|221|

 

 

VII. Bemerkungen zur Denkform

 

Das rechtstheologische Denken Luthers ist nach Heckel dadurch charakterisiert, daß es erstens „dualistisch”, zweitens „personhaft-eschatologisch” und drittens „radikal spiritualistisch” sei. In fast stereotypen Wendungen bezeichnet Heckel diese Eigenschaften als rechtstheologische differentiae specificae des Reformators gegenüber dem spätmittelalterlichen Denken. Sie durchziehen wie ein roter Faden seine ganze Darstellung, angefangen bei der Zweireichelehre über die Rechts- und Kirchenlehre bis hin zur Kirchenrechtslehre.

Die Berechtigung dieser beachtlichen These für Luther nachzuprüfen, ist nicht unsere Aufgabe, zumal die historische Erforschung dieser Fragen erst am Anfang steht. Es bleibt jedoch kritisch zu fragen, was diese Epitheta im „System” der Rechtstheologie Heckels beinhalten, da zu erwarten steht, daß diese ständig wiederkehrenden Bezeichnungen Grundkategorien seines Denkens darstellen, deren Erhellung einigen Gewinn verspricht.

Im folgenden soll zuerst näher umschrieben werden, welcher Art der „Dualismus” ist (1); darauf ist der „personhafte” Ansatz (mit dem Gegenstück, der Institution) näher zu untersuchen (2, 3), sodann anhand der Bestimmung der Eschatologie (4) die Berechtigung der stets wiederkehrenden Verbindung „personhaft-eschatologisch” zu überprüfen und schließlich der „schillernde Begriff” des „Geistlichen” zu analysieren, damit abschließend der Heckelsche „Spiritualismus” zutreffend erfaßt werden kann (5, 6).

|222|

1. Dualismus

 

Angesichts einiger Äußerungen Heckels war die Frage aktuell geworden, wie Luthers Dualismus zu verstehen ist. Denn dualistisch sind die beiden Reiche, dualistisch die Regimente, ein — ja das — Hauptmerkmal der Rechtslehre ist ihr Dualismus1. Zudem ist Heckel nicht verlegen, wenn es darum geht, die „Absolutheit” und die „schneidende Schärfe” dieser „ausschließenden Gegensätze” zu betonen, jede analogia entis auszuschließen, und anderes mehr.

Es sei gestattet, noch einmal auf die einprägsamen Worte Heckels hinzuweisen: „Zwischen ihnen (den beiden Reichen) findet keine Wesensähnlichkeit statt; eine analogia entis untereinander ist ausgeschlossen. Zwischen beiden ist vielmehr eine große Kluft befestigt; keine christliche Philosophie und keine Theologie kann darüber eine Brücke schlagen, und wäre es auch nur der schmälste Steg”2!

Die nähere Untersuchung der Grundlehren Heckels erlaubt es, alles dies als die von Heckel selbst so genannte „kontrastierende Betrachtungsweise” zu charakterisieren. Nirgendwo handelt es sich um absolute Gegensätze.

 

a) Dualismus der Reichslehre

Am ehesten noch gilt der Dualismus in der Reichslehre. Hier herrscht in der Tat eine rigorose Scheidung. Die civitas Dei steht im eschatologischen Kampf mit der civitas diaboli. Hier gilt das harte Wort: wer nicht für mich ist, ist wider mich.

Aber es ist kein absoluter und ontologischer Dualismus zweier einander bekämpfender höchster Prinzipien, auch kein „manichäischer” Dualismus des „guten” Geistes und der „bösen” Materie3. Es ist vielmehr ein Dualismus, der erstens gekennzeichnet ist als eschatologischer Dualismus: er entsteht aus dem einen fordernden Anspruch Gottes, der für alle Menschen gilt. Er wird endgültig im Urteil am Ende der Tage.


1) Ob He.s Dualismus auch die Leib-Seele-Spaltung konstitutiv zugrunde liegt, ob man auch einen „anthropologischen” und folglich einen ekklesiologischen Dualismus annehmen muß (s.u. 23660), ist mangels Belege nicht zu entscheiden.
2) Lex 46; die Parallelstelle NR 38 zeigt aber, was gemeint ist: es gibt keinen Weg von der Natur zur Übernatur, also „von unten nach oben” bzw. vom Weltreich zum Christusreich; vom umgekehrten Weg ist nichts gesagt!
3) So F. Lau RGG VI 1947 — aber für die „zwei Reiche” (d.h. Regimente), neben denen Luther noch ein Satansreich kenne.

|223|

Zweitens, und aus ersterem hervorgehend, handelt es sich um einen ethischen, besser „personhaftenDualismus. Er erwächst aus der Glaubensentscheidung auf den Anruf Gottes. Die drängende Nähe des Endes, die Luther sehr stark empfunden hat, verleiht auch dem personhaften Dualismus einen fast rigoristischen Zug apokalyptischer Strenge4.

 

b) Dualismus der Regimentenlehre

Aber man darf den Dualismus der Reiche nicht isolieren. Es muß noch die Regimentenlehre zu Rate gezogen werden. Erst beide zusammen kennzeichnen vollständig, welcher Art dieser Dualismus ist. Denn die beiden Regimente zeigen über und vor aller Spaltung die höhere Einheit des göttlichen Liebes- und damit Rechtswillens5. Es ist somit drittens ein anthropologischer Dualismus ausschließlich auf der Seite des Menschen.

 

c) Dualismus der Rechtslehre

Dies wird bestätigt durch die Rechtslehre. Ihre Zweiheit von lex spiritualis und lex saeculi ist ein Kontrast für die betroffenen Menschen; aber der Christ sieht die lex spiritualis latens als „Gottes heimliche Ordnung” im Weltreich wirken. Das natürliche und positive Weltrecht erhält die Welt für den Ruf der göttlichen Liebe. Erst recht ist es für Gott nur sein einiger Rechtswille, der in beiden Reichen am Werk ist. Allein auf der Seite des Menschen6 kann demnach von einem Rechtsdualismus und der Spaltung der Rechte gesprochen werden.

In diesem Sinne ist es, viertens, ein rechtlicher und — zusammenfassend — ein relativer7 Dualismus. Um noch einmal Johannes Heckel zu zitieren: Bei diesem Dualismus der Regimente und Rechte „handelt es sich . . . nicht um bloßes Nebeneinander zweier heterogener Ordnungen” (viel weniger um einen absoluten Dualismus!), „sondern um einen Dualismus, der sich in einer höheren Einheit, derjenigen des göttlichen Rechtswillens aufhebt”8.


4) S.u. 230.
5) S.o. 47 f. 50 ff.
6) Vgl. RuG 318, 345; Gru. ZevKR 1961/62 339.
7) Oben 70; Ernst Wolf lehnt deshalb die Bezeichnung als Dualismus überhaupt ab zugunsten einer „eschatologischen Antithetik”, II 222 gegen ZevKR 1955 241 f. Dualismus wäre der Gehorsam gegenüber „zwei Herren, zwei Reichen, zweifacher Bürgerschaft, zwei Geboten”, II 229.
8) NR 45.

|224|

2. „Personhaft”

 

Nach Heckel ist der Dualismus Luthers „personhaft”. Was ist dieser „personhafte9 Grundzug” der Zweireiche-, der Regimenten-, der Kirchen- und Rechtslehre10?

Ein Überblick über Heckels Personbegrift soll sein Verständnis erleichtern. Stellen wir voran, was er nicht meint. Es ist weder die rationalis individua substantia des Boethius noch die Persönlichkeit Goethes. Auch das moderne „Aktzentrum” liegt weit ab, ebenso, was nicht ganz so selbstverständlich ist, das existentielle Verständnis der Person. Eher mag man an die Ich-Du-Beziehung Martin Bubers und Ferdinand Ebners denken; auch die persona ut relatio der Trinitätslehre des Aqui-naten ist nicht weit vom Wege. Aber nichts von alledem trifft das Gemeinte genau.

Vielmehr ist bei Heckel eine Entwicklung zu beobachten. Der Einfluß des „konkreten” Rechtsdenkens etwa Carl Schmitts wird sichtbar in der Verbindung „personhaft-konkret”, dem das Sachhaft-Abstrakte gegenübersteht. Aber unter dem Einfluß der Quellenforschung verschwindet das „Konkrete” ebenso wie die von Heckel wohl als unangemessen erkannte zeitbedingte Parallelisierung dieses konkret-personhaften Rechts Luthers mit „germanischer” bzw. „deutscher” Art, der das „römische” abstrakte Recht entgegensteht11.

Wie ist die endgültige Struktur des personhaften Denkens? Von den „neuzeitlichen” Einflüssen bleibt nur die allzu selbstverständliche Trennung von Subjekt und Objekt, Person und Sache, Person und Institution erhalten.

Man muß wieder beim mittelalterlichen corpus-Begriff einsetzen. Nach der Schilderung Heckels ist er auf einer Grundbeziehung aufgebaut: dem Verhältnis vom Haupt (Christus) zu seinen Gliedern. In der heutigen Sprache wäre das eine personale Relation mit der Besonderheit, daß sie ganz von einer Seite ausgeht und getragen wird, nämlich von Christus. Oben wurde dieser Bezug die „Vertikale” genannt. Er ist so grundlegend, daß alles weitere von ihm abzuleiten ist. Aus ihm


9) Gru. verwendet (ohne sachlichen Unterschied) personal (z.B. ZevKR 1957/58 279, ELKZ 1960 161) neben personhaft (FS Heckel 144 f.).
10) Dazu oben 38 61 ff. 70 f. 82 ff.
11) RuG 305 f., 311 f., Einbruch 127, DVerwBl 1937 55 f. u.ö.

|225|

entsteht ein rechtliches Treueverhältnis zwischen völlig ungleichen Partnern: Christus und seinen Gläubigen. Es schließt alle mit ein, die mit diesem Haupt in der gleichen Beziehung stehen. Es entsteht also ein „korporativer” Zusammenschluß, aber wieder mit der Eigenart, daß er sich nicht einfach unter den Gliedern untereinander „in der Horizontale” vollzieht, sondern über das Haupt und durch das Haupt zustandekommt. Die horizontale Beziehung zwischen den Gliedern ist nicht direkt, sondern sie ist vertikal vermittelt über das Haupt12, m.a.W.: Christus ist das Integrationsprinzip dieser Gemeinschaft.

Personhaft heißt also konkret: christusbegründet, christusbezogen, christusbestimmt.

Dies ist das Strukturprinzip der Zweireichelehre und der Regimentenlehre; es setzt sich in der Dominanz der ecclesia spiritualis über die ecclesia universalis in der Kirchenlehre fort und findet seinen folgerichtigen Abschluß im usus spiritualis der Rechts- und Kirchenrechtslehre, der wieder nichts anderes ist als der aktuelle Bezug zum Haupt.

Was leistet dieses „personhafte” Denken? Es vermag den universalen Herrschaftsanspruch Christi deutlich zu machen, nicht nur im Reich Christi, sondern auch verborgenerweise — über die lex spiritualis latens — in der Welt. Es erweist die lex spiritualis als Rechtsformel des Treueverhältnisses von Schöpfer und Geschöpf. Es beweist — nun im rechts-philosophisch-theologischen Grenzbereich — die personhafte Rechtsstruktur des Gottes- und Nächstenbezuges: die dialogische Struktur des Gottesbezuges ermöglicht und trägt den Nächstenbezug13. Es zeigt die notwendige Gemeinschaftsbezogenheit des Gottes- und Nächstenbezuges. Person und Gemeinschaft sind konstitutiv miteinander verbunden. Personhaft heißt gliedhaft14. „Luther war kein Individualist”15! — und kann das als mittelalterlicher Mensch gar nicht gewesen sein. Daraus folgt dann aber auch die innere Verbindung von Rechtfertigung und Kirche — Rechtfertigung ist nur in der Kirche möglich16 — und von Rechtfertigung und Recht. Denn das Recht entsteht aus dem personhaften


12) Vgl. 38 f.
13) Th. Heckel 1961 25: „Als Glaubender hat (der einzelne) den Mittelpunkt nicht in sich, sondern in Christus. So wird er über Christus mit den anderen Glaubenden verbunden.” Ebenso Wolf 306 f.
14) Arg. Lex 77 f.
15) Init. 12, Lex 119 A. 951, IZ 55 ff.; schon RuG 298, 308 f., 312 f., 357, a. M. z.B. K.A. Meissinger, A. Siegfried u.v.a.
16) Init. 12 A. 38; dazu Th. Heckel 1961 9-32.

|226|

Bezug zum Haupt, also aus der Rechtfertigung. Im Kirchenrecht gewinnt alles das seine eindrucksvolle Gestalt17.

Fassen wir zusammen: „Personhaft” ist die gliedhafte dialogische Beziehung eines „Hauptes” zu seinen Gliedern und daraus der Glieder untereinander im Sinne des mittelalterlichen corpus.

Dieses „personhafte” Verständnis ist dem neuzeitlichen Denken anscheinend so fremd, daß es bisher bei allen Interpretationen der Zweireichelehre Luthers übersehen wurde. Dennoch gehört es wohl zu dem bleibenden Ertrag der Rechtslehre Heckels18; allerdings mit bestimmten Ergänzungen, die die heutige Rechtsanthropologie anmerken würde. Heckel verdeutlicht nämlich das „Personhafte” durch bestimmte Gegensätze und Entsprechungen. Nicht personhaft, sondern „objektbezogen”, „sachbezogen”19 und „funktionell” sei die traditionelle Regimentenlehre; personhaft sei dagegen das göttlich angesprochene Subjekt in seiner Innerlichkeit20, mit dem scharfen Kontrast zu allem Institutionellen und Amtlichen mit Kompetenzen, Apparat und Hierarchie21. Ob sich diese Antithesen so halten lassen? Werden hier nicht auf eine Weise Person und Sache entgegengesetzt, die eher der Neuzeit als dem mittelalterlichen Denken Luthers gemäß ist?

Aber es ist doch bemerkenswert, daß das personhafte Denken Heckels geschildert werden konnte, ohne auf die Gegensätze von Person und Sache, Person und Institution usw. einzugehen. Es hat also den Anschein, als ob das personhafte Denken von diesen Entgegensetzungen unabhängig wäre. Daß diese Beobachtung zutrifft, wird von den Ausführungen Heckels über die Institutionen bestätigt.

Die entscheidend wichtige Konsequenz lautet: Heckels „personhaftes” Denken hat mit dem neuzeitlichen „Personalismus” nichts gemein22 — weder was das antiinstitutionelle Vorurteil betrifft, noch was den Individualismus und den Existentialismus angeht. Zu seinem „Spiritualismus” dagegen wird noch einiges zu sagen sein.


17) Init. 23 ff., Lex 77 f.
18) Welche Auswirkungen diese Denkform in der Rechtstheologie hat, wird erst jetzt als Forschungsproblem erkannt (vgl. K. Demmers „Ius Caritatis”).
19) RuG 305 f., 311 f., IZ 12 f.; Lex 176 „gegenständlich”; dazu Lex 34 f. Auch Gru. stellt „der vorwiegend personhaften Grundstruktur des evangelischen Kirchenrechts” das „wesentlich mehr dinglich bestimmte kanonische Recht” gegenüber (FS Heckel 144 f.).
20) Wie 22411, dazu Init. 23, 106 f., SA Lex 316.
21) Init. 81, 106 f., Lex 34 f. m. A. 177.
22) Übersehen von B. Schüller 87 m. A. 7. — Zum Personalismus vgl. G. Gloege KuD 1955, O. Semmelroth FS Schmaus I 199 ff. und die Arbeiten von H. Mühlen.

|227|

3. „Institution”

 

Der Rechtsbegriff der Institution steht in eigentümlicher Nähe zu Heckels Personbegriff, ja die personhafte Struktur der Reichs- und Rechtslehre ergibt die personhafte Struktur der Institution. Die Institution ist „die organisatorische Folgerung” aus der personhaften Struktur der Zwei Reiche23. Aber stellt nicht Heckel selbst Person und Institution gegenüber? Das ist freilich unbestreitbar; Person und Institution, Person und Amt sind zu unterscheiden, aber nicht zu scheiden!

Doch überall, wo Heckel nicht polemisch nur die quantitative, unpersönliche, sachhafte Organisation an der Institution hervorhebt24, sondern vom institutionellen Recht und seinen Institutionen spricht, ist die Institution im spezifisch Heckelschen Sinne „personhaft”.

Das ist in der Reichslehre grundgelegt. Das corpus Christi ist ja zugleich die göttliche Institution der Kirche, und auch das corpus diaboli ist als politia wenigstens mittelbar aus der Urstandsinstitution der Ehe erwachsen, als civitas diaboli durch den „Teufelsbezug” konstituiert. Das mittelalterliche corpus ist „personhaft” und „institutionell” zugleich.

Sieht man näher zu, so trägt die Institution im Sinne Heckels zwei Kennzeichen, die sie von der modernen Rechtsinstitution unterscheiden. Sie ist erstens begründet in göttlicher institutio, im Einsetzungsakt — sei es im Paradies oder im gesetzgeberischen Tun Christi25 — wobei diese institutio zu jeder Zeit aktuell und konstitutiv bleibt (creatio continua). Zweitens weist sie die schon beschriebene doppelte „personhafte” Struktur auf26: personhaft ist das „vertikale” Regiment des Hauptes, personhaft ist auch das „horizontale” Zusammenleben. Dabei zeigt die Vertikale zugleich den erhaltenden Fortbestand des stiftenden Wortes Gottes an (wenn auch im Reich der Welt nur auf verborgene Weise), und das Personhafte weist auf den Aufbau aus aktuellen personalen Bezügen.

Gemäß der Reichs- und Rechtslehre ist aber eine weitere Unterscheidung anzubringen. Wahre, d.h. geistliche Institution ist nur diejenige


23) Vgl. IZ 19.
24) Vgl. Init. 106, Lex 34 f. m. A. 177; 178.
25) Unter diesem Gesichtspunkt ist noch einmal 97 zu vergleichen. Vgl. auch Luther selbst WA VI 503,13, Lex 57 A. 373 (3.).
26) Vgl. ZRG 1956 516 zu den zwei „Momenten” der geistlichen Kirche, dem personhaften und dem institutionellen.

|228|

des göttlichen Rechts. Göttliches Recht „ist” aber nur im personhaften usus iuris spiritualis. Echte Institution „ist” daher nur im dialogischen (und das heißt zugleich im aktuellen) Bezug zu Gott27.

Es sind also zu sondern und zugleich in einem zu sehen die geistliche Institution und ihre leibliche Schauseite. Erstere gehört zur ecclesia spiritualis, letztere zur ecclesia universalis28. Natürlich gilt das nur im Reich Christi; im Reich der Welt sieht nur der Christ diese „heimliche Ordnung” Gottes29. Ähnliches würde mutatis mutandis von den übrigen „kleinen” Institutionen in den zwei großen Gemeinwesen gelten, wie z.B. Taufe und Abendmahl; aber Heckel hatte keinen Anlaß, sich näher darüber zu äußern, so daß man sich vor unsicheren Extrapolationen hüten sollte.

Es ergibt sich also ein dreifacher Institutionsbegriff: die „geistliche” Institution (in) der geistlichen Kirche, die leibliche (in) der leiblichen, beide aber im Reich Gottes zur Rechten; dazu als dritte die weltlichen Institutionen (Obrigkeit und wohl Ehe) im Reich Gottes zur Linken.

Heckel hat, das verdient festgehalten zu werden, mit dieser geistlichen Institutionenlehre den Anfang gemacht, lange vor der noch zu schildernden großen Institutionendiskussion in der EKD, die weithin unabhängig von den Anregungen Heckels verlief, aber zu verwandten Ergebnissen führte . . .

 

4. „Eschatologisch”

 

Auch die Charakterisierung des Dualismus’ Heckels als eines personhaft-„eschatologisch”30 bestimmten bedarf näherer Untersuchung. Sie


27) Lex 68 f., 121 f., Grat. 500. — Das Gemeinte wird klarer, wenn man die He.sche Unterscheidung christianus in statu-in vita beizieht. (He. hat das nicht getan, es soll auch hier gleichsam nur in Parenthese geschehen.) Christianus in statu ist der anthropologische Grundbestand, die „Institution Mensch” in ihrer stets aktuellen und personhaften, gottgestifteten Zurüstung. Christianus in vita ist das Ereignishaft-Dynamische auf Grund des status christianus, die Aufgabe, die aus der Gabe erwächst. Der Unterschied zur geläufigen Antithese von Institution und Ereignis bestünde also erstens im grundlegenden Charakter des status und zweitens im durchgängig personhaften Bezug von status und vita („Ereignis”).
28) ZRG 1954 324.
29) Zum Staat als Institution NR 55, AS 65 f.
30) An sich ist die eschatologische („dualistische”) Sicht bei Luther gerade von (einer Hauptrichtung) der schwedischen Rechtstheologie herausgestellt worden, vgl. G. Törnvall 185 ff., aber erst He. macht sie durch die „Reichslehre im Grundsinn” zum Fundament des Systems.

|229|

soll auch darüber Auskunft geben, ob eine notwendige Verbindung zur „personhaften” Sicht besteht.

Wieder ist von der Zweireichelehre auszugehen. Sie zeigt als erstes, daß es sich nicht (nur) um eine individuelle, sondern um eine universale und kosmische Eschatologie handelt. Erst innerhalb des weltumspannenden Rahmens der Zwei Reiche hat das individuelle Rechtfertigungsgeschehen seinen Platz.

Aber bilden sich nicht auch die Reiche auf Grund gegenwärtiger Einzelentscheidung?

Das führt zum zweiten Kennzeichen dieser Eschatologie. Schon bei der Analyse des Kirchenbegriffs war die Spannung zwischen der mehr „präsentischen” leiblichen Kirche und der eher „futurischen” ecclesia spiritualis aufgefallen. Diese war geradezu dadurch konstituiert, daß sie aus dem verborgenen, zukünftigen Urteil Gottes über den Glauben ihre gegenwärtige Existenz ableitete, während jene sich nach dem „jetzt” bestehenden Glaubens-Status des Christen bestimmte, aber auf die Zukunft ausgerichtet war.

Die beiden Elemente der Gegenwart und Zukunft fanden sich auch in der eschatologischen Sicht der Zweireichelehre wieder. Die Reiche repräsentieren den Zukunftsaspekt der Eschatologie. Die Gegenwärtigkeit des Heils ist rechtlich faßbar in den zwei Regimenten Gottes31. Zwei Momente umfaßt also die Eschatologie der Reiche und Regimenter Zukunft des Gerichts und Gegenwart des Heils. Keines darf fehlen.

Damit wäre dieser Typ der Eschatologie als „proleptischeEschatologie zu bezeichnen, mit der charakteristischen Spannung von Schon-jetzt und Noch-nicht. Trotz der terminologischen Verschiedenheit würde sie mit einer Grundrichtung der neutestamentlichen Eschatologie übereinstimmen32 - wenn bei Heckel nicht die Herzmitte dieser Eschatologie, der Gottesdienst, in so beklagenswertem Maße fehlte, trotz aller Ansätze dazu, wie die Rechtsbetrachtung zeigte.

Weiter ist drittens der überaus dynamische Charakter der Eschatologie hervorzuheben. Die Spannung zwischen gegenwärtigem Status und künftigem Urteil sowie die aus dem Dualismus der miteinander in


31) S.o. 45 ff. 163 f.
32) Vgl. unten 481. Auch Gru. gehört sachlich wohl hierher (ELKZ 1960 165: „In dieser Zeitlichkeit zwischen Erhöhung und Wiederkunft Christi . . .”), obwohl er, einem verbreiteten Sprachgebrauch folgend, zunächst „eschatologisch” und „auf den Jüngsten Tag bezüglich” gleichsetzt (anders nur in FS Arnold 52 f.).

|230|

tödlicher Feindschaft stehenden Reiche teilt sich der Rechts- und noch mehr der Kirchenlehre mit.

Schließlich ist viertens ihr sehr starker apokalyptischer Grundzug33 hervorzuheben. Gerade im Widerstandsrecht, in der Gestalt des apokalyptischen Großtyrannen, ist Luthers Erwartung des Antichrists angesichts des nahen Endes gewaltig und großartig zum Ausdruck gekommen34. Der von allen Seiten bedrängte Reformator prägte mit dem totalen Tyrannen eine Rechtsfigur geradezu bestürzender Aktualität.

Die Eschatologie der Rechtslehre Heckels kann demnach als universal, proleptisch, dynamisch und sogar apokalyptisch umschrieben werden. Sie ist von dem erwähnten „personhaften” Grundzug der Reiche usw. unabhängig und von ihm zu unterscheiden.

 

5. „Geistlich”-„weltlich”

 

Eine Vielfalt von Eigenschaftsworten charakterisiert die Reichs- und Rechtslehre Luthers: sie ist geistlich, innerlich, himmlisch, verborgen bzw. weltlich, zeitlich, leiblich, äußerlich, fleischlich, irdisch, offenbar. Geistlich ist das Reich Christi, das Regiment Christi wie Gottes, geistlich ist das Naturgesetz und sein Gebrauch, aber nicht das menschliche Kirchenrecht. Weltlich, gelegentlich leiblich ist das Reich des Teufels, aber auch das andere Regiment Gottes, das Naturrecht wie auch manchmal das Kirchenrecht. Ähnliches wäre leicht für die anderen Begriffe beizubringen.

Eine Vielfalt von Bedeutungen jedes dieser Worte verwirrt selbst den geneigten Leser35. Dennoch bedarf er der Klarheit, denn ihr häufiger Gebrauch deutet auf ihre zentrale Stellung im System. Deshalb ist es nicht unangebracht, wenigstens ein Gegensatzpaar genauer zu bestimmen. Am wichtigsten ist das von geistlich und weltlich. Sieht doch Heckel in der „Spiritualisierung” den Fortschritt Luthers gegenüber dem Mittelalter. Auch auf die übrigen Wortpaare wird dabei einiges Licht fallen.


33) Hierin teilte Luther das allgemeine Bewußtsein der Zeit, H. Kraft RGG II 678.
34) WO 166 ff., WS 41 ff.
35) Z.B. B. Schüller in seiner sonst so verständnisvollen Interpretation der lutherischen Gesetzeslehre (87 A. 7), wo er anscheinend den „leiblichen” Menschen im regnum Christi mit dem „leiblichen” civis diaboli ineinssetzt.

|231|

Offenbar ist hier der rechtstheologische Dualismus Heckels bzw. Luthers der richtige Einstieg. Die Gegenüberstellungen deuten darauf hin.

Die erste Bestimmung erlaubt bereits eine Vorentscheidung. Es kann sich weder um soziologische noch um psychologische Kategorien handeln. Geistlich ist nicht nur das, was sich den Sinnen entzieht36; es geht auch nicht um den Gegensatz von „ideell” und „materiell” oder gar von „geistig” und „sinnlich”37. Ein verborgener Manichäismus oder dergleichen ist Luther im Zentrum seiner Lehren nicht anzulasten, mögen auch anderwärts, z.B. bei der Ehelehre, solche Einflüsse nicht ganz fehlen. Auch der menschliche Geist ist nicht gemeint, obwohl Luther ihn zu den vornehmsten „Teilen” des Menschen gezählt hat38. Es handelt sich vielmehr ausschließlich um religiöse, besser theologische Bestimmungen39.

 

a) Nach der Reichslehre im Grundsinn

Die Polarität Geist (Gottes) — Welt verbindet sich mit der Zweireichelehre: Geistlich i.w.S.ist alles, was mit dem Reich Christi zu tun hat, weltlich ist, was in das Weltreich gehört. Weil aber diese Zuordnung personhaft strukturiert ist, also nach personaler Zugehörigkeit zum einen oder anderen Haupt, ist geistlich alles, was unter dem influxus Christi steht, also die cives Christi, mittelbar auch ihr Recht (im usus spiritualis), weltlich alles, was unter dem Gifthauch des Teufels lebt, also die cives diaboli, die Gottlosen, die „fleischlichen” Menschen40.

Das ist das erste Verständnis von geistlich und weltlich, nämlich im Sinne der Reichslehre im Grundsinn41.

 

b) Nach der Regimentenlehre

Daneben steht das zweite Verständnis von geistlich und weltlich nach der Regimentenlehre42.


36) ZRG 1960 623.
37) Init. 20 A. 75 mit G. Törnvall.
38) Lex 60 A. 400 zur trichotomischen Anthropologie.
39) Init. 82 A. 347, ZRG 1960 623.
40) NR 38, Lex 98 A. 745.
41) NR 38, Lex 62, 71, 121, SA Lex 320, WS 73, IZ 14, ZRL 1928. Das entspricht etwa der Gleichsetzung von geistlich = gläubig bei Gru. RGG III 1324, ELKZ 1960 161, ZevKR 1964/65 64.
42) Welche Bedeutung im Einzelfall vorliegt, kann nur aus dem Kontext erschlossen werden.

|232|

Jetzt ist geistlich, was dem geistlichen Regiment Gottes unterliegt, weltlich, was dem weltlichen. Der Bedeutungsinhalt der Begriffe hat sich nun verschoben. Blickt man auf die Personen, die die Regimente umfassen, so scheint sich nichts geändert zu haben: In personhafter Beziehung ist alles geistlich, was bei den Reichen geistlich war, und weltlich entsprechend. Aber die Wertung hat sich umgekehrt. War vorher weltlich im Grundsinn gleich teufelshörig, so ist jetzt weltlich gleich gottunterworfen, wenn auch wegen der Sünde nur „äußerlich”. Auch der Gehalt von „geistlich” i.S. des geistlichen Regiments Gottes verschiebt sich, wenn auch weniger augenfällig. Geistlich, gleich dem Geist Gottes unterworfen, ist nicht nur das Reich Christi, sondern auch seine regiminale äußere Schauseite, die „leibliche” Kirche. Denn sie gehört unter das geistliche Regiment, ins Reich Gottes zur Rechten.

 

c) „Geistlich”-„zeitlich”

Doch damit wäre die Eigenart des „Geistlichen” bei Luther durchaus noch nicht vollständig erfaßt. Bis hierher würde ja gut paulinisch die ungeteilte leib-seelische πνεῦμα-Existenz vor Gott der σἀρξ gegenübergestellt43. Aber nun veranlaßt ein — noch näher zu kennzeichnender — Spiritualismus, zwischen geistlich und geistlich zu unterscheiden. Geistlich im eigentlichen und engeren Sinn ist für Heckel nicht die Totalität des Menschen, sondern seine geistliche Innenseite44, aus der das Außen des Handelns und der Nächstenliebe „wie von selbst” erfließt. Geistlich ist allein die conformitas voluntatis, die perfectio vitae christianae, die Ausrichtung auf Gott, die Teilhabe am Geist (Hebr 6.4), die Gabe des Geistes und sein Wirken, der Glaube, schließlich das göttliche Recht — also allein die „Vertikale”, die „Gottunmittelbarkeit” des personalen, gottgestifteten Glaubensbezuges45.

Sehr genau verfolgt Heckel46, wie Luther trotz dieses Spiritualismus’ doch die „Horizontale”, das Institutionelle und die Gemeinschaftsdimension nach und nach ins „Geistliche” einbezogen und auf göttliche


43) Lex 60 A. 400.
44) Trotz Lex 60 A. 400!, Init. 26 f.; „innerlich, himmlisch, verborgen”, Lex 38 u.v.a.
45) SA Init. 476, Init. 18, 21, 61, NR 45 f., Lex 70, 121, 128 A. 1042 u. v. a., WO 158, Grat. 511, WS 34, Padua 284, KuK 224, 229 f.
46) Init. 23 ff. und dazu oben 96 ff. m. A. 134.

|233|

institutio zurückgeführt hat. „Geistlich” ist nun auch das Gemeinleben der Christen.

Aber ein spiritualistisches Element bleibt: die mittelalterliche47, aber unbiblische Trennung von Innen und Außen, die spiritualistische Abwertung alles „Äußerlichen”48. „Weltlich” ist nun alles „Zeitliche”, d.h. Nichtgeistliche i.e.S.49.

Die Folge ist, daß nicht nur das Weltreich und das weltliche Regiment darüber, sondern sogar die „leibliche” Kirche50 (d.h. einschließlich des „geistlichen Regiments” Gottes!), das „menschliche” Kirchenrecht51 und ganz besonders die „äußere” Kirchenleitung52 nicht mehr „geistlich” genannt werden dürfen, obwohl sie nicht dem Weltreich entspringen, sondern ganz auf dem geistlichen Boden göttlichen Rechts gewachsen sind. Damit wird der „Schauseite” der Gnade der „geistliche” Ehrentitel verwehrt, als ob der Geist in so geringe Gefäße nicht einzugehen vermöchte. Nur secundum quid sind sie als geistlich zu bezeichnen53, anderswo heißen sie gar (im polemischen Sinne) „weltlich”.

Die „personhafte” Sicht der Reichs- und Rechtslehre ist an einem zentralen Punkt verlassen. Es entscheidet nicht mehr der Bezug zum Haupt. Auch als „eschatologisch” kann diese Sicht des „Geistlichen” insoweit nicht mehr bezeichnet werden. Denn Gott richtet nicht getrennt nach Innen und Schauseite.


47) Vgl. die Verbindung mit res-signum, IZ 45 A. 28, oben 131 ff., mit der augustinisch-scholastischen Umformung des biblischen Begriffspaares spiritus-litera, z.B. Lex 88 ff.
48) Die moderne Anthropologie (A. Gehlen, A. Portmann, H. Plessner, um nur einige zu nennen), auch die theologische! (vgl. W. Pannenberg 1962 35 ff., C. Tresmontant Kap. 2, V. Warnach), vermag die Unterscheidung in der Einheit von Innen und Außen weit besser (und biblischer) auszudrücken als die spiritualistische, eher platonisierende als christliche Teilströmung der mittelalterlichen Lehre vom Menschen.
49) So z.B. Init. 81 f., 119, IZ 12 f., KuK 267 ff. — wobei zu beachten ist, daß He. in Init. noch den theologischen Bereich der „Welt” auf die leibliche Kirche ausdehnt!
50) Hier anders Gru. z.B. ZRG 1962 497 „geistliche Körperschaft”.
51) Wieder anders Gru. ELKZ 1960 164 „der geistliche Charakter des Kirchenrechts”; ebenso Th. Heckel 1961 139 mit K. Barth.
52) Hier folgt Gru. dem Sprachgebrauch He.s!, vgl. ZevKR 1964/65 42 f., 51 ff. über „den schillernden Begriff ,geistlich’”. Denn nun ist geistlich allein das Wort und der Geist Gottes, allein der Glaube (vgl. ebd. 52).
53) Init. 27 — wobei aber wieder zu beachten ist, daß He. hier noch die leibliche Kirche usw. zur „Welt” zählt.

|234|

Drei Bedeutungen54 sind demnach zu verzeichnen, je nach Zusammenhang: „Geistlich-weltlich” erstens nach der Reichslehre im Grundsinn, zweitens nach der Regimentenlehre, drittens im spiritualistischen Sinne. Immer sind geistlich-weltlich „Komplementärbegriffe”; beide zusammen umfassen immer die ganze Welt, aber jedesmal verläuft die Trennungslinie anderswo55.

Das Ergebnis ist nicht uninteressant. Unter dem einen Wort „geistlich” verbergen sich zwei heterogene Elemente, die sich säuberlich voneinander abheben lassen: die Zweireichelehre und ein gemäßigter mittelalterlicher Spiritualismus. Beides zusammen zwingt jedoch Heckel unter den einen Begriff der „radikalen Spiritualisierung”.

 

6. Spiritualismus

 

Diese „radikale Spiritualisierung” ist nach Heckel sogar das Hauptunterscheidungsmerkmal der Rechtstheologie Luthers von der seiner spätscholastischen Vorgänger56.

Die Analyse des Bedeutungsinhaltes der Begriffe „geistlich” und „weltlich” zeigt aber, daß dieser Spiritualismus ganz verschiedene Dinge verschiedener Herkunft umfaßt. Der Spiritualismus Luthers ist keine einheitliche Größe. Woraus ist er zusammengesetzt?

 

a) Rechtfertigungswiderfahrnis

Seine Hauptquelle dürfte das Rechtfertigungswiderfahrnis Luthers gewesen sein57. Es veranlaßt Luther, die herkömmliche lex divina von der Rechtfertigungsgnade her als lexspiritualis” zu deuten und in dieser Form zur Rechtsgrundlage seiner Rechtstheologie zu machen.


54) F. Lau verzeichnet unter Zustimmung He.s (Init. 82 A. 347, KuK 267 A. 197) vier Bedeutungen von „weltlich”: 1. „leiblich” im peiorativen Sinn (= oben 42 47; He. meistens); 2. von der menschlichen ratio geschaffen (oben 197); 3. wegen der Sünde gegeben; 4. mit äußerlicher Gewalt zu erhalten (3. und 4. entspricht oben 231 f.). P. Althaus sieht in „weltlich” im Sinne der Zweireiche- und der Regimentenlehre nicht (nur) eine sachliche, sondern eine zeitliche Differenz: Luther habe sich von der ersten zur zweiten Bedeutung entwickelt (1965 55 ff.).
55) Init. 82 A. 347.
56) Init. 21, Lex 29 u.ö.
57) Vgl. IZ 44, 52, 61; oben 77 ff. 172.

|235|

Es veranlaßt ihn weiterhin, die personale Beziehung zu Christus als Mitte seiner Rechtstheologie zu erkennen und von dieser Relation aus die Heilsgeschichte zu deuten. Dadurch gewinnt die ihm von G. Biel überlieferte duo-civitates-Lehre Augustins als Zweireichelehre ihre dominierende Stellung.

Rechtfertigungswiderfahrnis und Zweireichelehre ergeben zusammen mit der apokalyptischen Grundstimmung58 der Zeit die personhafte und eschatologische Sicht des Reformators, die gerade in seiner Rechtslehre deutlich wird.

 

b) Innen und Außen

Als weiteres Element umfaßt der von Heckel so genannte Spiritualismus Luthers zwar nicht die Trennung, wohl aber die scharfe Unterscheidung von Innen und Außen. Freilich nicht in der platten Form der „Geisterer”. Stets muß man im Auge behalten, daß Luther an zwei Fronten zu kämpfen hatte, „rechts” gegen die reformunwillige römische Kirche, „links” gegen Spiritualisten und „Antinomer” aller Arten, die die Inkarnation mißachteten. Luther ist viel sublimer und näher zur Schrift, wenn er auch ihre anthropologische Einsicht in die Einheit von Innen und Außen in seiner Rechtstheologie nicht konsequent genug vollzogen hat; dazu war das platonisierende Weltbild des Mittelalters noch zu mächtig. Die schwärmerische Berufung auf das „innere Licht” ist ihm jedenfalls fremd, er verweist auf die Objektivität (perspicuitas) der Schrift59. Das „Äußere” ist nicht bedeutungslos, aber es scheint ihm näher zur „Welt” zu stehen und damit ferner von Gott zu sein. Das Äußere erhält seinen Sinn vom Inneren. Das Innere ist das Wesentliche, das Äußere zwar nicht unwesentlich, aber es folgt in jeder Beziehung


58) Eine nicht unwichtige Rolle mag auch die Situation des Reformators gespielt haben, die auch in seiner Rechtstheologie mitgesehen werden muß — seine geistliche Einsamkeit und Bedrängnis. Sie mögen den weitgehenden Rückzug auf die innerliche ecclesia spiritualis mitbedingt haben. Man vergleiche nur, was er über die Zerstreuung der Christen sagt (s.o. 14289) — übrigens nicht weit von dem, was Augustin über die verschwindend geringe Zahl der Christen ausführt (vgl. die bei F. Hofmann 233 f. angegebenen drastischen Vergleiche).
59) Vgl. Lex 55 f., 58 f. ein personalistischer Spiritualismus der strengen Bindung an die Schrift, Gru. LWB 59 A. 42. Kritisch weiterführend Gru. (s.o. 18910) und Dombois (RdG 639, 893).

|236|

nach. Deshalb heißt das Äußere die „Hülle” des Inneren; nicht im Sinne des Schützens, sondern des Verhüllens, so daß es verborgen ist60.

Diese spiritualistische Scheidung durchzieht die ganze Rechtstheologie; zunächst in der Reichslehre im Grundsinn: das regnum Christi ist „innerlich”, die äußeren „Werke” sind selbstverständliche Frucht; in der Regimentenlehre: das regnum Christi braucht eine „äußere” Schauseite im geistlichen Regiment Gottes durch das Amt; in der Rechtslehre: die lex spiritualis ist wiederum ganz innerlich, das menschliche Recht tritt ihr als das äußerliche und leibliche gegenüber61; in der Ekklesiologie: nicht nur ist die ecclesia spiritualis die eschatologisch-futurische und die ecclesia universalis die eher präsentische Kirche, sondern die ecclesia spiritualis ist auch geistlich „verborgen” und die ecclesia universalis die „offenbare” und „leibliche” Kirche.

Fassen wir zusammen: Der „radikale Spiritualismus” Heckels besteht aus mehreren Elementen verschiedener Herkunft. Er ist keine einheitliche Größe. Seine zwei Hauptquellen sind das Rechtfertigungswiderfahrnis (mit der daraus folgenden Zweireichelehre) und das platonisierende mittelalterliche Weltbild. Nur letzteres sollte man in der Rechtstheologie als Spiritualismus bezeichnen. Damit wird die Analyse des Begriffspaars „geistlich-weltlich” bestätigt. Auch sie führte zum doppelten Ursprung: der Zweireichelehre und dem mittelalterlichen eigentlichen Spiritualismus.

Zu ersterer gehört die personhafte und eschatologische Sicht, zu letzterem die Abwertung des Äußeren zugunsten des Inneren bei Luther und, wie hinzugefügt werden darf, deren moderne Spätform bei Heckel in der Trennung von Person und Sache. Der „Dualismus” schließlich umfaßt beide Momente. Demnach kann behauptet werden, daß die „radikale Spiritualisierung” teils aus grundlegenden theologischen Erkenntnissen, teils aus höchst zeitbedingten Anschauungen besteht. Zu jenen wird man die personhafte und „proleptisch”-eschatologische Sehweise zu rechnen haben, zu diesen die Scheidung von Innen und Außen,


60) Facies, Schauseite ist es nur dem Christen. Vgl. KuK 230; das ist etwas anderes als die eschatologische Verborgenheit des zukünftigen Urteils Gottes (bei Gru. AÖR 1959 50 u.ö.; zur ecclesia abscondita s.o. 157). Soweit platonisierende Abwertung des Sichtbaren und der uralte Leib-Seele-Dualismus anklingt, handelt es sich keineswegs um Sondergut Luthers. Stets hat dieser Spiritualismus als starke Gegen- und Unterströmung die scholastische Schultheologie begleitet.
61) Der Spiritualismus (i.e.S.) dürfte die Ursache sein, weshalb oben (21313) Zweifel an der Notwendigkeit des menschlichen Kirchenrechts entstehen konnten.

|237|

Person und Sache. Die selbstverständliche Einheit von Innen und Außen, Person und Sache, die die moderne Anthropologie am biblischen Denken rühmt, ist damit nicht vereinbar62.

Die Lebensfähigkeit der großen Rechtslehre Luthers bzw. Heckels wird wohl davon abhängen, ob es gelingt, das mittelalterliche Kleid abzustreifen.

Nichts ist damit gesagt, das sei noch einmal betont, gegen die personhafte63 und eschatologische Sicht. Sie gehört zum unverzichtbaren Bestand der christlichen Botschaft, damit integrierend zur theologischen Grundlegung des Rechts.


62) Ähnlich Wolf ARG 1952 119.
63) Sofern sie — wie das bei He. der Fall ist — eine Ontologie impliziert.