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Johannes Heckels rechtstheologisches Lebenswerk war charakterisiert durch die Zweiheit von historischer Forschung und systematisch-aktueller Intention.
Von diesen beiden Linien setzt Siegfried Grundmann1 nur die letztere fort. Sein kirchenrechtliches Schaffen kennzeichnet ein dreifaches Motto: Modernisierung, Aktualisierung, Ökumenisierung der Rechtstheologie seines Lehrers.
Die Rechtslehre Heckels zeigt ein mittelalterliches Gewand. Will sie ihre verborgene, manchmal aber geradezu erregende Aktualität erweisen, so muß sie sich einem Prozeß unterziehen, der mit dem Schlagwort „Modernisierung” nur höchst unzureichend umschrieben ist. Gemeint ist das Ablegen gewisser zeitbedingter Eigentümlichkeiten, die der Lösung der — gewiß ebenfalls zeitbedingten — Probleme heute hindernd im Wege stehen.
Hier denkt Grundmann vor allem an das, was oben2 als Spiritualismus bezeichnet worden ist. Eine gewisse „Entspiritualisierung” läßt sich allenthalben aufzeigen.
1) Den folgenden Abschnitt widme ich
unverändert dem Gedächtnis meines verstorbenen Lehrers Siegfried
Grundmann (vgl. besonders die Nachrufe von M. Heckel ZevKR
1967/68, H. Liermann 1967, K. Nörr, R. Zippelius, schließlich des
Verf. AkathKR 1967).
2) S.o. 230 ff. 234 ff.; also nicht im Sprachgebrauch
He.s.
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Das läßt sich bereits in der Terminologie erweisen. Der bei Heckel so beliebte Topos der „radikalen Spiritualisierung” wird nun abwertend gebraucht, jede „pietistisch-spiritualisierende Verflüchtigung in das ,Herz’ des einzelnen frommen Menschen” abgelehnt3. Der der Zweireichelehre widersprechende Gebrauch des Adjektivs „geistlich” (i.e.S.) tritt zurück — mit der polemischen Ausnahme des „äußeren” Kirchenregiments4. Die augustinisch-mittelalterlichen Dualismen spiritus-litera, res-signum verschwinden, mit denen sich so leicht der Spiritualismus verbindet; die Spaltung von Innen und Außen wird als „nicht befriedigend” empfunden5.
Aus welcher Wurzel erwächst diese Einsicht? Es ist eine theologisch-anthropologische Erkenntnis: „Wie an Christus das Göttliche vom Menschlichen nicht getrennt werden kann, wie bei ihm die Offenbarung des Göttlichen im Menschlichen die Größe der göttlichen Gnade ausmacht (!), so kann auch in der Kirche das Unsichtbare vom Sichtbaren, das Geistliche vom Leiblichen nicht gelöst werden”6.
Es ist also die Inkarnation, die bei Heckel so sehr zurücktrat, daß ein unvoreingenommener Beobachter sogar (fälschlich) ihr Fehlen monierte7, die nun den Spiritualismus verdrängt8. Die leichte Reduktion der Eschatologie verstärkt die „inkarnatorische” Tendenz.
In allen Bereichen läßt sich die vertiefte Sicht der Inkarnation nachweisen, oder — negativ — die Entspiritualisierung. Eine bezeichnende Beobachtung: bei Heckel „verhüllt” nur das Leibliche den „geistlichen” Kern; bei Grundmann dagegen verhüllt das Leibliche nicht nur, sondern macht ebenso „die Herrlichkeiten der göttlichen Gnade” (M.J. Scheeben)
3) Vgl. LWB 11,13, 38, 526, RGG III
1324,1571.
4) S.o. 233.
5) ZevKR 1964/65 52; vgl. dazu von soziologischer
Seite H. Plessner, Das Problem der Öffentlichkeit und die Idee
der Entfremdung 20.
6) ELKZ 1960 165. Man darf hier den Einfluß der
Theologie E. Schlinks vermuten.
7) Th. Sartory 179.
8) Vgl. LWB 3 ff., 17. Es sei sogleich angefügt, daß
als weiteres Gru. bestimmendes Theologoumenon die (gemäßigte)
Unterscheidung von „Gesetz und Evangelium” hinzukommt (vgl. z.B.
LWB 44 A. 207, 57).
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offenbar9 — ganz in Übereinstimmung mit den Erkenntnissen der theologischen Anthropologie der Gegenwart.
So tritt die Reichslehre im Grundsinn etwas in den Hintergrund, obwohl sie weiter die Grundlage der Rechtstheologie bleibt10. In der Regimentenlehre wird die Einheit des göttlichen Rechtswillens in beiden Regimenten — die auch Heckel vertritt — stark hervorgehoben11.
Handelt es sich hier noch um kaum in Erscheinung tretende Gewichtsverschiebungen ohne sachliche Differenzen zu Heckel, so ändert sich das Bild in der Ekklesiologie. Die Spaltung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche wird häufig und entschieden verworfen, womit auch leibliche und geistliche Kirche einander nähergebracht werden12. Die Zuordnung von Wort und Sakrament zur ecclesia spiritualis (und damit die Sichtbarkeit letzterer), die bei Heckel durchaus unsicher geblieben war, wird energisch gegen R. Sohm verfochten13.
Vor allem tritt bei Grundmann klar die innere Einheit der Kirche hervor14, wenn auch keineswegs ihre Hinfälligkeit und Gefährdetheit in diesem Äon unterschlagen wird. Ja, geistliche und leibliche Kirche sind „wesensgleich” (!) und deshalb „gleich wichtig”! „In der Wiedergewinnung eines ganzheitlichen Kirchenbegriffs liegt der entscheidende
9) He. KuK 265 f.; vgl. oben zu A. 6, dazu die
Sicht der externae notae ecclesiae Exkurs III 133 ff.,
ferner LWB 66: die menschliche Sprache verhüllt und offenbart
(ein wichtiges Anliegen der „christokratischen” Theologie [s.u.
34417], denn nun kann der usus spiritualis
iuris zum offenbarenden Bekenntnis des Glaubens vor der Welt
werden!).
10) Vgl. die Systematik des LWB; diese Beobachtung
gilt auch sonst.
11) Vgl. ELKZ 1960 162 und oben 47 f. 50 ff.
12) Vgl. AÖR 1959 50 „eine geistliche Gemeinschaft von
leiblichen Menschen . . . Als solche ist sie sichtbar”.
13) S.o. Exkurs III 133 ff. Die ecclesia spiritualis
ist bei Gru. nicht mehr vorwiegend die eschatologische Kirche der
Zukunft; auch die „mystische” Interpretation des homo
spiritualis iudicat omnia, wenigstens der Glaubende könne
dem anderen ins Herz blicken, wird nicht mehr aufrechterhalten,
FS Liermann 53.
14) Vgl. das programmatische Einleitungskapitel in LWB
§ 1 (3 ff.), § 4 (30 ff. „Der ganzheitliche Kirchenbegriff”), wo
stets und ununterschieden von „der” Kirche gesprochen
wird.
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Fortschritt der neueren Forschung”15. Konsequenterweise wird die Stiftung (= ius divinum!) auch der leiblichen Kirche erwogen und bejaht16.
Auch in der Rechtslehre bahnt sich eine Änderung an17. Auf die Entwicklung in der Institutionsauffassung ist hinzuweisen18. Das menschliche Kirchenrecht scheint nicht mehr so „dialektisch” (ab-)gewertet zu sein. Es hat teil an der Aufwertung der Sichtbarkeit der Kirche und trägt deshalb „geistlichen Charakter”19. Es steht klar definiert zwischen dem inneren Bezug zum ius divinum und dem äußerlichen, nur rechtstechnischen Bezug zum weltlichen Recht.
Die Folge ist einschneidend: Die schroffe Schärfe des Rechtsdualismus’ Heckels ist beseitigt. Blickte Heckel auf den Abgrund zwischen den Reichen und ihrem Recht, so nun Grundmann auf den überwölbenden einen Rechtswillen Gottes.
15) LWB 18, 30 ff., RGG III 1324, ZevKR 1964/65
27; ganz ähnlich ZevKR 1961/62 331; AÖR 1959 37 „Identität”.
16) LWB 526, AÖR 1959 50, ELKZ 1960 165. Damit ist die
oben 212 gestellte Frage beantwortet.
17) Aber es bleibt bei der christologischen
Naturrechtslehre der Zwei Reiche (a.M. Ernst Wolf RGG IV
1364).
18) Gru. hat nur zögernd die
Institutionsauffassung He.s übernommen. Er bezeichnet
lange nur die leibliche Kirche als Institution (LWB 87, RGG III
1324, ELKZ 1960 162); ebenso die Elemente ihrer Verfassung (für
die Synode ZevKR 1964/65 47); vgl. ferner den kurzen Hinweis auf
das institutionelle Naturrecht He.s (Famil. 19), und zwar als
„geistliche” Institution („geistlich” nun nicht mehr i.e.S., wie
bei He., sondern i.w.S., weil sie im Reich Gottes zur Rechten
steht, RGG IV 1583). Erst spät wird — wohl unter dem Eindruck der
Institutionendiskussion in der EKD — auch das ius divinum
positivum (scil. der geistlichen Kirche!) als (scil.
geistliche) Institution bezeichnet (ZevKR 1964/65 15 f.). Die
„dynamische” Sicht He.s, die Entstehung (institutio) und
Bestand (Institution) in eins sieht, wurde nicht (mehr)
übernommen. Dafür verknüpft Gru. die Institutionslehre mit den
„Ordnungen” (vgl. FS Arnold 43 „Ordnung [Institution]”, ZevKR
1964/65 14-16, wobei nicht nur die lutherische
„Ordnungstheologie” Pate steht, sondern ebenso
rechtsphilosophische Überlegungen, vgl. die Hinweise auf K.
Larenz’ Methodenlehre ZevKR 1961/62 340, 1964/65 15, K. Larenz
1960 144 f.), denn ihre traditionell statische Sicht wird heute
kaum mehr vertreten. — Jedenfalls ist damit bei Gru. wie
anscheinend bei He. (vgl. oben 96 ff.) unter
rechtsphilosophischem Aspekt ein zweifacher Rechtsbegriff zu
konstatieren: das („normative”) Recht „in Gestalt von
Rechtssätzen” und das („institutionelle”) Recht in Gestalt . . .
von Ordnungsformen, die ihre Gesetzlichkeit (d.h.
Gesetzmäßigkeit) in sich tragen” (ZevKR 1964/65 15).
19) ELKZ 1960 164.
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Selbst die „personhafte” Sicht, in der Heckel selbst eine besonders charakteristische Eigentümlichkeit Luthers sah, wird nicht mehr hervorgehoben. Zwar gilt das nicht in der Zweireiche- und Regimentenlehre: Die beiden Reiche und Regimente bleiben bestimmt durch die personale Gefolgschaft gegenüber dem Haupt Christus bzw. dem Satan; wohl aber in der Rechtslehre: „Recht” gibt es im Bezug zu Gott nach Heckel allein im aktuellen personalen Bezug (Glauben) zu Gott (usus spiritualis iuris). Diese „personhafte” Aussageform (Luthers), nicht unähnlich dem augustinischen Denken und wohl geeignet, eine Brücke zwischen dem kanonistischen Rechtsbegriff und der „existentiellen” Rechtslehre der reformierten Theologie zu schlagen, ist bei Grundmann nicht wieder in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt worden20.
Dafür wird das „sachhafte” Element innerhalb der personalen Bezüge neu gewürdigt. Die „personhafte” Sicht wird ergänzt durch die zentrale Stellung der (scheinbar) „gegenständlichen” Gnadenmittel (Wort und Sakrament) in der Auferbauung der Gemeinde.
Diese Modernisierung befindet sich in einem noch pragmatischen Stadium21; sie harrt der Fortsetzung . . .
Da eine bloße Repristinierung der Rechtstheologie Luthers nicht ausreicht, die kirchenrechtlichen Gegenwartsfragen zu lösen, hat Grundmann im Einklang mit den Intentionen Heckels22 begonnen, das
20) Einzige Stelle: LWB 67. Vgl. dagegen M.
Heckel 1963 265 f., Chr. Link 1966 84 u.ö., Ernst Wolf FS Smend
II 461, Erik Wolf OdK 463 A. 7.
21) So fehlt z.B. noch fast völlig das so wichtige
heteronome Kirchenrecht (s.o. 19014); auch das Problem
der Geschichtlichkeit des Rechts ist noch kaum angesprochen.
Zutreffend betont dagegen Gru. mit E. Schlink und Ernst Wolf die
zentrale Stellung des Gottesdienstes: „Evangelium und Sakrament
sind in der Versammlung der Gläubigen als die Mittel, durch die
der Heilige Geist den Glauben weckt und die Versammlung der
Glaubenden wirkt” und erhält (E. Schlink 1948 273, nach LWB 7,
530 f.). Daraus folgt: „Gottesdienstordnungen (betreffen) das
geistliche Leben der Kirche ganz unmittelbar” (Gru. ebd. 106 A.
55). — Zur zentralen Stellung des Gottesdienstes bei Gru. vgl.
Exkurs III 133 ff. 20554 zu den notae
ecclesiae.
22) S.o. 23 f.
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Lebenswerk Heckels zu „aktualisieren” — worunter die Weiterentwicklung im Hinblick auf die Probleme der Gegenwart verstanden sein soll — und so zu einem vorläufigen Abschluß zu führen. Natürlich hängen Modernisierung und Aktualisierung eng zusammen.
Grundmann wirft die Frage auf, „ob eine Orientierung an den Quellen des 16. Jahrhunderts allein . . . heute noch genügen kann, oder ob es nicht geboten ist, auf diesen Grundlagen — notfalls sie auch korrigierend — weiterzubauen, weil einseitige Rückwärtsorientierung zu einem Verfehlen der Aufgaben führen könnte, die der . . . Kirche . . . unsere Gegenwart stellt”23. Die Fortbildung geschieht in mehrfacher Richtung.
Heckel hatte sich ausschließlich rechtshistorisch (wenn auch in dogmatischer Absicht) mit Luther befaßt und seine Ergebnisse nur durch Vergleiche mit Marsilius usw. abgegrenzt und geklärt, wenn auch der aktuelle Bezug durchaus nicht unbeabsichtigt war. Nun bedarf die Rechtslehre Luthers, um heute bestehen zu können, der Konfrontation mit den gesicherten Ergebnissen der theologischen und rechtsphilosophischen Forschung.
Dieser Notwendigkeit entspricht die Auseinandersetzung mit der Exegese24 (zu den Themenbereichen Wort, Sakrament und besonders Amt), die erst am Anfang steht, ferner mit der theologischen Dogmatik des 19. und 20. Jahrhunderts, wo Einflüsse etwa J.W.F. Höflings (Amt), E. Schlinks (Bekenntnisschriften), V. Vajtas (Gottesdienstlehre) u.a. auf Grundmann unverkennbar sind. Von Anfang an sind die lutherischen Bekenntnisschriften berücksichtigt, die bei Heckel praktisch außer acht gelassen wurden.
Ebenso werden die „Mittel moderner Rechtstechnik” für die Kirchengesetzgebung fruchtbar gemacht; namentlich wird der (juristische)
23) ZevKR 1962/63 3, ähnlich 1964/65 13; noch
weiter zielt FS Arnold 40 für die Zweireichelehre: „Geht es
wirklich nur um die ,richtige’ Auslegung Luthers oder geht es
nicht zugleich auch um . . . die Weiterbildung der Lehre Luthers
und ihre Anwendung auf eine Situation, die von der an der
Schwelle des Mittelalters zur Neuzeit grundverschieden ist?”
Nicht unähnlich auch P. Althaus 1965 87!
24) Vgl. ThLZ 1962 339 f.
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Gesetzesbegriff übernommen, soweit es die Eigenart des kirchlichen Rechts zuläßt25.
Darüber hinaus sieht sich Grundmann vor der Aufgabe, daß das „Kirchenrecht auf die moderne Rechtstheorie abgestimmt und mit ihr in Verbindung gebracht wird”26. Hierher gehören die Aufnahme gewisser Anregungen der Ordnungslehre, der Einbau der Integrationslehre R. Smends ins Kirchenrecht und vor allem die Teilrezeption der Institutionentheorie Hans Dombois’27.
Dazu kommt die inhaltliche Weiterführung der Kirchenrechtslehre selbst. Das Hauptproblem ist die organische Überwindung des landeskirchlichen Partikularismus. Grundmann hat deshalb die Kirchenrechtslehre Heckels auf die verschiedenen Ebenen der Kirche angewendet. Es ergab sich eine eigene Rechtstheologie der Gemeinde, der größeren ecclesiae particulares sowie schließlich der konfessionellen Zusammenschlüsse, sie alle aber verbunden in ihrer gemeinsamen rechtstheologischen Grundlage, der allgemeinen Kirche28.
Eine eigene Behandlung verdient eine gegenüber Heckel unübersehbar veränderte (und vereinfachte!) Amtslehre, die sich ganz auf der Basis des allgemeinen Priestertums erhebt29. Ihre scheinbar „konfessionalistische” Wendung begründen zum wenigsten dogmatische
25) Vgl. ELKZ 1960 162 f., ZRG 1964 XXV, ÖAfKR
1965 298.
26) ZRG 1964 XXVIII, ÖAfKR 1965 308, oben 207 68;
darauf wies schon Wolf ARG 1952 118 f. hin.
27) Vgl. FS Liermann 55; ÖAfKR 1965 308 (gegen ThLZ
1963 811): „Einigkeit sollte auch darüber bestehen, daß Dombois
mit dem Angreifen des Institutionenproblems einen Beitrag zur
Gewinnung einer gemeinevangelischen kirchenrechtstheoretischen
Plattform geleistet hat, der grundlegend und sachlich richtig
ist.” Ähnlich auch M. Heckel 1963 265 A. 110.
28) Oben 142 f.91.
29) Vgl. LWB 74 ff. (erste Umrisse nur!), FS Heckel
152 ff.; zum Einfluß J.W.F. Höflings vgl. H. Fagerberg 1952 273
ff. — wie überhaupt Gru.s Amtslehre aus der Konfrontation der
He.schen mit derjenigen des 19. Jh. erwachsen ist, das die
möglichen Lösungen des Verhältnisses von Amt und Gemeinde „fast
alle schon durchexerziert” hat (E. Kinder nach Gru. FS Heckel
147). — Im einzelnen Exk. V 249 ff.
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Erwägungen. Es sind ökumenische Gründe ebenso (Einung mit dem nordamerikanischen Luthertum) wie vor allem die Einsicht, daß die Überlebenschance des Christentums, menschlich gesprochen, davon abhängt, ob es gelingt, die träge Masse der „Laien” zu aktivieren. Nur die Betonung des allgemeinen Priestertums (und seines Wesenszusammenhangs mit dem „Amt”) vermag nach Grundmann — vielleicht — die „Lethargie der Gemeinden” zu beenden30.
Schließlich muß ein weiterer Gesichtspunkt erwähnt werden, der zunehmend die Diskussion bestimmt: die Methodenfrage31.
Grundmann hat nicht nur die Rechtslehre Heckels unverkennbar gestrafft und ihre (i.e.S.) juristischen Elemente hervorgehoben, sondern darüber hinaus die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von Theologie und Jurisprudenz gestellt32. Denn die frühmittelalterlidie Verbindung beider bei Luther und Heckel läßt sich so unter den veränderten Verhältnissen der arbeitsteiligen universitas nicht aufrechterhalten. Die Diskussion darüber wird einerseits von der sachlichen Unentbehrlichkeit der Zusammenarbeit von Recht und Theologie und andererseits von der Notwendigkeit bestimmt, den „Standort” des Kirchenrechts in der juristischen Fakultät zu rechtfertigen. Es sei nicht verschwiegen, daß die theologisch begründete Position Heckels in dieser Frage dem Kanonisten eher zusagt als die Rücksicht auf Fakultätsgrenzen.
Charakteristisch für S. Grundmann — wie überhaupt für die evangelische Kirchenrechtslehre — ist die betont ökumenische33 Gesinnung.
30) Vgl. FS Smend II 321 A. 44, ZevKR 1962/63
30 f. A. 56, 1964/65 22 ff., LWB 77 (gegen die Pastorenkirche);
ferner ZevKR 1962/63 23, 1964/65 44 gegen die „klerikale”
Auffassung, nämlich „das den meisten Lutheranern so wichtige
Gegenüber von . . . Amt und . . . Gemeinde” (vgl. oben He. mit P.
Althaus 180!).
31) Dabei geht es keineswegs allein um formale Fragen,
s.u. 691 ff.
32) Vgl. z.B. ZevKR 1959/60 40 ff., ZRG 1962 495, ThLZ
1963 803 f., ZevKR 1964/65 330 f.
33) Ökumenisch ist, „was . . .
zweckgerichtet-unmittelbar der Sichtbarwerdung der Einheit des
Leibes Christi dient”, ZRG 1959 385; vgl. für He. ZRG 1954 324
f.
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Anders als die übrigen hier behandelten Vertreter der evangelischen Rechtstheologie geht er aber von der Grundannahme aus, man müsse zuerst Ordnung im eigenen Haus schaffen, ehe man im größeren Rahmen verhandle34.
Dementsprechend vollzieht sich die ökumenische Ausrichtung in konzentrischen Kreisen, die zugleich die Reihenfolge der Dringlichkeit anzeigen.
Der innerste Kreis ist das Luthertum. Der Einung aller lutherischen Kirchen ist seine erste große Arbeit35 und auch der Hauptanteil seiner späteren ökumenischen Tätigkeit gewidmet. Namentlich das Gespräch mit den nordamerikanischen und schwedischen Lutheranern wird durch verschiedene Veröffentlichungen gefördert. Weitere Beziehungen gehen zur evangelischen Kirche Österreichs, die traditionell lutherisch geprägt ist36. In diesem Zusammenhang hat Grundmann das konfessionalistische Mißverständnis der ecclesia particularis widerlegt und die ökumenische Bedeutung der allgemeinen Kirche ins Bewußtsein des Luthertums gehoben37, vor allem mit scharfen Worten den Partikularismus der Kirchen, ihr weltliches Autonomie- und Souveränitätsstreben gegeißelt.
Besondere Beachtung verdient die durchgängige (stillschweigende und gelegentlich auch ausdrückliche38) Auseinandersetzung Grundmanns mit der reformierten Rechtstheologie. Als Grundlage dafür ist die Kirchenrechtslehre Heckels geradezu hervorragend geeignet. Denn die Reformatoren Luther und Calvin standen sich durchwegs viel näher als ihre einander bekämpfenden Nachfahren. Entschieden wendet sich
34) Vgl. ThLZ 1962 339 f., VerfR 63 f.
35) LWB. — Das spezifisch kirchenrechtliche Verdienst
liegt in der überzeugenden Begründung der traditionell verkannten
ekklesiologisdien Relevanz ökumenischer Einigungen, die mit Hilfe
der Integrationslehre (bes. in FS Liermann) verdeutlicht
wird.
36) Hier geht es um die Nachwirkungen des
Josephinismus, die die Eigenständigkeit der Kirche sogar für die
Kirche noch nicht klar erkennen ließen.
37) Zur „unüberbietbaren ökumenischen Weite” der
ecclesia universalis durch ihre Taufverfassung vgl. AÖR
1959 16 f., ELKZ 1960 162 u.ö.
38) Vgl. AÖR 1959 bes. 24 ff., ThLZ 1962.
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Grundmann gegen das „Krebsübel” des Konfessionalismus39, für den weithin nur noch historische, d.h. aber: ungeistliche Ursachen angeführt werden können.
So entwickelt Grundmann die in der Heckelschen Rechtstheologie vorhandenen Ansätze zu einer lutherisch-reformierten Verständigung nach einer Periode zurückhaltender Distanz40 behutsam fort.
Spuren dieser brüderlichen Öffnung sind allenthalben zu beobachten. Das beginnt mit der Methode: die „kontrastierende” Methode Heckels wird mit dem „dialektischen” Verfahren Erik Wolfs in Beziehung gesetzt und die Berechtigung der Dialektik besonders in der Kirchenlehre hervorgehoben41.
Im Kirchenbegriff wird, ebenfalls mit Erik Wolf, die „Vertikale” der „bruderschaftlichen Christokratie” mit der „Horizontalen” der „christokratischen Bruderschaft” verbunden42; das (gemilderte) Gemeindeprinzip (!) wird gegen R. Sohm und K. Rieker als genuin lutherisch anerkannt43, das „schon auf der Gemeindeebene fragwürdige ,Gegenüber’ von Amt und Gemeinde” kritisiert44, die Synode aus ihrer Entmündigung befreit, Konvergenzen in der Amtslehre betont45 und ganz allgemein das Laienelement in seiner Bedeutung hervorgehoben.
Ähnliches vollzieht sich im engeren Rechtsbereich. Die innere Verbindung der „Lex charitatis” Heckels zum „Recht des Nächsten” Erik Wolfs
39) VerfR 63.
40) Vgl. die Rezension ThLZ 1962.
41) Vgl. oben 14717 und zu Wolf ZevKR
1964/65 27 gegen ThLZ 1962 332 f.
42) 128 f. m. A. 11 f.
43) RGG III 1574 f.; vgl. ebd. die Schilderung der
reformierten Kirchenlehre in He.scher Terminologie!
44) ZevKR 1962/63 23; vgl. ZevKR 1964/65 29 (gegen
früher) mit der bedingten Anerkennung „kongregationalistischer”
Kirchenverfassung als einer möglichen Form, ebd. u.ö. die
Auflösung der Pseudoalternative einer Kirchenverfassung „von
oben” („lutherisch”) — „von unten” („reformiert”), die eine
beträchtliche Rolle in der Praxis spielt.
45) Vgl. RGG III 1435; die Kritik Wolfs OdK 369 A. 6
beruht auf einem Mißverständnis des lutherischen ius
divinum.
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in der gemeinsamen Bejahung eines „Rechts aus Liebe”46 wird aufgezeigt47. Auch das Kirchenrecht ist „ Verkündigungs- und Sakramentsordnung”48 — was inhaltlich nichts anderes ist als das „liturgische Recht” Karl Barths. Auch über die „biblische Weisung” Erik Wolfs will Grundmann noch kein letztes Urteil sprechen: es handelt sich um „eine Frage, über die eine Verständigung möglich sein sollte”49. Selbst auf den weltlichen Bereich erstreckt sich ungeachtet der divergierenden Begründungen der Konsens: wie schon Heckel, so verpflichtet auch Grundmann den Christen zum politischen Weltengagement50 — ein Hauptanliegen der reformierten Rechtstheologie.
Nur von den Parallelen, ja Übereinstimmungen von Grundmann und Erik Wolf war hier die Rede. Nicht sollte eine Einebnung der Positionen angedeutet werden! Von den Differenzen ist anderen Ortes zu reden. Sie stehen unter dem ökumenischen Vorbehalt: die Unterschiede bewegen „nur noch kleine und kleinste Zirkel. . . .”51.
Das Gespräch mit dem katholischen Partner, namentlich der Kanonistik, steht dagegen — beiderseits — noch in den Anfängen.
Überall herrscht noch die Abgrenzung vor; Gemeinsamkeiten werden, auch wo sie vorhanden sind52, nicht hervorgehoben, ja „katholisierende Neigungen” mit zahlreichen Hinweisen auf das — im übrigen hochgerühmte — kanonische Recht abgewehrt.
Man würde aber Grundmann sehr mißverstehen, wenn man darin einen Rückfall in überholte Polemik im Stil etwa des 19. Jahrhunderts fände. Das Gegenteil ist der Fall. Auch hier geht es um die nüchterne Verwirklichung der Maxime: Zuerst Ordnung im eigenen Haus! Oft
46) Dazu besonders W. Pannenbergs „Recht durch
Liebe” 1962 67-76, weitergeführt in ZEE 1963 1-23; Liebe ist der
Kern des Rechts, 1964 198 f., 240 f., 264, 390 f.; von
katholisch-juristischer Seite vgl. G. Küchenhoff 1948 (dazu Ernst
Wolf in: Kirche und Recht 1950 11 f. A. 11) und 1962.
47) Z.B. FS Arnold 48, ZRG 1964 XXIII.
48) ThLZ 1962 338.
49) AÖR 1959 30 f., 35; vgl. auch FS Arnold 47 die lex
Christi als „Wegweisung”!
50) FS Arnold 47 f., ZevKR 1964/65 22-26.
51) ZevKR 1962/63 4, wohl i.S. Gru.s zu
verallgemeinern.
52) Vgl. etwa die Einführung des Begriffs der
Körperschaft kirchlichen Rechts in die evangelische
Kirchenrechtslehre FS Smend II 309 ff.
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genug53 hat Grundmann ausgesprochen, daß die — sichtbare! — Einheit aller Christen die Aufgabe ist, selbst wenn ihre Verwirklichung in weiter Ferne steht.
Drei wichtige kirchenrechtliche Beiträge hat Grundmann über Heckel hinaus beigesteuert, deren Tragweite sich vielleicht noch erweisen wird.
Es ist, erstens, die vorsichtige Anerkennung, daß es eine institutionelle Möglichkeit zur Lehrentscheidung in den lutherischen Kirchen geben muß54. Das Erlebnis des Kirchenkampfes mag hier ebensosehr mitspielen wie Erfahrungen aus der Praxis der ökumenischen Bewegung. Zweitens sind die Ansätze für ein Kirchenrecht der ökumenischen Kirche (der ecclesia universalis) zu nennen55. Drittens, damit zusammenhängend, hat Grundmann das ökumenische Rechtsminimum für die Aufnahme der Gemeinschaft mit einer anderen Kirche klar formuliert56. Es ist das ius divinum; in allem übrigen herrsche Freiheit.
Da dies formal auch die Auffassung der katholischen Kirchenrechtslehre ist, scheint der Boden für ein wissenschaftliches Gespräch mit der Kanonistik geebnet zu sein. Es würde in einer ersten negativen Phase nicht so sehr die kontroversen Lehren als vielmehr zunächst die diesen vorausliegenden Verschiedenheiten der Sprache und des Denkens in aller Klarheit herauszuarbeiten haben. Erst auf der Basis des Verstehens kann dann eine Phase der Kritik, der Verständigung und des Fortschreitens in der Wahrheit folgen.
Das Amtsrecht ist das schwierigste und zugleich umfangreichste Kapitel des Kirchenrechts. Eine angemessene Darstellung würde den Rahmen dieser
53) Vgl. das Zitat oben 24533.
54) Oben 18910.
55) Die ecclesia universalis hat, mit Th.
Harnack zu sprechen, die Aufgabe, „die Einheit und Allgemeinheit
der Kirche auch auf dem Gebiet verfassungsmäßiger Ordnung (!)
insoweit zur Erscheinung zu bringen, als unter den gegebenen
geschichtlichen Bedingungen . . . möglich . . . ist”, LWB 46. So
zählt denn das öffentliche Predigtamt nicht nur zur Verfassung
der ecclesia particularis, sondern der ecclesia
universalis und trägt so ökumenischen Charakter (LWB 88 f.,
insoweit mit He. ZRG 1954 324 f.).
56) Vgl. unter diesem Gesichtspunkt bes. LWB 406 ff.,
AÖR 1959 37 ff., FS Liermann 48-59, LR 1964 227 f. u. ö.; im
Anschluß an He. ZRG 1954 324 f.
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Abhandlung sprengen; wegen der Bedeutung des Gegenstands und vor allem wegen der Verschiedenheit der Ergebnisse trotz gleichen Ausgangspunktes sollen gleichwohl wenigstens die Grundzüge der Amtslehren J. Heckels und S. Grundmanns in Form eines Exkurses mitgeteilt werden.
A. Die Amtslehre Johannes Heckels1
1. Das Amt und die Ämter
Es ist zwischen „dem Amt” (dem öffentlichen Predigtamt) und „den Ämtern” (den sonstigen Ämtern) zu unterscheiden. Letztere werden von den Partikularkirchen zur „guten Ordnung” des kirchlichen Gemeinlebens errichtet, z.B. für Armenpflege, Schulunterricht, Vermögensverwaltung. Ihre Rechtsgrundlage im göttlichen Recht ist nicht das ius divinum positivum, sondern die lex charitatis spiritualis, also der Ordnungsauftrag der Kirche aus der lex Christi. Ob und wieweit sie geschaffen und ausgestaltet werden, steht im an die Liebe gebundenen Ermessen der Gemeinschaft2.
„Das Amt” schlechthin ist das ministerium verbi publicum, gleichbedeutend „das öffentliche Predigtamt”. Hier besteht nicht die gleiche Freiheit des Ermessens. Denn bei ihm sind positives und natürliches göttliches Recht mit hetero- und autonomem menschlichen Recht eng verflochten. Das rührt davon her, daß bei der Entstehung und Ausübung des Amtes das Haupt Christus mit seinen Gliedern zusammenwirkt. Das Amt vollzieht das Regiment Christi in der ecclesia spiritualis als bloßer Diener; zugleich wird im Amt die Gemeinschaft der Gläubigen aktiv für ihre Mitglieder tätig3. Diese „vertikal-horizontale” Doppelfunktion des menschlichen Amtes macht die Schwierigkeit der Amtslehre Heckels aus.
2. Ministerium verbi
Man hat vom ius divinum positivum auszugehen. Das ist das geistliche Regiment im regnum Christi, also in der ecclesia spiritualis.
1) Dazu Init. 68 ff., Lex 141, IZ 62 ff., ZRG
1960 619 f., 622, KuK 225-228, 258-267, 279, Gru. LWB 73 ff., 91
ff. — He.s Amtslehre ist keineswegs eindeutig; das Folgende kann
deshalb nur ein Interpretationsversuch sein.
2) Näheres: Gru. LWB 79 f. A. 57 mit Lit., ZevKR
1964/65 31 ff. Zur Frage, ob alle Ämter aus „dem” Amt abzuleiten
sind, vgl. einerseits Gru. FS Heckel 157, ZevKR 1962/63 20 f.,
andererseits Th. Heckel FS Heckel 264. Zum Diakonat vgl. ZRG 1956
525 f., 528, KuK 279, der Christ als diaconus natus AS
64; He. kennt also anscheinend einen doppelten Diakonat
heteronomen (im ministerium enthaltenen) und autonomen
Rechts. An sich gehört auch die Kirchenleitung hierher, wenn sie
auch gewöhnlich wegen der Personalunion mit „dem” Amt hier nicht
aufgeführt wird.
3) Entsprechend Init. 43.
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Christus setzt in ihr das ministerium verbi4 (das Predigtamt) ein, gibt ihm den Auftrag, den Glauben zu wecken und zu bewahren, und stattet es mit den dazu erforderlichen Vollmachten5 aus. Der Inhalt der Vollmachten ist wiederum identisch mit dem des geistlichen Regiments Christi, nämlich Wort, Sakrament und Schlüssel (i.e.S.)6. Wie bei Christus selbst sind sie geistlich zu handhaben. Es ist ein Weiden aus göttlicher Liebe, kein obrigkeitliches Befehlen — also „Dienst” im spezifischen Sinn des lutherischen Amtsrechts7. Das Amt ist das „Hirtenamt”, der Amtsstand ist der „Christenstand” als der einzige Stand göttlichen Rechts8.
3. Sakramentale Vokation
Die Berufung eines Amtsträgers9 erfolgt durch die sogenannte „sakramentale Vokation”. Sie ist die Priesterweihe göttlichen Rechts; sie ist zudem unverlierbar, weil sie einen character indelebilis einprägt. Sie geschieht durch die Taufe. Denn in ihr gewinnt der Gläubige10 Anteil an der königlichen Priesterschaft
4) Gelegentlich auch: ministerium verbi
publicum; in welchem Sinne, zeigt der weitere Text. In Cura
245 ist ministerium verbi noch i.S. des ministerium
verbi publicum gebraucht.
5) He. spricht einerseits vom Amtsdiener als (bloßer)
„Röhre” und Werkzeug (KuK 227, Gru. LWB 81; dazu unten A. 10),
andererseits von seiner „Mitstreiter”schaft (KuK 226;
cooperatio, V. Vajta 1959 79!), seinem Auftrag (Lex 137
A. 1118; Th. Heckel FS Heckel 265; — „Sendung” in KuK 259 ist
nicht die missio, sondern der Inhalt oder die Aufgabe
des Amtes; also der Missionsauftrag, Gru. FS Heckel 150 f.) und
seiner geistlichen „Vollmacht” (KuK 265, Padua333); er ist
einerseits also bloßer Bote, andererseits umfassender
Stellvertreter (dazu oben 469). Gru. erläutert das (mit V. Vajta)
so: Das Amt nimmt nicht das Evangelium zur „Verwaltung” in Besitz
(d.h. es kann nicht darüber verfügen), sondern umgekehrt; das
Wort handelt im Amt. „Das Amt ist die Darreichung der Gabe
Gottes” (LWB 74, V. Vajta 1959 204 f.), so daß es nicht als
Zwischeninstanz zwischen die Gemeinde und das Evangelium tritt.
Christus selbst redet durch den menschlichen Mund, und Christus
selbst reicht die Gabe der Sündenvergebung (LWB 81, V. Vajta
ebd.). Das Amt ist nicht Mittler sondern Mittel, LWB 87. Was die
Charakterisierung des Amtes als ministerium (διακονία)
und als „Funktion für andere” anlangt (s. u. A. 7), gibt es in
soweit kaum einen Unterschied zur katholischen Amtslehre (vgl. O.
Semmelroth 1958, J. Gewiess-O. Karrer HthG I 31 ff., 41 ff.). Das
Problem besteht nur, aber dort in aller Schärfe, in der Frage
nach dem ius divinum des Amtes.
6) Vgl. die Aufzählung IZ 62: Predigt, Seelsorge,
Ausübung der Schlüsselgewalt (scil. i.e.S.), Spendung der Taufe
und des Abendmahls.
7) Es ist wichtig zu beachten, daß „Dienst” ein
biblischer und zugleich ein polemischer Begriff ist. Er besagt
negativ die Freiheit von weltlich-„obrigkeitlichem” Zwang, KuK
225 f. u.ö.; positiv nimmt er seinen Gehalt aus den Aussagen des
NT.
8) Lex 137, IZ 62 f., ZRG 1956 525.
9) Der Unterschied zwischen Amt und Inhaber (RuG 312,
350, IZ 62 f.) wird also von Luther bereits klar erkannt.
10) Das betrifft nur die Erlaubtheit, nicht die
Wirksamkeit, denn wegen des character handeln sie auch
dann wirksam, wenn sie ungläubig sind, werden aber ➝
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des Volkes Christi11 und wird so zum „geborenen Priester”. Nur als Glied am corpus Christi hat er daran teil; diese Priesterschaft ist nämlich ius commune des corpus Christi und seiner ecclesiae particulares.
Das ist das so leicht individualistisch mißzuverstehende „allgemeine Priestertum”12. Es darf nur in geistlicher Einigkeit mit der Gemeinde ausgeübt werden.
4. Ministerium verbi publicum
Damit erschöpft sich das geistliche Regiment Christi nicht. Christus beauftragt jede Ortskirchenheit, in ihrem Bereich ein „öffentliches” Predigtamt zu errichten, das ministerium verbi publicum. Dieser Unterschied zwischen ministerium verbi und ministerium verbi publicum ist das Kennmal des lutherischen Amtsrechtes.
Der Auftrag zur Errichtung ist schon in der sakramentalen Vokation enthalten; denn das recht verstandene ius commune der Priesterschaft der Kirche fordert zugleich seine öffentliche Ausübung.
➝ amtsunwürdig. Sie sind dann bloße „Röhren” und Boten
Christi ohne eigenes Dazutun (ZRG 1954 324, IZ 62 f. m. A., 92
f., KuK 227 A. 28 unter Berufung auf Augustin!; ebenso Gru. LWB
81. Anders wohl noch He. RuG 353). Damit ist die Lehre vom
opus operatum bei Luther klar ausgesprochen (ebenso
McDonough Appendix V 172-174, E. Iserloh, Th. Sartory u.a.; denn
„richtig verstanden sagt opus operatum . . . aus, daß
die Sakramente nichts als Gnade sind, Gabe Gottes, die sich der
Macht des Menschen entzieht” [L. Bouyer 69]. A. M. V. Vajta 1959
75-87 u.ö.), wie auch in den lutherischen Bekenntnisschriften
(vgl. CA VIII, Apol. VII,19 und V. Selge in H. Bornkamm CA 81 A.
68), aber etwas anders interpretiert: statt des ungläubigen
Priesters handelt Gott selbst mit dem Gläubigen (IZ 63 m. A. 93);
andere Begründung ZRG 1954 324: wegen der Unterscheidung von Amt
und Person genügt für die Wirksamkeit der usus
spiritualis (nicht iuris, sondern:)
officii, d.h. der „Vollzug nach Christi Befehl”
(entsprechend der katholischen Auffassung, es genüge der Wille,
das zu tun, was die Kirche will). Eine andere ist die subjektive
Seite: wo der Amtsträger nicht civis Christi ist, wird
er — eine Widerstands- bzw. Kirchenzuchtmaßnahme — abgesetzt (IZ
62 f., ZRG 1956 531 f.). — Zur Ablehnung des Donatismus allgemein
vgl. Th. Heckel FS Heckel 259.
11) Zur Erläuterung: Priester ist allein Christus. Die
Kirche als corpus Christi hat daran teil, und zwar die
Gesamtkirche. Die Taufe ist nicht unmittelbar „Priesterweihe”,
sondern nur mittelbar, insofern sie in die Gesamtkirche aufnimmt
und dadurch Anteil am Priesteramt Christi gibt. Die
Teilkirche ist Trägerin des Priesteramts Christi nur als Glied
der Gesamtkirche.
12) Allzu leicht nämlich meint man — mit dem neueren
Sprachgebrauch — dessen individualistische Zerrform (Dombois:
„das Papsttum aller Gläubigen”). In Wahrheit aber ist es eine
Rechtswürde, die allen gemeinsam zusteht (ius commune
KuK 260, 263; ebenso Gru. ZevKR 1964/65 331 gegen FS Heckel 151,
ZevKR 1962/63 15 A. 8; ZevKR 1964/65 32 f. mit H. Lieberg), das
keiner allein für sich beanspruchen darf.
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öffentlich ist es insofern, als die Ausübung des Regiments Christi nicht nur in der Hausgemeinschaft, sondern vor der versammelten Gemeinde geschehen soll; und nicht nur vor ihr soll öffentlich das Wort verkündigt werden, sondern auch vor den Ohren der Welt soll es als Bekenntnis laut werden. Öffentlich ist es schließlich auch darin, daß das Predigtamt nicht erschlichen, sondern angesichts der Gemeinde erworben wird.
All das wird in strenger Bindung an das ius divinum positivum in der leiblichen Kirche (= als heteronomes Kirchenrecht13) vollzogen. Die Ortschristenheit errichtet ein Amt im Gehorsam gegen Christus, gewöhnlich also das Pfarramt zur öffentlichen Ausübung des ministerium verbi. Seine Rechte und Pflichten sind identisch mit dem Tun Christi in seiner Gemeinde: Wort, Sakrament und Schlüssel.
5. Extrasakramentale Vokation
Schließlich beruft Christus Gläubige in dieses Amt, sei es charismatisch durch Wunderzeichen, oder, wie gewöhnlich, durch menschliche Werkzeuge im Bereich des heteronomen Kirchenrechts. Zugleich überträgt er dem Berufenen die geistliche Vollmacht des geistlichen Regiments Christi14. Diese zweite Berufung ist die sogenannte extrasakramentale Vokation15. Sie tritt an die Stelle der früheren Ordination des kanonischen Rechts, gehört aber nun ins menschliche Recht16. Soweit sie Christi Auftrag in der leiblichen Kirche vollzieht, also das Gegenüber von „Amt und Gemeinde”, von „Lehrern und Hörern”17 zum Ausdruck bringt, zählt sie zum heteronomen Recht.
Autonomes Kirchenrecht dagegen wird angewendet, soweit die Gemeinde beteiligt ist18. Denn sie muß noch klären, wer aus der Schar der geborenen
13) Es fällt auf, daß He. beim ganzen
Ämterrecht an keiner Stelle das heteronome Kirchenrecht erwähnt,
obwohl die Sache zweifelsfrei angesprochen wird. In Init. 103
scheint dagegen autonomes Kirchenrecht gemeint zu sein.
14) Init. 43.
15) RuG 352 f. spricht von zwei Arten der
missio: der durch Gott und der durch Menschen, aber i.S.
der extrasakramentalen vocatio durch Wunderzeichen bzw.
durch menschliche Handlung. Zur Terminologie vgl. Gru. LWB 82 mit
V. Vajta: vocatio ist bei Luther = ordinatio.
Zur Entwicklung Luthers von der relativen (!) zur absoluten
Ordination vgl. ebd. 82 f.; ordinatio (ins Amt
überhaupt), vocatio (in dieses Amt) und
installatio (als gottesdienstlicher Vollzug) treten
auseinander. Vgl. auch Gru. ThLZ 1963 621.
16) Es bedarf keiner öffentlichen Vokation
(Ordination), d.h. es genügt die Taufe allein a) in Notfällen, b)
bei nicht öffentlichem Handeln (z.B. Hausgemeinschaft — Luther
rät ab, KuK 263 f. A. 183), c) wenn keine Gemeinde zur Stelle ist
(KuK 260 A. 167, 262 A. 177, 263 f.). Das betrifft aber wieder
nur die Erlaubtheit, nicht die Gültigkeit (Init. 103 f. für die
Absolution).
17) S.o. 180.
18) Wo He. kurz von der extrasakramentalen Vokation
spricht, erwähnt er nur die „autonome” Seite. Die „heteronome”
ergibt sich aber zweifelsfrei aus KuK ➝
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Priester in das ministerium verbi publicum zu berufen ist, ferner welche persönlichen, sachlichen und örtlichen Grenzen für die Erlaubtheit der Amtsausübung bestehen19. Weil das positive göttliche Recht hierzu nur sagt, daß der Amtsträger kraft sakramentaler Vokation an der Priesterschaft Christi teilhaben, also getauft und gläubig sein muß, eröffnet sich ein Raum für gemeindliches Handeln im Bereich des göttlichen Naturgesetzes. Denn das Predigtamt als ius commune omnium kann nicht ohne turpis confusio in populo Dei von allen zugleich und überall ausgeübt werden (man denke an die unwürdigen Zustände in der Gemeinde zu Korinth, wie sie Paulus im ersten Korintherbrief [Kap. 14] schildert!).
Deshalb fordert die lex charitatis, daß das autonome Kirchenrecht bestimme, wer ausübt, was allen zusteht, und unter welchen Voraussetzungen. Durch diesen handelt dann die Gemeinde; er verkündigt das Wort „an stad und befehl der andern”, vice et nomine omnium20. Damit man nicht mißverstehe: nicht überträgt ihm die Gemeinde die Amts vollmacht auf Grund ihres allgemeinen Priestertums! Diese geistliche Stellung ist ihm schon vorher „ohne” Gemeinde durch die Taufe direkt von Christus übertragen, mögen auch Menschen dabei Handlanger gewesen sein. Das geistliche Kirchenregiment ist der Gemeinde vorgegeben21. Von seiten der Gemeinde kommt nur die Mitwirkung bei der Berufung ins öffentliche Predigtamt ex lege charitatis: durch Auswahl eines geeigneten Amtsträgers und nähere Ausgestaltung des Amtes. So entsteht der Pfarrerstand als Stand menschlichen Rechtes22.
Die Mitwirkung der ecclesia particularis wird im autonomen Kirchenrecht in die Gestalt eines mehraktigen Verfahrens gekleidet, das jetzt im einzelnen nicht interessieren soll23. Wichtig ist nur, daß überall, wo menschliches Tun dazukommt, also bei der leiblichen Kirche, der Einfluß der Scheinchristen alles zu verfälschen droht und deshalb das Amt nur im usus spiritualis iuris erlaubtermaßen übertragen und ausgeübt wird.
➝ 264 f. Dort wird bei der Berufung in das
öffentliche Predigtamt eindeutig zwischen dem Vollzug
des geistlichen Kirchenregiments Christi und der Mit(!)wirkung
der Gemeinde unterschieden.
19) Init. 103 f., m. a. W. die Ausgestaltung seines
„Dienstverhältnisses”, ZRG 1956 531 f.; ebd. und KuK 278 f. zur
Absetzung. Dazu KuK 260 f. A. 167.
20) ZRG 1954 324, KuK 260 A. 167, 263 m. A. 180.
21) Deshalb hat sie insoweit kein Weisungsrecht,
sondern ist auf Rechtsaufsicht beschränkt, KuK 265.
22) Lex 137 A. 1118, ZRG 1954 324; das
„Gemeinschaftsamt” iuris humani (ZRG 1956 518 f.) ist
also zu unterscheiden vom Christenstand iuris divini;
damit löst sich das Rätsel von Lex 120 A. 958. Ebenso Gru. z.B.
LWB 81 f. mit J.W.F. Höfling gegen F.J. Stahl.
23) Im einzelnen vgl. KuK 264 ff., Gru. FS Heckel 155
ff.
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B. Die Amtslehre S. Grundmanns
Die Amtsauffassung Grundmanns zeichnet sich durch größere Einfachheit und Klarheit aus24.
1. Das ministerium verbi
Das ministerium verbi ist allen Christen übertragen durch das ius divinum positivum der Taufe; das ist das allgemeine Priestertum25.
2. Das ministerium verbi publicum
Es ist zwar mit dem ministerium verbi wesens-, d.h. inhaltsgleich; es unterscheidet sich aber von ihm durch die öffentliche Ausübung.
Daß es ein ministerium verbi publicum geben muß, ist zweifach im göttlichen Recht verankert. Erstens ist es im Kirchenstiftungsakt Christi impliziert26 (ius divinum positivum), denn die Kirche ist wesensmäßig „öffentlich”27. Zweitens ist es begründet durch das „zwingende Gebot einer vorgegebenen
24) Die Amtslehre He.s scheint derjenigen der
Missouri-Synode sehr nahezukommen (vgl. zu dieser Gru. LWB 316
ff., 322 f. m. Lit.), einer streng lutherischen, darum nicht dem
Luth. Weltbund angehörenden, sehr einflußreichen Kirche
Nordamerikas. Gru.s Amtsauffassung dagegen ist verwandt mit
derjenigen Höflings (zu dieser vgl. H. Fagerberg 1952 273 ff.).
Fragt man nach der dogmengeschichtlichen Stellung He.s und Gru.s,
so sind sie der „konfessionellen” Richtung zuzuordnen. Zwei
Richtungen stehen sich nämlich seit dem 19. Jh. (Gru. LWB 74 f.,
ZevKR 1964/65 18 ff., H. Fagerberg 1952 273 ff., 299 ff., Chr.
Link 1966), ja vielleicht seit jeher (Gru. ebd. 20 f.) in der
Amtslehre gegenüber: die „konfessionelle” und die
„katholisierende”. Die „konfessionelle” Lutherinterpretation geht
von der Taufe aus. Sie vermag der Ordination keine selbständige
Bedeutung iuris divini zuzuerkennen. — Ihr entgegen
steht die „katholisierende” Interpretation, die sich heute mit
den Namen J. Heubach (1956), H. Lieberg (1962) und H. Dombois
verbindet. Diese Mehrheit (Gru. ebd. 21) behauptet trotz großer
Unterschiede, ja Gegensätze im einzelnen, eine konstitutive
Bedeutung der Handauflegung und eine — wie auch immer zu
bestimmende — Eigenständigkeit des Bischofs, vor allem aber eine
vom allgemeinen Priestertum unabhängige Begründung des Amtes.
25) FS Smend II 321 A. 44.
26) FS Heckel 152 f. „im Wesen der Kirche begründet”,
„notwendig aus der Grundstruktur der Kirche”.
27) So ZevKR 1962/63 29 als einzige Begründung, was
aber nicht zureicht, weil daraus nur die Öffentlichkeit des
allgemeinen Priestertums folgt! Es muß schon auch das
öffentliche Amt als Amt mitgestiftet sein; richtig ZevKR 1964/65
24, 31 A. 73; ius divinum ist auch das öffentliche Amt
qua Funktion. Vielleicht gibt man die Ansicht Gru.s zutreffend
wieder, wenn man unterscheidet: iuris divini ist der
Auftrag, ein öffentliches Predigtamt einzurichten, nicht das
öffentliche Predigtamt selbst — eine durchaus mögliche
Distinktion.
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Ordnung . . . seit Gott das Menschengeschlecht erschaffen hat”28, d.h. aus der lex naturalis spiritualis.
3. Ordination, Vokation, Installation
Wer ins ministerium verbi publicum zu berufen ist, bestimmt das menschliche (scil. autonome) Recht. Die Berufung erfolgt in drei Stadien, der (absoluten) Ordination in „das” Amt, der Vokation in ein bestimmtes Amt und der gottesdienstlichen Installation29.
Der Unterschied zu Heckel30 besteht also darin, daß Heckels ius divinum positivum des öffentlichen Amtes, seine Stiftung durch Christus, bei Grundmann fast verschwindet.
Das Amt ist das verwickeltste Exempel dieses Kirchenrechtes. Das Zusammenspiel von positivem und natürlichem Gottesrecht im zweifachen menschlichen Recht der Kirche ist sein Problem; seine Aufgabe ist der Vollzug des geistlichen Kirchenregiments Christi zusammen mit der Ausübung des allgemeinen Priestertums des Christusvolkes. Göttlich-rechtliches Amt Christi und menschliches Gemeindeamt verbinden sich in ihm zu einer Spannungseinheit und machen es zum Prüfstein jeder Rechtstheologie.
28) FS Heckel 152 f.; AÖR 1959 19 m. A. 69 „um
der Ordnung willen” (als einzige Begründung); vgl. auch ZevKR
1964/65 330.
29) LWB 77 ff. gibt nur erste Umrisse; wie hier FS
Heckel 152-155.
30) Ferner unten 24530: Das „Gegenüber” von Amt und
Gemeinde wird abgelehnt.