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Die Rechtslehre Heckels steht in direktem Zusammenhang mit der Reichslehre. Reichs- und Rechtslehre bilden eine innere Einheit1 und erklären einander. Ernst Wolf hat darum die Zweireichelehre zutreffend „die rechtstheologische Grundformel” des Rechts genannt2. Aus ihr folgt deshalb die weitere Gliederung3. Der Dualismus der Reiche und Regimente bedingt den dreifachen Dualismus des Rechts (unten 1). Dem Recht des Reiches Christi (unten 2) steht das Recht der Welt gegenüber (unten 3). Ein Überblick über die Geschichte und Bedeutung (unten 4) dieser Rechtslehre beendet diesen Abschnitt, dem sich die Ekklesiologie Heckels anschließt.
Die „zentrale theologische Position”, das Kernstück dieser Sicht des Rechts, besteht in folgendem Grundsatz: Es gibt kein beiden Reichen gemeinsames Recht. Jedes der beiden Reiche hat sein eigenes Recht und seine eigene Gerechtigkeit4. Sie sind voneinander „grundverschieden”.
1) NR 45, Lex 46, WO 166, Padua 331. Zur Reihe
Rechtstheologie — Kirche — Recht s.u. 124 1778.
2) KuK 224; Ernst Wolf FS Smend II 451.
3) In der Lex Charitatis wählt He. als
Gliederungsprinzip die Reihe lex naturalis (Urständ) —
lex non scripta (Sündenfallrecht vor dem mosaischen
Gesetz) — lex scripta (Mosi) - lex Christi; eine
Einteilung, die die „heilsgeschichtliche” Denkweise von Augustin,
Hugo von St. Viktor (und Anselm von Laon) mit dem scholastischen
Naturrecht verbindet.
4) NR 45, Lex 47, ZRL 1939 (Exkurs); Lex 71:
duplex est iustitia; nämlich nicht die nominalistisch
gefärbte (RuG 288 f.) der schwedischen Regimentenlehre (s.o. 60;
zu ihrer theologischen Kritik vgl. F. Flückiger FS Barth 521
ff.), sondern die iustitia coelestis (NR 48 und unten
79) und civilis und/oder politica (NR 49, Lex
71 f., 98 f., Regim. 262), oder geistliche und leibliche, AS 57
(zu ihrem [scheinbar!] „absoluten Gegensatz” vgl. u.
11067). Diesen Ansatz verkennt A. Auer FS Messner 117,
wenn er kritisiert, („natürliche”) Gerechtigkeits- und
(theologische) Liebesordnung ➝
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Aus dem Dualismus der Reiche folgt deshalb der Dualismus der Rechte5. Freilich ist das kein absoluter, sondern ein „relativer Dualismus”. Das doppelte Regiment des einen Gottes faßt die doppelte Gerechtigkeit und die beiden Rechte zusammen in dem einen göttlichen Rechtswillen6. Gott allein ist Schöpfer und Herr des Rechts.
Der Dualismus des Rechts ist dreifach: er ist naturrechtlich, personhaft-eschatologisch und geistlich-christologisch.
Das erste und auffälligste Charakteristikum der Rechtslehre Luthers ist, daß es sich um eine Naturrechtslehre handelt. Gott hat in Adam allen Menschen sein göttliches Naturgesetz ins Herz gesprochen. Dieses Naturrecht spaltet sich gemäß der Unterscheidung der beiden Reiche: Nur die Bürger des Christusreiches gehorchen diesem Wort Gottes. Die Anhänger des Satans lehnen es innerlich ab und verstehen es darum falsch. Dadurch entsteht das weltliche Naturrecht als das Mißverständnis des göttlichen Naturgesetzes. Jedes Reich hat so sein eigenes Naturrecht7. Das Reich Christi lebt nach dem „geistlichen” oder „göttlichen Naturgesetz”, das Reich der Welt nach dem „weltlichen” oder „menschlichen Naturrecht”8. Zwischen ihnen gibt es keine Rechtsgemeinschaft9.
➝ würden vermischt: He. redet ausschließlich
(rechts-)theologisch von der (begnadigenden und der
erbsündlichen) Gerechtigkeit; die „natürliche” Gerechtigkeit der
philosophischen Wesensnatur wird nicht erwähnt.
5) NR 37, 45, Lex 47, WO 158, Grat. 509, WS 34 f., 73,
Padua 330; Gru. LWB 60, ZevKR 1957/58 281, ELKZ 1960 162 u.ö.
Erste Andeutung dieser Erkenntnis: RuG 309.
6) S.o. 48; zum relativen Dualismus vgl. NR 45, 50,
Lex 47, 133 mit P. Brunner, G. Törnvall.
7) Deshalb ist He. gegen die harmlose
Gegenüberstellung von absolutem und relativem Naturrecht. Zu
dieser Kontroverse vgl. Lex 88 A. 644 (zu E. Troeltsch, K. Holl,
F. Lau, Ph. S. Watson, E. Brunner, W. Schönfeld); ferner G.
Wünsch 126 ff., P. Althaus 1965 37 A. 32 und A. Auer FS Messner
117.
8) Etwa ab Init. (anders noch RuG 333 ff.); vgl. NR
44-50, Lex 47, 52 ff., 57 A. 373, 71 f. m. A. 500, 133, 152 A.
1213, 179, WO 158, 167, Regim. 261 f., Grat. 509 f., Padua 328 f.
(Die Ausnahme lex irae = Naturgesetz in Lex 22-26 ist
nur scheinbar, s.u. 108 ff.) Diese Unterscheidung ist umstritten
a) terminologisch (vgl. P. Althaus 1965 32 A. 2 gegen H. Bornkamm
1948 113) und b) sachlich (P. Althaus ebd. und 37 A. 33, F. Lau
KuD 1956 80 f., M. Schloemann 17 wegen des Dualismus). Vgl. das
verwandte Problem des sittlichen Naturgesetzes und rechtlichen
Naturrechts, J. Messner 205 ff. Abgesehen davon paßt sie auch bei
He. nicht recht, ➝
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Auch die Regimentenlehre kommt zum Zuge. Gottes geistliches Regiment geschieht vorzüglich durch das göttliche Naturgesetz, das weltliche Regiment durch das weltliche Naturrecht. Außerdem benützt Gott das weltliche Naturrecht, um auch das Reich Christi vor dem Zugriff der cives diaboli zu schützen. Darin kommt die Zuordnung des weltlichen Naturrechts zum geistlichen Recht wie schon in der Regimentenlehre zum Ausdruck, wo ebenfalls das weltliche Regiment verborgenerweise dem geistlichen diente.
Aus der Verbindung der Rechtslehre mit der Reiche- und Regimentenlehre resultiert der für Luther so typische naturrechtliche Dualismus.
Dieser Rechtsdualismus ist nicht absolut. S. Grundmann erläutert das so10: „Die beiden Rechtssysteme stehen . . . nicht beziehungslos nebeneinander. In Gott haben sie ihr gemeinsames Ur-Zentrum. Dei voluntas est suprema lex. Hierdurch werden die Rechtssysteme beider Reiche zu einer Einheit verbunden. Es ist auch nicht etwa so, daß Gott für jedes der beiden Reiche verschiedenes Recht gesetzt hätte. Der Wesensunterschied der beiden Rechtssysteme . . . ist letztlich ein anthropologisches Problem. Es handelt sich um die Auswirkungen des Sündenfalls und des Kreuzestodes Christi als der für die Welt- und Menschheitsgeschichte schicksalhaften Zäsuren, die bei den Menschen der verschiedenen corpora sich verschieden äußern.”
Die Zweiheit der Reiche ist entstanden aus der zweifachen personalen Antwort der Menschen auf den göttlichen Anruf; aus ebendieser Quelle stammt auch die Verschiedenheit der Rechte. Nach Personen ist
➝ denn auch das geistliche Naturgesetz ist Recht, wenn
auch in anderem Sinn (s.u. 91 ff.), und Naturrecht (arg.:
einerseits NR 45 (X), andererseits Regim. 261: lex
naturalis des regnum mundi, in Anlehnung an
Hillerdals Terminologie). Die Begrifflichkeit ist wohl gewählt,
um anzudeuten, daß das göttliche Recht nicht allein aus der
lex divina besteht, sondern auch das
Institutionenrecht umfaßt (vgl. unten 98). Übrigens
differenziert auch E. Brunner so, verbindet damit aber die
Diskrepanz von Liebe und Recht (dazu Lex 75 A. 538). Eine
interessante Parallele findet sich in der scholastischen
Rechtslehre; sie kannte nur die lex aeterna, kein
ius aeternum (W. Steinmüller 416-419). Dagegen bejaht
ein ius aeternum (in ganz anderem Sinn) Wolf PR 152.
9) NR 50, Lex 134 f., RGG I 1872; d.h. keine
beidseitig anerkannte innerweltliche Rechtsgemeinschaft (unten 99
f. 110).
10) AÖR 1959 17; ÖAfKR 1965 293.
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bestimmt, wer dem Recht Christi, wer dem der Welt unterliegt. Das Christusvolk hört auf die Rechtsweisungen Gottes, das Teufelsvolk leiht sein Ohr den Einflüsterungen des Teufels. Das Gottesrecht gilt also nur im Reich Christi. Ein personhafter Dualismus kennzeichnet dieses Recht.
Er ist aber auch ein eschatologischer Dualismus — und dies in doppelter Hinsicht. Denn erstens werden am Jüngsten Tage nicht nur die cives Christi nach Gottesrecht gerichtet, sondern alle Menschen; denn Gott hat seine lex divina allen ins Herz geschrieben11. „So steht auch die lutherische Gesetzeslehre unter dem Ernst des Endgerichts”12. Das ist der eschatologische Aspekt von der Reichslehre im Grundsinn her. Zweitens bedarf auch das Reich der Welt des Rechts, um überhaupt bis zum Jüngsten Tage bestehen zu können; denn aus sich selbst schafft es kein Recht, sondern zerstört es13. Hier greift der eschatologische Rechtsaspekt der Regimentenlehre ein: Gott gibt dem Weltreich durch sein weltliches Regiment eine Ordnung, damit es nicht sich selbst und das anbrechende Reich Christi vernichte. Diese Ordnung ist das weltliche Recht. So lebt der Christ nach christlichem oder „geistlichem” Recht, der weltliche Mensch nach „weltlichem”14.
Der eschatologische Dualismus des Rechts stützt sich also ebenfalls auf beide Abschnitte der Zweireichelehre: die Reichslehre im Grundsinn und die Regimentenlehre.
Der geistliche Dualismus des Rechts ist die Konsequenz des eschatologischen Dualismus der Reiche und der Regimente. Es ist ein durch und durch „geistliches” Recht15, wie sich zunächst aus der Reichslehre im Grundsinn ergibt. Im Reich Christi gilt ausschließlich die lex spiritualis sive Christi. Dieses Recht ist geistlich, weil es christusbestimmt ist16, ja im Wesen Geist Christi „ist”. (Genauso kann man sagen, es sei ein vom aktuellen Glauben her entworfenes Recht17.) Auch das weltliche Recht
11) NR 50, Lex 47, 49, 133.
12) S.u. 84 (2)67.
13) S.o. 43 (b 3)47 100.
14) Init. 20 f.
15) Lex 17 A. 31, 19 f., WO 167, Padua 328.
16) Lex 129 A. 1049 und WO 167 zu den verschiedenen
Bedeutungen des „christlichen Rechts” bei Luther, und unten 81
ff.
17) Die Begründung ergibt sich erst aus dem
Kirchenbegriff, s.u. 1287.
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ist nicht geistlich neutral, weil es aus der Ablehnung des Christusrechts entsteht und weil es durch das Christusrecht einen — wenn auch verborgenen — geistlichen Sinn hat. Das geistliche Recht des Christusreichs geht also logisch und im Rang dem Weltrecht vor18.
Geistlich ist das Recht auch von der Regimentenlehre her. Aber nun wandelt sich mit einem Male die Bedeutung des Wortes „geistlich”: es heißt jetzt so viel wie „spiritualistisch”. Denn das geistliche Regiment ist ein „innerliches” Regiment, „äußerlich” das weltliche. Ebenso die beiden Rechte! Unter dieser Hinsicht stehen einander „scharf kontrastierend” gegenüber die lex interior des Gnadenreichs (nämlich die lex Christi) und die lex exterior der Welt19.
Die doppelte20 Bedeutung des „geistlichen” Rechts faßt Heckel unter dem, wie sich noch zeigen wird, mißverständlichen Schlagwort „radikale Spiritualisierung des Rechtsbegriffs” zusammen. Sie sei das eigentliche Kennzeichen der Rechtslehre Luthers und zugleich der tiefste Unterschied nicht nur zur Rechtsauffassung des Marsilius, mit der so oft verglichen wird21, sondern auch zu der des Mittelalters überhaupt, wie auch der Aufklärung22.
Der auf gezeigte dreifache Dualismus bezeichnet die rechtstheologische Eigenart des Rechtsbegriffs Luthers. Würde man etwas überspitzt behaupten, daß jeder Baustein, jede Einzelheit dieses Rechts aus der Scholastik stamme — sehr vieles spricht dafür —, so müßte sogleich dazu gesagt werden, daß das fertige Gebäude, das Gesamtbild, Luthers ureigenes Werk ist.
„Luther wird deshalb zum Begründer einer neuen theologischen Rechtslehre”23.
18) S.u. 8995 und oben
515; SA Lex 315 f., Regim. 261 (wie schon oben das
geistliche Regiment dem weltlichen vorging). Deshalb ist es
falsch, mit dem weltlichen Naturrecht der natura corrupta
anzufangen, ebd. 261 gegen G. Hillerdal.
19) Init. 20 f., Lex 59 f., 63 f., 116.
20) Außerdem heißt es geistlich, weil nur der Christ
es im Geist Christi verstehen kann, s.u. 81 ff.
21) Padua, bes. 328.
22) Init. 18-21, Lex 29, 55 f., 73 f., 80 f., Grat.
510, Regim. 261, SA Grat. 501 f.
23) ZRL 1939.
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In der Mitte der Reichslehre stand der homo spiritualis; im Zentrum der Rechtstheologie steht die lex spiritualis. Von ihr ist deshalb zuerst und in der Hauptsache zu berichten (unten a); in einem zweiten kleineren Teil (unten b) ist das ius divinum positivum nachzutragen. Erst beide Rechtsgebiete zusammen ergeben die göttliche Weltordnung (ius divinum) zur Gänze.
Die lex spiritualis, auch das geistliche Gesetz genannt1, ist der rechtliche Leit- und Zentralbegriff des Reiches Christi2. Ihr Name ist lex Christi3, was ihre Erkenntnis und ihren Inhalt, „das göttliche Naturgesetz”4, was ihre Form, und lex charitatis spiritualis, was ihre Forderung betrifft. Das also ist jene berühmte Lex charitatis, die dem Hauptwerk Johannes Heckels den Namen gegeben hat (und mit der zufälligerweise seine Gesammelten Aufsätze schließen . . .)5. Sie macht die eine Hälfte des ius divinum aus6.
Die lex spiritualis soll nicht nur die von Karl Barth bei den Reformatoren vermißte Verbindung von Rechtfertigung und Recht bringen (welchen Rechtsbegriff setzt Rechtfertigung voraus und wie ist sein Verhältnis zum Recht überhaupt?)7, sondern sie soll selbst rechtfertigen, ist also das wahrhaft geistliche Recht8.
Zugleich stellt sie die Rechtsordnung des Reiches Christi dar9, ist
1) Z.B. RuG 320, Padua 328 f.; gleichsinnig
lex naturalis WS 80, Gottes Gesetz Lex 51, IZ 48, Gottes
Ordnung IZ 48, lex divina NR 42, Lex 28, 49, 57 A. 373,
„oder ius divinum” Lex 57 A. 373; der Sprachgebrauch
He.s ist bereits eine Systematisierung der ungemein reichen und
vielfältigen Terminologie Luthers, vgl. die „Musterkarten” von
lex divina (fünf Bedeutungen: Lex 57 A. 373, AS 1956
29), von Naturrecht und -gesetz (Lex 71 A. 499). Leider aber ist
sogar He. nicht einheitlich (vgl. unten 97 134 zu lex
und ius divinum, 85 71 zur lex charitatis
i.e.S. und i.w.S.).
2) Lex 20 f., 28.
3) Lex Christi (nach Gal 6.2) = lex
spiritualis = Naturgesetz seit der Römerbriefvorlesung
1515/1516, Lex 29; vgl. auch RuG 316 f., WS 34, Padua 329.
4) S.o. 69 f. 8; noch vorsichtig RuG 338.
5) IZ 17, Padua 329 und Zitat unten bei 79 43. — Zum
Fortwirken der lex charitatis in der prot.
Naturrechtslehre und bei Leibniz siehe H.-P. Schneider 1967 bes.
286 ff., 380 ff.
6) Lex 57 m. A. 373 und unten 98.
7) NR 41, Lex 19 f., 178 f.
8) Also nicht das zur Rechtfertigung untaugliche
kanonische Recht, Lex 21.
9) Init. 18, NR 45 f., Lex 19, 49, 133, WS 34, IZ 39,
48, Padua 331.
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sein Grundgesetz und Personalstatut. Von ihr stammt seine Gliederung und Ordnung. Sie bildet das „Reichsangehörigkeitsgesetz” des civis Christi und den Rechtsboden, auf dem er sich bewegt10, und darüber hinaus die eschatologische Grundordnung der Menschheit.
Was ist das für eine lex spiritualis, von der solch unmögliche Dinge ausgesagt werden? Die Formel lautet: Das geistliche Gesetz ist das durch Christus wiederhergestellte göttliche Naturgesetz des Urstandes; es ist die lex Christi des regnum Christi.
Nun ist das Naturgesetz zu entfalten, wie es Luther versteht. Das soll in traditioneller Manier geschehen (damit zum Teil abweichend von Heckels Gliederung), und zwar zunächst die formelle Seite, d.i. das Gesetzgebungsverfahren, darauf die materiale. Den Abschluß bildet die Erörterung des zugrunde liegenden Rechtsbegriffs.
Die Eigenart dieses Gesetzes bringt es mit sich, daß man vieles nicht säuberlich scheiden kann, was sich beim menschlichen Gesetz in getrennte Abschnitte unterteilen läßt. Denn diese lex naturalis ist göttliches Gesetz und hat teil an der göttlichen Ungeschiedenheit.
Vom Gesetzgebungsverfahren11 interessieren nur die Stadien, die den Menschen direkt betreffen; alles übrige liegt im Innern Gottes verborgen.
Gesetzgeber ist der Geist Gottes. Näherhin ist es die voluntas Dei, der göttliche Rechtswille, der das Gesetz beschließt, nicht seine ratio. Doch der Voluntarismus Luthers ist weit vorsichtiger als der seiner Lehrer. Zwar sagt auch er: was Gott will, ist gerecht, nicht umgekehrt12 — doch vor naseweisen Spekulationen über die potentia absoluta13
10) NR 37 (Lebensgesetz), 50, Lex 66, 127, 134,
WO 158, IZ 39, Gru. FiLex 3 183; Lex 134 (Personalstatut).
11) Dazu Lex 52, 55 ff., 63, 73, Grat. 508, IZ 47; für
Gru. vgl. ZevKR 1957/58 281 f. — Von „Stadien” kann nur analog
gesprochen werden, denn Promulgation, Inkrafttreten und Vollzug
des Gesetzes fallen in eins — ein weiterer Unterschied zu
menschlicher Gesetzgebung, Lex 65.
12) Lex 52, AS 1956 40, Padua 271. Zur
voluntas als charitas s.u. 77 f.
13) RuG 286 ff. mit Hinweis auf G. Biel; Lex 53 A. 345
gegen G. Wünsch; sunt ista . . . posita in . . . voluntate
divina . . . accuratius autem ea inquirere est impia
curiositas, WA XLII 109, 9; vgl. ebd. 108, 36; Lex 53 A.
341. Dazu vgl. jetzt W. Dettloff 1963.
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bewahrt ihn seine Ehrfurcht vor dem Deus absconditus14 der in den Paradoxa der theologia crucis15 und der alttestamentlichen lex16 gezeigt hat, wie weit er menschliche Gedanken übersteigt.
Wie soll man sich die Promulgation vorstellen? Sie geschieht dadurch, daß Gott das Naturgesetz ins Herz des Menschen schreibt, genauer: hineinspricht17. Dadurch prägt sich die lex spiritualis dem Herzen dauerhaft ein und wird zur lex interior18. Das geschah für die ganze Menschheit verbindlich zusammen mit der Schöpfung der menschlichen Natur, weshalb es Naturgesetz heißt19.
Luther denkt auch hier ganz „personhaft”; er kann sich göttliches Tun am Menschen nicht als ein „Etwas” vorstellen, das ein für allemal geschehen ist und das dann der Mensch „hat”. Gott der Lebendige erläßt dieses Gesetz; von daher ist es eine lex viva. Es ergeht in der Form personaler Anrede. Es ist verbum Dei in nos, ein „tätlich Wort”, das wirkt und der freudigen Antwort harrt, zugleich aber von der Person des Gesetzgebers unablösbar ist20. Getrennt von Gott und ohne lebendigen Bezug zu ihm ist es nicht mehr spiritus, sondern bloße litera21. Man könnte hier von dem „Wortcharakter des Naturrechts” sprechen22.
14) Zu diesem wichtigen Thema der Theologie
(und Erfahrung) Luthers vgl. RuG 286 f., Lex 25 f., 52-54 mit
Lit., Grat. 506 — eine andere Verborgenheit als die vor dem
natürlichen Menschen!, dazu Lex 42 A. 265 (anders RuG 299) und
unten 157 f. zur ecclesia abscondita. Zur Vorgeschichte
(Dionysius Areopagita) vgl. A. Adam LuJ 1963 97-106.
15) NR 55, Lex 20 mit Lit., 178.
16) Vgl. Lex 22 ff. und ebd. 98 A. 740 zu „Gottes
mummerey”.
17) Lex 57, Padua 328 f.; Lex 26, 55, 63 f. in
Anlehnung an Rom 2.13 f. — wo indes nur das opus legis,
nicht die lex selber ins Herz geschrieben ist!
18) NR 43 f., WS 80.
19) NR 44, Lex 49, WS 34. Zum Unterschied von der
Promulgation bei Thomas vgl. STh II/2 q 57 a 2 ad 3 und dazu Lex
55 A. 365, 58 (Satzung, decretum).
20) RuG 306 ff., NR 43 (viva vox), 55, Lex 56
ff., 62, (126), Padua 329.
21) Lex 58, nach Augustins bekannter Unterscheidung
(aus 2 Kor 3.6). Deshalb ist auch nur der homo
spiritualis geeigneter Adressat der lex
spiritualis, Init. 18 f.
22) Diese „worthafte” lex ist eine
theologische Vertiefung des deutschrechtlichen Gesetzesbegriffs,
bei dem zwischen genereller Norm und Einzelanwendung kaum
unterschieden wird (dazu vgl. RuG 308 f. mit O. v. Gierke; nur
mit Vorsicht bringt He. diese Art des Rechtsdenkens mit C.
Schmitts „konkretem Ordnungsdenken” in Verbindung (RuG 310 f.;
vgl. die Auseinandersetzung DVerwBl 1937 56); mit berechtigter
Vorsicht, denn es ist zwar ein konkretes Recht, aber vor allem
ist es ein geistlich-personhaftes Recht, und das hat mit C.
Schmitt nicht mehr viel gemein).
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Vermöge dieser „dialogischen Struktur” des Naturgesetzes (Heckel sagt es nicht so) bedarf es nicht mehr der komplizierten scholastischen Psychologie, um den Vorgang der Promulgation verständlich zu machen: es gibt keine vermittelnde ratio mehr, keinen habitus principiorum; keine participatio legis aeternae, kein lumen naturale oder liberum arbitrium23. Die Promulgation geht gleichsam direkt vor sich. Weil Gott unmittelbar ins Herz spricht (das ist die Mitte des Menschen und Sitz seines Willens, sein „Personkern”)24, durchdringt der göttliche Wille den menschlichen. Der menschliche Wille übergibt sich an Gott, die conformitas voluntatis cum Deo tritt ein. Dadurch wird sie zur voluntas deiformis, und zwar sola gratia, ganz ohne ihr Zutun (cooperatio)25. So kommt es zur Gottunmittelbarkeit dieser lex divina und mit ihr zur Gottunmittelbarkeit des homo spiritualis26.
Die Rechtswirkung der Promulgation im menschlichen Herzen ist der Eintritt der Gesetzeskraft. Sie tritt ipso facto mit der Promulgation ein. Das göttliche Gesetz ist eine lex vehemens und setzt sich sofort durch27.
Als letztes Stadium folgt der Vollzug des Gesetzes durch die Adressaten (die Aufnahme). Dadurch wirken die Rechtsgenossen bei Luther
23) Zur ratio: Lex 63;
participatio: Lex 53, gemeint vom Menschen aus (!);
„Teilhabe” ist nur actu innerhalb der personalen
Gottesbegegnung möglich (Lex 60, 63 ff., 70 A. 489); lumen
naturale u.ä.: RuG 336 f., Lex 55, 56 A. 371 gegen G. Biel
(der darin einen Unterschied zur lex divina sieht);
liberum arbitrium: Lex 32 A. 153, 55, 64, und unten
103.
24) Vgl. Lex 60.
25) Lex 63-67, 122, Regim. 261, Gru. LWB 59; zur
„nachfolgenden” cooperatio vgl. Lex 130 f., 161 (Luther
bejaht mit der katholischen Dogmatik nur die cooperatio
des Gerechtfertigten sola gratia und lehnt die
vorauslaufende cooperatio zur Rechtfertigung ab). Zur
voluntas dei- bzw. Christiformis: Lex 28,59
nach G.Biel (und Bonaventura!), 130 m. A. 1055 (Lit.), Grat. 508;
zur conformitas voluntatis: Lex 28, 50 m. A. 316 (Lit.),
60 — ebenfalls nach G. Biel, Grat. 508 A. 96.
26) Man sollte hier nicht voreilig eine allzu enge
Identifizierung von Gott und Mensch rügen; Luther hat nur auf
Augustin zurückgegriffen, um mit ihm die Herrlichkeit der Gnade
klarer aussagen zu können, als dies mit dem allzu reichen
Begriffsrepertoire des Occamismus möglich war!
27) Lex 64 f.
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wie bei Gratian bei der Gesetzgebung aktiv mit28. Vollziehen sie ein Gesetz, so ist das Verfahren abgeschlossen und das Gesetz in Geltung; nehmen sie es nicht auf, sondern lehnen es ab, dann derogieren sie es — aber nur bei einem menschlichen Gesetz! Anders hier: Das göttliche Gesetz kann nicht einfach aufgehoben werden, denn Gott vollzieht es selbst an Stelle des zu solchem Tun unfähigen Menschen.
Nun ist von der materialen Seite29 des göttlichen Naturgesetzes zu sprechen, nämlich vom Wesen, der Wirkung, den Eigenschaften und dem Inhalt der lex spiritualis (unten aa-ad), darauf vom Rechtsbegriff selbst.
Dieses Gesetz ist von „Wesen”30 ein Recht des Geistes und der Liebe.
aa) Geistrecht
Diese lex ist wahrhaftig eine spiritualis lex:
sie ist geistgeboren, geistgebunden, geistwirkend. Oder anders:
„Das göttliche Gesetz ist Geist, Geist Gottes, nichts als
göttlicher Geist.” Deshalb ist es wesensgleich mit der
göttlichen Liebe, die im Kern zugleich Gottes Rechtswille ist.
Zwar ist es nicht „Gott selbst”, wohl aber seine schöpferische,
lebenwirkende Kraft, die höchste Liebe, Weisheit, Gerechtigkeit
und Ordnung. Man könnte sagen: der „Geist” dieses Gesetzes ist
der Heilige Geist31!
ab) Liebesrecht
Deswegen kann Heckel gegen alle Leugner eines Liebesrechts
definieren: Der Reformator versteht unter Recht das Geschenk
der Teilhabe an der göttlichen Liebe; und anderswo: Die
ontologische Grundlage des Rechts ist die Liebe. Dieses Recht
„ist die Ordnung göttlicher Liebe. Sein Wesen heißt
charitas”; „alles Recht lebt . . . aus der Kraft der
Liebe”32.
28) RuG 308, Lex 65 und unten 198 f. m. A. 23
f. Auch nach geltendem kanonischen Recht, vgl. K. Mörsdorf I 86
f.
29) WO 158.
30) Zum folgenden vgl. auch Gru. LWB 58 f.
31) NR 43, Lex 52, 54, 56 ff., 70, Grat. 507 f., IZ
48; vgl. RuG 307: Got is selve recht; ferner Luther WA I
461, 28 (Lex 61 A. 407): talis Spiritus . . . datur per
gratiam spiritus sancti.
32) Lex 49 f., 61, 70; ähnlich schon RuG 314 f.; Gru.
ZevKR 1957/58 282 u.ö., zur participatio Lex 70, aber
keine participatio „von unten nach oben”, Lex 53 mit
Hinweis auf G. Söhngen.
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Wenn also der Voluntarismus dazu führt zu sagen, das göttliche Gesetz sei rechtschaffender Wille33, so ist das kein „nackter” Wille, wie er seit Schopenhauer üblich geworden ist, sondern der gütige Liebeswille, von dem mit Augustin das ganze Mittelalter geredet hat, ja die göttliche Liebe selbst34.
Wie weit diese lex charitatis von jedem Willkürwillen entfernt ist, zeigt nicht nur die schon erwähnte Ablehnung jeder Spekulation über die potentia absoluta Dei, sondern auch die — von Heckel nur nebenbei erwähnte — Tatsache, daß Luther die lex naturalis als ein pactum auffaßt: ein Treueverhältnis, begründet vom Gesetzgeber, das eine gewisse Bindung der so ungleichen Partner begründet und die ganze Hingabe des homo spiritualis verlangt35.
Das gehört aber schon zu den Wirkungen des geistlichen Gesetzes.
Was Heckel von den Wirkungen der lex spiritualis sagt, läßt sich zusammenfassen in den Satz: Sie fordert, was sie gibt, und sie gibt, was sie ist: den Geist der Liebe36.
ba) Die Gabe der Rechtfertigung
Weil aber Gott eher handelt als der Mensch und ihm in allem
zuvorkommt37, ist die erste Wirkung des göttlichen
Gesetzes, daß es den Adressaten reich beschenkt. Es ist
zunächst „Gabe”, nicht Norm; die
33) Lex 52 ff., IZ 47; Dei voluntas
lex, RuG 307, Lex 52, Gru. LWB 56. Zum Voluntarismus Luthers
vgl. RuG 307, Regim. 259 („herrscherliches Wollen”), AS 1956 40
(G. Biel), Padua 271 (Marsilius). Doch trifft die Ansicht nicht
zu, daß der scholastischen lex aeterno, das Moment des
Gebots völlig fehle (RuG 307); vgl. Isidor, Gratian, Rupella (W.
Steinmüller 341 m. Nachweisen), Thomas (STh I/2 q 92 a 2, q 94 a
2), u.v.a., sonst könnte sie nicht fons aliarum legum
sein.
34) Die augustinisch-skotistisch-nominalistische(n)
Theologie(n) rücken (wie Luther) voluntas und
caritas besonders nah zusammen, vgl. J. Hirschberger I
369 f., 540, insofern könnte He. mißverstanden werden, wenn er
Willen und Liebe als die erste und dritte „Eigenschaft” zerlegt,
Lex 52 ff. mit 61 f. Zum Problem des Voluntarismus der
Rechtslehre Augustins vgl. F. Flücktger I 384 ff., K. Demmer 43
f. gegen H. Welzel.
35) Lex 62; legis pactum: WA IV 41, 2 mit 21;
Gru. LWB 59.
36) Zum zugleich schenkenden und fordernden Charakter
der lex spiritualis charitatis vgl. IZ 24, AS 65; Gru. ELKZ 1960
162. Vgl. auch Augustins da quod iubes; dazu G. Söhngen
1957 26 ff.
37) Vgl. Lex 60, 65.
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Forderung folgt nach38. Der eigentliche Inhalt ist die Ankündigung der Gnade39.
Das ist leicht einzusehen. Denn von sich aus vermag der Mensch nichts, also muß alles, was die lex divina verlangt, ihm zuerst verliehen werden.
Und so ist es auch. Die lex Spiritus ist ja ein „tätlich Wort Gottes”, die diejenige Gerechtigkeit im Menschen bewirkt, die vor Gott gilt: die iustitia coelestis; diese Gerechtigkeit besteht darin, daß der Heilige Geist und seine lebenspendende Kraft in den Menschen einkehrt und ihn zum geistlichen Leben aus der Christiformitas voluntatis befähigt40.
Diese iustitia coram Deo heißt aber verschieden je nach dem Status des Adressaten des göttlichen Gesetzes. Im Urständ erschafft die lex spiritualis die iustitia originalis, im Christenstand bewirkt sie die iustitia fidei41 und wird deshalb auch lex fidei genannt42. Das ist nichts anderes als der Rechtsvorgang der iustificatio, die Rechtfertigung des Sünders im Spiegel des Rechts.
Wie sieht die Geisteinwohnung oder anders die Rechtfertigung im einzelnen aus? Es sind zwei Seiten zu beachten. Zunächst die innere: Die lex fidei bewirkt mit der iustificatio nicht nur eine bloße Sinnesänderung, sondern ein neues Sein. Die charitas wird zur eigentlichen „Natur” des Menschen. Er erhält die experientia und den intellectus spiritualis, die geistliche Ein-Sicht in das Wesen der Welt und in die sie regierende Ordnung, in die Reiche und Regimente. Das ist „die durch Christi Erlösung eröffnete und dem Gläubigen geschenkte Einsicht in den geistlichen Sinn des göttlichen Gesetzes als der lex charitatis spiritualis”43. Zugleich wird das Herz gereinigt, der homo spiritualis wird
38) Vgl. NR 43: das „Gebot (ist) überhaupt nur
als schöpferische, geistlich lebenwirkende Kraft verständlich”;
zur Kraft der lex Christi in der Ehe der Christen Lex
145.
39) RuG 317. Hier ist der Ansatz für ein He.sches
Gnadenrecht, wie es Gru. in Auseinandersetzung mit H. Dombois
skizziert hat (ThLZ 1963 811 f.).
40) RuG 327 ff., NR 43, Lex 58 f., Padua 329; zur
vita vere christiana Lex 56, 58, 130, Regim. 259, zu
ihren Stufen Lex 128 ff.; zur iustitia coelestis s.o. 68
f.4.
41) Lex 125, weil der Glaube die persönliche
Voraussetzung zum Vollzug der lex Christi ist.
42) Nach Röm 3.27; Lex 63 A. 435, 126, ZRL 1940; zum
Verhältnis zur lex charitatis s.u. 8571.
43) ZRG 1957 503 = Wort 724; Lex 59, 61, 179 und oben
32; zur spiritualis experientia vgl. Lex 59, 63 A. 435;
zum intellectus spiritualis bzw. fidei vgl. Lex
118, Grat. 506, sowie Init. 19 m. A. 71 über sein Verhältnis zur
(natürlichen) ratio.
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mundus corde44, das ganze Innenleben, mittelbar auch alles äußere Tun wird völlig in den Dienst des Reiches Gottes gestellt. Die Gottesherrschaft gelangt zu rückhaltloser Anerkennung45.
Die öffentliche Seite des Vorgangs ist eine Standes- oder Statusänderung. Der Gerechtfertigte wird durch die lex divina dem Teufelsreich entrissen und Bürger des Gnadenreiches46.
bb) Rechtfertigung und Recht
Nun endlich kann die Frage Karl Barths nach dem Rechtsbegriff der
Rechtfertigungslehre beantwortet werden: Das im Vorgang der
Rechtfertigung enthaltene Recht ist das der lex spiritualis
charitatis! Damit ist der lutherische Rechtsbegriff
schlechthin gefunden und zugleich die von Barth bei den
Reformatoren behauptete Lücke geschlossen, wenigstens was Luther
betrifft:. Ist doch seine Rechtslehre aus der Einsicht in die
Rechtfertigung entstanden47. Lex iustificans est
lex spiritualis charitatis.
bc) Gebot
Die zweite Wirkung der lex spiritualis besteht darin,
daß sie das fordert, was sie gegeben hat: die christliche
Vollkommenheit. Nur insoweit ist sie ein Gebot und eine
„Satzung”48.
Doch unterscheidet sie sich fundamental von jedem menschlichen Gesetz. Sie gebietet zu tun, was aus eigenem unausführbar ist, aber schon gegeben ist, damit gehandelt werden kann49.
Der nur analoge Normcharakter der lex spiritualis erhellt aus einer weiteren Eigentümlichkeit. Sie ist unpositivierbar und nicht zu
44) NR 43 f., u.ö.; das ist uralte mystische
Tradition, die seit den Tagen der frühen Kirchenväter immer
wieder an die Sechste Seligpreisung der Bergrede angeknüpft hat
(Mt 5.8); vgl. auch H. Quiring 150 ff., 179 ff.
45) Lex 67, 70.
46) S.o. 44.
47) S.o. 2534 und K. Barth 1945 13 ff.
Sachlich hat übrigens He. die Frage Barths vorweggenommen und
entsprechend beantwortet (RuG 290 ff., vgl. auch ebd. 290 A. 4);
zum Text vgl. NR 41 ff., Lex 19 ff., 178 f., Gru. ZRG 1964 XXVI
f., Ernst Wolf II 27 f., 195 f., 224, W. Schönfeld 1951 303
f.
48) WS 34, IZ 48; zum göttlidien Rechtswillen als
decretum vgl. Lex 58. Der „Sollenscharakter” der lex
spiritualis ist also gewahrt; nur das Verständnis als
„gesetzliche” Norm will He. abwehren (gegen B. Schüller 85 A.
5).
49) Init. 19, Lex 59; vgl. Lex 125: wer ein weltliches
Gesetz erfüllt, gilt als gerecht; beim geistlichen Gesetz ist es
umgekehrt: nur wer gerecht ist, kann es erfüllen.
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objektivieren. Denn viva lex ist sie nur im geistlichen Dialog Gottes mit seiner Kreatur. Ein Abgrund trennt also diese Norm von jedem Normativismus50!
Die beiden Elemente der doppelgesichtigen lex spiritualis als Geschenk und Forderung, Gabe und Gebot sind bei Heckel nicht eigens hervorgehoben: sie stehen wie selbstverständlich nebeneinander, denn sie sind die notwendige Folge des an der Rechtfertigung orientierten Rechtsbegriffes.
Was die lex charitatis im einzelnen gebietet, soll sogleich erörtert werden; vorher aber ihre Eigenschaften und Besonderheiten, die wegen der göttlichen Herkunft dieser lex von ihrem Wesen und ihren Auswirkungen nicht getrennt werden dürfen. Es sind vor allem drei: sie ist eine christologische, personhaft-eschatologische und universale lex Dei.
ca) Das christologische Recht
Christus ist die Mitte des Rechts. Extra Christum nullum
ius! Denn die lex spiritualis ist „wesensgleich”
mit der lex Christi51.
Mit diesen Sätzen faßt Heckel die „streng christusbezogene” Rechts- und Gesetzeslehre Luthers zusammen. Er nennt sie sogar „christozentrisch”52. Aber in welchem Sinn? Auf der Seinsebene oder nur auf der Erkenntnisebene? Ist Christus materiell oder nur formell der Gesetzgeber dieses Rechts?
Was zunächst die Erkennbarkeit dieser lex naturalis betrifft, so wird enttäuscht, wer nun die bekannten scholastischen Erörterungen über die Erkenntniskraft der menschlichen Vernunft, über den habitus principiorum oder das lumen naturale erwartet. Wie sollte Luther auch! Denn mehrere Gründe stehen entgegen53: Der erste ist die göttliche Natur dieses Gesetzes. Es ist so nahe an den verborgenen Gott gerückt, daß niemand es erreichen kann. Auch dem Gerechtfertigten erscheint es so unerschöpflich wie das Meer, denn sein Wesen ist die göttliche Gnade und Liebe. Um es sicher zu erkennen, bedarf es also der Offenbarung, die
50) Lex 58, 182; Gru. LWB 59, ZevKR 1957/58
281, ZRG 1961 412 ff.; vgl. ZRG 1956 514, 517 f. und unten
8361f..
51) Vgl. Lex 28, Grat. 509, Regim. 261, SA Lex 319,
u.a.
52) RuG 319 f., 323, NR 45, Lex 51, Grat. 506.
53) Auch die nominalistische Trennung von Glaube und
Wissen mag mitspielen, RuG 318, Init. 21, Lex 33 usf.
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unmittelbar zum Menschen spricht54. Damit ist auch der zweite Grund genannt: die Personhaftigkeit dieses Naturrechts. Luther räumt die scholastische Psychologie beiseite, weil und soweit sie die dialogische Struktur des geistlichen Rechts verdunkelt55. Der dritte Grund ist der anthropologische. Er wiegt am schwersten. Die Kenntnis der lex spiritualis im Urständ war durch die Sünde verlorengegangen: zur Gänze, was die lex fidei (den Gottesbezug) betraf, und zum größten Teil die der lex charitatis (i.e.S., also des Nächstenbezuges), wie noch auszuführen sein wird. Nun aber hat Christus den verdunkelten ursprünglichen Sinn der lex spiritualis wiederhergestellt (restitutio legis) und damit wieder den Zugang zu ihrem Verständnis eröffnet56. Christus ist der von Gott eingesetzte authentische Ausleger der lex naturalis57.
Die lex Christi ist also die authentische Auslegung und Wiederherstellung der lex spiritualis. Das göttliche Naturgesetz und die lex Christi sind wesens- und inhaltsgleich58.
Auch als lex iustificans — ein weiterer Grund — darf das geistliche Gesetz lex Christi genannt werden. Denn als lex Christi eint es durch den Glauben mit Christus, läßt den Gerechtfertigten an Christi Gerechtigkeit teilnehmen und macht ihn so zum civis Christi. Es wird zum Grund- und Reichsangehörigkeitsgesetz des regnum Christi59.
cb) Das personhafte Recht
Die zweite wichtige Eigenschaft der lex naturae
spiritualis ist ihre Personhaftigkeit60. In ihr
setzt sich der personhafte Grundzug der Reiche in die
Gesetzeslehre fort. Denn die lex spiritualis ist streng
persongebunden, nämlich an die Person Jesu Christi, sowohl was
die Gegenwart, wie was die Zukunft betrifft. Das erste Thema
überschreibt Heckel mit usus spiritualis iuris, das
zweite mit „eschatologisches Recht”.
(1) Usus spiritualis iuris: Wie nur derjenige ein homo spiritualis ist, der im personalen Bezug zum Haupte steht, so ist nur das Naturgesetz „geistlich”, das auch geistlich vollzogen wird (usus spiritualis
54) Lex 28, 51 ff., 54, Grat. 506.
55) S.o. 75 f.
56) NR 45, Lex 51, 117 f., ZRG 1957 503 und oben
7943.
57) RuG 317, 327, Init. 19, Lex 118, WO 158, Padua
329, ZRL 1940.
58) Lex 124, Grat. 509, WS 34.
59) S.o. 74, vgl. auch 78 ff.
60) Vgl. die Zusammenfassung SA Lex 316 f.
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iuris61 kraft des influxus capitis). Nicht schon der göttliche Ursprung ergibt das ius divinum! „Denn ausschließlich im actus charitatis spiritualis wird der Mensch mit Gott eins.” Es gibt das ius divinum nur innerhalb des personhaften Bezuges zu Christus62. Das geistliche Gesetz ist nur „im Augenblick” des Empfangs und Vollzugs der göttlichen Gnade vorhanden: „Es wird überhaupt nur im Augenblick des ,Lebens aus Gott’ für den Menschen existent, nur in dem Moment, in welchem Gott in sein Leben tritt und hier geistliches Leben weckt”. Also nur wenn und solange die personhaft verstandene Gnade im Christen lebendig ist; nur während und im Rahmen der personalen Begegnung mit Christus63.
Extra Christum nullum ius also auch hier! Wie der Christ getrennt vom Haupt geistlich tot ist, so auch die geistliche lex. Dann ist sie nicht mehr spiritus, sondern geisttötende litera64.
Aber Luther ein existentialistischer Aktualist? Das wäre ein Anachronismus. Er betont eben nur sehr stark die rechtliche Unvermitteltheit des Gottesbezuges, ohne deshalb in einen schwärmerischen Ontologismus zu verfallen. Der civis Christi ist „gottunmittelbar”, weil er reichsunmittelbar ist im personhaften Gegenüber zum princeps gloriae. Auch das Recht teilt die dialogische Struktur65.
An dieser unerwarteten Stelle tritt das Wesen der lex spiritualis klar zutage: Sie ist nichts anderes als der rechtliche Ausdruck des gottgestifteten Treueverhältnisses. Das göttliche Recht ist die Rechtsform des Gottesbezugs, der usus spiritualis die rechtliche Folge der strengen Ungeschuldetheit der Gnade, die auch das ius divinum „sola gratia” bestimmt.
61) Lex 90, 121, ZRG 1956 514, 518, u.v.a., =
actus charitatis (s.u. A. 62), = „gläubiger Tatvollzug”
(IZ 25, ZRG 1957 497); He. sagt auch hier gelegentlich usus
spiritualis „legis” (= Christi, ZRL 1943); zur Klarheit wird
hier beim göttlichen Recht nur usus spiritualis iuris,
beim weltlichen nur usus spiritualis legis verwendet. —
Damit scheint die von D. Stoodt bei He. beobachtete
„Entkerygmatisierung des Wortes zu Gunsten seiner totalen
Verrechtlichung” (Gru. ZRG 1964 485; Stoodt 102-105) widerlegt zu
sein — sofern „personhaftes” und „kerygmatisches” Denken
überhaupt verglichen werden können.
62) Grat. 500 mit Hinweis auf P. Vignaux; RuG 318 f.,
NR 43, Lex 115. Darin bestehe der Unterschied zum
röm.-katholischen ius divinum, bei dem schon der
Ursprung das Göttliche ausmache, NR 43 (dazu unten 119 ff.).
Rechtsphilosophisch wichtig ist, daß damit das Recht als Relation
bestimmt ist.
63) NR 43 / Lex 58, Grat. 500 (und auch sie wirkt
Gott!, Lex 65).
64) NR 43, 58, Lex 28, 51 und oben
7521.
65) NR 43, 45, Lex 51 zur gottunmittelbaren lex
spiritualis.
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(2) Eschatologisches Recht: Das personhafte Recht des Christen ist zugleich sein eschatologisches Recht. Eschatologisch ist zunächst sein Ziel: Es ist die beatitudo aeterna, die ewige Glückseligkeit66. Eschatologisch ist auch seine Funktion: Denn nach seinem Maßstab wird der Menschensohn am Jüngsten Tage die Böcke von den Schafen scheiden. „Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.” Der personhafte Bezug entscheidet also auch hier. Nur greift die lex Christi über das Christusreich hinaus und unterwirft sich alle Menschen. Damit ist das christologische zugleich das eschatoiogische Recht67.
cc) Das vollkommene Recht
Die übrigen Eigenschaften sind zwar traditionell in ihren Namen;
doch überrascht der starke neuplatonische Einfluß: das Denken von
der Einheit und Unteilbarkeit Gottes her, die sich der lex
divina mitteilen.
Die lex divina ist eine und unteilbar, ihr Geschenk und Gebot ist ein einziges; sie kennt kein Vielerlei der Normen. Sie erfaßt alles, das Allgemeine wie das Besondere. Sie kennt nicht einmal den rechtlichen Unterschied zwischen Regel und Ausnahme! Deshalb ist sie klar und durchsichtig, eine lex universalis et perfecta, allgemein in jeder Hinsicht und vollkommen, sowohl was den Urheber betrifft als auch die Adressaten, gleich erschöpfend und ausschließlich, in zeitlicher und sachlicher Beziehung, in Wirkung und Inhalt68. Da sie an der ewigen Natur Gottes teilhat, ist sie eine lex aeterna69 und immutabilis.
Veränderlich ist sie aber in ihrer Auswirkung auf den Menschen, nämlich nach dessen Verhalten. Denn sie gleicht dem Sonnenlicht: Trifft
66) Init. 20, NR 47, Lex 72, 74.
67) Lex 46 f. und oben 70 ff. — Die christologische
Gesetzesinterpretation He.s verbindet also den ersten und den
zweiten Glaubensartikel. Das Schöpfungsrecht ist nicht geleugnet,
aber streng auf Christus bezogen. Es ist in seinem eigentlichen
Sinn nur erkennbar in Christus. Es gibt nur ein christliches
Naturgesetz (NR 46, Lex 134). Es ruht ontologisch in der
Schöpfung, gnoseologisch in Christus. Wenn man schließlich
hinzunimmt, daß es ein eschatologisches und vom Geist Christi
bestimmtes Recht sei („dritter Glaubensartikel”), dann darf mit
Fug behauptet werden, dies sei eine
„heilsgeschichtlich-christologische” Rechtsbegründung. Das
gleiche ließe sich ohne Schwierigkeit aus dem dreifachen
Dualismus dieser Rechtslehre nachweisen.
68) Dazu vgl. RuG 316, 321, Init. 20, NR 42, Lex 23,
49, 62 f., 80, 115, IZ 48.
69) Init. 20, Lex 54, 63; Luther kennt also eine
lex aeterna, Lex 54 A. 355 mit F.X. Arnold, 56 A. 370
(das ist nicht selbstverständlich, da schon Duns Scotus sie
eliminiert hatte, G. Stratenwerth 6,91); anders noch RuG 308 mit
der h. M., z.B. Ernst Wolf I 192.
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der Sonnenstrahl auf Wachs, so wird es weich, Schlamm dagegen wird hart. Angewandt auf die lex charitatis: dem Nichtchristen wird die göttliche Liebe zur lex irae70.
Hat es einen Sinn, vom Inhalt der lex spiritualis zu sprechen, wenn ihr Wesen und ihre Gabe der Geist Christi selber ist? Wie können Forderungen und Gebote dieses Gesetzes aufgezählt werden, das doch schlechthin universal ist und die ganze vita christiana umfaßt? Hören wir, was Luther dazu ausführt. Es wird tief in die Sozialethik führen.
da) Das Liebesgebot
Die lex divina gebietet, was sie gibt, und gibt, was sie
ist: den Geist der Liebe. Lex divina und lex
charitatis spiritualis sind identisch71. Weil sie
den Menschen gerechtfertigt und gereinigt hat, fordert sie, daß
er in der Liebe bleibe. Sie verlangt darum die Hingabe des ganzen
Menschen, die „rückhaltlose Liebe des vom Heiligen Geist
erfüllten Herzens”. Sollen und Sein fallen bei ihr zusammen, eins
folgt aus dem andern, eins ist im andern enthalten72.
Mit Recht ist sie eine lex charitatis: Sie ist das „Gebot der vollkommenen Gottes- und Nächstenliebe”73.
Sogar eine geordnete Eigenliebe wird nicht abgelehnt, wenn auch Luther gerade nicht von der Eigenliebe ausgeht74. Der Mensch soll eben
70) RuG 321 f., Lex 41 m. A. 259, 91; Lex 54 A.
355 gegen die scholastische voluntas (Dei) beneplaciti et
signi (nur letztere ist veränderlich, vgl. F. Stegmüller 32
ff.; die Lehre stammt anscheinend von Hugo von St. Viktor und ist
über die Sentenzen des Lombardus zu Luther tradiert worden); zu
früheren Auffassungen Luthers vgl. Grat. 505.
71) IZ 17, Grat 509. Das ist der gewöhnliche
Sprachgebrauch (lex divina = göttliches Naturgesetz =
lex spiritualis = lex charitatis spiritualis =
Gottes- und Nächstenliebe) für die lex charitatis i.w.S.
(Lex 126; a.M. Erik Wolf GRD 145: „. . . das ,Recht der Liebe’
war also für Luther nicht göttliches, sondern natürliches Recht.”
Richtig Ernst Wolf ZevKR 1955 226); nur die Nächstenliebe ist bei
der lex charitatis i.e.S. gemeint (Lex 126); ihr
Gegenstück ist die lex fidei (s.o. 79 und Lex 126 m. A.
1019: die lex fidei geht der lex charitatis
vor, weil sie die Gottesliebe gebietet; vgl. dazu NR 46 A. 22 und
Ernst Wolf I 201 ff.), was mit der auch bei Luther belegten
Unterscheidung der beiden Tafeln des Dekalogs zusammenhängen mag
(vgl. Lex 79 A. 568, 98). Diese Unterscheidung hat große
Bedeutung für die Kirchenrechtslehre, vgl. u. 1763
18119.
72) Init. 19, Lex 59, 61, 67 f., 160, Grat. 507 f.
73) ZRL 1940; ferner NR 46, Lex 28, 59, 127 f., Grat.
508, WS 34 f., Padua 329.
74) Lex 61,127 f. m. A. 1035, gemäß seiner Auslegung
der regula aurea, s.u. 87 f.90.
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ganz „gottförmig” werden und immer tiefer in den status perfectionis hineinwachsen75. Man könnte Luthers Ansicht zutreffend mit Augustin wiedergeben: ama et quod vis fac! Liebe, und (so lautet die richtige Übersetzung) was du dann willst, das tu!
Wie? Sollte Luther „Werke” gefordert haben? „Das göttliche Gesetz zielt nicht auf ein . . . äußerlich feststellbares Verhalten . . ., sondern einzig und allein auf einen gottförmigen Willen”76. Dennoch ist Luther kein „tatenscheuer Quietist”. Er ist nur der Ansicht, daß auf das rechte Herz auch das rechte Tun folgen wird: wie ja auch im Urständ Geistliches und Leibliches in Einklang standen77. Denn der Glaube ohne die Werke ist tot! Er muß Früchte bringen; der Glaube wirkt durch die Liebe78. Dadurch wird der Mensch gar zum cooperator Dei79!
Aber wie sehen diese Werke aus? Einer sei des anderen Christus, „ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann Untertan”: indem er die Schöpfung gebraucht, als gebrauche er sie nicht, und in einer Gemeinschaft lebt, „um Leib und Seele zu fördern”80.
Das „Werk”, das dieses Gesetz fordert, ist also nicht wie andere Werke; es ist die geistliche Gottes- und Bruderliebe — ein Werk also, das nur Gott selbst zu schenken vermag81.
db) Die drei „Grundrechte”
Aus der Rechtfertigung vor Gott resultieren die drei
„Grundrechte”, die der Geist als seine Gaben den Christen
verleiht. Sie sollen deswegen die eigentliche Verfassung ihres
Gemeinlebens sein: erstens die Bruderliebe, denn Gott
ist die Liebe und sein Recht ist deren participatio
(Deus vult alios condiligentes sagte man in der
Scholastik!). Daraus erwächst dann die brüderliche Gemeinschaft
der Christen82 und die Verantwortung für die
Welt83.
75) NR 49 f., Lex 128-130, 133. Luther kennt
also nicht nur die perfectio der Buße (so P. Althaus),
sondern auch und gerade der Liebe (Lex 128 f.), nicht nur des
Religiösen und Klerikers (ebd. A. 1042), sondern „wer mehr glewbt
unnd liebt, der ist volkomen” (WA XI 249, 18; He. ebd. A. 1041),
also „Täter des Wortes” (Jak 1.22).
76) Lex 28, 59; ähnlich NR 44.
77) Lex 60, 131, Grat. 507.
78) Vgl. Gal 5.6, Jak 2.17; Gru. ELKZ 1960 161.
79) S.o. 7625.
80) NR 51, Lex 136.
81) Lex 65 f., 122 ff.
82) Lex 67, 69; allg. zu den drei Grundrechten s.o.
4135 und ausführlich im Kirchenrecht 201 ff.
83) Vgl. wieder oben 53 ff. und unten 90 f. zum
„Bürger zweier Reiche”.
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Zweitens die Gleichheit; sie gilt, wie im Urständ, so auch nun wieder unter den Christen: nur einer ist ihr Herr: Christus84.
Drittens bringt das göttliche Recht das alte Lehrstück der libertas christiana zur Geltung85, also die Freiheit der Kinder Gottes, und zwar eine doppelte:
Die negative Freiheit ist die Exemtion nicht nur von der alten lex und ihrer dominatio, sondern auch vom weltlichen Recht86. Die nova lex hebt eben alles entgegenstehende Recht auf. Die positive Freiheit befreit zum Dienst am Nächsten in Gehorsam und Freude (und „erfüllt" damit zugleich den tiefsten Sinn der lex vetus).
de) Dekalog, regula aurea
Wie steht es aber mit dem, was man seit vielen Jahrhunderten und
auch im kanonischen Recht als Inhalt und Gebot der lex
naturalis aufzählt, dem Dekalog nämlich, und der regula
aurea des Schriftwortes: „Alles was ihr wollt, das euch die
Menschen tun, das tut auch ihnen”87? Was ist mit den
vielen „Weisungen”88 des Neuen Testaments? Vertragen
sie sich mit der Unteilbarkeit und Universalität des göttlichen
Gesetzes?
Die Antwort ist schon gegeben worden: nur in geistlicher Auslegung89 gemäß der lex Christi, nur im actus spiritualis können alle diese leges als „geistlich” und als göttliches Recht gelten; nur dann sind sie spiritus. Ihr Vollzug muß aus dem lebendigen Bezug zu Gott kommen, der influxus capitis muß ihn geistlich beleben90.
84) Natürlich gibt es auch im Reich Christi
Über- und Unterordnung (IZ 33) und also Ungleichheit — aber nur
zwischen Haupt und Gliedern. Davon zu unterscheiden (!) ist die
Über- und Unterordnung des gegenseitigen Dienstes, s.u. 202 f.
251.
85) Vgl. auch den gleichnamigen Traktat von G.
Seripando!, nicht nur Luthers bekannte Schrift.
86) Lex 122 f., 138,147,ZRG 1957 502, dazu oben 54 f.;
auch exemt vom Dekalog im weltlichen Verständnis, Lex 122 f. m.
A. 983, angeblich a. M. Thomas, ebd. (vgl. aber unten 120
f.).
87) Mt 7.12, Lk 6.31; außerdem Tob 4.15; zum „Decretum
Gratiani” vgl. Lex 67, Grat. 504.
88) NR 48 unter Anspielung auf Wolfs Buch; zur
„Weisung” des Dekalogs vgl. ebd. und Lex 80 (wobei aber Wolf eben
nicht den leiblich fehlinterpretierten Dekalog meint, sondern
dessen usus spiritualis)), zur „Weisung” des NT: IZ 25.
88) Lex 67, 77 A. 552, also nicht bloße Übung der
Epikie!, ebd. 85 A. 622 gegen H. Diem.
90) RuG 320 (als lex Christi); A. Auer
mißversteht leider He. (und Erik Wolf) als Schwärmer!, FS Messner
117. Zum Dekalog: Init. 19, NR 43, 46, Grat. 509 (lex
➝
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Aber außerhalb des „Lebens im Geiste” ist sogar die lex Christi bloße litera, geistlich tot91!
dd) Weltverantwortung
Die lex charitatis gibt sich nicht damit zufrieden, das
Grundgesetz im Reich Christi zu sein. Sie überschreitet jetzt
schon die Grenze zum Weltreich. Denn die Herrschaft der Liebe ist
unwiderstehlich. Sie läßt nämlich den civis Christi
aktiv am Weltregiment Gottes mitarbeiten; aus dem geistlichen
Rechtstitel der Liebe zum ungläubigen Bruder tut er sein Bestes,
um die Welt vor der Vernichtung durch den Teufel zu schützen.
Politische Abstinenz ist Ketzerei92!
Freilich gerät er dabei in eine geradezu paradoxe Lage. Es ist ihm verwehrt, der „Welt” die Verfassung des Reiches Christi gegen ihren erklärten Willen aufzuzwingen, sie zu „verchristlichen”. Darum muß er dem weltlichen Regiment gehorchen, das Gott in seiner Liebe zur Erhaltung und Bestrafung der Welt eingesetzt hat93. Der Christ gehorcht dem Recht der Welt trotz seiner Exemtion ex charitate, auf Grund und im Rahmen der lex charitatis spiritualis.
Was bedeutet es nun für den Christen, wenn er dem weltlichen Regiment „gehorcht”? Die lex charitatis gebietet ihm erstens, sich den
➝ Mosi, übersehen von P. Althaus 1965 37 A. 34),
zur regula aurea: Init. 19, NR 49, Lex 67, Grat. 504 f.
u.ö. als Gebot der Vorordnung des Wohls des Nächsten vor das
Eigenwohl; vgl. dazu auch Th. Heckel 1952; auch das suum
cuique tribuere erhält eine neue Bedeutung; es ist das
reddere, quod Deo est, d.h. sich vor Gott als Sünder
bekennen!, NR 49, Grat. 504 A. 73.
91) Init. 19 f., NR 43, Lex 56. Wenn freilich He. NR
43 darin den großen Unterschied zur Auffassung des ius
divinum in der katholischen Rechtslehre sieht, dann kann es
nicht schaden, auf den doctor angelicus Thomas von Aquin
zu verweisen (unten 120 f.). He. kann allerdings kaum ein Vorwurf
gemacht werden, vgl. A. Auer FS Messner 117 zur lex
charitatis: „diese neuartige Agape” . . .!
92) Dazu und für das folgende vgl. NR 46 ff., 50 ff.
mit Ernst Wolf, Lex 133 m. A. 1083, 160, AS 1956 48 f., WS 39, IZ
12, 15, 17, AS 65 f., Padua 333 f.; Gru. LWB 35, 64 f. A. 97
(überträgt vom einzelnen auf die Kirche!), FiLex 3 185; das ist
das „Nächstenrecht” des Christen in der Welt, Gru. FS Arnold 48
m. A. 60 in Variation des bekannten Themas von Wolf. Zum Christen
als cooperator Dei beim weltlichen Regiment vgl. Lex
161, 179 u.ö., zu unterscheiden von der cooperatio im
geistlichen Regiment, s.o. 7625.
93) NR 54, Lex 77 A. 552; es gibt keinen getauften
Staat, WS 80 f., erst recht keinen „christlichen Staat”, s.u. 168
f. Gleichwohl ist die oft gehörte Meinung falsch, der Christ
müsse bei seinem Handeln in der Welt notwendig in Sünde fallen,
ganz gleich wie er sich entscheide, denn er hat den jeden
Einzelfall erfassenden Maßstab der universal gültigen lex
spiritualis der Liebe, NR 42.
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weltlichen Gesetzen zu unterwerfen — auch den Strafgesetzen94! Zweitens fordert sie positiv, das weltliche Recht zu überbieten. Denn „auch im Reich Gottes zur Linken ist und bleibt der Christ Christ”. Den Vorrang hat das göttliche Naturgesetz95.
Diese seine Doppelstellung bringt eine erhöhte Verantwortung für das weltliche Regiment mit sich. Denn der Christ steht unter dem viel strengeren Reichsrecht des regnum Christi; der Nichtchrist dagegen handelt aus dem geringeren Rechtstitel des Zwanges des weltlichen Regiments. Daher leistet nur der Christ der Obrigkeit und dem weltlichen Recht den vollen Gehorsam aus freier Zustimmung. Darüber hinaus treibt ihn die Bruderliebe, auch weltliche Ämter anzunehmen. Dazu ist er besser befähigt als ein Nichtchrist, da nur er den verborgenen Liebeswillen Gottes im weltlichen Regiment erkennt96. Das weltliche Amt wird ihm zu einer rechten occasio fidei et charitatis exercendae. Aus Liebe übt er das weltliche Schwert, als Christ handelt er wie ein edler Heide97!
94) Zwar verliert er nicht schon durch jede
Verfehlung die geistliche Staatsbürgerschaft (s.o. 43 f.), aber
er ruft den Rechtsschein eines civis diaboli hervor (SA
IZ 474) und muß sich folglich als solcher behandeln lassen, d.h.
er wird bestraft (IZ 11, 16). Der Strafe unterwirft er sich aber
als civis Christi freiwillig, also auf Grund des
geistlichen Regiments (Lex 173).
95) Er hat also in der Tat zwei Rechte zu beachten, sein eigenes
bevorrechtigtes geistliches und das fremde weltliche (Lex 135 A.
1096, 187). Dazu bes. Gru. FS Arnold 42, insoweit mit P. Althaus
(ausführlich 1965 72-84, im Ergebnis wie He.) und ErnstWolf gegen
F. Lau (1952 28, anders KuD 1960 306 ff., RGG VI 1947 f.); vgl.
Gru. ebd. 54: Der Christ wird bei seiner „Mitwirkung an den
politischen Daseinsfragen von Volk und Staat sich nur und
ausschließlich durch die lex charitatis erga proximum
als die für sein ganzes Leben bestimmende Rechtsordnung leiten”
lassen und dabei . . . „die besondere Seinsstruktur (!) der
weltlichen Ordnungen illusionslos und nüchtern in Rechnung”
stellen (ähnlich P. Althaus ebd.). Damit kommt bei Gru. klarer,
aber sachlich mit He. übereinstimmend, der Grundsatz von CA XVI
zur Geltung, der verlangt, exercere caritatem in talibus
ordinationibus.
96) NR 46, 51 ff., Lex 49 f., 159-167, Grat. 508 f.,
IZ 47, Padua 329.
97) NR 48 f., 50 ff., Lex 133, 146 ff., 159 ff., WO
162; Gru. FiLex 3 186 f. Der zweite Halbsatz darf nicht als
Widerspruch zur ausschließlichen Geltung der lex charitatis
spiritualis für den Christen verstanden werden! — Nur in
diesem Sinne gibt es eine „christliche” Obrigkeit bei Luther,
nämlich eine weltliche, aber durch Christen ex charitate
„weltlich” ausgeübte Obrigkeit, NR 54 f., Lex 164 f., 176 ff.
Vgl. Ph. Maury 70: „Politik bedeutet für den Christen die
Gelegenheit, seinen Nächsten in konkreter Weise zu lieben, den
Leidenden zu Hilfe zu kommen und den Armen zu dienen” (zit. nach
Ernst Wolf II 228). Der Christ hat also nur insofern ein
„doppeltes Amt” als „Christperson und Weltperson” (oder
persona politica, Lex 167 A. 1330, 187 A. 1461), NR 39
f., Lex 135 A. 1096 (die h. M. setzt das mit dem „Bürger zweier
Reiche” gleich), als er in doppelter Beziehung zu Christus und
der Welt ➝
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Wenn dies alles geklärt ist, dann darf auch behauptet werden, daß der Christ indirekt ein civis „mundi” (i.w.S.) und membrum corporis politici sei: Das Nächstenrecht des corpus Christi gebietet die Beachtung des weltlichen Rechts und also, wie Grundmann zutreffend erläutert hat, die Annahme der juristischen Staatsbürgerschaft. Der Christ ist — unmittelbar und rechtstheologisch — ausschließlich Bürger des Reiches Christi, und deshalb — mittelbar und weltlich-rechtlich — ex charitate Staatsbürger, aber nie und nimmer Bürger der civitas diaboli! Diese drei Ebenen der Bürgerschaft müssen auseinandergehalten werden98.
de) Widerstandspflicht
So bestehen keine grundsätzlichen Schwierigkeiten beim
Zusammenleben der Christen mit den Nichtchristen. Um so mehr aber
praktische! Nicht nur, daß der civis Christi, vom
Gifthauch des corpus diaboli umweht, der Gefahr des
Abfalls dauernd ausgesetzt ist und also gegen sich selbst
fortwährend zu Felde ziehen muß99. Vielmehr steht er
im geistlichen Abwehrkampf gegen die cives diaboli, die
sich gegen das weltliche Regiment Gottes empören, das Amt der
Obrigkeit mißbrauchen, das weltliche Recht pervertieren und das
Reich Christi bekämpfen.
Hier greift seine geistliche und leibliche, passive und aktive Widerstandspflicht (nicht nur Widerstandsrecht!) ein mit einem reichen Instrumentarium an Maßnahmen, das sich wiederum aus der lex charitatis ergibt, sei es mittelbar oder unmittelbar100. Er ist (erstens als „Christperson”) ex lege charitatis gehalten, Unrecht zu dulden; außerdem soll er auch aktiv tätig werden, indem er den Gehorsam verweigert und Gegenvorstellungen erhebt101. Dazu kommen die Befugnisse, die ihm
➝ steht, Lex 160 f. (unrichtig also V. Vajta: der Pfarrer
sei Weltperson, Lex 161 A. 1274). E. Troeltsch hat aus dem
doppelten Amt die „doppelte Moral” Luthers gedichtet (private
„Personmoral” und öffentliche „Amtsmoral”, NR 39 f.), und R.
Niebuhr ist ihm mit vielen Früheren darin gefolgt (Lex 160 f. A.
1273a), obwohl schon K. Holl diese Behauptung widerlegt hat (Lex
160 f. A. 1273a). Der Christ hat nur eine Moral, die des Reiches
Gottes, die ihm die Teilnahme am öffentlichen Leben gebietet.
98) IZ 25-27 gegen P. Althaus, Lex 77 A. 555, 134 f.
m. A. 1093, IZ 18, ZRL 1944; Gru. FiLex 3 185, FS Arnold 49 ff.
m. A. 63 und ausführlich A. 66.
99) Lex 131 f. (simul peccator . . .).
100) Da die Widerstandspflicht aus der Unterscheidung
der beiden Reiche erfließt, die selbst iuris divini ist (WS 38
u.ö.), so folgt, daß auch sie — als Umkehrung —iuris
divini ist, ZRG 1956 531 f.
101) Als Ausübung geistlicher Gerichtsbarkeit iure
divino!, NR 52 ff., WO 158 ff., denn homo spiritualis
iudicat omnia, s.u. 156 f. Teilweise anders aber Lex 188 f.;
vgl. Ernst Wolf ZevKR 1955 240 „von Widersprüchen nicht
frei”.
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(zweitens als „Weltperson”) die lex charitatis aus dem geschriebenen oder ungeschriebenen weltlichen Recht einräumt, und zwar auch gegen Rechtsbrecher im Amt. Schließlich hat Luther eine wichtige und eigenständige Lehre von den drei Arten des Tyrannen entwickelt102. Die Widerstandspflicht ist die geistliche Kehrseite der geistlich begründeten, aber „weltlich” ausgeübten Weltverantwortung der Christen.
Unversehens hat hier die rechtliche Betrachtungsweise einen Beitrag zum umstrittenen Thema des „Bürgers zweier Reiche” geliefert. Sie kann glaubhaft machen, daß die ausschließliche Bürgerschaft im Reich Christi sich aufs beste verträgt mit der christlichen Verantwortung für die Welt, ja sie sogar mit großer Eindringlichkeit verlangt103.
Dem gebildeten Juristen mag all dies recht plausibel klingen; aber eines will ihm nicht einleuchten: warum nämlich in einem fort so selbstverständlich Natur„gesetz” und Natur„recht” vertauscht werden, wieso vor allem eine lex „ius” genannt werden kann104, die „Geist ist, nichts als Geist”. Er kann ein Unbehagen nicht unterdrücken, wenn nun auf einmal etwas so Ungreifbares und Unpraktikables in sein Metier gehören soll, wie die lex spiritualis, von der nicht einmal die Theologen etwas wissen wollen105. Ist Recht nicht das Nüchternste von der Welt? Wie kommt man dazu, die Gnade Gottes, die rechtfertigt und zur Gottes- und Nächstenliebe befähigt, als Recht zu bezeichnen?
Ganz abgesehen von den Bedenken des lutherischen Theologen, der gewohnt ist, nur von der abrogatio legis scil. Veteris Testamenti zu predigen und sich Recht nicht anders denn als „nötiges Gesetz” vorstellen
102) Das Widerstandsrecht entspricht der
zentralen Bedeutung des Kampfes der beiden Reiche. He. hat keine
Mühe gescheut, es zu klären; vgl. NR 51, 53 f., Lex 140, 148 ff.,
154-159, 165 ff., 180, 184 ff., WO 163 ff., WS 39 ff., Padua 321
f., 333 f.; Gru. FiLex 3 186 f., FS Arnold 49. Zu den Drei
Tyrannen und zum gewaltsamen Widerstand s.u. 16719.
Die verbreitete „Obrigkeitsgläubigkeit und Staatsunterwürfigkeit”
kann sich also nicht mit Luther exkulpieren, Gru. FiLex 3 185 f.
u.ö.; zu P. Althaus IZ 20 A. 57.
103) NR 52 f., IZ 16 f., 29 u. ö.; vgl. NR 39-41 über
drei abweichende Lutherdeutungen: die der „doppelten Moral” (s.
oben 90 97), des Liebesamts (W. Elert, H. Thielicke), der
„Versittlichung” der Ordnungen (K. Holl).
104) Init. 21 A. 78 gegen O. Scheel; vgl. auch Lex 67
ius et lex charitatis, ebd. 166 christliches Recht; zu
Naturgesetz = Naturrecht s.o. 698.
105) NR 36 f., 42; E. Ruppel ZevKR 1957/58 285
ff.
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mag, das im schroffen Gegensatz zur Gnade des Evangeliums steht: Obwaltet hier nicht eine „Vergesetzlichung der Liebe” großen Stils106?
Oder ist es gar ein bloßes Wortspiel? Hat man etwa Sohms „pneumatische Ordnung” unter der Hand „ius” divinum getauft — ohne jede Änderung in der Sache107?
Zwei Auswege scheinen sich anzubieten: Entweder ist die lex charitatis spiritualis kein echtes Recht, sondern bloße Moral oder „Religion”; so hatte man noch im 19. Jahrhundert argumentiert108. Oder man weist entschuldigend darauf hin, daß es sich eben nur um einen „mittelalterlichen Rechtsbegriff” handle — was zwar richtig, aber doch keine zeitgemäße Antwort ist. Denn es muß ja heute auch noch Recht sein, — sonst schiede zumindest ein beträchtlicher Teil des Kirchenrechts aus der juristischen Fakultät aus109!
Was sagt Heckel dazu?
Vorweg kann ohne nähere Prüfung behauptet werden, daß Luther auch in seinen rechtlichen Aussagen meist nicht „bildlich” redet, sondern präzise, wie es sich für einen mittelalterlichen Theologen vom Range Luthers geziemt110. Sodann ist zu bestimmen, in welchem Sinne von lex und lex Christi gesprochen wird, denn hier liegen gerade im Gespräch zwischen Juristen und Theologen die Mißverständnisse schon bereit. Erst dann ist nach dem Rechtscharakter einer solchen lex zu fragen.
Gesetz bzw. lex hat bei Heckel drei Bedeutungen111. Sie ergeben sich aus der Zweireichelehre und dem Unterschied zwischen theologischer und juristischer Betrachtungsweise.
106) Dieser Vorwurf ist tatsächlich nicht
ausgeblieben, Gru. ZRG 1964 XXIII, ZevKR 1964/65 17.
107) Gru. selbst stellt diese Fragen mit großem Ernst
ZevKR 1962/63 305, ZRG 1964 485 f.; ferner ZRG 1964 XXIV f.;
ähnlich K. Hesse 367, E. Ruppel ZevKR 1957/58 285 ff. u.a.
108) Vgl. zu F.J. Stahls „ius” divinum: ZRG
1956 513 f.
109) Freilich wäre zu bemerken, daß sich die
Fakultätsgrenzen nach dem Gegenstand des Faches zu richten haben,
und nicht umgekehrt! Doch ist diese Selbstverständlichkeit für
das Kirchenrecht nicht allseits anerkannt.
110) RuG 292.
111) K. Haendler LM 1964 561 glaubt dagegen an eine
völlige Eindeutigkeit bei Luther. — Wenn Gru. von „Gesetz”
spricht, dann ist meist der (theologische) Zwangscharakter des
weltlichen Rechts gemeint. Er legt dabei den theologischen
Gesetzesbegriff zugrunde, ohne, wie He. es tut (10432), die
Freiwilligkeitsseite hervorzuheben (vgl. ELKZ 1960 162, ZevKR
1961/62 335, FS Arnold 48 u.ö.).
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Lex heißt erstens der göttliche Rechtswille, sofern er sich im Christusreich in der lex naturalis kundtut. Das ist der gemeinmittelalterliche, „naturrechtliche” Begriff der lex112, nur in „augustinischer” Nähe zur lex spiritus des Neuen Testaments (Röm 8.2).
Lex heißt zweitens die menschliche Fehlinterpretation des göttlichen Rechtswillens im Weltreich, wie sie sich in der alttestamentlichen lex und in anderen menschlichen Satzungen gezeigt hat. Das ist der (evangelisch-) „theologische” Gesetzesbegriff, orientiert am Gegensatz von „Gesetz und Evangelium”.
Lex ist drittens das Gesetz im rechtstechnischen Sinn. Es ist „rechtstheologisch wertneutral”113.
Ist also die lex spiritualis sive divina ein „Gesetz”? Es kommt darauf an, welche der drei Bedeutungen man zugrunde legt. Im ersten (mittelalterlich-naturrechtlichen) Sinn ist sie es; denn lex divina und lex naturalis spiritualis setzt Luther gleich. Im zweiten („theologischen”) Sinn ist sie es nicht; sie ist vielmehr das Gegenteil der lex vetus. Das göttliche Gesetz macht lebendig, das Gesetz Mosis tötet. Auch ein juristisches Gesetz ist sie nicht114, weder formell, denn Gott hat das menschliche Gesetzgebungsverfahren nicht beachtet, noch materiell, denn diese universale lex kennt nicht den Unterschied von Rechtssatz und Einzelfall.
Weil sie gleichwohl für den Menschen Recht setzt, ist sie zwar lex, aber nur im analogen Sinn, nämlich verglichen sowohl mit der alttestamentlichen als auch mit der juristischen lex. Heckel nennt sie eine lex sine lege. Von Gott aus gesehen ist sie jedoch die eigentliche und vorbildliche lex, von der jedes menschliche Gesetz nur ein „schwaches Abbild” sein kann115.
112) Lex steht hier außerdem im Unterschied zum
„ius” divinum positivum, s.u. 96 ff. — Zum
mittelalterlich-naturrechtlichen Gesetzesbegriff (lex quia
ligat) vgl. O. Lottin, W. Steinmüller 319.
113) Gru. ZRG 1964 XXV; allg. zum Gesetz als
juristischen und theologischen Begriff vgl. ZevKR 1961/62 332
ff.
114) ZRG 1958 533 f.
115) RuG 318, NR 49, Lex 62 f., ZRG 1957 502. (In RuG
316 f. ist die lex Christi dagegen nur „lex im
uneigentlichen Sinn”, übrigens ebenso G. Söhngen 1962 95 gegen
1957 61, 102 ff.). Zur Gefährlichkeit der Analogie von unten nach
oben vgl. RuG 318, Lex 50 f.; zur Analogie überhaupt s. u. 437
ff. Analog heißt hier Ähnlichkeit in je größerer Unähnlichkeit.
Die Ähnlichkeit besteht in Verbindlichkeit und Geltung; die
Unähnlichkeit in dem Wesensunterschied zwischen göttlichem und
menschlichem Gesetz und Recht.
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Wenn also Gott der eigentliche Gesetzgeber ist, kann dann noch Christus mit Recht als legislator bezeichnet werden, wie es Luther (und mit ihm das Tridentinum) tut116?
Gott hat Christus zum authentischen Interpretator des Urstandsrechtes eingesetzt. Authentische Interpretation ist allein Sache des Gesetzgebers. Funktionell (juristisch: formell) ist Christus also legislator. Materiell hat er jedoch nichts Neues gebracht, sondern nur den verlorengegangenen geistlichen Sinn des Naturgesetzes restituiert. Insofern ist Christus, damit vertritt Heckel ein reformatorisches Anliegen, kein Gesetzgeber und die lex Christi nur „die göttliche Predigt vom göttlichen Sinn des göttlichen Gesetzes”117. Der Jurist Heckel weiß einen dritten Gesichtspunkt nachzutragen: Vom Menschen aus erscheint Christus auch materiell als Gesetzgeber. Denn seine lex verändert die trostlose Rechtslage; der homo peccator wird mit konstitutiver Wirkung gerecht erklärt118.
Wenn also die lex spiritualis nur analog Gesetz genannt werden darf, wie ist es um ihre Rechtsqualität bestellt? Ist sie Recht, und wenn ja, aus welchem Grunde?
Hier gilt die klare Auskunft: Die lex spiritualis ist Recht. Sie ist es deshalb, weil sie geistlich und rechtlich verbindlich ist119, denn sie bindet ihre Adressaten. Der Grund der Bindung liegt im Willen Gottes. Gott will, daß sie Recht ist. Mit dieser im Grunde positivistisch-voluntaristischen
116) Lex 117 f., 120, 123 m. A. 930, 932, 960,
984 und oben 81 f. Deshalb heißt die lex Christi in Init. 19
sogar lex divina „positiva”, — aber nicht zu verwechseln
mit dem ius divinum positivum des Institutionenrechts
(unten 96 ff.).
117) NR 45 f., Regim. 261, ZRG 1957 502, Lex 64 A.
437, 124 f., Gru. LWB 60 f. Von daher erklärt sich ein auffallend
„intellektualistisches” Element des Gesetzes: es ist (auch)
doctrina, RuG 317, Lex 63 A. 436, 117 A. 931, und
Christus, der doctor totius mundi, ebd. 118. Ähnlich für
das atl. Gesetz RuG 324.
118) Lex 124 f. Zur Kirchenstiftung Christi
legislatoris — vierter Gesichtspunkt — s.u. 178 f.
119) RuG 304, Lex 50. (Der Zusammenhang von
ius und iustitia [RuG 305] ist gut beobachtet,
hat aber weder mit dem „mächtig erwachenden
Persönlichkeitsgefühl” noch mit der „deutschen Eigenart des
Reformators” irgend etwas zu tun; vgl. viel mehr das ständige
scholastische Axiom ius sive iustum [vgl. Thomas STh
II/2 q 57 a 2 corp]. Diese Spekulation kehrt auch später nicht
wieder.) Übrigens bejaht auch L. Buisson die Rechtsqualität des
ius caritatis Augustins (22 ff., 31, 37 ff.).
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Antwort120 gibt sich Heckel natürlich nicht zufrieden. Worin besteht diese Bindung, und wie stark ist sie?
Die Bindung ist „ontologisch”, besser personhaft. Sie besteht in der Christiformitas voluntatis, im tätig im Herzen wirkenden Wort Gottes, im Treueverhältnis, das Gott begründet hat121.
Ist deshalb die Freiheit ausgeschlossen? Handelt es sich um einen zwangshaften Ablauf, der den Menschen zur Marionette in der Hand Gottes macht, und damit letzten Endes doch um ein theologisches „Gesetz”?
Im Gegenteil! Ist es doch die lex libertatis, das Gesetz, das frei macht. Es ist ein Gesetz, das völlig auf dem freiwilligen Gehorsam des Christen beruht, das keine (subjektiven) Rechte und Ansprüche kennt122, erst recht keine „Norm” im weltlichen Sinn ist, die der Positivierung bedarf. Darin besteht gerade der Unterschied zum weltlichen Recht, dem der Zwang zu eigen ist. Es ist ein Gehorsam des Herzens; nicht äußerlicher Legalität, sed „hilariter et cum amore”123.
Die lex charitatis spiritualis „gilt” deshalb nur, wo sie anerkannt wird. Das Kriterium des Rechts ist die Anerkennung durch die Rechtsgemeinschaft124.
Ist dies also nur ein Rat, kein verbindliches Gebot, sondern letztlich unverbindliche Mahnung? Auch dies wäre falsch. Wie kann ein Wort Gottes unverbindlich sein! Dieses Recht kennt kein ὡς μή — ein Gehorchen, als gehorchte man nicht125. Es legt sich vielmehr unbedingte Geltung zu. Das folgt aus der unteilbaren Gehorsamspflicht gegenüber dem Haupt; jedes Zaudern liefe zuletzt auf geistlichen Tod und Abfall zum Teufelsreich hinaus. Weil es ganz Gottes Werk am Menschen ist, bedarf seine Verbindlichkeit keiner menschlichen Bekräftigung oder Sanktion (was nicht heißen soll, daß es überhaupt keine Sanktion
120) S.o. 74 f. 77 f.
121) Lex 62.
122) NR 51 mit E. Brunner, Lex 136. Gemeint sind aber
Ansprüche i.S. des weltlichen Rechts. Denn He. spricht selbst (in
Anlehnung an das kanonische Recht?) von „Anspruch auf die
Teilnahme an den Sakramenten”, Lex 142 A. 1152, kennt also
Ansprüche menschlichen Kirchenrechts.
123) RuG 321, NR 44, Lex 56, 61 f., Grat. 507, WS 37;
z.B. WA IV 69,28; ähnlich WA VI 444,30 in freyer liebe.
124) RuG 308 f., Lex 50, 65, IZ 47. Zur
Rechtsgemeinschaft als Trägerin des Rechts RuG 298, 308 f. Daß
He. die Anerkennung zum Kriterium des Rechts macht, dürfte auf
der zentralen Bedeutung der caritas beruhen! Vgl. Init.
65 (für das autonome Kirchenrecht): Caritas, non auctoritas
facit ius.
125) Lex 61; vgl. ZRG 1957 502 f.; Gru. ZevKR 1959/60
46 ff.
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kenne, nämlich die göttliche!126). Damit ruht der letzte Grund seiner Verbindlichkeit im Glauben. Es ist ein „glaubensverbindliches” Recht — für Luther „ganz selbstverständlich”127!
Damit ist es sogar das eigentliche Recht, mit dem verglichen jedes andere Recht nur noch im Gegensatz ausgesagt werden kann. In Gesetzgeber, Verbindlichkeit, Ausübung und Wirkung ist es einzigartig. Es ist keine oberste norma normans, sondern von jedem anderen Recht wesensverschieden. Es ist kein innerweltlicher, sondern ein theologischer Rechtsbegriff128. Mit einem (theologischen) Wort: Es ist „Evangelium”, nicht „Gesetz”.
Zugleich ist es das vorbildliche Recht. Denn in ihm wird das göttliche Wesen des Rechts kundgetan. Alles Recht ist nur ein „schlechtes Abbild”; es kann nur insoweit Recht geheißen werden, als es — wenn auch entfernt und verborgen — am göttlichen Recht teilhat, das man aus der Predigt des Evangeliums erfährt. „Wenn wir uns über das Wesen des Rechts Klarheit verschaffen wollen, so dürfen wir nicht beim Reich der Welt einsetzen, sondern wir müssen umgekehrt das Reich Christi zum Ausgangspunkt nehmen”129.
Das Ergebnis: Das göttliche, geistliche Gesetz ist juristisches Gesetz und Recht im eminenten, aber analogen Sinn: „,Recht’ ist nicht nur das von Menschen geschaffene Recht, sondern Recht ist vor allem auch das von Gott gesetzte Recht”130.
Nicht Gesetz, nur Recht ist die zweite Art des göttlichen Rechts: das ius divinum positivum.
Heckel glückt ein großer Fund. Er entdeckt bei Luthers Urstandsrecht eine zweite Art: das institutionelle Recht. Es ist das positive göttliche Recht131, nämlich die Stiftung von Kirche und Ehe im Paradies.
126) IZ 48.
127) Lex 21.
128) NR 35, 37, Lex 50 f., 182.
129) NR 49, Lex 73; Gru. LWB 56, ZevKR 1964/65 17 „. .
. ist Rechtsordnung par excellence”.
130) Gru. LR 1964 220.
131) Lex 56 A. 372, 68 A. 469 mit Hinweisen auf G.
Biel einerseits, Thomas von Aquin und Turrecremata andererseits.
Einem damals verbreiteten Sprachgebrauch folgend bezeichnet
Luther nur das menschliche als „positives” Recht (anders noch
➝
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Natürliches und positives göttliches Recht, Gebot und Institution bilden zusammen die göttliche Weltordnung. Sie sind die „komplementären”, einander zu einer Einheit vervollständigenden Bruchteile des göttlichen Rechts132.
Das göttliche Institutionenrecht unterscheidet sich vom göttlichen Naturgesetz in formeller und133 materieller Hinsicht: in der Weise der Kundgabe des göttlichen Rechtswillens und im Wesen.
Gott hat das institutionelle Recht nicht mit der Erschaffung dem Menschen ins Herz gepflanzt, sondern es im Paradies Adam auferlegt. Es ist nicht lex, sondern institutio134, Setzung, Einsetzung.
Ferner handelt es sich nicht um Gebote für den Einzelmenschen, wie bei der lex spiritualis charitatis, sondern um „Ordnungsformen (Institutionen) des geistlichen Gemeinlebens selbst”, um „Rechtseinrichtungen”. Der Adressat der Institution ist die Rechtsgemeinschaft, der der lex charitatis der einzelne135.
Der Adressat ist aber ein anderer, weil auch das Wesen des Institutionenrechts andersartig ist. Zwar „gibt” auch die „lex” spiritualis erst, was sie gebietet — den Geist; dennoch ist sie vor allem Gebot. Hier aber steht die Gabe im Vordergrund, wenn auch daraus der Trieb der
➝ RuG 338: „positiv” sei auch die lex divina;
abgeschwädit Lex 55; vgl. noch oben 94116). Das
ius divinum positivum wird hier auch göttliches
Institutionenrecht genannt, als Gegenbildung zum menschlichen
Institutionenrecht („institutionelles menschliches Naturrecht”,
Lex 99 ff.).
132) „Gebot und Institution sind also die beiden einander
ergänzenden und sich zum Ganzen der geistlichen Rechtsordnung
gestaltenden Erscheinungsformen des göttlichen Rechts i.w.S.”,
Lex 69 f.; Gru. LWB 60. — He. verwendet „komplementär” in anderem
Kontext Init. 82 A. 347, 119. — Ihre Einheit wird erst im „Kreuz”
von „vertikaler” Stiftung und „horizontaler” Liebe im
Kirchenrecht ganz sichtbar werden (s.u. 1955, wobei
sich aber die lex spir. zur lex charitatis
i.e.S. verengt).
133) Anders He. Init. 19: nur in der Promulgation;
vgl. aber ebd. 23 f.
134) Lex 120 A. 959. — In RuG 304 ist der Unterschied
bereits erkannt und bezeichnet: nicht lex, sondern
„organisatorische Ordnung”; das nächste Stadium ist in Init. 23
f., SA Init. 476 f. erreicht: „lex” divina ist das
„personalistische" göttliche Recht des einzelnen im Gebot der
Gottes- und Nächstenliebe; „ius” divinum dagegen beziehe
sich auf das institutionelle (d.h. das Gemeinschafts-)Leben der
Christen; in Lex 55, 57 A. 373 verschwindet die mißverständliche
Gegenüberstellung von lex und ius, anscheinend
auf die Bedenken Ernst Wolfs hin (ZevKR 1951 105).
135) Init. 23 f., Lex 68 f. Hier besteht eine Spannung
zum Kirchenrecht. Dort regelt die lex charitatis
spiritualis (i.e.S.!) gerade das Gemeinschaftsleben, während
die lex divina positiva die Institutionen dieser
Gemeinschaft bereitstellt.
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Natur folgt, dem in der Institution liegenden Wink Gottes nachzufolgen; das ius divinum positivum ist primär ordinatio et institutio divina136.
Die Betonung der Eigenart des göttlichen Institutionenrechts ist aber zu ergänzen durch den Hinweis auf seine Gleichartigkeit. Denn es fällt unter den Oberbegriff ius divinum i.w.S. Daraus folgt zunächst, daß es trotz seiner Eigenart Rechtsqualität besitzt.
Wenn lex und institutio divina wesensverschieden sind und zugleich innerlich als ius divinum zusammengehören, dann liegt es nahe, auf einen zwar zweifachen aber innerlich verbundenen, also auf einen „dialektischen” Rechtsbegriff zu schließen. Heckel hat diese Folgerung aber nur angedeutet137.
Außerdem kann es zu recht ius spirituale genannt werden, wie die lex spiritualis. Denn nur im usus spiritualis iuris ist es Recht138. Schließlich teilt es die Eigenschaften der lex naturalis insoweit, als es christologisch bestimmt, vollkommen, ewig und unveränderlich ist139.
Im Paradies bedurfte es nur zweier Institutionen, um das menschliche Gemeinschaftsleben vollständig zu gestalten; Gott stiftete für den Gottesbezug die Kirche140, für das Verhältnis der Geschlechter die Ehe141.
136) Lex 68 f. m. A. 476.
137) Init. 19 und Analogieschluß zum ius divinum
positivum der Kirche, s.u. 178 ff.
138) Lex 68 f.
139) Diese Schlußfolgerungen ergeben sich aus dem
System, nicht aus den Einzeläußerungen He.s; sie ausdrücklich zu
ziehen, bestand für He. wohl kein Anlaß. Für die christologische
Auslegung vgl. Init. 19.
140) Lex 68 f., 119; Gru. LWB 526. Im weiteren Sinn
ist auch der Staat (politia) und die Obrigkeit
„Institution”, NR 55, WO 164, IZ 17, AS 65 f. Von Christus
stammen weitere Institutionen: das Amt, die Sakramente (und wohl
das Wort!). Dazu s.u. 178 ff.
141) In SA Lex 318 sogar ein eigener Rechtskreis neben
politia und ecclesia!, in WO 167, IZ 20 als die
dritte Erzgewalt und das dritte, das Hausregiment — ein Anklang
an die Dreiständelehre!; aber das darf nicht zu sehr betont
werden, damit nicht die Regimentenlehre gesprengt wird. Dazu
ausführlich Lex 99 ff., 144 ff.; diese hochbedeutsamen
Ausführungen können leider nicht näher wiedergegeben werden; vgl.
noch unten 112 ff.
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Was ist hier unter Kirche und Ehe verstanden? Die ecclesia umfaßt den cultus Dei, das ist die Pflege des inneren und (!) äußeren auf Gott ausgerichteten Gemeinschaftslebens. Mit Rücksicht auf diesen erhabenen Zweck ist deshalb die Ehe erst nach der Kirche instituiert.
Die Ehe oder besser oeconomia ist die Familiengemeinschaft, die in inniger Liebe zugleich auf Gott bezogen ist und dadurch zum seminarium ecclesiae142 wird.
Diese umfassende Sicht der beiden Gemeinschaftsformen erklärt, warum es im Urständ keines Staates bedurfte143.
Gemäß dem Rechtsdualismus Luthers hat auch das Reich der Welt eine besondere Rechtsordnung. Sie ist das Gegenstück zum Recht des Reiches Christi. Wie dieses besteht es aus zwei Stücken, nämlich dem „weltlichen Naturrecht” und dem „institutionellen Naturrecht” (unten a, b). Dazu kommt noch das positive menschliche Recht des Reiches der Welt (c).
Das weltliche Naturrecht trägt — wie alles weltliche Recht — das Janusgesicht der „Welt”: es ist Frucht der Sünde und Mittel des weltlichen Regiments Gottes. Daraus erklären sich sowohl Entstehung (a 1) wie Eigenart und Inhalt (a 2, a 3). Darüber hinaus steht es in einem verborgenen Bezug zum geistlichen Gesetz (a 4).
Es versteht sich nicht von selbst, daß das Reich der Welt rechtlich geordnet ist. Denn das geistliche Recht gilt in ihm nicht, und ein eigenes vermag es nicht zu schaffen. Es lebt vielmehr aus geborgtem Recht.
Aber wie ist es möglich, daß das geistliche Recht nicht gilt? Sollte es Schranken geben für den göttlichen Rechtswillen, für das universale
142) Lex 107 A. 824, 145; vgl. für Calvin und
K. Barth: Wolf OdK 156 A. 5.
143) Lex 68 f.
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göttliche Naturgesetz? Das kann nicht sein. Und in der Tat, die lex spiritualis ist auch im Reich der Welt gegenwärtig. Doch der civis diaboli erkennt sie nicht, weil er geistlich blind ist. Also anerkennt und achtet er sie auch nicht, sondern verachtet sie.
Man vergegenwärtige sich: Recht „gilt” nur, wenn es anerkannt wird. Die unausweichliche Schlußfolgerung lautet: Im Reich der Welt genießt die lex spiritualis keine Rechtsqualität. Sie ist durch Nichtanerkennung derogiert1.
Wenn nun das göttliche Naturgesetz in der civitas diaboli nichts gilt, welches ist seine eigene Ordnung? Zunächst: gibt es ein Recht, das vom Haupt dieses Reichs, dem princeps mundi ausgeht? Findet man entgegengesetzt der lex Christi eine lex diaboli?
Das ist nicht möglich, aus zwei Gründen. Der erste: Das „Recht” des Teufels ist Unrecht; von ihm kann keine lex ausgehen, sondern nur corruptio legis. Er schafft nicht Recht, sondern zerstört es2. Was er tut, ist vom Kampf gegen das Gottesreich bestimmt: Unter dem Regiment des Teufels verkommt die lex charitatis durch Selbstsucht bis zum Verbrechen3, die drei Grundrechte schlagen um in das dreifache „Gegenrecht”4 des Egoismus, der Ungleichheit und der Unfreiheit5, bis schließlich auch rechtlich das gräßliche Zerrbild des Christusreichs entstanden ist6.
1) Lex 46 f., 49 f., 134, Grat. 510. Vgl. aber
die eschatologische Geltung der lex spiritualis!, oben
70 f. 82 ff.
2) IZ 47; Gru. ZevKR 1957/58 281.
3) S.o. 43.
4) In anderem Sinn als das „menschliche Gegengesetz”,
RuG 309 (d.h. das weltliche Recht).
5) Lex 36 f., 40 (dazu nächste A.). Bei den drei
Gegen-Grundrechten gehen bei He. lex diaboli und lex
„corrupta” ineinander über; in WS 36 wohl stillschweigend
berichtigt, weil He. inzwischen (IZ 14) des Doppelsinns von
„Reich” der Welt gewahr wurde (s.o. 52).
6) IZ 20, 47, WS 36 das oberste Gegengebot des
Teufels, die Grenzen zwischen den beiden Reichen zu verwischen,
also die Grundprinzipien der „Welt” auf das Reich Christi zu
übertragen (z.B. weltliche Obrigkeit mit Zwangsgewalt als
„geistliche” Hierarchie!), ferner das geistliche Recht
nachzuäffen („Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit” — verkehrte
Reihenfolge! — He.s Kommentar auf den bekannten Schlachtruf?!);
schließlich jedem göttlichen Gebot, Brauch oder jeder Institution
ein Widergebot, einen Mißbrauch oder eine Gegenorganisation
entgegenzustellen, IZ 20. (Luther fand eine ganze Sammlung
solcher „Gegen-Rechtssätze” im kanonischen Recht seiner Zeit
angehäuft!, vgl. KuK 273 ff.)
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Der zweite Grund: was „Recht” heißt, kommt von Gott; Recht ist ja Anteil an der göttlichen Liebe7.
Es gibt also keine Ordnung dieses Reiches, die von seinem Haupt geschaffen wäre.
Hat dieses Reich nun überhaupt keine Ordnung, wenn sein Haupt keine schaffen konnte? Nun muß man zur Anthropologie und den beiden Reichen noch die Regimente hinzunehmen: Der Ursprung des Rechts des Reiches der Welt liegt im göttlichen Naturgesetz!
Die civitas diaboli hat kein eigenes Recht. Ihr Recht ist geborgt. Es ist das Naturrecht, und zwar das „weltliche” oder „menschliche” Naturrecht8.
Die Rechtsformel seiner Entstehung lautet: Aus dem göttlichen Naturgesetz entspringt durch infralapsarische Auslegung des „natürlichen” Menschen das weltliche Naturrecht9.
Wie kann das möglich sein? Ist doch die Natur des Menschen total verderbt! So denken viele, ja fast alle10. Aber diese Prämisse trifft nicht zu. Die natura humana ist zwar total verderbt, aber eben nur im Bezug zu Gott, wie schon gezeigt wurde. Ihre Beziehung zur Schöpfung bleibt erhalten; aber durch die Sünde hat alles eine falsche Richtung genommen11. So entsteht aus dem geistlichen Naturgesetz das weltliche Naturrecht.
Nun wiederholt sich die theologische Anthropologie in juristischem Gewände12. Das göttliche Recht war zwar mit der Erschaffung des Menschen für die ganze Menschheit erlassen worden13. Aber durch die Erbsünde hat der Mensch das geistliche Recht gebrochen und die personhafte Verbindung mit Gott zerstört. Zwar bleibt die lex naturalis dem
7) S.o. 77 f.
8) S.o. 69 f.8.
9) NR 47, Lex 75 (ähnlich NR 48 zum Dekalog); Gru. LWB
60, ZevKR 1961/62 335.
10) Lex 48 f. nennt E. Brunner, H. Steubing, G.
Törnvall, A. Köttgen, H. Thielicke; Luther habe das Naturrecht
durch den Berufsgedanken ersetzt: G. Wünsch 137, dagegen Lex 67
A. 464, 161 f.; K. Holl, WO 157. Auch He. zunächst!, RuG 333.
Ausnahmen: H. Coing, F. X. Arnold u.a.
11) S.o. 29 ff.
12) Dazu NR 44-50, Lex 33 A. 157, 70, 88, Grat. 510,
WS 37, Padua 329.
13) S.o. 69 ff. 84.
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Herzen eingeprägt14 und mit ihr der angeborene Rechtssinn15; aber mit dem Gottesbezug geht ihr geistlicher Sinn verloren. Der Ungläubige weiß nichts mehr von seiner verborgenen Ausrichtung auf Gottes Gebot16. Weil das Herz vom Teufel okkupiert ist, wird das geistliche Verständnis weder durch Moses17 noch durch Christi Predigt wiederhergestellt. Vielmehr versteht der Mensch, vom Teufel angestiftet, die lex naturalis spiritualis nur noch „leiblich”, d.h. falsch. Dadurch mißrät auch der rechtliche Nächstenbezug. Alles wird verfälscht und vergröbert. Das letzte Ziel ist nicht mehr Gott, sondern der Mensch.
Wegen dieser Gesetzesblindheit hat Gott das weltliche Naturrecht der sündigen Menschheit eher als Aufgabe denn als Gabe verliehen; es ist ihr zu vertieftem Nachdenken anvertraut. Bestenfalls resultiert daraus ein „humanitäres” weltliches Naturrecht, das dennoch weit hinter dem geistlichen Recht zurückbleibt18.
Man kann also zusammenfassen:
Das weltliche Naturrecht ist nichts anderes als das leibliche
Mißverständnis des geistlichen Naturgesetzes durch die cives
mundi, die „weltliche” Auslegung des geistlichen
Rechts19.
Die doppelte Herkunft aus der Sünde und dem geistlichen Urstandsgesetz erklärt die Eigenart des weltlichen Naturrechts.
Sein Wesen ist dadurch bestimmt, daß es des christlichen Reichsgesetzes Widerspiel ist20. Darin macht sich der influxus diaboli geltend.
14) NR 44, 47, Lex 72 f., WS 80, Padua 329,
aber nur als lex spiritualis latens, s.u. 108 ff.
15) Zur Synderesis s.o. 28 f.10; vgl. auch Calvins
sémence de droiture und die principes d’équité
(Wolf Calv. 22 ff., OdK 473).
16) Zur conscientia als anthropologischer
Ausdruck der Ausrichtung auf die lex aeterna vgl. RuG
336 f., Lex 73, 134, 177, mit Hinweis auf Ernst Wolf I 81 ff.
(Vom Problem des Gewissens in reformatorischer Sicht). Zur
conscientia errans ergänzt Lex 132 f. H. Welzels Schrift
Vom irrenden Gewissen.
17) NR 45 f., Lex 113 ff.; Begründung unten 105
ff.
18) WO 158, 162, WS 35, ZRL 1940; IZ 47
„Inkongruenz”.
19) Grat. 510, WS 80, Padua 329 — woraus nach He.
folgt, daß es kein christliches Naturrecht geben kann, wohl aber
eine christliche Lehre darüber!, Lex 78 A. 561 mit Ernst Wolf. Es
ist eher der „heyden, türcken und Juden” Recht, ebd. 78 (wohl
aber gibt es ein christliches, nämlich das göttliche,
Naturgesetz!, s.o. 8467).
20) Lex 71, WS 80.
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In allem entpuppt es sich als eine rechte lex saeculi und lex exterior der natura corrupta oder, wie Heckel nicht ohne Spott sagt, der „sittlichen Persönlichkeit”21.
Zugleich ist es des Weltreichs Standesrecht, seine gottgegebene22 Verfassung, seine überpositive, ewig gültige und unmittelbar verbindliche Grundordnung23. Hier zeigt es sich als das Werkzeug des weltlichen Regiments Gottes24.
Beides zusammen ist das „zwiegesichtige Gepräge”25 der Welt im Spiegelbild des Rechts.
Dem paßt sich die Darstellungsweise Heckels an. Er bedient sich — mit Luther — einer höchst „kontrastierenden Betrachtungsweise”26 mit scharfen Gegensätzen, die einander auszuschließen scheinen. Weil es sich um das Recht der Sünde handelt, schilt er es hart „ein Bettelwerk”; und weil es zum geistlichen Tod führt, eine „düstere lex mortua in regione mortuorum”.
Da es aber genauso das Instrument des verborgen wirkenden göttlichen Liebes willens ist, schätzt er es aufs höchste als ein „edles Kleinod” und ein „hohes sittliches Gut”27.
Aber insgesamt ist es doch weit von Gott abgerückt28. Seine Gottesferne und die dadurch bedingte Unzulänglichkeit sind darum seine wichtigsten Charakteristika. Sie drücken dem Gesetzgebungsverfahren den Stempel auf, prägen aber ebenso seine Wirkungen, Gebote und Eigenschaften. Selbst im zugrunde liegenden Rechtsbegriff läßt sich ihre Spur verfolgen.
Noch ehe überhaupt das Gesetzgebungsverfahren beginnt, schiebt sich schon das eigenmächtige liberum arbitrium zwischen Gott und Recht. Der irregeleitete Mensch glaubt die Wahl zu haben, ob er das
21) NR 43, 46, Lex 56, 60 f.; vgl. auch Goethes
„Christentum der Gesinnung und der Tat”, das He. (mit Recht)
kurzerhand ins Weltreich verweist, Lex 78 m. A. 562.
22) NR 47 A. 1, Lex 73 A. 516 gegen H.H. Walz.
23) NR 37, 48, 50, Lex 71 f., 80, 122, 125 A. 1007,
127.
24) Lex 122 f.
25) Lex 90, 97.
26) Lex 50 f., 63.
27) NR 43 f., 48, Lex 46, 56, 75 f., 97, Padua 329,
ZRL 1940; a. M. G. Wünsch 541.
28) Cauda legis, Lex 96 A. 720.
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Naturrecht anerkennen will oder nicht. Bejaht er es, so muß er sich des trügerischen Lichtes der ratio als Mittel der Gesetzgebung bedienen. Denn als „Herrscherin der Welt” ist sie zur Rechtserkenntnis unentbehrlich. Dabei verführt die Hure Vernunft die geschwächte menschliche Natur, auf das Geschöpf statt auf den Schöpfer zu sehen, sich also von irdischen Zweckmäßigkeitserwägungen statt vom geistlichen Wohl leiten zu lassen. Auch die Promulgation vollzieht sich unter merkwürdigen Umständen. Weil der Teufel im Herzen sitzt, kann das Naturgesetz dort keine Wirkung entfalten. Es reicht nicht ins Herz, sondern muß sich mit dem homo exterior als Adressaten begnügen29.
Entsprechend gering ist die weltliche30 Wirkung der lex saeculi. Als Werkzeug des weltlichen Regiments Gottes richtet sie wenigstens eine notdürftige Zwangs- und Friedensordnung auf und wird so zu einer äußeren Ordnungsmacht, die den leiblichen Untergang verhindert. Das ist der „Zwangscharakter” des weltlichen Regiments31 und der lex saeculi. Ihre Gebote können nicht mit der freudigen Zustimmung des Herzens rechnen und bleiben deshalb auf äußeres Verhalten und bloße Legalität beschränkt32.
Die Zweideutigkeit dieses Naturrechts sieht man besonders deutlich an seinen Eigenschaften. War die lex spiritualis vor allem „geistlich”, „über alle Vernunft” und gottunmittelbar33, so ist nun die lex saeculi durch und durch „leiblich”. Sie bedarf der weltlichen Vernunft als Mittlerin; der finis legis ist nicht mehr die beatitudo aeterna, sondern die
29) Init. 20, Lex 36, 63 f., 72, 74 f., 81, 95
f., WS 80, KuK 269.
30) Die geistliche Wirkung ist wegen ihrer Bedeutung
gesondert darzustellen (unten 108 ff. zur lex spiritualis
latens).
31) NR 49, Lex 36, 44 f., 109 f., WS 35, IZ 47 f. —
Eng verwandt ist der usus civilis legis, s.u. 109 f.
32) Init. 20, 64, NR 43 f., Lex 56, 62, d.h. äußerlich
feststellbares Verhalten, Lex 59. Erst recht beim positiven
weltlichen Recht, NR 43 f., Lex 56, 88f., aber kein bloßer
Legalismus, denn auch das Herz ist gefordert, Lex 59 A. 389 mit
Wolf RbW 36. Also gilt auch das weltliche Recht nicht nur aus
Zwang, sondern ebenso aus innerer Zustimmung! (die aber keine
„geistliche” ist), vgl. auch Lex 44 f., 109 f. Das doppelte Motiv
des Gesetzesgehorsams (vgl. Lex 92 ff.) spiegelt die doppelte
Funktion des Gesetzes als Strafe und Erhaltung.
33) S.o. 8365.
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felicitas humana (der „gemeine Nutz”34); auch von ihrem hohen Ziel, der iustitia coelestis, ist sie abgefallen und begnügt sich mit der menschlichen iustitia politica oder civilis.35
War das geistliche Gesetz unteilbar und vollkommen, so zerfällt nun das weltliche Recht in tausend Einzelgebote und -verböte, die es obendrein mit schweren Strafen sichern muß, ohne aber mehr zu treffen als die gröbsten Verbrechen, weil es sich notgedrungen am Äußeren orientieren muß. War schließlich die lex divina unveränderlich fast wie Gott selbst, so wandelt sich dieses Recht fortwährend nach Zeit und Umständen36; es ist sogar auf das ergänzende positive menschliche Recht angewiesen. Kein Wunder, daß Gott mit dem weltlichen Naturrecht schaltet und waltet, wie es ihm beliebt. Teils durchbricht er es selbst durch Dispense oder ähnliches, teils ermächtigt er einzelne Menschen durch Wunderzeichen. Aber das bleibt Gottes Majestät vorbehalten; der Mensch ist an das regnum rationis gebunden37. Bei der lex spiritualis wäre all das undenkbar!
Es ist leicht einzusehen, daß von alledem auch der Rechtsgehalt dieses Naturrechts nicht unberührt bleibt. Es ist zwar immer noch ein wirkliches Recht, weil es wenigstens mittelbar von Gott ausgeht und nach seinem gütigen Willen Ordnung schafft. Aber es ist doch nur ein pervertiertes und verzerrtes Recht, das nicht mehr sein kann als ein schwacher Abglanz des wahren Rechts im Christusreich38.
Auch bei diesem Naturrecht unterscheidet man oberste und abgeleitete Rechtssätze, die ebenfalls Naturrecht sind. Der „kürzeste Ausdruck” des weltlichen Naturrechts ist die Goldene Regel, seine „vorbildliche materiellrechtliche Fassung der Dekalog”39.
34) Init. 20, NR 47, Lex 72, 74 und unten
106.
35) S.o. 68 f.4.
36) Init. 20, Lex 60, 80, 90 A. 658, 96 f., WS 35.
37) Lex 81.
38) RuG 309, 339, NR 49, Lex 52, 72 f. m. A. 500, ZRL
1939, Gru. LWB 56; „vergröberter Schattenriß”, Grat. 510;
verzerrte Schattenbilder, Lex 40; verhält sich wie ein Schatten
zur Wirklichkeit, WS 35.
39) NR 47, ZRL 1940.
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Der oberste Rechtssatz ist „das Gebot eines idealen äußeren Gemeinschaftsrechts, aufgebaut auf dem Grundsatz der irdischen allgemeinen Menschenliebe, gemäß welcher jedermann das Wohl seines Nebenmenschen ebenso berücksichtigt wie das eigene und deshalb ihm dasselbe Recht einzuräumen bereit ist, das er an des anderen Stelle für sich selber in Anspruch nehmen würde (Suum cuique auf der Grundlage der regula aurea)”40. Oder kürzer: Liebe den Nächsten nicht minder als dich selber41!
Dieses Naturrecht nimmt also die Eigenliebe zum Ausgangspunkt eines edlen Altruismus42; statt auf Gott bezieht es das Liebesgebot auf das leibliche Wohlergehen im Reich der Welt und deutet es so um. Das ist dennoch nicht individualistisch, sondern mittelalterlich-„gliedhaft” verstanden. Denn sein Ziel ist der „gemeine Nutz”43, wie schon bei Aristoteles, das Gemeinwohl also der als einheitliches corpus verstandenen Menschheit. Das zugehörige Leitbild des einzelnen ist der vir integer, der „Jedem das Seine” gibt.
Aus dem „regulativen Prinzip” der Goldenen Regel ergibt sich ein „abgeleitetes Naturrecht” oberster Rechtssätze. Die Ableitung ist das juristische Glanzstück der „höchsten Geister der Menschheit”, das nicht „ohne ein sonderlich eingeben von Gott” gelingen mag44.
40) NR 47.
41) Zum folgenden NR 47 f., Lex 67, 75-81, 133, WO
158, WS 35, 80; vgl. noch IZ 30, Padua 329, ZRL 1940, Gru. FiLex
3 185; zur Entwicklung der Goldenen Regel bei Luther vgl. Grat.
504. Ihrer doppelten Auslegung stimmt P. Althaus zu, 1965 41 A.
49. Dazu ein Beispiel: Wenn Gläubiger und Schuldner beide
Nichtchristen sind, dann gebietet die leibliche Auslegung der
regula aurea, also das weltliche Naturrecht, dem
Schuldner das Existenzminimum zu lassen; verlangt der Gläubiger
mehr, so muß ihm die Kirche die Strafe Gottes predigen; unter
wahren Christen dagegen gilt die geistliche Auslegung der
Goldenen Regel, also das göttliche Naturgesetz; es kommt
überhaupt nicht zum Rechtsstreit (so Lex 77 A. 552).
42) Anders RuG 338.
43) S.u. 166.
44) Lex 75, 78, 81 f. (Wieso „oberste” Rechtssätze?
Ist die darüberstehende regula etwa nicht Recht? Das
wäre widersprüchlich.) Es gibt noch weltliche Naturrechtssätze
zweiter Ableitung, z.B. Schadensersatz, -verhütungspfiicht,
Notwehrrecht (Lex 79 A. 573), die Ungleichheit unter Menschen
(Lex 36, 78 A. 558, 102, IZ 33; a. M. P. Althaus 1965 63 A. 75,
die differentia personarum gelte auch für Christen, weil
sie doch als „Bürger zweier ,Reiche’” auch dem weltlichen
Regiment unterliegen); unklar bei den anderen beiden
Grundrechten, (oben 1005). Zu Billigkeit und Erbarmen
als Inhalt des weltlichen Naturrechts vgl. Lex 163 A. 1297, 166
A. 1327.
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Dieses „Heldenrecht” ist der Dekalog. Er ist die bis heute vorbildliche „Fassung” des weltlichen (materiellen45) Naturrechts46; er ist sogar so gut gelungen, daß er bis zum Jüngsten Tag als „Maßstab für ein rechtmäßiges Verhalten der Nichtchristen im öffentlichen Leben” gilt. Seinen Schöpfer, den „guten Christen Moses”, nennt Heckel „den genialsten Rechtsprecher des Menschengeschlechtes”47.
Freilich trifft das nur für die zweite Tafel (Nächsten- und Selbstliebe) zu: Die erste (Gottesliebe und -erkenntnis) ist leiblich gesehen bedeutungslos; sie entfaltet ihre wahre Bedeutung nur im Reich Christi48.
Auch der Dekalog, obwohl er die magna charta humanitatis heißt, steht im Dienst des weltlichen Regiments, er ist nur eine äußerliche Norm formaler Gerechtigkeit49.
Doch Luther geht einen folgenreichen Schritt weiter. Er verweist den Dekalog in den Bereich des positiven menschlichen Rechts50. Die zehn Gebote sind nicht einmal weltliches Naturrecht, sondern nur dessen inhaltsgleiche Positivierung durch Moses (lex scripta, lex Mosi), wenn auch quasi-naturrechtlicher Dignität51.
45) Zum prozessualen Naturrecht (NR 47
A. 3) auf Grund der regula aurea: vgl. Lex 78 A. 563 mit
dem rechtlichen Gehör und dem Verbot, Richter in eigener Sache zu
sein.
46) Belege s.o. A. 41; „Erläuterung”, WO 158;
„Illustration”, Padua 329, ZRL 1940; für das weitere NR 48
ff.
47) NR 48, 50, Lex 79, 98 A. 737. Moses wird nicht nur
gelobt, vgl. die drastischen Äußerungen Luthers, Lex 91 A.
672.
48) Zur natürlichen Gotteserkenntnis s.o. 29 ff. Die
erste Tafel bezieht sich also auf das göttliche Naturgesetz, die
zweite auf das weltliche Naturrecht; folglich geht die erste der
zweiten vor, Lex 152 A. 1213.
49) NR 43, 48 f., Lex 122 f.
50) Wenn der Dekalog und die lex Mosi
überhaupt nicht einmal weltliches Naturrecht, sondern nur noch
positives menschliches Gesetz sind, dann betrifft das
„paulinische” Verdikt über das „Gesetz” (hier als Gegensatz zum
„Evangelium”) mittelbar jede weltlich-menschliche Rechtsetzung!
Sollte hier (und nicht erst in Orthodoxie und Pietismus) die so
verbreitete Gleichsetzung von theologischem „Gesetz” und
juristischem Recht ihre tiefste Wurzel haben, die dem
evangelischen Kirchenrecht so zu schaffen macht? Doch bedürfte
diese Vermutung noch genauer begriffsgeschichtlicher
Untersuchung.
51) RuG 315, 319, NR 47 f., Lex 29 A. 136, 78 ff., 113
ff.; zur teilweise a. M. H. Thielickes vgl. Lex 115 A. 907, zur
Verwandtschaft mit G. Biels Collectorium Grat. 506 A. 83. Luther
begründet mit Gal 3.19 f. (Lex 115 A. 898), vgl. NR 45 A. 2; ebd.
und Lex 57 A. 373, 114 ff. zur dreifachen Bedeutung des Dekalogs
als lex spir. latens, als menschliches Naturrecht, als
jüdisches Volksrecht („der Juden Sachsenspiegel”). Wohl wegen der
Doppelstellung als ius naturale und als lex
scripta behandelt He. den Dekalog in Lex zweimal, nämlich im
heilsgeschichtlichen Zeitalter der lex non scripta und
dem folgenden der lex scripta.
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Man kann also zusammenfassen:
Die Sätze des Dekalogs sind „durch ungeistliche
Interpretation des göttlichen Naturgesetzes gewonnenes
menschliches Recht obersten Ranges im Reiche der
Welt”52.
Das weltliche Naturrecht steht in einem verborgenen Bezug zur lex spiritualis. Es ist nicht nur (ex parte hominis) Ergebnis eines Mißverständnisses und (ex parte Dei) Werkzeug des weltlichen Regimentes, sondern eine „heimliche Ordnung” Gottes53 im Reich der Welt. Damit kommt eine dritte, nämlich die geistliche Seite der lex saeculi in Sicht. Ihn ihr lebt auf verborgene, nur dem civis Christi sichtbare Weise54 die lex spiritualis latens55. Freilich ist ihre geistliche Wirkung ganz anderer Art als im Reich Christi. Denn der Liebeswille Gottes steht im Weltreich vor der Aufgabe, den sündigen Gegenwillen der cives diaboli zu brechen.
In dreifacher Weise macht Gott von der lex saeculi Gebrauch. Das ist der dreifache usus spiritualis legis56 des weltlichen Rechts57.
Die erste Wirkung der lex spiritualis latens besteht darin, daß sie das weltliche Naturrecht zum Werkzeug des göttlichen Strafgerichts über
52) NR 48.
53) NR 45, IZ 47; „nach Gottes ,heimlichem Rat’” Padua
331.
54) Damit ist die Rechtfertigung in Christus nicht nur
Quelle des geistlichen Rechts; sie ist zugleich subjektive
Voraussetzung für das tiefere Verständnis des weltlichen Rechts,
NR 48 f., Lex 98, 179, wie beim weltlichen Regiment!, s.o. 47
f.
55) NR 48, Lex 49, 133; die lex spir. latens
ist der nicht als Recht anerkannte Rechtswille Gottes; Lex 98
i.e.S. für das erste Gebot der Gottesliebe, ebd. 116, 125, NR 45
A. 2, 49 i.w.S. für den ganzen Dekalog im geistlichen
Verständnis, d.h. die Gottes- und Nächstenliebe. P. Althaus (1965
60 f. m. A. 63, 65 f.) folgert daraus mit Recht, daß zwischen den
beiden Regimenten eine Analogie walte.
56) Usus spiritualis ist in NR 49 dem dritten
Gebrauch vorbehalten; in Lex 90, 121 spricht He. nur noch vom
zweifachen Gebrauch (ähnlich Regim. 258 f.); wieder anders RuG
324 ff.; der usus spiritualis „iuris” bezeichnet hier
das geistliche Rechtshandeln des Christen im Reich Christi, der
usus spiritualis „legis” im Reich der Welt. Er kehrt
wieder in der dreifachen geistlichen Bedeutung der Obrigkeit
(s.u. 166). Er darf nicht mit dem triplex usus legis der
Orthodoxie verwechselt werden (vgl. Exkurs II 111 f.; ebenso H.H.
Schrey und Ernst Wolf in RuI 68 f. zum verwandten
Institutionsproblem).
57) Hier verstanden als das weltliche Naturrecht
mitsamt dem darauf beruhenden menschlichen Recht, s.u. 114
f.
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die Sünden der civitas diaboli macht. Als lex spiritualis fordert sie die vollkommene Liebe. Der Mensch mißversteht sie wegen seiner geistlichen Verderbtheit. Dadurch wird sie unerfüllbar; er verstößt notwendig gegen sie. Die lex latens wiederum klagt ihn der Sünde an, überführt, verurteilt und bestraft ihn mit der poena latae sententiae der geistlichen Exkommunikation. Das ist aber nichts anderes als der Ausschluß aus dem Reich Christi. Dadurch tritt der geistliche Tod ein58. So wird das weltliche Recht zur lex irae et mortis59.
Dieser „Gebrauch” heißt der eigentliche (proprius) oder der theologicus usus legis.
Es ist das Strafamt des göttlichen Gesetzes und sein „fürnehmstes ampt”60.
Die zweite Wirkung der lex spiritualis latens61 ist wesentlich erfreulicher, wenn sie auch an geistlicher Bedeutung der ersten weit nachsteht. Sie ist nicht nur lex irae, sondern zugleich lex charitatis latens — wie ja auch der göttliche Zorn als ira misericordiae geschildert wurde62, sie ist eine duplex virga. Neben das „Strafrecht” tritt das „Zuchtrecht”63: Das Naturrecht (und mit ihm das menschliche Recht) tritt mittelbar in den Dienst der Erlösung (der lex spiritualis), indem es der zerstörenden Gewalt des teuflischen Un-Rechts wenigstens im äußeren Leben
58) Dazu NR 49, Lex 87, 90 ff., 97, 123 f.,
Padua 329, ZRG 1957 499, Gru. ZevKR 1961/62 335.
59) RuG 323 f., Lex 90 ff., 122. Die lex irae
ist also nicht etwas, was von außen an den Menschen herantritt,
Lex 92 A. 682 gegen G. Müller. Heilsgeschichtlich betrachtet hebt
damit die Zeit der dominatio legis an (RuG 329 f., Lex
23 ff., 91 f., 122 f.) — nicht durch eine Änderung des
unwandelbaren Willens Gottes, sondern durch das wankelmütige
Menschenherz (s.o. 84 f. zur Veränderlichkeit der lex
spiritualis). Überhaupt trägt He. den usus spiritualis
legis unter dem heilsgeschichtlichen Aspekt der
Heilsbedeutung der atl. lex vor (vgl. A. 54). Hier
erscheint er, dem Zweck der Arbeit entsprechend, eingeordnet in
die rechtstheologische Systematik der Zweireichelehre.
60) Lex 91 f., Art. Smalcald. BS 436,5. — Der
Hauptunterschied zur verbreiteten „lutherischen” Entgegensetzung
von „Gesetz und Evangelium” (vgl. H. Thielicke ThE I Nr. 554-627;
auch W. Elert, R. Prenter u.a.) scheint demnach darin zu
bestehen, daß He. (und Gru., ZevKR 1961/62 336) die (nur dem
Christen einsichtige) innere Verbindung beider in der (Urstands-)
lex spiritualis mittels der lex spir. latens
hervorhebt.
61) Dazu NR 49, Lex 93-97 m. A. 696; eine etwas andere
Deutung gibt Padua 329; Gru. ZevKR 1961/62 336.
62) S.o. 4613.
63) Lex 94 zum ius humanum positivum.
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entgegentritt (negative Seite), zugleich als äußere Ordnungsmacht die Rechtschaffenen und das Heilswirken Christi durch die Kirche schützt (positive Seite). Diese „naturrechtliche Ordnungstendenz” steht im Dienst des göttlichen Erbarmens, des „Erhalterwillens”. Das ist der usus politicus (oder civilis64) legis und das Zuchtamt der lex divina.
Die dritte Wirkung65 faßt gewissermaßen die beiden komplementären Seiten der lex latens zusammen: gerade die Unzulänglichkeit des weltlichen Naturrechts wird dem Christen zum Hinweis auf das wahre Recht des göttlichen Naturgesetzes. Sie dient ihm zur Lehre für den usus spiritualis des weltlichen Rechts und sagt ihm also, wann und wie er es im Geist der Liebe handhaben kann.
So wird das weltliche Recht zum signum der res ipsa, nämlich des göttlichen Rechts. Die lex saeculi ist kostbares Gefäß der lex spiritualis66, die unvollkommene menschliche Gerechtigkeit weist auf die vollkommene göttliche Gerechtigkeit. Gott selber ist aller beyder gerechtickeit, beyde geistlicher und leiblicher, herr. Wie schon die Zweireichelehre, so findet nun auch die Rechtslehre ihre verborgene, „jenseitige” Einheit im göttlichen Rechtswillen. Der Christ aber folgt der „Spur” der Gnade auch in der Welt67.
Vom schroffen Dualismus ging diese Rechtslehre aus; sie mündet in der überwölbenden Liebe Gottes.
64) ZRG 1957 499.
65) Dazu RuG 330, NR 49, Lex 97 f., 110. Sie geht — im
scheinbaren Gegensatz zu den beiden anderen Wirkungen — von der
lex saeculi aus und schließt (echt
plato-nisch-augustinisch!) vom Unvollkommenen auf das Vollkommene
(denn um zu bemerken, daß etwas unvollkommen ist, bedarf es eines
wenigstens anfanghaften Wissens um die Vollkommenheit).
66) Calix, Lex 98; also kein „bloßes Symbol”,
richtig He. mit E. Seeberg, Lex 97 A. 735.
67) NR 45, 50, Regim. 262; zur duplex
iustitia vgl. WA XIX 629,30 und oben 68 f.4;
mißverständlich also Lex 29, 70 „absoluter Gegensatz”. Ernst Wolf
folgert daraus die (nur im Glauben erkennbare) „Entsprechung”
beider (II 223 f.) — m.E. zu Recht, denn die Ähnlichkeit in der
Unähnlichkeit ist die lex spir. latens in lege
saeculi.
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Ein mit der lex spiritualis latens und dem usus spiritualis legis verwandtes Problem ist der tertius usus legis der lutherischen Orthodoxie68 und der reformierten Theologie69. Unter dieser Überschrift werden sehr verschiedene Fragenbereiche erörtert. Aber nach herrschender Ansicht steht nur zur Frage, ob der gerechtfertigte Christ die atl. lex noch zu beachten habe. Andere beziehen zweitens die neutestamentliche Paränese und drittens das menschliche Kirchenrecht mit ein.
1. Für Heckel ist der tertius usus der atl. lex
deshalb so problematisch, weil für ihn der Christ ausschließlich
nach der nova lex Christi lebt. Auch in der lex
spiritualis latens achtet er ja nicht die lex
vetus, sondern ihre verborgene Ankündigung des Evangeliums.
(Tertius usus legis und ihr spiritualis usus
sind also zu unterscheiden70!)
Ob Luther wenigstens sachlich den tertius usus legis im
ersteren Verständnis gekannt habe, ist äußerst umstritten. Heckel
nimmt eine vermittelnde Stellung ein. Insofern der Christ
simul peccator ist, bleibt die lex vetus für
ihn rechtserheblich; denn sie klagt ihn der Sünden an. Sie dient
ihm also gleichsam als Beichtspiegel. Im übrigen aber ist sie
machtlos geworden. Sie kann nicht mehr zum Tode verurteilen. Mit
der dominatio legis ist es vorbei. Christus hat die
Todesstrafe ein für allemal auf sich genommen71. Dem
civis diaboli gereicht also die lex vetus im
usus carnalis zum geistlichen Tod, dem civis
Christi wird sie im usus spiritualis eine Hilfe für
die vita christiana. „Ob man, um diesen Unterschied
hervorzuheben, von einem tertius usus sprechen soll",
läßt Heckel offen72.
2. Selbst wenn man die Bezeichnung tertius usus legis bejaht, so fällt unter lex nach Heckel sicherlich nicht das menschliche Kirchenrecht. Es ist keine theologische lex73.
3. Erst recht nicht können die neutestamentlichen Einzelgebote der lex Christi einbezogen werden74. Sowohl der usus spiritualis legis wie der tertius usus legis beziehen sich (mittelbar oder unmittelbar) auf die
68) Gru. ZevKR 1959/60 47.
69) Zur Entstehung vgl. G. Ebeling ThLZ 1950.
70) Lex 124 A. 1002, ZRG 1957 500.
71) Lex 122-124.
72) Ebd. A. 1002; auch Gru., ZevKR 1961/62 337, ZevKR
1964/65 17 A. 22, obwohl er eher zur Bejahung neigt, vgl. AÖR
1959 35.
73) ZRG 1957 502, Gru. ZevKR 1959/60 47 f.
74) So auch Wolfs Meinung, vgl. OdK 73, 466 m. A. 6;
a. M. F. Lau RGG II 1532, Gru. AÖR 1959 35, ZevKR 1964/65 16 f.
m. A. 22, ÖAfKR 1965 289, EStL 973; He. äußert sich hierzu
nicht.
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alttestamentliche lex vetus. Bei der neutestamentlichen lex Christi kann man nicht vom tertius usus „legis” sprechen. Freilich ist das Sachproblem ähnlich; es lautet: Wie vertragen sich die Einzel Weisungen der neutestamentlichen lex nova mit der Universalität der lex charitatis? Jedenfalls sind diese ἐντολαί neutestamentliche Paränese (oder richtiger Paraklese), nicht alttestamentliches „Gesetz”75. Man darf die lex vetus und die lex Christi nicht in das chaos unius vocabuli zusammenwerfen.
Beim göttlichen Recht waren zwei Rechtsformen aufgetreten: das göttliche Naturgesetz und das positive göttliche Recht (göttliches Institutionenrecht). Auch das weltliche Recht weist sie auf.
Wie das menschliche Naturrecht aus dem leiblichen Mißverständnis des göttlichen Naturgesetzes entsteht, so ergibt die ungeistliche Fehlinterpretation des göttlichen Institutionenrechts das institutionelle menschliche (oder weltliche) Naturrecht76, kurz auch als positives Naturrecht oder als menschliches (oder weltliches) Institutionenrecht zu bezeichnen.
Zwei Institutionen kannte man im Paradies: die Urstandskirche und die geistliche Ehe. Die Erbsünde korrumpiert auch sie. Zwar gehen sie nicht unter, denn Gottes Wort hat sie ins Leben gerufen; aber sie werden zur Parodie ihrer selbst.
Die Heilige Schrift berichtet schon auf den ersten Seiten, wie das geschieht.
Die Urkirche pervertiert zur Kainskirche und gibt sich eine staatliche Organisation. Die wahre Kirche (ecclesia Abel) wird blutig unterdrückt und wird zur ecclesia latens et pressa. Seitdem geht der Kampf der „zwo Kirchen” durch die Heilsgeschichte — bis in unsere Tage77.
75) Ebenso Ernst Wolf RGG II 1520, W. Joest
1956 71 ff. und RGG II 1528, und besonders E. Schlink FS Barth
323 ff.
76) Zum folgenden Lex 57 A. 373 (4.), 99-101, 150;
ebd. 102 stellt He. das materielle und das institutionelle
Naturrecht gegenüber. (Unerfindlich ist, wieso die absolute
lex charitatis der relativen lex irae „an die
Seite gerückt wird in den Institutionen”, so aber A. Auer FS
Messner 117.)
77) S.u. 148 ff. und Lex 99-101 zum dramatischen Kampf
zwischen den zwo Kirchen, der Luther wohl als atl. Typos der
Reformationszeit vorgekommen sein mag.
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Weil die Teufelskirche Kains zugleich die erste Staatsgründung war, fällt von daher auch ein bezeichnendes Licht auf alles, was politisches Gemeinwesen heißt, obwohl nicht hier die eigentliche Wurzel des Staates liegt, sondern in der Perversion der Ehe.
Der Ehestand78 kommt an rechtlicher Bedeutung fast der Kirche gleich. Denn seine Korruption durch die Sünde hat ungeheure Folgen. Das Bild der Erbsündenehe hat nicht nur die gesamte evangelische Eheauffassung geprägt, es ist bei Heckel vor allem der Ursprung der lutherischen Staatsauffassung, es bedingt die konkrete Gestalt des weltlichen Regiments und gibt somit mittelbar Aufschluß über die Rechtsbegründung Luthers überhaupt.
Nur das Allerwichtigste sei kurz wiedergegeben. Der Fluch der Erbsünde lastet auf der Ehe schwerer als auf der Kirche. Denn sie verliert den geistlichen Charakter endgültig und wird „eyn eußerlich leyplich ding wie andere weltliche hanttierung”.
Wie abgrundtief die Verderbnis der Ehe reicht, kann man daran ermessen, daß sie nicht einmal unter Christen die geistliche Urstandswürde zurückerhält; sie verbleibt im Bereich der „Welt”79. Aber an der Hochschätzung des weltlichen Naturrechts nimmt das institutionelle Eherecht hervorragenden Anteil. Die Ehe ist nicht nur ein „Göttlichen seligen stand”, ein „natürlichen orden”80, sondern sogar Keimzelle aller weltlichen, politischen Ordnung — damit des Staates!
78) Zum folgenden: Lex 101-108, 144-146; dazu
Gru. Famil. 18 f. und E. Klaffke 65 ff.; zur Konkupiszenz in der
Ehe vgl. Lex 144 m. A. 1169h: das debitum coniugale ist
nihil differens ab adulterio et scortatione (!); aber
Gottes misericordia non imputat coniugibus. Dennoch ist
die Ehe unter Christen der seligste aller Stände, wenn auch noch
weit von der vollkommenen Urstandsehe entfernt.
79) WA XXX 3,205,12. Das ist höchst ungewöhnlich, da
doch der Christ in allem, was er tut, nach geistlichem Recht
lebt. Warum nicht auch bei der Ehe? Die gemeinmittelalterliche
Eheauffassung ist jedenfalls nicht ohne Einfluß (vgl. zu den
Auffassungen Augustins und des Hochmittelalters Michael Müller
und J.G. Ziegler), wenn auch Luther vieles Gute über die Ehe
gesagt hat (Traubüchlein!), was sonst nicht von allen Kanzeln zu
hören war und wovon He. einige Proben mitteilt. Was Luther zum
„überpositiven Eherecht” (bes. Ehehindernisse, Unauflöslichkeit)
ausführt, ist überaus anregend, muß aber hier beiseite bleiben,
ebenso, was über „institutionelles (Ehe-)Naturrecht zweiter
Ordnung” und seine Dispensabilität (Scheidung und Doppelehe usf.)
zusammengetragen ist.
80) Lex 102 A. 783, 107 A. 823.
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Wie kommt es zur politia? Die naturgesetzliche Gleichheit der Gatten verwandelt sich in naturrechtliche Ungleichheit, das „Hausregiment” des Vaters, aus dem das weltliche Regiment entsteht. Die Ehe wird zum fons oeconomiae et politiae, wie das geläufige Wort sagt. Damit ist auch die Obrigkeit (mittelbar) zu einer weltlich-naturrechtlichen Institution geworden, die fortan die politia regiert81.
Die ambivalente Sicht der Ehe — von Gott gestiftet, vom Menschen verdorben — begründet die ambivalente Staatstheologie Heckels. Sie hebt sich aufs deutlichste von dem vorwiegend positiven („supralapsarischen”) Staatsverständnis des Luthertums ab, das sich auch nach den Erfahrungen des Dritten Reiches und der Gegenwart kaum geändert hat.
Nun bedarf noch die Stellung des positiven Rechts im Reich der Welt der Klärung. Wie verhält es sich zum weltlichen Naturrecht?
Nichts liegt Luther ferner, als das menschliche Recht aus der Verantwortung vor Gott zu entlassen! Vom Reformator führt kein Weg zum Positivismus unserer Tage82. Denn das menschliche Recht steht in jeder Beziehung unter dem Naturrecht.
Das Naturrecht83 ist Grundlage und Grenze des positiven Rechts. Es ist der „rechts brunnen”, nicht die Obrigkeit84! Und weil es sich um das Recht des Nichtchristen handelt, ist „Legitimitätsgrundlage” das weltliche Naturrecht. Was dagegen verstößt, und sei es auch ein Befehl der Obrigkeit oder ein von ihr erlassenes Gesetz, ist rechtswidrig und unverbindlich; es darf nicht befolgt werden, ist überhaupt nicht „Recht”85.
81) Lex 69, 107 ff., WO 164; zum Hausregiment
in der Ehe als der anderen „Erzgewalt” s.o. 47 15; Lex 102: die
obrigkeitliche Zwangsgewalt ist aus ihm abgeleitet; Lex 107 ff.,
WO 158, WS 35: aber aus seiner Perversion durch die Sünde (str.,
s.u. 1654).
82) Lex 150 A. 1200 gegen O. Veit.
83) Dazu kommt als selbstverständliche Grenze der
Bereich des Reiches Gottes zur Rechten, also die Kirche, Regim.
263.
84) Lex 84 f., Regim. 263, Padua 329, ZRL 1940 (denn
Gott, nicht die Obrigkeit übt das weltliche Regiment, s.o. 46
f.15).
85) NR 48, Lex 84 f., 89, 184 ff., Regim. 263, KuK
271; ZRG 1959 397 zum Kirchenrecht.
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Außerdem gilt alles, was von der lex spiritualis latens gesagt werden konnte, auch für das positive Recht; es ist nach Gottes „heimlichem Rat” zweigesichtig als lex irae et mortis und als „gute Gabe Gottes”, d.h. als lex charitatis latens; es ist schließlich signum des Rechtswillens Gottes, der zum usus spiritualis einlädt86.
Im übrigen steht es im Rang selbst unter dem weltlichen Naturrecht. Gott ist nicht einmal mittelbar beim Zustandekommen beteiligt87! Die vis legis naturae genügt nicht; es muß das Machtgebot der Obrigkeit hinzukommen, also Recht und Macht zusammenspielen, was beschwerlich genug ist. Aber auch das reicht nicht. Es bedarf meist zusätzlicher schriftlicher Fixierung und obendrein des unsicheren Vollzugs durch die Empfänger88.
Auch der Inhalt des positiven menschlichen Rechts ist weit unvollkommener als der des Naturgesetzes; es gilt sogar die Regel: je mehr Gesetze, desto schlimmer ist’s um das Gemeinwesen bestellt89! — so daß allenthalben menschliche Dispensation, Epikie und Billigkeit aushelfen müssen90.
Die Unvollkommenheit des menschlichen Rechts wird vollends sichtbar in seiner Zersplitterung und Veränderlichkeit, die bis zu Widersprüchen geht, weil die Erkenntnis der richtigen Ableitung der Richtsätze aus der Goldenen Regel durch die menschliche Unzulänglichkeit und die wechselnden Zeitumstände behindert ist. Am besten wäre, es ginge ganz ohne positives Recht; aber welche Obrigkeit hat schon das ganze Naturrecht im Kopf?! Deshalb ist das positive Recht zwar notwendig, aber geringwertig91. Wie lautet doch die Heckelsche Charakterisierung? „Es ist äußerlich, leiblich, diesseitig, ,zeitlich’, unbeständig”92.
86) Lex 88-99, Padua 331; die cives
Christi befolgen es also ex charitate, wie das
weltliche Naturrecht, Lex 149.
87) Cum grano salis zu nehmen: Ohne
Mitwirkung Gottes gibt es kein Recht und wäre das ius
humanum keine lex spir. latens.
88) Init. 65, Lex 57, 65, 83.
89) Lex 83 f., 87, 93, weil occasiones
peccati.
90) Lex 85 f.; gegen G. Wünsch, K. Holl, G. Wingren,
H. Diem gehört (mit F. Lau) die Epikie nicht zum Reich Christi,
sondern zur Welt. Zu Luthers wechseln der Stellung zum römischen
Recht vgl. Lex 86 f.
91) Lex 82 ff., Padua 331, dazu Gru. ELKZ 1960 162.
He. spricht sogar von der Geschichtlichkeit dieses Naturrechts,
Lex 81 ff.
92) KuK 269.
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Die Rechtslehre Luthers, so wie sie Johannes Heckel dargestellt hat, trägt ein ganz und gar mittelalterliches Gewand, obwohl sie die Tiefe der Theologie Luthers enthält. Vielleicht ist das ein Grund für ihr bedauerliches Schicksal (unten a). Gleichwohl nimmt sie in der evangelischen rechtstheologischen Diskussion der Gegenwart einen hervorragenden Platz ein, da sie deren wichtigste Probleme aus einer imponierenden Gesamtschau zu lösen vermag (b). Ihre mittelalterliche Sprache und Denkform befähigt sie in besonderem Maße zum Gespräch mit der katholischen Naturrechtslehre und der Kanonistik. Hier sind auch die offenen Fragen (unten c). Ist diese Rechtstheologie wirklich so abgrundtief von den scholastischen Auffassungen geschieden, wie Heckel behauptet? Wie ist überhaupt ihr Verhältnis zu einer „katholischen” Sicht der Dinge?
Damit ist der Boden bereitet für die Kirchen- und Kirchenrechtslehre auf der Grundlage der beiden Reiche.
Nicht viel ist vom Schicksal der großen Rechtslehre Luthers zu berichten1. So großartig ihr Beginnen war, so gering war ihre Wirkung auf die Um- und Nachwelt.
Zwar finden sich noch fast alle Lehren Luthers auch bei Melanchthon2 — der große Jurist und Humanist rückt damit viel näher an Luther, als man es bisher sehen konnte. Aber die Praxis hat sich nie daran gehalten, wie der Probierstein des Kirchenrechts erweist. Die Obrigkeit erläßt ab 1564 die Kirchenordnungen nicht mehr als geistliche Nothilfe, sondern als hoheitliches Zwangsgebot. Versuche gemeindlicher Rechtsetzung ersticken schnell.
Der Praxis folgt wiederum getreu die Theorie, und zwar bei Luthers Schülern schon zu seinen Lebzeiten. Der dualistische Rechtsbegriff Luthers teilt das Schicksal seiner Zweireichelehre: Er gerät in Vergessenheit. Die Orthodoxie verläßt das geistliche Recht und kennt nur noch
1) Zum folgenden Lex 181 ff., Grat. 535, WS 43
ff., ZRG 1956 539 ff., ZRG 1960 614 ff.; Th. Heckel 1961 107 ff.,
M. Heckel ZRG 1956 117-247, ZRG 1957 202-308.
2) Dazu vgl. Cl. Bauer FS Ritter.
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einen Rechtsbegriff, der beiden Reichen (hier: Staat und Kirche) gemeinsam ist: ein Recht nach Art der Welt3. Das Recht wird damit zum Ausdruck der Einheit von Staat und Kirche in der respublica christiana. Auch das göttliche Recht wird in das Einheitssystem eingebaut und damit säkularisiert. Es sinkt herab zur obersten der Normen. Dadurch wird der Weg zur „Rezeption” des kanonischen Rechts frei4.
Dann aber verschwindet das ius divinum ganz, d.h. es wird außerrechtlich5. Das aufklärerische Naturrecht setzt sich durch. Es vindiziert mit steigender Konsequenz alles Recht dem Staat. Zwar ist die Gegenwehr nie ganz verstummt — aber ihre Stimme ward nicht gehört. Das Schiff der Kirche, seines Rechtsankers beraubt, gerät nun vollends in das Schlepptau des Staates und seines Rechts — bis zum Sturz der deutschen Monarchie.
Nun endlich schien der Weg zu den Quellen nicht mehr durch Interessen verstellt. Aber erst die Erschütterungen der jüngsten Vergangenheit erzwangen die Besinnung auf das geistliche Wesen des Rechts.
Heckels Verdienst ist es, einen epochemachenden Durchbruch zum geistlichen Recht Luthers erzielt zu haben, der zugleich die gegenwärtige rechtstheologische Diskussion in grundlegenden Fragen entscheidend fördert.
Soweit das rechtstheologische Gespräch nicht um kirchenrechtliche Spezialfragen kreist, geht es in der Hauptsache um den rechten theologischen Ansatz für die Begründung des Rechts. Drei Anliegen stehen im Vordergrund. K. Barth postulierte die innere Verbindung von Rechtfertigung und Recht. Die reformierte Theologie (namentlich J. Ellul) forderte eine christozentrische oder „christokratische” Rechtsbegründung. Die lutherische Auffassung stellte eine trinitarische Rechtstheorie dagegen, weil man das Recht nicht ausschließlich aus Christus ableiten dürfe, sondern auch das Recht aus der Schöpfung berücksichtigen müsse6. Heckel nimmt eine vermittelnde Stellung ein.
3) Zur fortschreitenden Säkularisierung vgl.
auch ZRG 1959 397 f.; Th. Heckel 1961 108 f.
4) Grat. 517 ff., WS 43.
5) So He. wohl noch 1937, vgl. Einbruch 121.
6) Die Zuordnung der drei Konzeptionen zu den
Konfessionen gilt nur näherungsweise, wie schon in der Einleitung
(1030) erwähnt.
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Die Rechtslehre Heckels klärt das Verhältnis von Rechtfertigung und Recht in wichtigen Punkten: Nicht nur ist der Rechtsbegriff, den die Rechtfertigungslehre Luthers voraussetzt, derjenige der lex spiritualis oder anders der des göttlichen Naturgesetzes; auch das weltliche Recht steht in einer (wenngleich verborgenen) Beziehung zu ihm, da es aus dem Rechtfertigungsrecht entstanden ist (nämlich durch das Mißverständnis des leiblichen Menschen). Es ist deshalb auch nur dem Gerechtfertigten voll verständlich und nur durch ihn geistlich zu handhaben und verweist als das unvollkommene Recht auf das vollkommene Recht der Rechtfertigung zurück.
Fast noch wichtiger ist die durch die Zweireichelehre vollzogene Einbettung des individuellen Rechtfertigungsgeschehens in die universale Eschatologie. Dadurch wird die innere Verbindung von „Rechtfertigung und Recht” zutreffend erweitert auf den Wesenszusammenhang von „Rechtfertigungsgemeinschaft und Recht”. Denn die „Rechtfertigungsgemeinschaft” ist das regnum Christi oder, wie sogleich zu erklären sein wird, die ecclesia spiritualis. Obendrein kommt dadurch die Sozialität des Rechts besser zum Ausdruck.
Auch zum Problem der christologischen Rechtsauffassung leistet Heckel einen wichtigen Beitrag. Denn das rechtfertigende Gesetz ist die lex Christi. Deshalb ist das geistliche Recht christologisches Recht. Aber auch das weltliche Recht steht in einem (ebenfalls verborgenen) Bezug zu Christus. Erst die lex Christi hat das wahre Wesen des weltlichen Rechts wieder ans Licht gebracht. Und nur in der Kraft Christi wird es wahrhaft verwirklicht7.
Damit ist auch der Streit um die „trinitarische” oder „christokratische” Rechtslehre gleichsam „aufgehoben”. Denn die rechtfertigende lex Christi hat nichts anderes an den Tag gefördert als das verlorengegangene Schöpfungsrecht; und die Kraft, aus der sie verwirklicht wird, ist der Geist Christi, der Heilige Geist. Eben dieser Geist wirkt auch die Rechtfertigung, und in eben diesem Geist wird Christus am Jüngsten
7) Damit erledigen sich die Bedenken B. Lohses LuJ 1960 59 und G. Müllers (ZSTh 1965 117 A. 96); richtig dagegen B. Schüller 11.
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Tage sein Urteil fällen über die Unterworfenen beider Reiche, Regimente und Rechte. Schöpfungsrecht, Geistrecht und Rechtfertigungsrecht sind im Christusrecht zur heilsgeschichtlichen Einheit verbunden8.
So irenisch Heckel sich zur innerevangelischen Problematik verhält, so bemerkenswert „kontrastierend” klingt, was er zum Verhältnis der lutherischen zur katholischen Rechtslehre sagt.
Zwar handele es sich um gemeinchristliches Gedankengut, daß es zwei Reiche gebe mit je einem eigenen Lebensgesetz, das grundverschieden ist von dem des anderen Reiches, mit der Folge, daß dieser Rechtsbegriff näher der katholischen Rechtslehre und ferner der modernen profanen stehe, als man bisher geglaubt habe9. Andererseits bedeute die Rechtstheologie Luthers, verglichen mit der mittelalterlichen Naturrechtslehre, „eine Revolution”! Denn „die Tragweite solcher radikalen Spiritualisierung des göttlichen Gesetzes kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. In der Rechtsauffassung Luthers hat sie dieselbe Bedeutung wie die Lehre von der Rechtfertigung allein aus dem Glauben in seiner Theologie”10. Wie es mit der Differenz zur katholischen Rechtfertigungslehre steht, wagt der Verfasser als Jurist nicht zu entscheiden11. Doch vermag er den weittragenden rechtshistorischen Urteilen Heckels nicht in allen Punkten zu folgen12.
Vergleichen wir also zunächst mit den zwei wichtigsten Vertretern der katholischen Tradition, nämlich Thomas und Augustin, und fragen
8) Dazu s.o. 8467.
9) NR 37, Lex 70.
10) Init. 21, NR 48, Lex 79 f., 88. Sieht man näher
zu, so bezieht sich diese Revolution nur auf den Rechtsdualismus,
also auf die Deutung des weltlichen Naturrechts, nicht auf das
Reich Christi und sein Recht. Doch mit einer Ausnahme begründet
He. seine Annahme nicht (Lex 80 nur zum Dekalog — wobei G. Biel
Luther am nächsten kommt!; vgl. aber oben 8786).
11) E. Schott hat in seiner sehr kritischen Rezension
(MdKI 1959 25) darauf hingewiesen, daß die von H. Küng (1957)
behauptete Vereinbarkeit der katholischen Rechtfertigungslehre
mit der von K. Barth nicht minder für die lutherische gelte
(weggelassen in LuJ 1959!) — allerdings nur für die positiven
Aussagen Küngs, während wichtige reformatorische Anliegen
unberücksichtigt geblieben seien; Wolf OdK 64 f. dazu: „Die
,eigentlichen’ Lehrunterschiede (sind) nur theologisch Geschulten
noch begreiflich.”
12) Zutreffend Gru. Chronik 24 „an der Scholastik
orientiert”.
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wir dann grundsätzlich nach der Vereinbarkeit mit einer „katholischen” Sicht der Dinge.
Bei Thomas ist vor allem die klassische Stelle zur Unterscheidung von „Gesetz” und „Evangelium” ans Licht zu stellen: die berühmte quaestio 106 der Prima Secundae der Theologischen Summe. Was das Eigentliche des Neuen Gesetzes ausmacht und worin seine ganze (!) Kraft besteht, das ist der Geist Christi, sagt Thomas mit Augustin. . . . Nun vergleiche man Heckel: Die lex spiritualis ist Geist, nichts als Geist. Deshalb ist sie auch eine lex iustificans. Mit Recht, so darf behauptet werden, kommt darum U. Kühn zu der fast unglaublichen Feststellung: In Sachen „Gesetz und Evangelium” muß „von einer grundsätzlichen Übereinstimmung zwischen reformatorischer Theologie und Thomas gesprochen werden”13.
Ebendort bei Thomas findet sich einiges zum usus iuris und legis, vor allem aber die christologische Deutung des Rechts, die im Abschnitt über die lex vetus sogar auf die ganze Heilsgeschichte ausgedehnt wird. Hier steht auch der erschütternde Satz: „. . . etiam littera Evangelii occideret, nisi adesset interius gratia fidei sanans.” Selbst die lex Christi würde töten, wenn nicht die Gnade den Buchstaben belebte! Gleichwohl ist die solcherart verstandene lex vere spiritualis eine lex, nämlich im scholastischen Sinne; wir würden heute sagen, sie habe analoge Rechtsqualität. Aber sie ist ein „Gesetz ohne Gesetzlichkeit” (G. Söhngen), also keine „lex” in der theologischen Bedeutung14. Sogar das „positive Naturrecht” der Institutionen ist in der Scholastik anzutreffen15. Auch das weltliche
13) U. Kühn 1965 249; dazu H. Geissner ThLZ
1967 43 f. — Diese Feststellung trifft auch auf He.s
Lutherdeutung zu.
14) G. Söhngen 1957 57,117, LThK IV 833 f., 1962 96
ff., dazu STh II/1 q 90 a 4, q 91 a 1 ad 2/3, q 106 a 1, 2. Vgl.
auch J. Dourif „La loi de charité” mit den „drei Grundrechten”
der frz. Revolution liberté, fraternité, égalité
(Reihenfolge!), in dritter Auflage 1855! — Diese
augustinisch-thomasische Interpretation des Gesetzes findet sich
auch bei dem Kardinal G. Seripando (vgl. A. Forster und die
Untersuchungen von H. Jedin) und dem Franziskanertheologen K.
Schatzgeyer (vgl. H. Klomps) in der Reformationszeit, heute bes.
bei G. Söhngen und den Moraltheologen B. Häring (I 291 ff.) und
F. Böckle (Catholica 1961; 1965). Vgl. H. Küng 1957 130 ff., 138
ff., H.U. v. Balthasar 1962 336 ff.: in dogmatischer Hinsicht
steht die katholische Unterscheidung von Natur und Gnade unter
christologischem Vorzeichen.
15) Für Rupella vgl. Steinmüller 347 f. m. A. 33, 37,
für Duns Scotus G. Stratenwerth 111; ähnlich Thomas STh Suppl. q
42 a 2.
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Naturrecht findet eine Parallele in der thomasischen lex fomitis, die nur lex ist, insofern sie an der göttlichen iustitia teilhat, nämlich insofern sie straft und verurteilt16. Dagegen ist der Dualismus des Rechts bei Thomas nicht ausdrücklich ausgesprochen.
Was Thomas sagt, gewinnt seine echte Tragweite erst durch die augustinische Tradition, auf die sich Thomas stützt und die bisher bei der Auslegung des Naturrechts des Thomas kaum berücksichtigt wurde. Doch soll diese Grundfrage der Thomas-Interpretation offen bleiben und kurzerhand Heckels Rechtslehre mit Augustin selbst verglichen werden.
Auch die Rechtslehre Augustins ist nicht weniger umstritten als diejenige Luthers; war hier das Anliegen, einen unjuristischen Luther zu finden, so dort, den Metaphysiker des Naturrechts zu feiern oder (E. Troeltsch) zu widerlegen.
Vergleicht man aber Heckels Lutherdeutung mit dem Augustinus17, der in den letzten Jahrzehnten wieder sichtbar geworden ist, so zeichnet sich eine überraschende Übereinstimmung ab, wenn auch die Begriffe differieren. Auch bei Augustin steht der ordo amoris als lex caritatis der civitas Dei im Vordergrund; er ist das in der lex Christi wiederhergestellte Urstandsgesetz, die lex naturalis der imago Dei, die in der Sünde verloren (!) gegangen war. Ihm gegenüber tritt der ordo cupiditatis der civitas terrena, der nur ein irdisches Vernunftrecht übrigläßt, das aber — ein vordergründiger Unterschied zu Heckel — eine glaubensanaloge (und deshalb auch seinsanaloge) Verbindung zwischen den beiden „Staaten” herstellt18.
Wieso nur „vordergründig”, wenn doch die analogielose Kluft zwischen regnum Christi und regnum diaboli nach Heckel das wichtigste
16) STh II/1 q 91 a 6.
17) Sowohl die Interpreten Augustins wie He. selbst
geben keine Auskunft zum Verhältnis der Rechtslehre Augustins zu
der Luthers.
18) Vgl. L. Buisson 22 ff., 31, 37 ff. (bejaht die
Rechtsqualität), K. Demmer XI, 5 ff., 48 ff., 84, 111 ff.,
128-151, 171-185 usf. Leider ist Demmer nur auf K. Barth, nicht
ausdrücklich auch auf He. eingegangen trotz des Titels „Ius
Caritatis”, so daß die gewiß auch vorhandenen wesentlichen
Unterschiede (s.o. 64 ff.) in der Rechtslehre nicht deutlich
werden. Das Verschwinden dieses Teiles der katholischen
Rechtslehre hängt aufs engste mit dem des augustinischen
Lehrstücks „Gesetz und Evangelium” zusammen, was durch die
antireformatorische Ausrichtung des Tridentinum bedingt ist (G.
Söhngen 1957 7 f.).
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Kennzeichen der Zwei Reiche ist? Weil die beiden Reiche von Gottes Rechtswillen her entstanden sind, der sich (im weltlichen Regiment und in der lex spiritualis latens) auf verborgene Weise auch im regnum diaboli durchsetzt! Diese heilsgeschichtlich-personhafte Sicht impliziert ontologisch eine im Glauben sichtbare Analogie19.
Im „geistlichen” Rechtsbegriff Augustins, Thomas’ und Heckels liegt zugleich der gemeinsame tiefe Unterschied zur gegenwärtigen rechtsphilosophischen Diskussion (nicht aber zur rechtstheologischen!), die, wie Heckel betont20, fast ohne Ausnahme von einem säkularisierten Rechtsbegriff ausgeht und damit den Dualismus des Rechts verkennt.
Aber lassen wir das augustinische und scholastische Naturrecht beiseite und fragen wir grundsätzlich: Wie tief geht der Unterschied der Heckelschen zur katholischen Rechtslehre überhaupt? Ist sie mit jeder denkbaren katholischen Sicht total unvereinbar?
Darauf kann nicht mit einem Wort geantwortet werden. Weder ein glattes Nein noch ein vorbehaltloses Ja ist am Platz. Denn wie sieht in katholischen Augen das Vorgehen Heckels aus? Zunächst baut er die der katholischen Tradition wohlbekannte21 lex Christi ins Naturrechtssystem ein, was ein durchaus legitimes Beginnen ist. Dadurch wird ein eschatologisch bestimmter Rechts- und Gesetzesbegriff notwendig. Auch das ist eine mögliche katholische Aussage22 (wenn auch keineswegs eine
19) Ebenso P. Althaus 1965 60 f., 66, mit der
zutreffenden Beobachtung (61 A. 63), daß diese Entsprechung bei
He. zu wenig thematisch geworden ist. — Die fundamentale
Übereinstimmung in der Rechtslehre zwischen He. und Augustin
schließt natürlich nicht Differenzen in wichtigen Teilfragen aus.
Zieht man die augustinische Sicht des Staates bei (oben
6766) und überträgt sie auf das weltliche Recht, so
vermag das platonische Urbild-Abbild-Denken Augustins klarer als
He. zu zeigen, daß der prinzipielle Vorrang des Kirchenrechts vor
dem weltlichen keineswegs ausschließt, daß in besonderen
geschichtlichen Situationen das weltliche Recht des Staates
durchaus imstande sein kann, manche Züge der civitas Dei
deutlicher abzubilden als das Recht einer korrumpierten
ecclesia particularis (a. M. wohl Gru. AÖR 1959 35).
M.E. ist die Rechtslehre He.s dieser Einsicht eher offen als eine
allzusehr in Analogien befangene „paradigmatische” Sicht des
Kirchenrechts (womit nicht die Rechtslehre Wolfs gemeint ist!,
das sei hier ausdrücklich hervorgehoben).
20) NR 37, Lex 70; Gru. LWB 56 f., ZevKR 1957/58 281.
Die weltliche Rechtsphilosophie ist deshalb für das Kirchenrecht
unbrauchbar, Gru. ZevKR 1959/60 48 f. (7.), teilweise anders
jetzt unten 243 f.
21) K. Demmer 57 f., 150, 259 ff., B. Häring I 286 ff.
u.ö., oben zu Augustin.
22) Zu Augustin vgl. K. Demmer 256 ff.
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unbedingt notwendige oder auch nur heute übliche). Diese lex Christi iustificans ersetzt zugleich die in der Spätscholastik und bei Luther weithin verlorengegangene lex aeterna; Heckel sucht ihrem Anliegen dadurch gerecht zu werden, daß er die wohl ebenfalls augustinische lex increata23 in Gestalt der lex spiritualis rezipiert, die damit fast mit Gott (der natura increata) zusammenfällt. Dadurch wird die metaphysische Konstruktion eines Naturrechts der natura pura mit einem heils-geschichtlich-christologischen Naturgesetz der beiden Äonen vertauscht. Auch dagegen ist noch nichts einzuwenden24, sofern ein heute unübliches Vorgehen nicht notwendig ein irriges Unterfangen ist25. Denn es kann allein darauf ankommen, ob die Schrift im Licht der Tradition richtig interpretiert wird und daraus die richtigen Konsequenzen für das Recht gezogen werden.
Das Problem liegt vielmehr woanders, nämlich in der theologischen Anthropologie. Ist die hier geschilderte natura corrupta (die gar nicht zu dem paßt, was man gemeinhin von Luther zu erwarten pflegt) samt ihrem Erbsünde- und Rechtfertigungsverständnis noch eine mögliche katholische Aussage oder nicht? Das ist die entscheidende Frage und keine andere. Hier ist zugleich die Grenze juristischer Betrachtungsweise erreicht. Die Antwort darauf ist Sache des Theologen26. Der heute erreichte theologische Gesprächsstand27 macht jedoch die These wahrscheinlich: Die Heckelsche Rechtslehre ist eine mögliche „katholische” Rechtslehre.
23) Zu dieser vgl. W. Steinmüller 343 A. 9, 345
(zu Rupella und Peter von Tarentaise).
24) Ähnlich J.B. Lotz in der Diskussion WS 80.
25) Nun abgesehen von der Zuweisung der lex
Mosi zum ius positivum humanum; diese Meinung
Luthers mag für seine Zeit durchaus diskutabel gewesen sein;
heute ist sie durch die Erkenntnisse der atl. Exegese in Frage
gestellt.
26) Das Material, das He. zur theologischen
Anthropologie zur Verfügung stellt, reicht für eine schlüssige
Beurteilung in katholischer Sicht kaum aus; es hat allerdings den
Anschein, daß He. den Dualismus der Reiche zu scharf zeichnet
insofern, als alle nicht aktual Gläubigen sofort schon verdammt
sein müßten. Der Zustand auch des Sünders ist nicht schlechthin
gnadenlos (Röm 5.20 b; M. Schmaus KD III/2 274 f. zum
Bajanismus); auch dem schuldlos irrenden Heiden würde man heute
eine größere systematische Bedeutung zumessen. Doch sind diese
Fragen außerhalb des systematischen Interesses He.s.
27) Für Luther ist heute eine ökumenische
Übereinstimmung hinsichtlich der zentralen Problematik von
„Gesetz und Evangelium” (U. Kühn 1965 249 und oben 120) und der
Bestimmung christlicher Existenz als simul peccator et
iustus sowie eine deutliche Konvergenz bezüglich der
Rechtfertigungslehre zu konstatieren (O.H. Pesch LR 1966 402 ff.,
E. Schott oben A. 11).