dann gezwungen, erst eine Rechtsgüterlehre zu entwickeln und diese Rechtsgüter nachträglich wieder mit dem Subjekt zu verbinden, weil man zuvor beide künstlich getrennt hat.

Eine Bestätigung dieser Sicht ergibt sich aus der Ambivalenz der Straftaten. Alle Handlungen, die beim Täter strafbar sind, können vom Berechtigten straflos vollzogen werden. „Dem Mord steht die gerechtfertigte Tötung im Kriege und im Urteilsvollzug, dem Sittlichkeitsverbrechen die echte Geschlechtsbeziehung, dem angemaßten Gebrauch der Sache die berechtigte Verfügung gegenüber. Die Handlungen sind gerade nicht wertfrei (so daß dem „objektiv-kausalen” Handeln die Wertung gegenüberstände, völlig geschieden und auf einem anderen Gleise), sondern doppelwertig, sie können positiv zum Leben wie negativ zur Zerstörung führen. Die Problematik des Krieges und der Todesstrafe liegt darin, daß die Tötung hier zwar rechtlich gestattet, aber in einem letzten Sinne fraglich bleibt. Der Strafrechtstheorie wird ... diese Doppelwertigkeit unerkennbar, wenn sie lediglich von der als Norm verstandenen Setzung ausgeht ... Die Strafe ist grundsätzlich die negative Folge des positiven Rechtsstatus” (aaO. S. 351).

Deswegen haftet der Strafe notwendig der Charakter des Status negativus an — sie darf nur nicht darin steckenbleiben, sie muß ein Vorgang sein, der weiterführt4.

Radbruch unternimmt es, die materialen Probleme des Strafrechts durch die Unterscheidung und Nebeneinanderstellung von „Bestimmungsnorm” und „Bewertungsnorm” zu lösen. Die Bestimmungsnorm ist hier die spezifisch juristische des positiven Strafrechts. Die Bewertungsnorm hat metajuristischen Charakter, sie gehört einer —


4 Von da aus ergeben sich Gesichtspunkte für die strafrechtlich wie kriminologisch bedeutsame Erscheinung des freiwilligen Status negativus, den Gewohnheitsverbrecher, Prostituierte, Kuppler, Zuhälter, Landstreicher, Bettler, Konkubinen wählen. Nur ein Teil dieser Formen greift die Lebensrechte anderer an. Dieser Status ist in früheren Zeiten in erstaunlich hohem Maße institutionalisiert und damit zugleich relativ wirksam geordnet worden. Erst das moderne Strafrecht hat — puritanisch wie aufgeklärt — dem status positivus der bürgerlichen Ordnung einen so ausschließlichen und unbedingten Wert verliehen, daß ein Herausfallen aus ihm schon als schuld erschien. Erwählungsglaube und totale Funktionalisierung des Lebens erzeugen dieses bürgerliche und Arbeitsethos. Wenn freilich auch der Bettler nicht mehr als Bettler lebt und leben kann, sondern die öffentliche Hilfe als subjektives Recht in Anspruch nimmt, dann kann auch die „Nichtbeschaffung eines Unterkommens” als eine Art „actio libera in causa” zur strafrechtlichen Schuld werden. Denn diesem Rechtsanspruch entspricht die Pflicht, sich nicht mutwillig selbst in die Notlage zu bringen.

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wie immer verstandenen — Wertlehre an. Wir haben also zwei normative Systeme und Normenzüge vor uns, von denen der eine der höhere und innere, der andere die niedrige und äußere ist. Das ist eine typisch spiritualistische Konzeption, welche der geschilderten Trennung von Subjekt und Rechtsgut entspricht. In dieser Scheidung zweier Normsysteme liegt eine starke Abwertung des positiven Rechts, welches blind und leer erscheint. Auch bei schärfster Kritik am Positivismus ist es verständlich, daß sich die Juristen von der Wirklichkeit und Würde ihres Gegenstandes her gegen diese Sicht wehren. Die Parallelisierung zweier normativer Systeme löst nicht, sondern verdeckt und verschiebt nur das ontologische Problem des Strafrechts und ist deshalb ein überflüssiger Umweg. Es ist aber ein Zeichen dafür, mit welcher Starrheit sich der Normativismus gegen jede Durchbrechung oder Ergänzung seiner Denkmethoden wehrt. Das von ständigen Inflationsgefahren bedrohte Papiergeld der Norm bedarf jedoch der Deckung durch die realen Werte des Seins. Diese brauchen normativ nicht gemünzt zu sein. Die Norm macht sie umlauffähig, anwendungsfähig. Ontologische und ethisch-normative Betrachtungsweise ergänzen einander. Nur eine wirklich sachlich entgegengesetzte Betrachtungsweise kann die Einseitigkeit des Normativismus ergänzen, ohne ihm sein Recht zu nehmen. Denn im Grunde steht auch diese zweite Reihe der Bewertungsnorm ihrerseits vor der ontologischen Frage. Wozu dann die Verdoppelung normativer Gesichtspunkte?

Als ich diesen Gedankengang in einem Kreise praktischer Juristen vortrug, wurde ich sofort gefragt, was das für die Strafzumessung austrage. In einer solchen Frage macht sich in bedenklicher Weise die — von der Rechtswissenschaft nicht unverschuldete — Entwöhnung der Praktiker von grundsätzlich-philosophischem Denken bemerkbar. Das ist in Wahrheit eine Scheinposition. Denn auch der so fragende Praktiker steht ja doch auf einer, nur nicht zulänglich erkannten gedanklichen Grundlage, auf welcher er mehr oder minder formalisierte ethische Begriffe anwendet, welche ihm die normative Struktur seines Faches darbietet. Die hier vorgetragene Sicht beansprucht naturgemäß gar nicht, mit den bisherigen Maßstäben der konkreten Rechtsanwendung in Konkurrenz zu treten. Sie will lediglich den menschlichen Tatbestand erhellen. Dies allerdings erscheint mir notwendig. Was sich hier vollzieht, ist die Aufdeckung einer zweiten Dimension, einer zweiten Schicht, welche im ausschließlich normativen Denken nicht enthalten ist, in dieses nicht aufgenommen werden kann. Das moderne Denken ist überall dabei, aus der Eindimensionalität des kausalen und folgeweise ethischen Denkens zur mehrdimensionalen Betrachtung überzugehen, die freilich an Simplizität und Eingängigkeit jener nachsteht. Es ist dies etwa dem Vorgang zu vergleichen, wenn ein zweidimensionales Flächenbild, in die dritte Dimension des Raumes erhoben, plastisch wird. Der Gegenstand der Darstellung wird dadurch kein anderer.

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Zugleich stellt diese Ergänzung eine entscheidende Entlastung des Strafrechts dar. Das normativ verstandene Strafrecht ist notwendig für den Täter heteronom; um anderer Menschen, um jenseits der Vorschrift selbst liegender Werte willen wird verboten und bestraft. Jetzt stellt sich heraus, daß jene Verfehlung gegen das heteronome Gesetz auch eine solche gegen die recht verstandene Autonomie, gegen das Gesetz des eigenen Lebens ist, dies aber nicht auf dem Umwege über eine ethische Selbstverpflichtung, die das fremde Gesetz sich zum eigenen macht — eine den Menschen im weiten Umfang intellektuell und moralisch überfordernde Vorstellung —, sondern aus dem recht verstandenen Gesetz der eigenen Existenz. Welche Summe halbwahrer Moralsätze und Forderungen kann auf diese Weise abgestoßen werden, wenn der Richter die Einsicht in diesen Tatbestand sowohl selber hat wie in rechter Weise vermittelt! Die Strafrechtspraxis moralisiert aus der Unmittelbarkeit ihrer Erfahrung wesentlich weniger, als Moralphilosophen und Filmproduzenten meinen; aber sie vermeidet dies nicht aus echter Erkenntnis, sondern nur aus unzulänglich reflektierter Erfahrung. Hier wird zugleich ein falscher Autonomiebegriff berichtigt, der diese wesentlich entweder als sittliche Selbstverpflichtung oder Willkür verstehen muß und die ontischen Gegebenheiten der menschlichen Existenz nicht einzubeziehen vermag. Diese liegen wesentlich schon in der Begrenztheit seiner Existenz — die ihm das Nichtzukommende versagt —, zugleich aber auch in dem fundamentalen menschlichen Tatbestand, daß man immer nur um den Preis echter Hingabe, echten Opfers Rechte erwerben kann.

Ethische und ontologische Sicht brechen sich gegenseitig nichts ab, sondern ergänzen einander.

Diese Verbindung liegt sehr nahe. Das normativ-heteronome Gesetz ist immer wesentlich fremdes Urteil über die Tat, welches anzunehmen der Täter veranlaßt werden soll. Es ist seine Tat — gewiß, er kann es schließlich nicht bestreiten. Aber ist es auch seine Schuld? Gegen dieses Urteil stemmt er sich, und in der Tat — es kann hinwegfallen, wenn die es tragenden Wertvorstellungen sich ändern. Vor allem aber: mit der Gemeinschaft, mit dem Geschädigten ist er nicht identisch — und betont gegen sie sein eigenes Lebensrecht. Erst in jener Sicht kann begründet werden, kann er lernen, daß jene Mitwelt ihn mitkonstituiert, daß er nicht ohne die Relation lebt, die zugleich seine eigenen Grenzen bestimmt. Die ontologische Betrachtung zeigt unausweichlich seine Identität mit der Tat; es ist seine Verfehlung, auch gegen sich selbst, in höherem Grade, als es das Tatstrafrecht zum Ausdruck bringt; sie ist der Niederschlag der dem Menschen anhaftenden pseudologischen Neigung, der eigenen Begrenztheit entgehen zu wollen.

Die Sprengung der einseitigen Axiomatik des Normativen, der Nachweis einer echt entgegengesetzten Verstehensmöglichkeit für die

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gleichen Tatbestände macht nun die Frage nach dem gemeinsamen und beide überschreitenden Grund unausweichlich, von dem aus wir überhaupt zu dem Urteil berechtigt sind, daß Normverletzung und Seinsverfehlung in einem vorliegen.

Ontologie und ethische Normenlehre sind einander ergänzende und komplementäre Betrachtungsweisen, Denkformen. Sie sind daher weder auseinander abzuleiten noch voneinander zu trennen. Der Versuch, die Ethik aus der Ontologie abzuleiten, ist der des scholastischen Generalsatzes: operari sequitur esse. In der kritischen Gegenauffassung mindestens seit Kant bleibt das ethische operari unabhängig von dem unerkennbaren Grund des Seins für sich bestehend übrig. Das Verhältnis beider Denkformen war bis heute scheinbar nur als Position und Negation im Sinne einer ausschließenden Alternative denkbar. Erst in der Gegenwart sind Beziehungsformen hervorgetreten, welche jenseits dieses Gegensatzes liegen. Man kann aber beide Betrachtungsformen, ihre Abhängigkeit oder Gegensätzlichkeit einmal beiseite gesetzt, sehr wohl dazu benutzen, einander wechselseitig zu interpretieren. Die beiden Axiome des Nichtkönnens und des Nichtsollens widersprechen einander, aber sie erhellen einander auch. Was ich nicht kann, soll ich auch nicht versuchen. Sein, das nicht im Sollen ausgedrückt werden kann, ist nicht rechtsfähig. Durch ihre gegenseitige Deckung erhält ihr gemeinsamer Gegenstand seine Tiefe. Recht hat seine Tiefe darin, daß es zugleich zukommendes Sein wie gegenwärtiges Sollen in einem und zugleich mehr als beides ist, sie beide zusammenfassend und eben darum überschreitend.

Ontologie und Ethik sind beide formale Denkstrukturen, welche als solche ihren eigenen materialen Grund und Gehalt nicht aufdecken und erkennen lassen. Das ethische Gesollte hat seinen Grund im Vermögen des Menschen, in seiner Herrschaft über seine Möglichkeiten. Deswegen ist Ethizismus der Glaube an die Selbstherrschaft des Menschen und deshalb zugleich die Neigung, das selbstmächtige Handeln des Menschen als selbstloses, dienstbar, als bloße Funktion zu verstehen.

Das ontisch Zukommende dagegen hat seinen materialen Grund im Opfer, welches Wagnis auf der einen, Annahme auf der anderen Seite erfordert. So hat das Eigentum seinen Rechtsgrund in Arbeit oder Gegenwert, das Recht in der Geschlechtsgemeinschaft in der gewagten und vom Partner frei angenommenen Vollhingabe. In diesen beiden, zwei wichtige Hauptgebiete des Strafrechts berührenden Rechtsgebieten ist dieser Sachverhalt schon angesprochen worden und verhältnismäßig leicht einsichtig zu machen. Aber es gilt auch für andere Gebiete: etwa für Ehre und Ehrverletzung. Nur der urteilt befugt, zu dessen Lasten das zu beurteilende Verhalten geht. Ein öffentliches Urteil über die Ehre eines Menschen ist nur in dem Maße möglich, als öffentliche Ordnung, öffentlicher Status

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des Mitmenschen berührt ist. Urteil setzt nicht nur Distanz, sondern zugleich Beteiligung voraus. Wäre der Richter nicht in der konkreten Rechtsgemeinschaft und wäre diese nicht verletzt und er mit ihr, so könnte er auch nicht urteilen. Die Verkennung dieses Tatbestandes in der rechtsstaatlichen Theorie hat in der konsequenten Umkehrung des totalen Staates dazu geführt, daß der Richter, dem Staatsanwalt, dem öffentlichen Kläger mehr oder minder deutlich und verbindlich nachgeordnet, selbst in die Rolle des Klägers gedrängt wird (siehe Näheres unter Kapitel 8). Die erkenntnistheoretischen Prämissen unserer Prozeßtheorie sind jedenfalls heute fragwürdig geworden.