Kapitel 8

Täter und Richter — Die Struktur des Richteramts

Was ändert sich durch die Wandlung der Buße in die Strafe? Das zweiseitige Verhältnis Täter-Verletzter, die Zweiseitigkeit auch des Bußverfahrens wird dreiseitig. In das Verhältnis beider tritt ein dritter Mann ein. Der Richter konstituiert das Strafrecht in einer Weise, die durch die Vorstellung eines bloßen funktionalen Gesetzesvollzugs nicht ausreichend beschrieben wird. Dies wird eben aus dem Vergleich mit der biblischen Strafdrohung des mosaischen Gesetzes erkennbar. Hier heißt es:

Ich bin der Herr, dein Gott! Du sollst nicht stehlen (usw.) Denn ich bin ein eifriger Gott, der heimsucht der Väter Missetat an den Kindern.

Auch hier löst eine Tat eine Folge aus. Die Voraussetzung liegt aber in der Selbstaussage Gottes, der seine Herrschaft als Anspruch auf den Menschen proklamiert und seinen Entschluß kundtut, diese Herrschaft durch die Bestrafung des Übeltäters aufrechtzuerhalten. In der Sache und der Struktur tut der Staat nichts anderes18. Das Strafrecht setzt ein aktiv handelndes Gemeinwesen voraus, modern


18 Über das Verhältnis göttlicher und politischer Herrschaft vgl. Dombois: „Politische und christliche Existenz”, aaO. S. 90ff.

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gesprochen: einen Staat, der seine Ordnung durch die Strafe aufrechterhält. Mit dem Staat ist ein Inbegriff von Statusrechten, Leben, Ehre, Eigentum der Staatsbürger wie die öffentliche Ordnung überhaupt verknüpft, genau so wie mit der Herrschaft Gottes die Ordnung der ganzen Schöpfung und die Unversehrtheit seiner Geschöpfe. Es gibt kein Strafrecht ohne die vorausgesetzte Herrschaft des Strafenden. Das Gesetz ist also immer Folge der Herrschaft. Die rechtsstaatliche Strafrechtstheorie übersieht oder vernachlässigt zum mindesten diese Struktur. Strafdrohung und Straffolge erscheinen als ein für sich bestehender und ex se geforderter Bereich. Ihr Gesetzesbegriff wird zu einer bloßen Verknüpfung von Ursache (Tatbestand) und Wirkung (Strafe) nach Analogie kausaler Verknüpfungen, wobei die Person dessen, der diese Verknüpfung herbeiführt, um der völligen Gesetzlichkeit willen so weit als möglich außer Betracht bleibt. Der Richter wird zum Funktionär dieser gesetzlich vorgeschriebenen Verknüpfung. Das Gesetz soll seine Tätigkeit vollständig ohne Rückbezug auf Ursprung und Grund tragen. Das vollendete Mißverständnis dieses Sachverhalts enthielt die in Hessen nach dem Kriege zeitweilig eingeführte Urteilsformel „Im Namen des Gesetzes”. Es ist die Fiktion eines sich selbst tragenden Gesetzes. Dahinter steht die Metaphysik einer lückenlosen Kausalmechanik, deren Abbild eben dieses Gesetz ist.

Jene Formel war damals politisch bedingt. Das deutsche Volk hatte seine politische Freiheit verloren; die Besatzungsmächte dagegen wagten nicht, sich zu ihrer eigenen Gerichtshoheit zu bekennen. Hier interessiert nur die prinzipielle Unmöglichkeit jener Formel. Sie ist später mit Zurücktreten des Besatzungsrechtes wieder in die frühere Fassung „Im Namen des Volkes” geändert worden. Diese ist aber nicht vollständig. Die älteren Formeln haben zwei Teile: Vor dem Urteil steht der Name des legitimierenden Gesetzgebers: „Im Namen des Volkes (des Königs)”, hinter der Urteilsformel steht: „Von Rechts wegen”. Erst damit ist die eigentümliche Dialektik zwischen der institutionellen Seite des Rechts, seiner historischen Konkretheit und Kontingenz auf der einen und der Objektivität und Unbedingtheit der Rechtsidee auf der anderen Seite bezeugt und festgehalten. Dieses Apriori und dieses Aposteriori der Rechtsprechung gehören zusammen. Diese vollzieht sich zwischen der historischen Konkretheit und der endzeitlichen Orientierung des Richterspruchs.

Die Existenz des Staates wie der Person gründet sich nicht auf das Gesetz, sondern wird im Gesetz als institutioneller Garantie nur anerkannt und beschützt. Es handelt sich nicht um die gründende lex, sondern um den status. Man sollte deswegen auch nicht von lex perfecta oder imperfecta (Gesetz mit oder ohne strafrechtlichen Schutz), sondern von status perfectus oder imperfectus sprechen. Der status ist immer unlösbar mit einem personalen Träger verbunden, während die sekundären Ordnungen diesen personalen

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Statuscharakter nicht haben, sondern rein sachlich-funktionale Ordnungen sind. Der Staat ist seinem Wesen nach der Inbegriff, die Verfassung und Zusammenfassung aller dieser Statusrechte.

Die Annahme eines grundsätzlich namenlosen, subjektlosen ethisch-gesetzlichen Gebots oder Verbots, dem Richter und Täter unterliegen, das sie funktional aktiv und passiv zu erfüllen und zu erleiden haben, wird gerade im Zentrum seiner Anwendung, im Strafrecht, bei näherer Betrachtung fragwürdig. Denn die Tatbestände des Strafrechts enthalten, genau besehen, an niemand eine Forderung. Nur auf dem Wege einer gar nicht zweifelsfreien Auslegung wird aus ihnen ein Verbot an den Täter, ein Gebot an den Richter entwickelt. Sie enthalten tatsächlich nur in lapidarer Form Rechtsfolgen. Wer etwas Bestimmtes tut, wird bestraft. Er wird hoffentlich so vernünftig sein, das zu vermeiden. Wer straft und wie das geschieht, steht in ganz anderen Gesetzen. Die strafrechtliche Folge schließt das Verbot ein, spricht es aber nicht aus. Die Sprachlogik macht es jedenfalls unmöglich, Tatbestand, Verbot und Straffolge in einem Satz zu vereinen. Das ist nicht zufällig. Ein Verbot setzt einen Verbietenden voraus. Spricht er das Verbot aus, so muß die Straffolge in einem zweiten Satz untergebracht werden. Verknüpfe ich lediglich Tatbestand und Straffolge, so muß ich den Verbietenden, dessen Gesetz es ist, stillschweigend weglassen, verschweigen. Damit erzeuge ich den Irrtum, daß diese Verknüpfung die notwendige Folge einer immanenten, apersonalen, kausalen, ethischen, rechtlichen Gesetzlichkeit sei. Aber es ist nicht nur ein Irrtum im Ausdruck. Es ist ein Irrtum in der Sache selbst, der mit der Sprachform stillschweigend die Personalität rechtlicher Setzung ausscheidet, weil man deren geschichtliche Kontingenz bestreitet und verneinen will. Der Richter, der die kontingente Ordnung als die seine schützt, aus eigenem Recht oder stellvertretend, konstituiert also das Strafrecht. Wo kein Kläger ist, da ist kein Richter. Noch weit mehr gilt der Satz: Wo kein Richter ist, da ist kein Kläger. Denn im Bußverfahren klagt niemand. Auf dem Wege der Rache wird nicht geklagt, sondern massiv gehandelt. Auf dem Wege der Buße muß man „peccavi” sagen und um die Bereitwilligkeit zur Unterhandlung bitten; es mag sein, daß der andere daran auch interessiert ist — dennoch bleibt er der Gewährende. Eigentlich ist das ursprüngliche Verhältnis bereits ein dreiseitiges; die Beziehung Täter-Verletzter ist keine direkte, sie geht über die Tat, sie ist objekt-vermittelt. Nach dem Eintritt des Richters ist sie also eine vierseitige: alle drei haben ihre Beziehung nur über die Tat. Ohne Tat klein Kläger; die Tat macht den Täter. Ohne Tat ist er gar nicht existent. In jedem Strafgesetz ist der Täter nur als potentielle Größe vorhanden; überall heißt es „wer etwas tut . . .” Wer die Tat verübt, ist im Gesetz ganz offen; sicher ist nur, daß irgend jemand sie verüben wird. Die Determination zur Tat ist nur eine statistische Größe.

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Was tut nun der Richter? Er urteilt. Das richterliche Urteil heißt in der feierlicheren Rechtssprache „Erkenntnis”. Erkenntnis ist ein tiefer existenzieller Akt, der weit über die intellektuelle Bemächtigung, über Tatbestandsklärung und Begriffssubsumption hinausgeht. Er ist nicht allein Bemächtigung, welche das Vorfindliche übersieht, erfaßt, durchdringt, sondern immer zugleich ein Stück Selbstpreisgabe, auch wenn der Erkennende in der Rolle des Richters, mit allen Machtmitteln ausgerüstet seinem menschlichen Gegenstande gegenübersteht. Sie ist grundsätzlich sowohl Bemächtigung wie Selbstpreisgabe. Der Satz „tout comprendre c’est tout pardonner” ist der Ausdruck für eine bestimmte Zwangsläufigkeit, der gerade der Richter nicht anheimfallen darf. Soviel er zu verstehen hat, so wenig hat er zu vergeben. Dieser Dialektik muß er stehen. Wer ein besonders hohes Maß von Einfühlungsvermögen und Bereitschaft besitzt, sich in den anderen Menschen hineinzuversetzen, verliert sehr leicht mit der Distanz auch das Urteil. Die Mächtigkeit der fremden Existenz mit der ihr innewohnenden Konsequenz und relativen Zwangsläufigkeit wird unversehens Herr über ihn. Daraus entsteht die Tragödie einer Humanität, welche nicht mächtig genug ist, um human sein zu können, um nämlich gerade gegenüber der Existenzverfehlung das Andere, das Gesunde, zu repräsentieren, auf der Erfüllung der Verpflichtung und der Änderung der Haltung zu beharren. Es bedarf nach dem Gesagten kaum des Hinweises, daß der entgegengesetzte Weg, sich der menschlichen Wirklichkeit des Täters zu verschließen und sich an die bloße äußere Sachlichkeit des Falles zu halten, die Aufgabe schon deshalb verfehlt, weil sie ihr überhaupt ausweicht, weil der Richter sich dem Täter nicht stellt. Gerecht und barmherzig zu sein, zu lieben und dennoch der ganz Andere zu bleiben, ist ein göttliches Vermögen, ein Prädikat göttlichere Macht — und dennoch ist es die große Aufgabe des Richters, dieser Zwischensituation zu stehen. Der Richter befindet sich im Verhältnis zum Täter als Angeklagten in einer Zwischensituation: er darf sich weder mit ihm identifizieren noch sich ihm entziehen. Was der Richter in actu zu vollziehen und durchzuhalten hat, liegt beim Täter vorfindlich und bereits abgeschlossen vor: Wie der Täter mit der Tat, ist der Richter mit dem Täter identisch und zugleich nichtidentisch.

Idem der Richter zwischen dem Anspruch des Rechts und dem Lebensanspruch des Täters mitten inne steht, muß er beides ausgleichen. Dies ist aber kein Fifty-fifty-Verhältnis, keine billige Milderung, kein Parallelogramm der Kräfte. Es kann nur recht verstanden werden, wenn es in seinem vollen Ernst gesehen wird: in der Unverbrüchlichkeit des Rechts wie seiner Unerfüllbarkeit, die aufeinanderprallen. Kein humanistischer Optimismus darf über die Härte dieses Gegensatzes hinwegtäuschen, als ob das Recht es nicht wert wäre.

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Die tiefste Deutung dieser paradoxen und antinomischen Situation des Richteramts finden wir im christlichen Glauben. Nach einem schönen Worte des Jansenisten St. Cyran (Verger) ist dieser Glaube „eine Reihe von Gegensätzen, die durch die Gnade zusammengehalten werden”. Man kann sich nicht mit den Humanisten auf ein optimistisches Menschenbild einigen und die Gegenstände des Glaubens in einen spiritualen Raum der Innerlichkeit verweisen. Gerade an der Erhellung der menschlichen Existenz bewährt sich die Wahrheit des Glaubens — aber dessen Erkenntnisinhalt ist von dem Akt des Glaubens so wenig ablösbar, wie der Mensch von dem Gegenstand seiner Erkenntnis überhaupt19.

Erkenntnis und Glauben so zu trennen, ist ein alter nominalistischer Irrtum, der heute sichtbar zuende geht und dessen Entwicklung man in jeder Dogmengeschichte nachlesen kann. Streng dogmatisch gesehen ist es ein christologischer Irrtum, der die Göttlichkeit und die Menschlichkeit Christi auseinanderreißt und das Geheimnis der Inkarnation mit allen Juden und Griechen mißachtet. Aber erst im Lichte dieser Paradoxie erhellt sich auch diejenige der menschlichen Existenz. Dies verkennt freilich jede Rechtstheorie der Strafe, welche mit ihrer Gesetzlichkeit allein das Recht wiederherzustellen vermeint und darüber den Menschen vergißt, wie eine Humanität, welche die Gebrochenheit und Unvollkommenheit menschlicher Rechtsverwirklichung einsieht, aber dafür eine potentielle, virtuelle Vollkommenheit des Menschen eintauscht.

Das weltliche Richteramt übt also erhaltende Gnade, indem es den Menschen weder verdirbt noch entweichen läßt, wodurch er in noch verhängnisvoller Weise seiner Lebenslüge, seiner Trennung vom Rechten verhaftet bliebe. Zugleich bewahrt er den Verletzten vor dem Pharisäismus der Rache, indem er sagt: die Rache ist mein.

Die tiefste Darstellung und der tiefste Vollzug des Richteramts ist in Person und Werk Jesu Christi gegeben. Wiewohl er als der Sohn Gottes mit der Verfallenheit dieser Welt nichts zu tun hat, mit ihr nicht identisch ist, läßt er sich mit ihr identifizieren, so daß er alle Schuld trägt, alle Not auf sich nimmt. Er weicht dem im Gehorsam bis zum Tode nicht aus, gibt sich dem Strafleiden freiwillig preis. In einer schlechthin einzigartigen Weise hält er die Spannung von Identität und Nichtidentität aus und überwindet sie dadurch. Eben dadurch wird er zum Richter erhöht — JUDEX QUIA PASSUS —. Weil er bis in die Tiefe des Infernum gelitten hat, kann er zum Richter über alle und alles erhöht werden. Er vereint die ganze Schuld und den ganzen Zorn der Rache in seiner Person, nimmt beide auf sich und überwindet sie beide.

So gewiß gerechtes Gericht auch unter frommen Heiden möglich ist, so wird doch die ganze Tiefe des Problems des Richteramts — in aller seiner Begrenztheit und Vorläufigkeit, zugleich aber


19 Vgl. A.D. Müller: „Die Erkenntnisfunktion des Glaubens”.

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Abbildhaftigkeit — erst im Lichte des Glaubens an diese Tatsache sichtbar. Ob die Humanisten von heute das noch vermögen, was die frommen Heiden konnten, ist mir nicht so selbstverständlich. Denn man kann nach dem Glauben nicht einfach wieder ein Heide werden. Dieser Humanismus ist allzusehr von Philosophien und Ideologien anstatt von existentiellen Einsichten bestimmt, um sich den vorfindlichen Paradoxien des menschlichen Lebens wirklich zu stellen. Die in einer „religionslosen” Christenheit heute so gern und leicht verachtete heidnische Frömmigkeit enthält und bewahrt noch die Bereitschaft des Menschen, sich vom Gegebenen wirklich begrenzen zu lassen; sie praktiziert altüberlieferte Einsichten in das Wesen des Menschen, welche durch eine rationale Philosophie nicht einfach ersetzt werden können. Die Dogmengeschichte des Strafrechts liefert die Belege dafür.

Gerade der Mensch eines lebendigen mitmenschlichen Pathos wird am meisten von dieser Häresie bedroht. Seine empfindliche Seele mit dem Spürsinn für Widersprüche will oder vermag diese doch nicht echt aufzunehmen und durchzuhalten und endet deshalb in einer Vereinseitigung dessen, war er vor Augen hat — und veranlaßt nun erst recht die Anderen, Nüchternen, ihn wegen seiner offenkundigen Einseitigkeit abseits stehenzulassen, zumal es unendlich schwer ist, ihn daraus zu lösen. Denn häufig knüpft sich dies an einen schmerzhaften Erfahrungspunkt, ein Trauma, das zu berühren er unbedingt vermeiden will und das er darum zum Ausgangspunkt aller Erwägungen macht.

Was bewirkt nun der Eintritt des Richters in das Verhältnis Täter-Verletzter?

Zunächst nimmt er den Vorgängen die Freiwilligkeit. Dem Täter wird die Flucht, dem Verletzten die Rache unmöglich gemacht. Der eine wird ergriffen, der andere in seine Schranken gewiesen. Der eine muß seiner Tat stehen, der andere Frieden gewähren und halten. Sodann wird die Bemessung der Buße ihnen entnommen, soweit sie nicht in einem Zwischenstadium schon gesetzlich fixiert war.

Indem nun der Richter beide Seiten des Verhältnisses in die Hand nimmt und die neue Rechtslage garantiert, liegt nahe, daß in eben dem Maße die zu leistende Buße, aber auch die Strafe zu seinem Anspruch wird — nicht mehr als derjenige des Verletzten erscheint und gehandhabt wird —, mit bedeutenden Übergängen. Anderseits gewinnt die Strafe einen unbedingten Charakter, eben das, was Lange in der Weiterentwicklung bis heute als so fragwürdig empfunden hat. Für den Verletzten spaltet sich das Interesse. Die Strafe und der zivilrechtliche Ersatzanspruch trennen sich mehr oder minder schnell und gründlich. Neben das materielle Interesse an dem Schadenersatz tritt ein ideelles Interesse an der Strafe als Sühne und damit daran, daß zugleich die Strafe für die Zukunft verhindernd wirkt, wie auch immer: abschreckend, vernichtend, bessernd.

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Schließlich ist in der Strafe auch endgültig für ihren Bereich der Gegensatz zwischen internem und externem Strafrecht aufgehoben. Das interne Strafrecht geht auf die öffentliche Gewalt über, welche zugleich das Ausbrechen in auswärtige Räume so weit als möglich verhindert.

Die ursprüngliche Elemente: internes und externes Strafrecht, Sippenstrafrecht, Rache, Friedlosigkeit, machen auf dem Wege über die Buße zum Strafrecht einen deutlichen Integrationsvorgang durch. Im Bußrecht ist die Position des Verletzten deutlich die stärkere; nunmehr gewinnt der Täter, während der Verletzte immer mehr von seinen konkreten Ansprüchen an die öffentliche Hand verliert. Dieser Rechtsgewinn des Täters, der ihm Schonung verschafft, wird nur durch die Häufigkeit der Todesstrafe und die verhältnismäßige Härte der älteren Strafen wettgemacht und tritt erst allmählich in volle Wirksamkeit.

Aber dieser Integration entspricht nun alsbald auch eine Desintegration, eine Auflösung und Spaltung des Phänomens. Wir haben die ersten Zeichen dessen schon gesehen. Der Verletzte und der Restitutionsanspruch fallen auseinander; Privatrecht und öffentliches Recht werden getrennt; das materielle und das ideelle Interesse des Verletzten scheiden sich und innerhalb eben der zu moralisch-rechtliche Unbedingtheit erhobenen Strafe tritt der Gegensatz zwischen Rechtscharakter und Zweckbestimmung deutlich hervor, je deutlicher, je mehr man einmal von der Blickrichtung des Verletzten her die Dinge betrachtet.

Diesem sachlichen Hervortreten immanenter Gegensätze entspricht nun auch eine Wandlung und Auflösung der personalen Relationen, welche eben erst durch die Entwicklung zur Strafe zur Einheit gekommen sind. Zunächst scheidet der Verletzte aus seiner Subjektstellung im Prozeß aus und wird in immer höherem Grade bloßer Zeuge. Sein Klagebegehren ist nicht mehr Grundlage des Prozesses; es sinkt zur bloßen Anzeige herab, die auch von anderen erstattet werden kann. Auch von Amts wegen wird eingeschritten. Seine Stellung funktionalisiert sich. Das gleiche oder etwas Vergleichbares tritt allmählich beim Richter ein. Sein Richten ist nicht mehr im früheren Sinne ein charismatischer Akt, der aus überlieferter Weisheit stammt und ein hohes Maß an diskretionärer Gestaltungsfreiheit in sich schließt. Immer stärker wird die Tendenz, ihn unter das Gesetz zu verstehen. Die höchste Steigerung dieses Gedankens, welche heute weniger theoretisch als praktisch überwunden ist, wurde in der Auffassung der französischen Revolution und der Aufklärung vom Richteramt erreicht, die den Richter schlechthin im Gesetz aufgehen lassen seinen Spruch lediglich als Folge des Gesetzes verstehen wollte, sogar die Kommentierung von Gesetzen verbot. Während genetisch das Gesetz aus einer Folge von

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gleichbleibenden Richtersprüchen entsteht und das Gesetz selbst eine generalisierende Vorwegnahme von Urteilen ist, wird jetzt das Gesetz in steigendem Maße zur abstrakten Regel, die aus Prinzipien fließt. Damit verstärkt sich unmerklich die Tendenz, auch die Strafe einen abstrakt-prinzipiell-moralistischen Gehalt beizumessen, während sie bis dahin ihren Ursprung im Restitutionsgedanken wesentlich deutlicher Bewahrt. Damit funktionalisiert sich schließlich und endlich auch die Stellung des Täters selbst. Er hat in diesem Geschehen keine aktive, sondern eine passive Funktion. Er wird der zu Bessernde, zu Schreckende, zu Beseitigende. Damit wird aber seine Stellung auch von der Erreichbarkeit des funktionalen Zweckes immer stärker abhängig. Was hat es noch einen Zweck, ein Strafverfahren durchzuführen, wenn funktional betrachtet nichts dabei herauskommt? So kann schließlich vom Standpunkt des Zweckstrafrechts das Institut als Ganzes zugunsten von anderen Formen oder Experimenten überhaupt theoretisch in Frage gestellt werden, wenn es auch nirgends bisher gelungen ist, die Strafe aufzuheben. Im Gegenteil: je mehr man sie zu beseitigen trachtet, desto deutlicher tritt die Tendenz zu ihrer Ausdehnung im politischen Strafrecht hervor. Vom Standpunkt der folgerichtigen Funktionalisierung bleibt schließlich die Tat als Ausgangspunkt gewissermaßen subjektlos übrig: als ein bedauerlicher Unfall, ein Unglück. Das große menschliche Drama von Schuld und Sühne endet wie eine Schmierenposse, nachdem alle Spieler sich gegenseitig totgeschlagen haben und nur noch der Hanswurst eine banale Moral verkündet hat — und dies alles unter dem biblischen Motto „Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet”. Welche Groteske und welch menschenfreundlicher Nihilismus!

Im Prozeß gegen den Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz, Dr. Otto John, vor dem Bundesgerichtshof führte der Oberbundesanwalt Dr. Güde in seinem Plädoyer aus (F.A.Z. v. 18. 12. 1956):

„Dieser Angeklagte leugnet nicht die Tat, er bestreitet nur sich selbst, seine Verantwortung. Seine Person streicht er aus der Tat aus. Sein Äußeres war dabei beteiligt, sein Leib, nicht seine Seele, nicht sein Wille, sein Verstand.” Er begreife überhaupt nicht das gewissenzerreißende Problem zwischen freier Verantwortlichkeit und unfreier Unverantwortlichkeit.

Das oben Gesagte über die Eliminierung des Täters aus dem Strafprozeß ist nicht dem Bilde des John-Prozesses entnommen — aber das menschliche Versagen Johns ist vom Oberbundesanwalt in der Aufhebung, der Auslöschung der Verantwortlichkeit treffend und klar geschildert worden. Diese nihilistische Selbstaufhebung des Menschen scheint mir mit jener morphologischen und geistigen Tendenz im Kern zusammenzugehören, wenn nicht überhaupt die eine die andere hervorbringt.

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Aus dem Gesagten ergibt sich, daß die Resozialisierung grundsätzlich ein wechselseitiger Vorgang ist. Beide Teile, Täter und Verletzter, werden wieder zusammengeführt. Gerade dies aber wird gefährdet, je mehr das Strafrecht sozialisiert, ausschließlich Sache der öffentlichen Gewalt wird. Denn diese kan nur noch einen Teil dessen, und zwar den negativen vollziehen. Sie kann dem Täter durch die Strafe die Möglichkeit geben, die Tat abzugelten, sei es auch ganz formal. Sie vermag auch den Verletzten in Schranken zu halten und unberechenbare Reaktionen auf die Tat zu unterbinden. Sie kanalisiert gewissermaßen in einem Graben beide Ströme. Aber sie vermag nicht mehr wie die compositio, die Beilegung, die Beteiligten direkt positiv und persönlich wieder zusammenzuführen. Das macht die Schwäche aller Resozialisierungsbemühungen aus. Denn für den Täter tritt der Verletzte gegenüber dem Strafanspruch des Staates in den Hintergrund, und dieser seinerseits will mit dem Täter möglichst nichts zu tun haben. Die Sozialisierung ist eine eminente Entmenschlichung des Strafrechts. Zudem nimmt die Funktionalisierung des Richteramts den Gerichtszorn eines Gerichtsherrn zugunsten moralischer Verdammungen und Ermahnungen hinweg.

Die Abstraktion des Begriffes Strafe ist auf die äußerste Spitze getrieben in dem Hegelschen Satze von denStrafe als der „Negation der Negation”. Diese Abstraktion muß notwendig die menschliche Substanz des Vorgangs verlieren, und die Einsicht in die Zusammenhänge versperren. In Wahrheit ist der Staat nur der Treuhänder beider. Indem der dem Täter Flucht und Verleugnung der Tat unmöglich macht, sagt er ihm gerechtes Gericht und Schutz gegen die Rache zu. Indem er den Verletzten Rache und Selbsthilfe abschneidet, wird er ihm billige Genugtuung und Sicherheit schuldig. Er kann deshalb gar nicht in beliebigem Umfang auf die Straffunktion verzichten. Selbst die freie Gnade ist nicht Verzicht auf die Strafe, sondern Erfüllung des Gesetzes kraft einer höheren Mächtigkeit, welche an Stelle des Schuldigen der verletzten Ordnung genugtut, sie aus eigener Kraft wiederherstellt.

Was tut also der Richter? Er ermäßigt das Gesetz in der schon beschriebene Weise, damit der Mensch leben kann, und er ermäßigt den Menschen, damit das Recht als das Recht der Anderen leben kann.

Wie der Richter zwischen Recht und Täter steht, so steht er auch zwischen Täter und Verletzten. Dabei besteht, wie gezeigt, die Gefahr, daß die Aufhebung ihres unmittelbaren Verhältnisses die ganzen Vorgang in Frage stellt. Auch hier ermäßigt er den Täter, der flieht oder sich verschanzt, und ermäßigt er den Verletzten, der für die Rache sich an der Strafe genügen lassen muß. So zieht er beide aus der Perversion ihres Verhältnisses. Der Richter ist demnach in einer doppelten Mittelposition. Diese Zwischensituation muß er aushalten. Sie ist eine höchst persönliche, personale, kann nicht allein

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funktional verstanden werden. Der Verfassungssatz, daß der Richter unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen ist, besteht negativ zu vollem Recht. Der Richter ist in dieser Aufgabe unvertretbar, seine Freiheit unbedingt notwendig. Aber der Satz erscheint mir richtig nur als negative Grenzsetzung und Abwehr, nicht als positive Umschreibung des Verhältnisses Richter-Gesetz. Die Richter steht nicht decisionistisch über dem Gesetz. Das hat nicht einmal der charismatische Richter alter Zeiten, der königliche Richter beansprucht. Denn gerade er war der tiefsten Überzeugung, daß sich durch seinen Weisheitsspruch das Gesetz der göttlichen Weltordnung zugleich ausspreche und vollziehe — deklaratorisch und konstitutiv zugleich. Aber er steht auch nicht legalistisch-funktional einfach unter dem Gesetz. Seine Aufgabe kann das Gesetz nie im voraus lösen so daß er nur zu subsumieren brauchte. Das Gesetz ist vielmehr eine, vielleicht enge Grenzsetzung. Aber es kann den personalen Vollzug des Richteraktes nicht ersetzen. Kleine und große, kluge und dumme Täter erwarten mit einer erstaunlichen Bestimmtheit und Gefühlssicherheit, daß ihre Sache nicht nur „gerecht” geführt werde, sondern verlangen vor allem, daß diese als eine absolut einmalige, für sich bestehende unvertretbare Angelegenheit behandelt werde, mag sie einfach oder schwierig liegen. Der Richter ist mit dem Gesetz, niemals ohne es, weil er sonst über ihm wäre. Es gibt keinen Richter ohne Gesetz (wie auch immer verstanden); es gibt aber auch kein Gesetz ohne den (immer personalen) Richter. Was sich hier letztlich vollzieht, ist eine mit dem Recht bewahrende Gnade. Wir haben oben gezeigt, daß gerade das Tatstrafrecht selbst einen solchen Gnadencharakter trägt, der freilich durch Mißverständnis und Mißbrauch zerstört und illusorisch werden kann.

Eine idealistische Metaphysik erlaubt es, die Strafe als ein zeitlos abstraktes Phänomen zu beschreiben, welche als Negation der Negation der Rechtslogik angehört, unabhängig vom Menschen, der sie vollzieht und den sie betrifft, unabhängig auch von der Geschichte, die nur ein Raum zur Darstellung der Idee wird, in der nichts geschieht, was im Begriff nicht eh und je schon da war. Im Gegensatz dazu wurde ausgeführt,daß Strafrecht immer den Strafenden voraussetzt, ein Subjekt der Ordnung, das sie ebensosehr setzt wie verteidigt. Ohne die Personalität des strafenden und ordnenden Subjekts kann auch die Personalität der Strafe selbst nicht durchgehalten werden. Deshalb ist im idealistischen Verständnis der Strafe eine tief verborgene, aber um so verhängnisvollere Bedrohung der Personalität des Rechts angelegt. Zugleich mit dieser Personalität und ihr zufolge besitzt das Strafrecht eine sachlich bedeutsame Geschichte, die eben die Geschichte desVerhältnisses der Beteiligten und seiner Gestaltung ist.

Der hier beschriebene Vorgang der Desintegration des Strafphänomens nach vorausgegangener Integration der Elemente des

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alten Straf- und Bußrecht ist der einer Spiritualisierung. Diesem geistigen Typus entspricht eine Doppeltendenz zu ideeller Verabsolutierung auf der einen, der Relativierung und Funktionalisierung auf der anderen.

Eine zeitlich parallele und sachlich analoge Erscheinung habe ich für das Sachenrecht in meiner Abhandlung „Mensch und Sache”20 beschrieben. Auch auf diesem Gebiet ist das fragliche Rechtsinstitut, die Sachherrschaft des Menschen, zunächst ein mehrschichtiges, aber deutlich strukturiertes Gefüge von rechtlichen Relationen. Es schießt unter Ablösung aus diesen Relationen zu einem abstrakten Vollrecht, dem Eigentum im modernen Sinne, zusammen, um sich zugleich zu funktionalisieren. Analoges vollzieht sich ferner im Eheschließungsrecht. Der mehrschichtige Akt (Prozeß) der Eheschließung mit einem Gefüge von Consens- und Realakten und beiderseitiger Beteiligung der Geschlechtsverbände wird zum einheitlichen Akt der Selbstverfügung des Subjekt (Consens), gewinnt aber zu gleicher Zeit ein weit höheres metaphysisches Gewicht in der Durchsetzung der Lehre von der Sakramentsnatur der Ehe21.

In der Morphologie der großen Rechtsinstitute sind bedeutende geistesgeschichtliche Wandlungen zugleich als sozialgeschichtliche abzulesen und zu beschreiben. Überall wird das Recht zu einer für sich bestehenden Größe, für die man den Platz in einer Metaphysik zu suchen veranlaßt ist, und verliert seinen Vorgangs- und Prozeßcharakter.

In der morphologischen Erhellung, die sich heute allenthalben im Bereich sozialer und rechtlicher Probleme vollzieht, liegt nicht ein unmöglicher romantischer Rückgriff auf ältere Formen, die nicht mehr vollziehbar sind, sondern die Einsicht in die Mehrschichtigkeit der Gefüge und die Verbundenheit ihrer Schichten, deren disjunktive Trennung überall mit der Wirklichkeit in Konflikt kommt und vorsichtig und tasten in einer Mehrschichtigkeit des Denkens und Lebens zu neuer Integration drängt. Durch die Funktionalisierung des Strafrechts im besonderen ist das Gleichgewicht zwischen dem Restitutionsanspruch des Verletzten als Rechtsanspruch und dem Restitutionsverlangen des Täters als Friedensherstellung („Resozialisierung”) zerstört, und zwar dadurch, daß der doppelte, ursprünglich gegenläufige Vorgang, nunmehr in einer Richtung gesehen und vollzogen, nicht mehr als Ausgleich verstanden wurde. Diese Eingleisigkeit entspricht der inneren Struktur des kausalen Denkens, welches gegenläufige Momente nicht in sich aufnehmen kann, weil es letztlich, an der mechanischen Quantität orientiert, diese Vorgänge nur als Aufhebung der einen Wirkung durch die Gegenwirkung verstehen kann.


20 Z. f.d. ges. Staatswissenschaft 1954, S. 239ff.
21 Vgl. die Untersuchungen in Schumann-Dombois: „Weltliche und kirchliche Eheschließung”, Glaube und Forschung, Band 6, Witten 1953.

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Aus dieser Eingleisigkeit entsteht dann die völlige Verwirrung der Begriffe, die Ausbildung einseitiger Rechtstheorien des Strafrechts wie eben solcher Zwecktheorien. Die Abstraktion des „Strafbegriffs” hat vergessen lassen, was in ihm „vor sich geht”. So kann eine konservative Strafrechtstheorie für das verletzte Recht und eine fortschrittliche für den Täter eintreten, und beide beweisen doch nur gemeinschaftlich, daß sie ein so einfaches Grundverhältnis nicht mehr als Ganzes zu erfassen vermögen. Die Schwäche des absoluten, idealistisch-objektiven Theorie der reinen Rechtsstrafe gegenüber den relativen Zwecktheorien beruht darauf, daß beide auf den gleichen Grundlagen einen Bruderkampf ausfechten und nicht imstande sind, einander wirklich zu ergänzen. Zu dieser Begriffsverwirrung gehört auch die Formulierung des Generalstaatsanwalts Dr. Bauer auf der Strafrechtstagung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, die Strafe sei „vom Staate übernommene Privatrache”. Hier wird mit einer Handbewegung und einem polemischen Argument die begrenzte Funktion des Strafrechts, die Einschränkung der unbegrenzten Rache durch die begrenzte verhältnismäßige Strafe und damit eine wesentliche geistige und soziale Leistung unserer Rechtsgeschichte verständnislos hinweggewischt. Dies kann freilich nur geschehen, weil die Genesis der Strafe in Vergessenheit geraten ist und wegen der zeitlosen Abstraktion des Strafbegriffs für unwesentlich gehalten wird22.


22 Zur Revision des strafrechtlichen Geschichtsbildes vgl. Kapitel 12 und 13.