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Die Zweireichelehre Luthers ist die juristische Essenz der theologischen Anthropologie und dazu seine Sozialtheologie. Sie gibt getreu sein „Weltbild des Glaubens” wieder1. Ihre Bedeutung ist universal. Sie enthält den Schlüssel für die Kirchen-, Staats- und Rechtslehre des Reformators. Die lutherische Rechtslehre beruht auf ihr, ja sie ist unverständlich ohne sie2.
Ihr Aufbau ist klar und einleuchtend. Am Anfang steht die Lehre von den beiden Reichen (i.e.S.) oder „Reichslehre im Grundsinn”3, sie schildert das Reich Christi und das Gegenreich des Satans. Darauf folgt die Regimentenlehre. Sie zeigt, wie Gott die beiden Reiche regiert.
Gottes Ruf ergeht durch Christus an die Menschen. Ihre bejahende oder verneinende Antwort scheidet sie in zwei corpora oder „Reiche”4. Das eine Reich ist die Gemeinschaft der Christen unter ihrem Haupt Christus, das andere ist die Gemeinschaft der Nichtchristen unter der Hauptschaft des Satans5. Deshalb heißt das eine das Reich Christi, das andere das Reich der Welt oder das Satansreich.
Beide Reiche haben drei wesentliche Bestandteile, nämlich caput,
1) AS 49, KuK 223 nach G. Törnvall.
2) ZRL 1937; für die Rechtslehre Lex 31 m. A. 138
gegen F. Lau 1933 11; WS 73 gegen W. Künneth; ferner WO 158.
3) AS 60 f., Padua 330, IZ 6; „im Grundsinn” wohl nach
F. Kattenbusch 92. Der Korrelatbegriff fehlt — wie es He. bei P.
Althaus moniert, IZ 25. — Diese Terminologie knüpft an den
Doppelsinn von „Reich” an, s.u. 52 f.
4) Regim. 259, NR 37 auch „Körper”; regnum
ist nicht nur theologischer, sondern auch Rechtsbegriff, AS 1956
28, AS 51, IZ 3; und im übrigen doppelsinnig, vgl. wieder 52
f.
5) NR 37 A. 9, IZ 6 f., RGG I 1871 f., AS 60.
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influxus, membra (= corpus i.e.S.)6. Erstens steht an ihrer Spitze je ein Haupt, nämlich Christus bzw. der Satan. Zweitens begründet und erhält der Einfluß des Hauptes die Reichsgliedschaft:. Endlich drittens sind die Glieder (Christen bzw. Nichtchristen) mit dem Haupt (und durch das Haupt miteinander) durch ein enges personales Treueverhältnis verbunden.
Sie bilden so zwei corpora mystica, wie sie das Mittelalter verstand7. Man nennt sie darum auch zwei Stände8, Geschlechter9, Völker10 oder, mit Augustin, civitates11.
Ferner sind den beiden Reichen zwei Eigenschaften gemeinsam. Sie sind nämlich erstens „geistlich”, weil sie von Gott her bestimmt sind12. (Deshalb weiß auch nur der Glaubende um das eigentliche Wesen der zwei Reiche13.) Sie sind zweitens „personhaft-eschatologisch”14, was sagen will, daß der (am Jüngsten Tag offenbar werdende) personale Gehorsam gegenüber dem jeweiligen Haupt die Reichszugehörigkeit bestimmt. Schließlich hat jedes der beiden Reiche seine spezifische Verfassung. Alles hängt davon ab, daß der Unterschied der beiden Reiche genau bestimmt wird, damit „jene schneidende Schärfe des Gegensatzes” der Reiche nicht verharmlost werde15.
Weil Luther in der Hauptsache von Christus sprechen will und sich vor allem an Christen wendet16, muß er zuerst vom Christusreich reden und erst dann vom Satansreich.
6) Vgl. diese drei Kennzeichen unten beim
regnum Christi (a 1) und diaboli (b 1).
7) IZ 6 f., WS 34, 73 u.ö., Padua 330; aber keine
„Anstalten”, Lex 34 f., AS 1956 41, KuK 235, Th. Heckel 1961 26
u.ö., vgl. Gru. RGG III 1323. Corpus ist „eine durch
gemeinsame Zugehörigkeit zu einem Haupt bestimmte
Personengruppe”, IZ 12; also nicht der
neuzeitlich-körperschaftliche Begriff (KuK 235), sondern der
mittelalterliche (AS 1956 41), nämlich z.B. G. Biels (AS 59).
8) Padua 330; als Gegenbildung zur Ständelehre des
Marsilius, Padua 289.
9) WS 34, AS 60, Padua 330; Personengesamtheiten,
„Haufen”, Lex 35, IZ 11.
10) Lex 35, WS 73, AS 60, RGG I 1871, Padua 330, KuK
233.
11) WS 34.
12) AS 60, Padua 330; IZ 9 theonom, gegen R.
Bring.
13) WO 166.
14) Lex 46, NR 37 f. m. A. 9 „streng personhafter
Zug”; IZ 12 person-, nicht sachbezogen; vgl. auch Wort 676. An
sich sind Personhaftigkeit und eschatologischer Grundzug
verschiedene Dinge (und deshalb unten 224 ff. 228 ff. gesondert
behandelt).
15) NR 38, Lex 43; „die Unterscheidung der beiden
Reiche (ist) das A und O”, W. Schönfeld 1951 296, Lex 46.
16) WS 33; IZ 5 unter Hinweis auf das schöne
Lutherwort WA III 368, 22: Christus est finis omnium et
centrum, in quem omnia respiciunt et monstrant.
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Das Wahrzeichen des ersten Reiches ist die Königsherrschaft Christi17.
Das spiegelt sich in seinen vielen Namen18. Neben Reich Christi und regnum Christi heißt es auch Reich Gottes, geistliches Reich oder einfach das Reich der Gnade. Mit den Worten des Psalmisten: es ist das Land des Lebens19. Daneben stehen viele andere Titel, die nicht im einzelnen analysiert werden sollen20.
Was zunächst die Wesensbestandteile des Christusreiches anlangt21, so umfaßt es die Hauptschaft Christi, den lebenspendenden Einfluß des Hauptes22 auf die Glieder des Leibes und diesen mystischen Leib selbst (caput, influxus, membra/corpus i.e.S.); oder, um es mit dem anderen großen biblischen Bild des Gottesvolks zu sagen: es umfaßt die Königswürde Christi, sein Regiment23 und sein königliches Volk24.
Die Hauptschaft Christi besteht in der Königsherrschaft über seine Getreuen. Dieses regnum ist ausschließlich und höchstpersönlich: es gibt keinen Herrn in diesem Reich außer ihm; auch keinen geistlichen „Herrn”25. Christus herrscht in ihm „als Mensch”26, nicht als Gott.
17) NR 36, WS 37, IZ 6 f.
18) Reich Christi: WO 158, WS 34, Lex 31, 37 ff. u.ö.;
regnum Christi: IZ 5, RGG I 1871; Reich Gottes: Lex 35
A. 186, Grat. 510; geistliches Reich: WS 73, KuK 224; Reich der
Gnade: Lex 37, IZ 6.
19) Terra viventium, Ps 26.13, 141.6 (V.);
Lex 46.
20) Zum christlichen Körper NR 37 A. 3; christl.
Wesen, Lex 38, dazu ebd. 137 A. 1116 a über andere Bedeutungen
bei Luther; christl. bzw. geistl. Stand, Lex 38 m. A. 219 f.;
mundus spiritualis bzw. coelestis, Lex 34, 38;
„Hörreich”, Lex 37 A.212 (vom Gehorsam des Glaubens); corpus
ecclesiasticum und regnum ecclesiae, AS 60 f.;
corpus vivum, AS 60; Reich der Erlösung und Heiligung,
IZ 6.
21) Dazu: Regim. 257, AS 1956 41, IZ 6f., AS 61, ZRL
1937 f.
22) NR 37 A. 3, Lex 35 A. 181, 38, IZ 46; zum Haupt
als Ausgang geistlicher Kräfte vgl. auch IZ 47, AS 60 und Lex 35
A. 181, 176. Das erinnert an das antik-mythische (und
mittelalterliche!, Lex 176; z.B. Thomas) Verständnis des Hauptes
als Lebenszentrum des Leibes, das auch den paulinischen Aussagen
zugrunde liegt (vgl. zu Eph und Kol H. Conzelmann NTD 8 77, H.
Schlier ThW III 679 ff.).
23) Über das Verhältnis zur Regimentenlehre s.u.
Exkurs I 48 ff.
24) Damit kommen im regnum Christi die beiden
wichtigsten Bilder des NT für die Kirche zusammen: Volk Gottes
und Leib Christi.
25) S.u. 45 f.
26) Secundum humanitatem (nach 1 Kor 15.24!;
NR 38, Lex 43 A. 274, WS 34, IZ 6, AS 60 f.), d.h. nicht als
Gott: Gott (Vater) regiert vom Jüngsten Tage an (RuG 344 f., Lex
43 f. m. A. 274); vgl. W. Maurer 1958 87. Bemerkenswert, daß
diese (augustinische, auch Thomas — STh III q 8 a 1)
Unterscheidung als spezifisch kalvinistischer Topos gilt!, W.
Kreck RGG I 38. Erik Wolf kennt sie nicht; dafür ➝
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Das gilt auch für den influxus capitis: Christus und sein Geist sind das Lebensprinzip dieses Reiches. Es ist vollständig vom Haupt her geprägt und bestimmt27. Christus hat die an ihn Glaubenden durch die Taufe dem Teufel entrissen und zugleich zu Bürgern seines Reiches gemacht, sie als Glieder seinem corpus mysticum einverleibt. Sie sind sein Staatsvolk geworden28.
Entsprechend sind Bürger (membra) dieses Reiches ausschließlich die gläubigen Getauften, also die wahren Christen, weil sie diejenigen sind, die im aktualen Bezug zum Haupt Christus stehen — m.a.W. die homines spirituales29.
Dieses Reich ist demnach durch und durch „geistlich”, nämlich streng christozentrisch30 und „personhaft”31, d.h. personbezogen und personbestimmt. Es ist begründet auf der personalen Beziehung Christi zum Christen, es wird durch die gleiche Beziehung erhalten, und durch die Beziehung zum Haupt werden auch die Glieder untereinander personal verbunden zu engster geistlicher Gemeinschaft, zur communio sanctorum32.
➝ spielt sie in der katholischen Theologie (noch) eine
gewisse Rolle (die Menschheit Christi ist Organ des Heils: M.
Grabmann FS Faulhaber 190 m. A. 10 [Lit.] — daran anknüpfend das
Sonder„problem”, wer das primäre Subjekt der Meßfeier sei,
Christus nach seiner göttlichen oder nach seiner verklärten
menschlichen Natur). Eine exegetisch schwer zu begründende
Differenzierung (ebenso W. Kreck ebd.); Eph 1.20 ff. spricht vom
erhöhten Christus „zur Rechten” Gottes, der jetzt schon mit
Gottes Herrschermacht alle Mächte und die Kirche beherrscht (s.u.
2917 und G. Friedrich ThW II 728).
27) WS 34, IZ 47; KuK 224 (Geist Christi).
28) NR 38 A. 1, Lex 35, 37, WS 34, AS 63 f.; zum
jungen Luther Grat. 496 A. 34. Die Taufe ist der Rechtsakt der
Einbürgerung. Sie ist damit konstitutiv für den Beginn der
Bürgerschaft im Reich Christi (und die Kirchengliedschaft, u. 131
f. 144 ff. Weil es aber auf die Bewährung der Taufe im
fortdauernden Bezug zum Haupt ankommt, entscheidet zuletzt der
Glaube, Lex 134 A. 1089, AS 60, 67, Padua 330, RGG I 1871 und
unten A. 29; für Melanchthon vgl. ZRG 1957 500. Darum vermag die
Taufe den Gegensatz der Reiche nicht zu überwinden, RGG I
1872.
29) NR 36 ff., Lex 37 f., WO 158, WS 34; pii
(homines), Lex 34, AS 60; die bloßen „Namenschristen”
tragen den Ehrennamen zu unrecht (NR 37 A. 2, Lex 36 m. A. 193,
IZ 10) und sind deshalb schlankweg cives diaboli (Lex
134 A. 1093, ZRG 1957 500). Dagegen gehören die „Schwachen” ins
Christusreich, Lex 37 A. 214.
30) ZRL 1937.
31) S.o. A. 14; zum eschatologischen Charakter s.u.
228 ff. u.ö.
32) RuG 306, Lex 38 m. A. 225, Padua 330, IZ
47.
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Caput, influxus, membra ergeben die Verfassung des regnum Christi. Sie hat eine unumkehrbare Struktur mit einer vertikalen und einer horizontalen Komponente33.
Das vertikale Verfassungselement ist die Hauptschaft Christi, sein Gnadeneinfluß und die „Gefolgschaft” der Christen, also ihre geistliche Gemeinschaft mit ihm34.
Das horizontale Element ist die durch das vertikale Element (den Einfluß des Hauptes) vermittelte Gemeinschaft der Christen untereinander. Sie kennt drei geistliche „Grund-Rechte”, deren richtige Rang- und Reihenfolge lautet: die christliche Brüderlichkeit, die daraus folgende eschatologische Gleichheit, schließlich zuletzt die Freiheit des Christenmenschen35.
Vertikale und Horizontale sind untrennbar mit Christus verbunden. Die Liebe Christi ermöglicht und trägt die Liebe der Christen. Die Reichsverfassung ist also, um mit Augustin zu sprechen, der amor Dei36.
Das „Reich der Welt”37 ist in allen Teilen das verzerrte „Widerspiel" des Christusreiches38. Sein Kennzeichen ist der Satan.
33) Zum Bild der beiden Koordinaten in ZRL und
Kirche s.u. 128 176 181.
34) Lex 38 f.
35) Lex 40, 136 ff., WO 158, IZ 49, Padua 333, ZRL
1942; Vorstufe RuG 314 f. „Das Recht ist . . . verschwistert mit
der Freiheit”; zur Rang- und Reihenfolge ZRG 1957 503 (5.). He.
unterscheidet sehr wohl die christlichen Grundrechte von den
politischen (Kirchengut 103 A. 5; A. Auer hält sie dennoch für
Menschenrechte, FS Messner 117), wenn man auch mit Dombois (RdG
987 ff.) diese Terminologie gerade unter rechtlichem
Gesichtspunkt nicht für sehr glücklich halten wird (Grundrechte
richten sich — wenigstens primär — von unten nach oben, nicht von
gleich auf gleich!). Gemeint sind jedenfalls „in etwa” die
„Fundamentalnormen” christlicher Existenz. — Vgl. auch die
„Grundrechte” K. Barths KD IV/2 770 f.!
36) Lex 31; De civ. Dei I, XIV c 13.
37) Lex 31 ff., WO 158, Grat. 510, WS 34, AS 60 u.ö.
Der Begriff „Welt” ist an sich zweideutig, wie z.B. bei G.
Holstein (Gru. LWB 53 A. 15); ebenso He., zunächst als neutrale
(„soziologische”) Welt (IZ 34); hier aber (und immer beim „Reich
der Welt”) als die Gemeinschaft der Ungläubigen, aber nur „zum
größten Teil” (NR 37)!, weil Gott sie schafft und erhält (s.u. 46
ff. 167 zum „doppelten Gesicht” der Welt; diese „regiminale”
Sicht fehlt dem ntl. κόσμος; vgl. H. Sasse ThW III 882 ff.). Zum
„Reich der Welt” als Schauseite des „geistlichen” Reiches der
Welt vgl. AS 60; „Reich der Welt” als Bereich des Teufels bis in
die Kirche hinein: KuK 269 f. (Ein gewisses Schwanken der
Terminologie ist zu verzeichnen: bis NR ist „Welt” alles
„äußerliche”, ➝
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Es heißt auch der Welt Reich, regnum mundi oder Satansreich, ista perversissima perversitas39, und ist im Wesen „leiblich” und „äußerlich”. Mit einem (nämlich biblischen) Wort, es ist das Land der „Toten”40.
Auch das Weltreich ist ein corpus, mit caput, influxus, membra. Der Teufel ist das Haupt (princeps mundi)41. Mit seiner Fürstenmacht übt er das teuflische Regiment (influxus sive regimen satanae)42, und sein Reichsvolk ist die gottentfremdete Menschheit (corpus diaboli)43. Bürger (cives, membra) dieses Reiches sind deshalb alle Unchristen, seien es Heiden, Juden oder „Namenschristen”, die zwar getauft, aber nicht gläubig sind — also keinesfalls die Gläubigen44.
So ist der Teufel der Fürst dieser Welt, und sie ist ihm zu eigen und unter seiner Knechtschaft45.
Auch dieses Reich ist „geistlich”, nämlich eine theologisch bestimmte Größe, und es ist „personhaft-eschatologisch”, weil es ausschließlich konstituiert ist durch die Beziehung des Satans zu seiner Gefolgschaft und dieser zu ihm46.
➝ also auch die „Schauseite” der geistlichen Kirche. Ab NR
ist dieser Sprachgebrauch als mit der ZRL unvereinbar aufgegeben,
vom Sonderfall KuK 269 f. abgesehen.)
38) Lex 37, AS 61, IZ 7, RGG I 1872, ZRL 1938; ungenau
AS 1956 45 Kirche als Gegenstück zum Weltreich.
39) WA I 491, 19; regnum mundi: IZ 7, RGG I
1871; Teufelsreich: AS 60 u.v.a. nach G. Biel (AS 58); mundus
terrenus: Lex 34; zum „Sehreich” vgl. Lex 37 A. 212.
40) WO 158, WS 34; regio mortuorum: Lex
46.
41) Lex 36 f. m. A. 190 und 207, 45 A. 286 der welt
fürst; AS 61, ZRG 1960 622 nach Joh 12.31, 16.11.
42) Dazu Lex 36 f. A. 208, 43 A. 269, AS 61 usf.; es
ist ein regnum contra Christum, AS 1956 45.
43) NR 37 A. 3, Lex 35 f., 176, AS 1956 41, WS 34, AS
61, 65, IZ 7, 22, 46, Padua 330 f., ZRL 1938, KuK 234; corpus
babylonicum Lex 36, IZ 7, 9, AS 60, 62, u.v.a. (vgl.
Augustins civitas babylonica).
44) NR 37 A. 2, AS 1956 45 und oben A. 29; also die
impii (Lex 34, AS 60) und „Titelchristen” (ZRG 1960
624); die „frommen Heiden” (NR 38 A. 1, Lex 34 A. 173) oder
„anonymen Christen” (K. Rahner) sind ein Sonderproblem. Es
entscheidet auch hier der aktuale Glaube über die Zugehörigkeit.
He. lehnt also die fast einhellige Meinung ab, daß der Christ
„Bürger zweier Reiche” (s.u. 53 ff.) sei.
45) Lex 44 und oben A. 41.
46) Lex 34 f., AS 60.
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Das „Recht” des Satansreichs ist in allen Stücken ein pervertiertes Gegenrecht zur göttlichen Rechtsordnung. Der Teufel schafft nicht Recht, sondern zerstört es47. So wird der amor sui zur eigentlichen Reichsverfassung mit malitia und Selbstsucht in allen Formen48. Sogar die drei Grundrechte finden sich als „verzerrte Schattenbilder” wieder. Bemerkenswerterweise rückt die (verderbte) Brüderlichkeit an die letzte Stelle; Freiheit verkehrt sich in Unfreiheit, und Zwang und Ungleichheit werden zum dritten rechtstheologischen Kennzeichen der „Welt”49.
Wie stehen nun diese beiden Reiche zueinander? Wie ist ihr „rechtliches Verhältnis”50?
Zwei Fürsten stehen einander mit ihren „Haufen” gegenüber: Christus und der „Fürst dieser Welt”.
Nun hebt ein eschatologisches Ringen an. Beide Häupter und corpora stehen in erbittertem Kampf — bis zum Jüngsten Tag. „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich”51.
Kriegsschauplatz ist der Gesamtbereich des menschlichen Lebens; in der Brust des einzelnen52 wie in der menschlichen Gesellschaft, sei es in der Kirche oder im weltlichen Gemeinwesen, im Amt oder außerhalb53 — überall tobt die Schlacht.
Es ist ein Kampf mit ungleichen Mitteln. Der Teufel mit seinem Anhang fügt den Christen Unrecht zu, wo er kann. Dadurch wird das Reich der Liebe zu einem Reich der Selbstverleugnung, Niedrigkeit und Verfolgung54. Darüber hinaus sucht er die cives Christi zum Abfall vom Reichsfürsten Christus zu bewegen. Zwar beseitigt nicht schon jede
47) S.u. 100 f. Davon zu unterscheiden ist das
Recht, das aus dem göttlichen Regiment über ebendieses Weltreich
stammt, 101 ff.
48) Lex 31, 36, 67 mit Augustin, wohl über G. Biel, AS
58 f. — also nicht die „geordnete Selbstliebe”!, s.u. zu
8574.
49) S.u. 100 5 f.
50) Lex 31.
51) NR 38, Lex 42 f., WO 159, AS 1956 48, IZ 7, RGG I
1872, AS 60 f., Padua 330 f., ZRL 1939, KuK 233; Lk 11.23.
52) Lex 123, AS 1956 48, AS 61, IZ 7 A. 19 (gegen G.
Hillerdal, F. Kattenbusch).
53) Lex 140, 150 ff., AS 1956 48, AS 61, IZ 7.
54) AS 62. — Zum (geistlichen!) Widerstandsrecht s.u.
90 f.
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Einzelsünde die geistliche Staatsbürgerschaft, sondern ist nur als Störung des christlichen Status zu werten; aber wenn die Sünde die Herrschaft im Herzen antritt, verkehrt sich augenblicks der Rechtsstand: der Abtrünnige ist ipso iure zum civis diaboli geworden55.
Christus dagegen bricht in die „Welt” ein, entreißt durch die Predigt dem Teufelsreich seine Anhänger und einverleibt sie durch die Taufe dem Gnadenreich. Sie kehren dem Satansreich den Rücken, ändern damit ihr geistliches „Personalstatut” und werden Bürger des Christusreichs56.
Es ist ein äußerst dynamisches Bild, das die Zweireichelehre bietet! Charakteristisch ist ihr „Antagonismus”57 und ihr entschieden wertender Charakter. Rechts sind die guten Schafe, links die bösen Böcke — ein Dazwischen gibt es nicht. Auch nicht durch die Taufe58!
Der eschatologische Dualismus Heckels geht sehr weit. Seine Lehre von den beiden Reichen spiegelt in kosmisch-apokalyptischen Dimensionen die „schneidende Schärfe” des Kampfes zwischen Gott und Satan wider. „Zwischen (den beiden Reichen) findet keine Wesensähnlichkeit statt, eine analogia entis untereinander ist ausgeschlossen”59.
Ist das nicht ein metaphysischer absoluter Dualismus, ein Manichäismus oder gar die Irrlehre des Marcion?
Nichts von alledem. Denn zur Reichslehre im Grundsinn gehört die Regimentenlehre. Erst beide zusammen machen die Zweireichelehre Heckels aus, und erst ihre Verknüpfung vermag die Einheit von Reichs- und Regimentenlehre im göttlichen Weltplan sichtbar zu machen.
55) NR 38 A. 1, IZ 7 A. 19, 11; das ist die
excommunicatio interna, s.u. 191; anders und schärfer
RuG 325 „schon das geringste Zögern”! Mißverständlich auch noch
Lex 132, jedes consentire peccato zerstöre
„augenblicklich” die Christuszugehörigkeit (richtig Ernst Wolf
ZevKR 1955 241 A. 22 a. E.).
56) Lex 37, 44 A. 275. 66, 122 ff. i. V. m. 134, 127;
unten 78 ff.
57) Th. Heckel 1961 114. — ZRL 1939; KuK 235 mit
Hinweis auf den mittelalterlichen corpus-Begriff; a. M.
G. Hillerdal 1955 162; dazu IZ 9 A. 29.
58) Mt 25.33; NR 38, Lex 43 f., IZ 34 f., RGG I 1872.
— Vgl. Lex 43 A. 269 non (est) medium regnum inter regnum Dei
et regnum Satanae, mutuo sibi et perpetuo pugnantia, WA
XVIII 743, 32; zum apokalyptischen Charakter der Reiche s.u. 221
ff. 228 ff.
59) NR 38, Lex 46; ähnlich RuG 318; übernommen von Th.
Heckel FS Heckel 258; anders P. Althaus 1965 60 f., jedoch für
die „Reiche” als Regimente. Allg. zum Dualismus NR 45, Padua 330
u. v. a., schließlich unten 221 ff.
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Mit einem schrillen Mißklang endete die Reichslehre im Grundsinn. Der Kampf der beiden Reiche drohte den Kosmos zu zerstören; die Welt schien ins Chaos versinken zu müssen.
Aber da meldet sich der Zweifel. Wie kann es angehen, daß die Menschen im Teufelsreich unter der Fron des Fürsten dieser Welt verkommen, daß sie noch dazu alles tun, was ihren eigenen Untergang beschleunigt? Gibt es kein Überleben in diesem Reich der Finsternis? Keine Ordnung? Wie kann daneben überhaupt noch das Christusreich bestehen, ohne sogleich vernichtet zu werden? Wie sollte es noch Jünger Christi geben, die nicht sofort vom Satan zerfleischt würden, wie Kirche und Recht „bis an der Welt Ende”?
Darauf antwortet die Regimentenlehre. Sie ist der „zweite Abschnitt” der Zweireichelehre1. Sie handelt von der Herrschaft Gottes über die beiden Reiche. Deshalb gibt es zwei „Regimente”2: Das „geistliche Regiment” ergeht über das Reich Christi (unten a), das „weltliche Regiment” führt das Reich der Welt3 (unten b). Ihre verborgene Einheit liegt im einen Rechtswillen Gottes (unten c).
Das Reich Christi lenkt Gott mit dem geistlichen Regiment. Er führt damit die gläubigen Christen in die ewige Heimat. Das ist der heilsgeschichtliche Sinn4 des geistlichen Regiments. Damit ist auch schon gesagt, wer ihm einzig und allein untersteht5: es sind die Bürger des Christus-reiches. Denn nur sie hören auf das Wort ihres Herrn.
Auf eine eigene Weise geschieht dieses Regiment6. Gott weidet seine Schafe durch Christus und das Evangelium, will sagen Wort und Sakrament. Äußere Macht und weltliches Schwert haben hier nichts zu
1) IZ 6, 8, 31 f., AS 61, Padua 330 f.; zweites
Strukturelement, ZRG 1959 391; zweites Kapitel, ZRG 1960 622.
2) „Einwirkung eines Regenten auf ein corpus”, IZ 12.
Regiment heißt also so viel
wie Regierweise.
3) Lex 40 f., WO 158, IZ 11 f.
4) AS 57 ff.
5) Dazu ZRG 1960 622. Darin liegt die wichtigste
Abweichung von der h. M., s.u. 6241.
6) Dazu Lex 41, IZ 11, ZRG 1960 622.
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suchen, denn das Regiment vollzieht sich „rein geistlich”, „innerlich” und „verborgen” im Herzen der Gläubigen7. Man nennt es deshalb mit Recht das Regiment der Gnade und Liebe Christi8.
Zur Ausübung seines Regimentes bedient sich Gott des Menschen. Gott regiert durch Menschen. Freilich sind sie nicht seine „Stellvertreter”, sondern bloße „Boten” und „Werkzeuge”9. Dazu hat er ein „Amt”10 eingesetzt. Es ist das „Predigtamt”11.
Das Weltreich beherrscht Gott mit dem „weltlichen Regiment”. Damit straft er die cives diaboli für ihre Sünde und erhält sie zugleich für seine Gnade. Aus Liebe hüllt sich Gott in Strenge13. Er rettet sie vor völliger Zerstörung durch den Teufel und bewahrt sie für die Predigt des Christusreiches. Das ist der heilsgeschichtliche Sinn des weltlichen Regiments.
Auf gänzlich andere Weise muß Gott hier seinen Willen durchsetzen. Im Weltreich herrscht er durch das „Gesetz” über die „Böcke” — nicht
7) Init. 81 f., Lex 38 f. das „geistliche
Schwert”, 44, IZ 8 f., 13; obwohl es durch die Predigt geschieht,
ist es wegen seiner Wirkung „verborgen”.
8) Padua 331.
9) Dazu Lex 41 f., 44, IZ 11 u. ö.; Gru. LWB 81. Ein
inkarnatoriscb.es Element!, a. M. Init. 39 f. A. 162. Auch als
„geistliche Richter” urteilen sie rein deklaratorisch. Dazu Lex
38 f., 44 f., IZ 11,14 f., AS 52, KuK226. Denn Christus solus
dominus, IZ62ff., KuK 225 und oben 39. Freilich ist die
(privatrechtliche?) Unterscheidung zwischen Werkzeug, Bote und
Stellvertreter rechtsanthropologisch und vor allem exegetisch
sehr zweifelhaft geworden (vgl. statt anderer die Analysen von
ἀποστέλλω, ἀπόστολος und von κῆρυξ κτλ. durch K.H. Rengstorf und
G. Friedrich in ThW I 397 ff., III 682 ff.). Ihr richtiger Kern
besteht darin, daß es vor Gott kein Ansehen der Person oder des
Amtes gibt.
10) Regimentsämter, ZRL 1940 f.; Lex 42, 44, 161 f.,
IZ 11 f. Amt ist hier nicht im technischen Sinn gebraucht, weder
weltlich-rechtlich (Lex 35), noch kanonistisch (dazu CIC can. 145
f., K. Mörsdorf I 281 ff.), noch evangelisch-kirchenrechtlich
(dazu Gru. ThLZ 1963); eine engere Verwandtschaft besteht dagegen
zum biblisch- (Gewiess-Karrer HthG I 31-49) theologischen
Amtsbegriff (O. Semmelroth, W.O. Munter), bes. zu den „drei
Ämtern” Christi (Wolf OdK 602); er ist aber formalisiert und
ausgeweitet auf das „Amt” der Obrigkeit.
11) D.h. grundsätzlich das ministerium verbi
publicum, ZRG 1960 622; a. M. Gru. LWB 78 f. Ob das Amt das
einzige Instrument ist? Vgl. unten 214 f.18.
12) Zu dieses Regimentes Sinn, Weise, Werkzeug, Amt,
Zugehörigkeit vgl. wieder A. 4, 5, 6, 9, 10.
13) Es ist eine ira misericordiae, eine
„zornige Liebe”, die sich um der Menschen willen in Strenge
hüllt, Lex 44, AS 1956 46, Padua 329.
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„geistlich” und „innerlich” wie im Christusreich, sondern „leiblich” und „äußerlich” — und zwingt sie mit dem „weltlich schwertt” zur „Gemeinverträglichkeit”14. Dafür hat Gott als Mittel und Werkzeug seines Handelns das „Amt” der „Obrigkeit” eingesetzt15.
Weil die Bürger des Christusreiches des Zwanges nicht bedürfen, unterliegt dem weltlichen Regiment ausschließlich, wer dem Satan hörig ist. Deshalb heißt es — etwas einseitig — das Regiment des Gerichts, des göttlichen Zornes und Zwanges16.
Zwei Regimente Gottes mit verschiedenen Aufgaben, auf unterschiedliche Weise und mit getrennten Mitteln — und dennoch ein Gott! Wie ist das zu verstehen?
Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß die beiden Regimente, wie schon die zwei Reiche, geistlich und personhaft-eschatologisch sind. „Geistlich” sind sie, weil nur der glaubende Christ ihren heilsgeschichtlichen Zusammenhang einsieht17. Beide Regimente dienen dem Heil des Menschen (oder besser: dem Reich Christi), das geistliche direkt, das weltliche indirekt. Personhaft und eschatologisch18 soll man sie nennen, weil sie erstens in den Ämtern durch Personen ausgeübt werden, weil zweitens die personale Entscheidung des Menschen für Christus oder den Satan nicht nur über seine Zugehörigkeit zu einem der beiden Reiche entscheidet, sondern zugleich darüber, welchem Regiment Gottes er untersteht.
14) IZ 8 ff., 12, Lex 36, ZRG 1960 624.
Rechtliche Begründung des Zwangscharakters s.u. 104 109 f. — Ob
die beiden Regimente der rechtliche Ausdruck von „Gesetz und
Evangelium” sind (vgl. Luther IZ ebd. und Lex 42 f. A. 268; Gru.
FS Arnold 48 bejaht; a. M. P. Althaus 1965 59 m. Lit., aber weil
der Christ auch dem weltlichen Regiment unterliege; anders für
Luthers Anfänge ebd. 55), läßt He. offen (in den beiden
gründlichen Sachverzeichnissen in Lex und Wort fehlt das
Stichwort!), vielleicht um dieses neulutherische Kampfthema zu
vermeiden.
15) WO 158, WS 35 f., 73 ergänzen für das weltliche
Regiment als zweite „Erzgewalt” die Ehe bzw. das Hausregiment. Zu
Obrigkeit und Ehe s. u. 113 f. 165 ff. Zu beachten ist, daß die
Obrigkeit nicht das weltliche Regiment innehat, sondern nur sein
Werkzeug ist! Auswirkung für das positive Recht: s.u.
11484.
16) Init. 82, AS 1956 46, ZRG 1959 391 und
ständig.
17) Lex 45 A. 289, 98 A. 737, Regim. 262; RuG 347
regnum absconditum.
18) Vgl. auch IZ 19 f., die cives diaboli
führen den eschatologischen Kampf auch gegen die Regimente
Gottes.
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Weiterhin ist eine wichtige Einschränkung beiden Regimenten gemeinsam. Sie sind durch menschliche Werkzeuge vermittelt und heißen deshalb zusammen das regimen Dei externum. Nur „die äußere Schauseite des göttlichen Weltregiments” wird in Predigtamt und Obrigkeit erfahren. Und nur davon handelt die Regimentenlehre! Sie erfaßt also keineswegs das ganze göttliche Handeln in der Geschichte19! Aber wie das sichtbare signum auf die verborgene res ipsa hinweist20, so das regimen Dei externum auf den göttlichen Weltplan.
Damit wird der letzte Grund der Regimentenlehre sichtbar. Er liegt in der Einheit des göttlichen Rechtswillens, der sich in den beiden Regimenten äußert. Nichts ist Gottes Hoheit entzogen, auch nicht das Gegenreich des Satans und seine Gefolgschaft21. „Gottes Natur und Sein” bleibt sich gleich. Von Gott aus gibt es in der Tat nur ein einziges Regiment, das Regiment des wirkenden „Wortes” oder, was für Luther das gleiche ist, die creatio continua22.
Luther beantwortet also die Frage nach der Einheit des Handelns Gottes, die die mittelalterliche Theologie so sehr bedrängte, ganz im traditionellen Sinn durch den Hinweis auf die göttliche Liebe23.
Wenn man alle Aussagen über das Regiment Gottes, Christi und des Teufels zusammenstellt, dann ergibt sich folgende Gliederung:
19) Lex 42, Regim. 259; ähnlich P. Althaus 1965
50 f. Das ist von entscheidender Bedeutung für das Gespräch mit
der „christokratischen” Rechtslehre, die diese Einschränkung
nicht macht (s.u. 292 f.). Doch auch He. kennt und bejaht die
„Herrschaft Christi über die ganze Welt (s. anschließenden Exkurs
I).
20) Regim. 259.
21) NR 45 (mit Hinweis auf G. Törnvall und P.
Brunner), 48 f., Lex 40, WS 73, AS 56 f., ZRL 1940; Gru.
„Ur-Zentrum”, ZevKR 1957/58 280 f., ÖAfKR 1965 293. — Eine
weitere (nur formale) Verbindung ergibt sich daraus, daß auch
beim Regiment (wie beim Reich) drei Momente unterschieden werden:
Herrschermacht, Herrschaftsweise, Herrschaftsvolk, Lex 36 ff., IZ
8, 13, ZRL 1938.
22) Lex 41, IZ 8 ff., ZRL 1938; aber zwei Reiche!,
wegen des influxus satanae, 12 9 A. 29 zu R. Bring GS
Elert 152. Zur creatio continua vgl. AS 61, IZ ebd.
gegen G. Hillerdal.
23) S.u. 77 f. und W. Steinmüller 328 ff. Zur analogen
Einheit beider Regimente s.u. 50 ff. 110 67 (Ernst Wolf) und P.
Althaus 1965 60 f., 65 f.
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I. Das göttliche Weltregiment besteht aus
1. dem regimen Dei externum, nämlich
a) dem geistlichen Regiment über das Reich Christi;
b) dem weltlichen Regiment über das Reich des Teufels.
Nur das gehört zur herkömmlichen Regimentenlehre. Außerdem (und
nicht weniger bedeutsam):
2. dem (von Heckel nicht so genannten) regimen Dei
internum
a) gratiae, nämlich wo das öffentliche Predigtamt
nicht zur Stelle ist oder sein kann;
b) irae, nämlich im geistlichen Strafgericht
Gottes über den Sünder;
3. dem regimen Christi in regno Christi
a) im Sinne der Reichslehre im Grundsinn, nämlich der
geistliche (d.h. hier innerliche) influxus capitis in
membra24 secundum humanitatem.
(Davon streng zu unterscheiden ist das „geistliche Regiment” im
Sinne der Regimentenlehre; es ist regimen Dei externum,
s.o. 1 a25).
b) als regnum Christi absconditum in regno
diaboli26 (!), also (zusammen mit a)) über die
ganze Schöpfung — wobei der Unterschied zu a) darin besteht, daß
Christus nicht als bestimmendes Haupt regiert27, weil
sein Rechtswille im Reich der Welt nicht anerkannt
wird28. Dort „regiert” er also jetzt nur verborgen,
d.h. secundum divinitatem29. (Damit ist die
Brücke zu „christokratischen” Rechtslehre geschlagen!)
c) als regnum Christi secundum divinitatem nach
dem Letzten Gericht, das ist das Regiment Christi zusammen mit
dem Vater30.
II. Das Regiment des Teufels besteht
1. in seinem Reich i. S. des influxus diaboli in
membra31;
2. über die ganze Menschheit32 und namentlich im
simul peccator et iustus33 (kollektiver und
individueller Aspekt des apokalyptischen
24) Vgl. Lex 38.
25) He. hält diesen diffizilen Sprachgebrauch selbst
nicht durch, obwohl die bezeichnete Sache für sein Kirchenrecht
grundlegend ist (vgl. u. 1797).
26) Vgl. RuG 342, IZ 6, 8, AS 60 f.; anscheinend a. M.
P. Althaus 1965 53 f.
27) Also ohne influxus capitis, IZ 8, 47.
28) Ebd. und AS 1956 41 f.; zur konstitutiven
Bedeutung der Anerkennung für die Rechtslehre vgl. unten 95 100
450; anders bei Wolf, unten 317 f.
29) Gru. FS Arnold 45, nämlich insofern die Predigt an
das Reich der Welt ergeht (ZRL 1941, Gru. ZevKR 1957/58 280), das
sie aber nicht annimmt (und wenn sie es tut, ist sie nicht mehr
„Welt”!), sondern „leiblich” mißversteht: das regnum
Christi wird so zum weltlichen Regiment Gottes!, IZ 8 f., AS
60.
30) S.o. 39 f. 26.
31) Lex 36, IZ 32.
32) ZRL 1938, Gru. ZevKR 1957/58 280 f.; näheres FS
Arnold 45 f. m. A. 49 f.
33) IZ 8, AS 62.
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Kampfes der beiden Reiche). (Auch das regimen diaboli hat in der
Regimentenlehre nichts zu suchen, weil es in ihr allein um den
Erweis der Oberhoheit Gottes geht.)
III. Wenn man die spiritualistische Unterscheidung von „Außen”
und „Innen” wegläßt, so zeigt sich folgendes Schaubild:
Im Lichte der Regimentenlehre wird nun auch der innere Einheitspunkt der ganzen Zweireichelehre erkannt: die Zuwendung Gottes zum Menschen. Die eine Gottesherrschaft, oder was das gleiche ist, das eine göttliche Rechtsgebot, trifft auf die Annahme oder Ablehnung des Menschen; Rechtsfolge sind einerseits die beiden Reiche: sie sind der Weltentwurf der Rechtfertigung und des Unglaubens im Spiegel des Rechts; andererseits bleibt gleichwohl Gottes Oberherrschaft über beide Reiche bestehen: das ist das regimen verbi, das von den cives Christi verstanden, von den cives diaboli verkannt wird, oder anders das geistliche und das weltliche Regiment.
Die Verschiedenheit der Reiche und Regimente liegt also im Menschen begründet. Sie „ist damit letztlich ein anthropologisches
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Problem”1. Wie es duo genera hominum gibt, das Christusvolk und das Satansvolk, so zwei Arten, das eine göttliche Wort aufzunehmen. Die Christen empfangen es im Glauben und wenden sich zu Gott. Das Wort kann in ihr Herz eingehen. Die Unchristen stehen unter dem influxus diaboli, verschließen ihr Herz und kehren sich ab. Nur noch äußere Dinge können sie beschäftigen. Deshalb kann Gottes Regiment nicht in sie eindringen und bleibt äußerlich; im Herzen sitzt ja der Unglaube. Sie verstehen Gottes Gnade nicht, bemerken nicht einmal ihre göttliche Herkunft. Gleichwohl erhält sie Gott und leitet sie; sein schaffendes Wort bleibt nicht ohne Wirkung. Aber sie erleben die liebevolle Erhaltung als Zwang und Strafe. Noch mehr: sie empören sich und versuchen nicht nur Gottes Weltregiment auf jede Weise zunichte zu machen; sie möchten sogar sein geistliches Regiment zerstören2.
Drei Grundsätze lassen sich daraus ableiten. Erstens: die Zweireiche-lehre ist „aus einem Guß”. So scharf Reiche und Regimente zu unterscheiden sind, so eng gehören sie innerlich zusammen: in der Allmacht3 und im Liebes- und Rechtswillen Gottes4 wie in ihrer geistlich-personhaft-eschatologischen Struktur. Zweitens: das Weltreich und das ihm zugeordnete weltliche Regiment sind nur sekundär. Sie stehen dem Gnadenreich und dem geistlichen Regiment logisch und in der Rangfolge hintan5. Nur weil es das Reich Christi gibt, findet sich auch der Irrtum des Gegenreiches, und nur um des Christusreichs und seiner Freiheit willen duldet Gott das Weltreich und erhält es in relativer Ordnung. Es gibt keine absolute Eigengesetzlichkeit der Welt! Denn der Satan schafft kein Recht, nur Gott. Alles ist Gottes Herrschaft
1) Gru. AÖR 1959 17, ÖAfKR 1965 292.
2) Lex 41 f. m. A. 265, 44, IZ 8 f., 13 f., 35 f., AS
61 f., ZRL 1938.
3) WO 158, AS 63, Padua 331.
4) NR 45, IZ 18.
5) Ebenso P. Althaus 1965 62, Ernst Wolf II 218 ff.;
daraus zieht letzterer den (wohl zutreffenden) Umkehrschluß der
logischen Vorordnung der Christologie vor die Zweireichelehre
(ebd. 225; ebenso G. Gloege 1964 25 A. 35, W. Pannenberg 1964 390
f. m. A. 24) zugunsten der „Einheit der Herrschaft Christi über
beide Reiche im Verborgenen” (ebd. 227) — was nichts anderes ist
als das regnum Christi absconditum (also nicht i.S. der
Regimentenlehre, vgl. wieder Exkurs I unter I 3 b) durch die
lex spiritualis latens (s.u. 108 ff.). Damit wird die
Zweireichelehre zur noetisch notwendigen Explikation der
christlichen Existenz, d.h. des Bekenntnisses zur verborgen
gegenwärtigen Königsherrschaft Christi (so Ernst Wolf II 221 f.,
228 f., G. Ebeling 1962 407 ff.).
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unterworfen. Drittens: Nur der Christ kennt das eigentliche Wesen der Reiche und Regimente6.
Man darf also zusammenfassen: Reiche- und Regimentenlehre bilden eine komplementäre Einheit7.
Das kommt bei Luther zum Ausdruck erstens in der Doppelbedeutung von regnum und Regiment (unten a), zweitens unter der Bezeichnung „Reich Gottes zur Rechten — zur Linken” (unten b). Nach diesen Klärungen kann die schwierige Streitfrage beantwortet werden, ob der Christ „Bürger zweier Reiche” sei (unten c).
Zusammenhang und Unterscheidung von Reiche- und Regimentenlehre zeigen sich terminologisch darin, daß Luther in einer quaternio terminorum sowohl regnum („Reich”) als auch Regiment doppelsinnig gebraucht. Regnum kann bei ihm nicht nur Reich, sondern auch Regiment heißen, und umgekehrt Regiment auch Reich8. Nicht wenig Konfusion ist daraus bei den Lutherforschern entstanden; aber Heckel glaubt, daß er sie entwirrt hat.
Regnum im ersten (und Haupt-)Sinn ist gleich dem corpus mysticum9 (Christi oder des Satans). Oder anders: Reich ist hier so verwendet wie in der Reiche-Lehre.
Regnum im zweiten Sinn ist gleich dominatio (oder regimen). Das will sagen: Reich heißt hier so viel wie Regiment10.
In diesem Doppelsinn der beiden Begriffe kommt wieder die Einheit
6) WO 166 u.ö.
7) Regim. 257, WS 73; IZ 39 unauflöslicher
Zusammenhang; nicht Ableitung!, IZ 32 gegen P. Althaus; aber
eines ist aus dem andern zu entwickeln, Regim. 260; „aus einem
Guß”, IZ 10, ZRL 1938, ZRG 1960 622.
8) Padua 331, ZRL 1939; regnum: YZ 10, 14,
Padua 330 f. u.ö.; zuerst bemerkt von Einar Billing 165 ff., IZ 6
A. 12; Regiment: Lex 35 A. 188, IZ 10; wie in der alten
Rechtssprache üblich, Lex 36; für Regiment i.S. von Amt IZ 11.
Auch die h. L. vertauscht Reich und Regiment, aber ohne die
Verschiedenheit der Inhalte zu bemerken (s.u. 61 f.) — was sich
(ungeachtet vieler Heckel-Zitate) fortsetzt in der Untersuchung
J. Bidingers ARSP 1965 337 ff. m. A. 1 zur Rechtshermeneutik
Luthers.
9) IZ 6, AS 61, ZRL 1937; in AS 1956 41 und ZRL 1937
f. unterscheidet He. die drei Elemente des
regnum-Begrißs (caput, influxus
[regimen], membra) auch am corpus.
10) IZ 8, AS 61; vgl. das Luther-Zitat IZ 14 m. A. 40.
Nur im zweiten Sinn (Reich = Regiment) kann von der
„gegenseitigen Zuordnung” der beiden Reiche gesprochen werden
(vgl. Gru. FiLex 3 184).
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des göttlichen Liebes- und Rechtswillens zum Ausdruck, der sich auf die ganze Menschheit richtet.
Unter dieser Allegorie11 verbirgt sich nicht etwa das Reich Christi und das des Satans — obwohl selbst Heckel sich gelegentlich sorglos ausgedrückt hat12. Vielmehr heißt „Reich” hier Regiment13.
Das Reich Gottes zur Rechten ist also das geistliche, das Reich zur Linken das weltliche Regiment Gottes.
Oder anders: Das Reich Gottes zur Rechten ist das Regiment Christi über das Christenreich und das zur Linken ist das Regiment Gottes über das Widerreich14.
Gott läßt seine Sonne scheinen über Gerechte und Ungerechte; er wird aber auch scheiden zwischen Schafen und Böcken und sie zu seiner „Rechten” stellen und zur „Linken”.
Die herrschende Ansicht15 lehrt: Der Christ ist „Bürger zweier Reiche”, weil er simul iustus et peccator ist. Als Gerechter gehört er in das Reich Gottes zur Rechten, als Sünder in das Reich zur Linken; als
11) Nach Ps 109 (110); NR 37 f., Lex 43, IZ 15,
34 f., AS 63; zur Rechts-Links-Symbolik bei Luther und Augustin
vgl. IZ 34 f.; zu Mt 25.33 s.o. 4458.
12) Doppeldeutig sind (mit Luther) etwa folgende
Stellen: „Das Reich Gottes zur Rechten ist das regnum
gratiae”, NR 38, Lex 43; „ist wesensgleich (!) mit dem Reich
Christi”, AS 63; „besteht aus” Christen, NR 38, Lex 43; ist die
Kirche auf Erden, WO 158. Und umgekehrt: Das Reich Gottes zur
Linken ist „die gottlose Menschheit” unter der Allmacht Gottes,
WO 158, WS 36, AS 63; „das weltliche Regiment ist von Gott für
sein Reich zur Linken eingerichtet” (statt für das Reich der
Welt), KuK 270 f. Die Folge ist, daß auch Gru. das Reich Gottes
zur Rechten dem Reich der Welt gegenüberstellt (LWB 32 ff.; vgl.
FiLex 3 183 u.a.).
13) IZ 15, 33, AS 65, Padua 331, ZRL 1940.
14) AS 63, IZ 26 ff. m. A. 82, 33 m. A. 113; beide
gegen P. Althaus ThLZ 1956 133. Zum Regiment Gottes bzw. Christi
s.o. Exkurs I 48 ff.
15) AS 1956 48; F. X. Arnold 39; ferner E. Klüngel, F.
Lau, K. Klein (nach Lex 134 f. A. 1093), G. Hillerdal (Regim.
260), G. Törnvall (Gru. LWB 28 f., FiLex 3 182 f., ELKZ 1960 161,
u.ö.), P. Althaus (IZ 25; Gru. FS Arnold 41; — P. Althaus
unterscheidet jetzt zwischen Luthers Früh- und Spätzeit: 1965 58
f.; für früher vgl. ThLZ 1956 134 A. 9), ZRG 1957 501; ergänzend
wäre zu verweisen z.B. auf H.H. Wolf ESL 941; für die
Vergangenheit sind zu erwähnen Marsilius (Padua 283), ähnlich
Otto von Freising (J.B. Lotz in WS 79).
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iustus unterliegt er dem geistlichen Regiment, als peccator dem weltlichen — denn er muß für seine Sünden bestraft und vor allem zum Dienst in der Welt veranlaßt werden16.
Aber wenn wirklich alle wahren Christen Bürger des Christusreichs sind und die Unchristen zum corpus diaboli gehören, wenn noch dazu die beiden Reiche im Kampf auf Leben und Tod liegen17, dann ist eine Folgerung unausweichlich: der Christ kann nicht Bürger beider Reiche sein.
Wenn außerdem alle Christen ausschließlich dem geistlichen Regiment gehorchen und nur die Unchristen dem weltlichen unterliegen18, dann steht ebenso fest, daß der Christ einzig Bürger des Reiches Gottes zur Rechten ist. Entgegen der ganz herrschenden Meinung gilt also der Satz: Der Christ ist nicht „Bürger zweier Reiche”19 — gleich ob „Reich” hier regnum oder regimen heißt.
Wie ist das zu verstehen? Daß der Christ nicht den Teufel zum Haupt haben kann (Reichslehre im Grundsinn) ist einzusehen, denn „Rechtfertigung ist Herrschaftswechsel” (G. Gloege)20. Daß aber der Christ auch von der weltlichen Obrigkeit frei sein soll (Regimenten-lehre), heißt das nicht, die Freiheit zum Deckmantel der Bosheit machen? Und ist nicht der Christ im Gewissen verpflichtet, den Anordnungen der Obrigkeit sich zu fügen (Röm 13)? Nein und Ja!
Nein, denn der Christ ist vom Recht des Reiches Gottes zur Linken und damit vom Zwang des weltlichen Regiments „exemt”. Es hat keine Rechtsgewalt und -zuständigkeit über ihn, nicht im Verhältnis von Mensch zu Mensch, erst recht nicht im Verhältnis zu Gott. Das Grundrecht der christlichen Freiheit ist unverzichtbar. So ist er in jenem Reich ein Fremdling zugleich aber ein freier Herr aller Dinge, die er gebraucht, als brauche er sie nicht, und niemandem Untertan21.
16) Regim. 258, IZ 25.
17) S.o. 37 ff. 43 f.
18) S.o. 45 ff.
19) Gegen diese scheinbar so harmlose Formel vgl. Lex
43, 134, WO 162, AS 1956 47 f. („Bürger zweier Welten”), IZ 15
ff., 28. Ebenso Gru. LWB 34, FS Arnold 48 u.ö., Th.Heckel FS
Heckel 257 f.; Ernst Wolf stimmt zu, ZevKR 1955 242, ZevKR
1957/58 271 f., 1958 55, II 193, 224 f., u.ö.; „dialektisch”
dagegen Erik Wolf RidK 825, GrundO 152, DO 54, 58, GRD 146
u.ö.
20) S.o. 42 und Regim. 259, mit Ernst Wolf I 174 ff.;
Gru. (s. u. 164 93) hebt mit Recht das eschatologische Moment
hervor; vgl. auch G. Gloege 1964 25.
21) Als juristische Ausprägung zweier theologischer
Tatsachen: Christus hat die Herrschaft des Satans gebrochen (Lk
10.18, vgl. AS 62) und das Gesetz erfüllt ➝
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Und dennoch ja! Denn sein Grundgesetz ist die Liebe zu Gott und dem Nächsten. Sie bewegt ihn, bei dem weltlichen Regiment Gottes mitzuarbeiten, um die Welt vor dem stets durch den Teufel drohenden Untergang zu bewahren.
Beide Rechtstitel, die Freiheit von der „Welt” und die Bruderliebe, die zum Weltengagement führt, stammen aus dem Reich Christi und dem geistlichen Regiment Gottes. Der Christ ist also auch aus diesem Grund nicht „Bürger zweier Reiche”22.
Heckel findet in der Geschichte der Deutungen der Zweireichelehre Luthers zwei Grundformen (unten a), die heute als das personhafte und das funktionale Verständnis wiederkehren (b). Zum Abschluß soll die Zweireichelehre Heckels mit der neutestamentlichen Äonenlehre (c) und mit Augustins civitas Dei und civitas terrena (d) verglichen werden.
Wie sieht Heckel die Entwicklung der Zweireichelehre? Für ihn ist sie im wesentlichen eine Geschichte der Mißdeutungen Luthers, auf deren Hintergrund sich die wahre Sicht Luthers um so deutlicher abheben soll.
Es ist unbestritten, daß der Ursprung der Zweireichelehre bei den zwei civitates Augustins liegen muß.
Heckel beschränkt sich darauf, diese Übereinstimmung festzustellen und hervorzuheben, daß der Unterschied darin bestehe, daß Luther
➝ (Röm 7, bezogen auf das weltliche Regiment); NR 51 ff.,
Lex 134 f. A. 1093 und 1096, 138, 147, 172 f., 180, WS 39, AS 65,
Padua 333, IZ 15, 48, ZRL 1944. Luther hat damit das kanonische
privilegium fori der Geistlichen auf die homines
spiritualles als die wahrhaft „Geistlichen” übertragen (IZ
15 f. gemäß 1 Kor 2.15: omnia iudicant et a nemine
iudicantur) und ihre weltliche Exemtion bekämpft (Lex 173,
IZ 16 f. A. 48, Padua 333). Diese Übertragung klerikaler
Vorrechte auf alle Christen begegnet auch sonst; Luther leugnet
ja den geistlichen Unterschied des Klerikers vom Laien vor Gott
(Lex 137, Grat. 502, u.ö.).
22) Die tiefere Begründung kann erst in der
Rechtslehre gegeben werden.
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das Teufels- und das Christusreich weit schärfer gegenüberstelle, was auf die pessimistischere Anthropologie, besonders Erbsündenauffassung Luthers zurückgehe1.
Doch mit der Scholastik soll der große Reformator (außer rein terminologischen Resten) nichts gemein haben, so wenigstens die allgemeine Ansicht.
Aber schon der „katholische Luther” verwendet alle tragenden Begriffe der späteren Reichelehre wie selbstverständlich in seiner ersten Vorlesung 1513-15! Sie müssen ihm also überkommen sein. Heckel findet eine, wenn vielleicht auch nicht die Quelle: In Gabriel Biels „Sacri canonis missae expositio” 1499 findet sich zur Himmelreich-Bitte des Vaterunsers die ganze Reichelehre in nuce!
Die Unterschiede zu Biel sind auf den ersten Blick nicht groß: Luther denkt christozentrisch (vom regnum gratiae her), Biel theozentrisch (vom regnum Dei aus). Aber was bei Biel nur eine von vielen scholastischen Distinktionen war, wird bei Luther Mitte der Theologie. Vor allem stammt daher Luthers „personhaftes” Denken, kostbares Gut des Mittelalters, aber crux interpretum modernorum2 . . .
Luther selbst hat die Lehre von den Zwei Reichen zeit seines Lebens beibehalten3 und ausgebaut4.
Was ist aus Luthers Zweireichelehre geworden? Sie geriet schnell in Vergessenheit. Nur der Verfasser der Hannoveraner Kirchenordnung von 1536 (sie galt bis in unsere Tage!), Urban Rhegius, faßt sie noch
1) Lex 31, Grat. 509 f., WS 81, AS 57, IZ 44;
Gru. FS Arnold 39, 50 f. — Es hat den Anschein, als ob He. die
augustinische ZRL nicht näher gekannt hat — was für sein Ergebnis
um so bedeutsamer ist.
2) AS 58-60, ZRL 1937; weitere Unterschiede: stärkere
Spiritualisierung (NR 37, Lex 31, IZ 44), namentlich des ins
divinum, damit zusammenhängend der Kirche (AS 1956 40 f.).
3) IZ 28 f., WS 34, AS 62 f. gegen die Auffassung,
Luther habe die augustinische Reichelehre später zugunsten der
Regimentenlehre aufgegeben (z.B. P. Althaus 1965 49 ff., 55 ff.,
67 f.).
4) 1516, 1518/19 fügt Luther die Rechtfertigungslehre
ein, so daß die Kirchengliedschaft deutlicher wird (AS 62),
ferner das Reich Gottes zur Rechten und Linken (ebd. 63),
schließlich das Verhältnis Kirche-Staat (1520; ebd. 63 ff.), so
daß ab etwa 1525 das Gebäude der Rechtstheologie errichtet ist
(s.o. 219).
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einmal zu einem Breviarium zusammen und stellt sie der Kirchenordnung als theologische Präambel voran5. Aber schon bei Melanchthon tritt sie zurück zugunsten der Regimentenlehre, ebenso in den Bekenntnisschriften6.
Diese Richtung wird verstärkt durch „die politischen und religiösen Notwendigkeiten”; sie verdecken Luthers Intentionen — bis zu Heckels Forschungen.
Er unterscheidet drei Gestalten, die die Reichslehre in den Jahrhunderten seit der Reformation angenommen hat; die der lutherischen Orthodoxie, die des Neuluthertums und die der schwedischen Theologie7. Ihre Gemeinsamkeit ist seit der Orthodoxie des ausgehenden 16. Jahrhunderts negativ die Unkenntnis der Reichslehre im Grundsinn und positiv das Leitbild des „christlichen Staates”8.
Es gibt also zwei Grundformen: die Reiche- und Regimentenlehre Luthers nach Heckel, und die gesamte „ehrwürdige Tradition” von der altlutherischen Orthodoxie des 16. Jahrhunderts bis in die Gegenwart.
Die Orthodoxie stand vor der Notwendigkeit, den Status quo gegen die katholische Kontroverstheologie zu behaupten. Man will die damalige Form des landesherrlichen Kirchenregiments rechtfertigen (die man den Intentionen Luthers gemäß wähnte) und die katholische Soziallehre abwehren9. Es ist klar, daß das nicht ohne Verbiegung des Ansatzes Luthers abgehen konnte. Aber diese staatstreue Interpretation durch die Orthodoxie ist ungebrochen bis in die Gegenwart wirksam10. Was geschieht? Man benützt Ansätze von Melanchthon11, besonders aber von Schülern Luthers, die ihren Meister nicht mehr verstehen12;
5) ZRG 1960 623-625.
6) ZRL 1944 (a).
7) Zum folgenden AS 51-57; sonstige Belege
laufend.
8) Dazu s. u. 168 f.
9) Die Beziehung war anscheinend gegenseitig. So zeigt
etwa Bellarmins bekannte Kirchendefinition Melanchthons
Terminologie der Bekenntnisschriften deutlich genug, wenn auch
unter diesen Begriffen etwas anderes ausgesagt wird (ebenso He.
Mel. 89, M. Schmaus KD III/l 44); umgekehrt liest sich die
orthodoxe Regimentenlehre gelegentlich wie ein lutherischer
Suarez ohne ins divinum des Episkopats . . . Ein Vergleich der
Rechtstheologie z.B. Bellarmins oder Suarez’ etwa mit dem
lutherischen Theologen J. Gerhard dürfte manch überraschenden
Fund zeitigen!
10) Regim. 265 zu G. Hillerdal, ZRL 1944 f.
11) Cura; ZRG 1959 398 f., ZRG 1960 622; M. Heckel 239
ff.
12) Zur Regimentenlehre von A. Corvinus vgl. ZRG 1960
622 f.
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sogar der dafür gänzlich ungeeignete Marsilius von Padua13 muß begründen14, was sich aus Luther nicht mehr belegen läßt: eine Regimentenlehre, die kein Fundament mehr in der Reichelehre hat, wohl aber den Vorzug, der Obrigkeit zu geben, was ihr zu gehören scheint.
Diese Regimentenlehre kennt nicht mehr den Dualismus der beiden Reiche, sondern kehrt zurück zum mittelalterlich-einheitlichen corpus Christianum der Getauften, das Luther soeben verworfen hatte; nur umspannt es jetzt nicht mehr die Weltchristenheit, sondern die kleine res publica Christiana des jeweiligen Landesfürsten. Hier regiert zwar noch das doppelte Regiment Gottes in Predigtamt und Obrigkeit, aber weil der Kompaß der Reichelehre verlorengegangen ist, irrt man nun nach der anderen Seite vom Weg ab und verkennt auch noch die Grenzen der Regimenter die Obrigkeit erhält das „äußere Kirchenregiment” zugesprochen. Zwar heißt es immer noch: salus ecclesiae suprema lex esto (wie in der zeitgenössischen katholischen Soziallehre), aber gleichwohl ist der erste Einbruch weltlichen Rechtsdenkens gelungen15.
Das zeigt sich schon in den darauffolgenden Dezennien: theoretisch bleibt alles beim alten, nämlich bei der Regimentenlehre, aber der Staat nimmt immer mehr die Stelle der Kirche ein, er wird oberster Richtpunkt16. Die Folgen dieser allgemeinen Säkularisierung sind verheerend. Die Kirche flüchtet sich in die reine Innerlichkeit, und was an ihr sichtbar ist, wird vom Staat zur geistlichen Wohlfahrtsanstalt degradiert.
Nun folgt eine lange Zeit, in der der theologisch-juristische Reichsbegriff
13) Z.B. bei W. Musculus, Padua 335, Cura
285-289.
14) Zum Verhältnis Luthers zu Marsilius vgl. Padua 328
ff., ZRL 1945, ZRG 1960 621 f.; Luther hat den Defensor Pacis
wohl nicht gekannt, Padua 268-271, str.; sicher ist Luther
systematisch völlig unabhängig von Marsilius. Denn Luther hat die
Zwei Reiche, Marsilius nur die Regimente; folgt daraus für Luther
der eschatologische Kampf der Reiche, in den Kirche und Staat
verwickelt sind, so für Marsilius eine allzu säuberliche Trennung
zwischen Aufgaben der vita praesens und der vita
futura — zugunsten des Staates. Luther lehnt das corpus
Christianum ab, anders Marsilius; steht bei diesem der
Christ im doppelten Status der einen Bürgergemeinde, so bei jenem
allein als civis Christi; stellt dieser den Staat in den
Mittelpunkt (str., vgl. Padua 274 ff.), so jener die Kirche (s.
u. 125 f. 169 f.); dieser schätzt die recta ratio über
alles, jener mißtraut ihr, usf.
15) Lex 181 ff., WO 158; s.u. 153 f.
16) Zu der teilweise eigenständigen, mit Marsilius
verwandten Regimentenlehre Pufendorfs und ihrem Unterschied zu
Luther vgl. ZRG 1959 391 ff.
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überhaupt verschwindet und der Philosophie Platz macht. Die Sozialtheologie der Orthodoxie weicht der Sozialphilosophie der Aufklärung17.
Als man sich Ende des 19. Jahrhunderts aus gegebenem Anlaß wieder auf Luthers Rechtslehre besinnt18, entsteht die „zweite Gestalt” der nachreformatorischen Reichslehre, die Regimentenlehre des Neuluthertums19. „Zum zweiten Mal leistet (sie) den Dienst einer religiös-politischen Legitimitätsformel”, urteilt Heckel, und fährt mit beißender Ironie fort: „Luther erscheint . . . als der Lehrer einer evangelischen bürgerlich-konservativen Ethik im Zeitalter des konstitutionellen protestantischen Staates”20.
Die zwei Regimente sind nun zwei Lebenssphären; der Bereich der christlichen Innerlichkeit und der der gottgeschaffenen Öffentlichkeit — die Gnaden- und die Rechtsordnung. „Man trifft (in dieser Lehre) nicht mehr die Kirche, sondern den . . . frommen Bürger, der in Treue gegen die von Gott verordnete Obrigkeit seinem irdischen Beruf nachgeht . . .” „Das Nebeneinander beider Reiche wird noch nicht als Problem empfunden. Man steht eben in einer ,christlichen Welt’, deren Rechtsordnung mit der Gnadenordnung zusammenstimmen soll”21.
Bekannt sind die positiven praktischen Wirkungen dieses Staatsethos, die man nicht übersehen sollte, aber auch seine tief beklagenswerten Folgen im Dritten Reich. „Sowohl die dem Luthertum nachgesagte blinde Staatshörigkeit als auch die ihm vorgeworfene doppelte Moral . . . als Christ . . . und als Untertan der Obrigkeit haben hier ihre Wurzel”22.
Heckel gebührt das Verdienst, als erster auf lutherischer Seite diese Irrlehre von der rechtstheologischen Wurzel her angegriffen zu haben.
17) ZRG 1959 391. Hierher rechnet He. die Zeit
von Leibniz bis Schelling, AS 55, auch noch F.J. Stahl (ebd.),
schließlich K. Holls „idealistischen” Reichsbegriff, WS 34.
18) S.o. 25 30.
19) „Neuprotestantische Interpretation”, W. Künneth in
WS 72; ihr Begründer ist C.E. Luthardt, ZRL 1945.
20) AS 55 f.; anders noch RuG 301 f. mit der damals h.
M. zur „Deutschheit” Luthers. Zum philosophischen Hintergrund
vgl. H.J. Iwand FS Niemöller 101-117.
21) AS 55 f., ZRL 1945.
22) Gru. ZRG 1964 XXI; vgl. F. Lau: „Es gilt in dem
weltlichen Reiche nicht Christi, sondern des Kaisers Wort” (so
noch 1952 28).
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Auch die dritte Fassung der Reichelehre, die Regimentenlehre schwedischer Forscher, vermochte die universale Rechtsgeltung des Liebesgebots nicht zu erweisen. Auch sie spricht von der doppelten Regierweise Gottes, dem Gehorsam gegenüber dem doppelten Regiment („Der Christ ist Bürger zweier Reiche”) mit der daraus folgenden doppelten Gerechtigkeit — und hier stockt Heckel —: wie kann es eine doppelte Gerechtigkeit23 geben, deren Sinneinheit selbst dem Gläubigen in den un-erforschlichen Tiefen der Gottheit verborgen ist? Denn dies behauptet man in der Tat. Die Folge wäre ein leeres Konventionen-Recht ohne jeden Bezug zu Gott und seiner Gerechtigkeit. Zwischen Rechtfertigung und Recht gäbe es keine Verbindung, und das Kirchenrecht würde „dem weltlichen Schwert . . . überantwortet”24.
Doch wie ist es mit dem „letzten Stand der Forschung”? Das Fazit ist vernichtend: „Man zweifelt an dem Sinn jener Lehre, unsicher ist ihr Quellort in der Theologie des Reformators, umstritten wird ihre Schriftgemäßheit, angefochten ist ihre Anwendbarkeit auf die heutige Weltlage, beanstandet ihre Wirkung auf das Ethos ihrer Anhänger, besonders in Deutschland. ,Entsprechend wirr ist der Schlachtenlärm’ (H. Thielicke)”25, der sich um die Zweireichelehre erhoben hat.
Und nun, nach dem Lebenswerk von Heckel?
Zwar scheint sich eine Heckel-Schule26 unter den Juristen zu bilden27. Auch Theologen vom Range G. Ebelings28 und Ernst Wolfs29 betonen die zentrale Bedeutung der Zweireichelehre im Sinn Heckels für Luthers Theologie. Doch sie stehen mit dieser Ansicht im konfessionellen Luthertum weithin allein.
23) S.u. 68 f.4.
24) Dazu AS 56 f., Regim. 262, ZRL 1945.
25) AS 50; ähnlich Gru. FS Arnold 39.
26) Vgl. zu Gru. unten 238 ff., für M. Heckel EStL1743
ff.; vgl. ferner Ius Ecclesiasticum Bd. 2-4 (G. Tröger, Chr.
Link, I. Tempel).
27) Gru. ZRG 1964 XV, XXII, FS Arnold, AÖR 1959
usf.
28) Vgl. G. Ebeling 1962 408 ff., 1964 202 ff., RGG IV
509-512; trotz Ebelings (1962 409, 417) Kritik an Heckel — sie
beruht auf einem Mißverständnis — und trotz der tiefgreifenden
philosophischen und theologischen Unterschiede (dazu vgl. E.-W.
Wendebourg KuD 1967 99 ff., 128 ff.), namentlich in der
Verbindung der ZRL mit der bei He. fehlenden
Gesetz-Evangelium-Problematik, fällt die fundamentale
„strukturelle” Übereinstimmung der Zwei Reiche bei Ebeling und
He. auf.
29) Ernst Wolf II 22 ff., 224 ff., ZevKR 1955 232, RGG
IV 1362 f.; Hinweis auf Ebeling: Ernst Wolf II 221 ff.
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Dem unbefangenen Beobachter freilich dünkt es, daß die Zweireichelehre Heckels, wäre sie nur zwei Jahrzehnte früher an das Ohr der konfessionellen Öffentlichkeit gelangt, durchaus ihre sozialethische Wirkung (nämlich im Kirchenkampf) zum Segen nicht nur des Luthertums hätte entfalten können! Sollte darin nicht ein Indiz für ihre Brauchbarkeit liegen, selbst wenn ungeklärt bleibt, wer nun Luther zutreffend gedeutet hat30?
Die in der Gegenwart vorherrschende Auffassung sieht den „Schlüssel zu Luthers Welt- und Gesellschaftsbild”31 in der Regimentenlehre — also nicht in der Zweireichelehre, wie Heckel es tut32. Sie setzt damit die traditionelle orthodoxe Ansicht ungeachtet aller Unterschiede fort.
Von den historischen Ursachen wurde berichtet; aber wo liegen die systematischen Differenzen?
Zunächst wird terminologisch zwischen Reich und Regiment nicht überall klar unterschieden33. Man redet von doppelter Bürgerschaft, wenn man die zwei Regimente meint34, und moniert den fehlenden Zusammenhang der Reiche, wenn man von der Verbindung der beiden Regimente spricht35. Vollendet wird die Verwirrung, wenn Reich Gottes zur Rechten und zur Linken mit den beiden Reichen gleichgesetzt wird, statt mit den Regimenten36.
Die Konfusion rührt nach Heckel daher, daß die Reichslehre im Grundsinn fehlt und damit die saubere Unterscheidung nach Gläubigen und Ungläubigen unmöglich wird. Wenn dieses „personhafte” Kriterium
30) Vgl. Gru. und P. Althaus unten
24323.
31) G. Törnvall 10; Lex 41, AS 50, Gru. LWB 25.
32) Vgl. Lex 41 f., WS 73, IZ 6, u. a., Gru. bes. FS
Arnold 38 ff.; z. B. G. Wehrung 1952 212 ff., dazu Gru. LWB 25 A.
107; H. Wehrhahn, Gru. ZevKR 1959/60 45; G. Törnvall, Lex 42 f.
(und ebd. A. 270 gegen Törnvalls „drittes” Reich); F. Lau, Lex 43
A. 270; H. Thielicke, Lex 42 f. A. 268; W. Künneth, WS 72; G.
Hillerdal, Regim. 253 ff.
33) Vgl. Gru. FS Arnold 41; z.B. H. Dombois in: Die
Rheinpfalz vom 30. 4. 1954; neuestens H.H. Schrey Concilium 1967
386.
34) Vgl. IZ 26 f. und unten 9098 gegen P.
Althaus.
35) WS 73 zu W. Künneth.
36) Z.B. Erik Wolf OdK 70 f. — Zu He. selbst und Gru.
s.o. 5312. Es kann also keinen Kampf zwischen diesen
beiden „Reichen” geben (irrig P. Althaus ThLZ 1956 133 f. [dazu
IZ 32], nun id. 1965 86), und das Reich Gottes zur Linken
erstreckt sich nicht auf Christen, sondern ist — wie oben
dargelegt — Gottes Regiment über die Unchristen.
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verlorengegangen ist, dann bleibt für die Regimente nur das „sachhafte” Verständnis. Man versteht sie heute tatsächlich — noch vor allen Divergenzen — als die Art und Weise, in der Gott regiert; als „Regimente” somit, die genau abgesteckte „Bereiche”, „Aspekte”, „Ressorts” ordnen, nämlich den „geistlichen” und den „weltlichen”37. Weil der Christ aber nicht von der Weltverantwortung entbunden werden kann und weil er simul iustus et peccator ist — das sind die beiden Begründungen —, muß er „Bürger zweier Reiche” sein38, nämlich des Reiches zur Rechten wie zur Linken.
Dieses „funktionale”39 Verständnis der Reiche, nämlich als Regimente, überträgt man unbewußt auf die „personhaften” Aussagen Heckels über die Reiche und findet dann das Ergebnis widersprüchlich40.
Man übersieht also den „personhaften” Aufbau der Zweireichelehre Heckels. Gott kennt keine Ministerien zur Ordnung der verschiedenen Sachbereiche, sondern nur die eine Schöpfung, die sich aber nur zum Teil zu ihm bekennt und so mit sich selbst im Streit liegt.
Die Folge der funktionalen Sicht ist, daß alles „Nichtgeistliche” (z.B. die leibliche Kirche!) unter das weltliche Regiment gehört41. Die h. M. kann also nicht begründen, weshalb das Kirchenrecht (sofern sie es als nicht-geistlich mißversteht) nicht vom Staat erlassen sein sollte42 (was ja bekanntlich noch im Dritten Reich geschehen ist und selbst heute z.B. in Schweden geschieht).
Sie muß sogar behaupten, daß der Christ ganz der Eigengesetzlichkeit der Welt zu folgen habe und die lex charitatis (wie die Offenbarung überhaupt) in der Welt nicht beachten dürfe43.
37) Lex 41 f., Regim. 258, WS 72 f., IZ 27, ZRL
1938; Gru. FS Arnold 38 ff. mit Hinweisen auf P. Althaus, F. Lau,
H. Thielicke, W. Künneth, G. Hillerdal, G. Törnvall.
38) S.o. 53 f.
39) Gru. LWB 25, FiLex 3 182 f., ZevKR 1957/58 279 f.,
ZRG 1964 XXI f., FS Arnold 43.
40) Vgl. W. Künneth in WS 72, bes. P. Althaus nach IZ
32 f.
41) Daß sich das weltliche Regiment nicht auf die
leibliche Kirche und ihr Recht, sondern allein auf das Reich der
Welt bezieht, enthält eine der wichtigsten Abweichungen He.s von
der bisher h. M. auch Schwedens (ZRG 1956 539); vgl. gegen G.
Wingren: Lex 34 A. 176; P. Althaus (zuletzt 1965 65 A. 88): IZ
26, 33, 36; H. Wehrhahn: ZRG 1957 501, 503; G. Törnvall: ebd.
502; R. Sohm, K. Rieker, G. Holstein: Init. 81 A. 344.
42) Vgl. IZ 36 gegen P. Althaus; dieser jetzt anders
ThLZ 1965 137.
43) So noch G. Törnvall auf der Grundlage der
traditionellen Regimentenlehre, Lex 40 f., 161 A. 1275, vgl. auch
H.H. Schrey ESL 789 ff. (dagegen Wolf RdN 38 A. 16 u.ö.) und
früher F. Lau (s.o. 5922; anders [1962] RGG VI 1947 f.).
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Der letzte Grund für den Irrtum der herrschenden Lehre besteht darin, daß sie den stark eschatologischen und christologischen Grundzug der Zweireichelehre Luthers übersieht und deshalb des apokalyptischen Kampfes zwischen den beiden Reichen nicht gewahr wird. Sie geht allein von Gott dem Schöpfer aus (also vom „ersten Glaubensartikel”) und vergißt die neue Schöpfung in Christus.
Aber weshalb sollte es der eschatologischen Sicht bedürfen? Die Begründung liegt in der Schrift: in der Lehre von „diesem” Äon und dem „kommenden”, dem der Christ jetzt schon angehört.
Die eschatologisch-apokalyptische Sicht scheint demnach die Zweireichelehre in die Nähe der neutestamentlichen Äonenlehre44 zu rücken.
Die h. M. lehnt es gleichwohl ab, die zwei Reiche mit den zwei Äonen zu verbinden45. Da sie die zwei Reiche vorwiegend als Regimente und Regierweisen versteht, ist ihr zuzustimmen. Die „augustinische” Sicht der zwei Reiche durch Heckel dagegen ist noch nicht berücksichtigt. Die Frage ist also für Heckel neu zu stellen. Nur wenige Hinweise sollen gegeben werden.
Heckel selbst glaubt, daß die Zweireichelehre mit der Äonenlehre vereinbar sei46. Dabei kann es sich nur um einen Vergleich der Reichslehre im Grundsinn mit der Äonenlehre handeln; die Regimentenlehre ist in der Tat der neutestamentlichen Äonenlehre fremd47. Das ist deshalb wichtig, weil die Reiche und Regimente bei Heckel eine untrennbare komplementäre Einheit bilden.
44) Vgl. H. Sasse ThW I 197-209, K. Haendler LM
1964 555.
45) P. Althaus EKL III 1933 ff., 1965 85 ff.; ähnlich
F. Lau RGG VI 1947 f.
46) Vgl. Lex 32, 68 A. 474, 71, KuK 269; ebenso Gru.
FS Arnold 44, Th. Heckel 1961 59 f. u.ö., jetzt auch P. Althaus
für die Frühzeit Luthers, d.h. für die „Reichslehre im Grundsinn”
He.s!, 1965 55 ff.; Th. Heckel ebd. 115 weist auf die biblische
Parallele Adamsgeschlecht-Christusgeschlecht hin; vgl. auch H.-D.
Wendland (FS Stählin 23 ff., ThLZ 1954 321 ff.) mit der Forderung
einer christologischen und eschatologischen Interpretation der
ZRL. P. Althaus vermerkt, die „Welt” Luthers habe die gleiche
Spannweite wie im NT, 1965 55, 86 (ausgenommen den
Spiritualismus, s.u. 64 49). Zur Deutung G. Hillerdals vgl. Ernst
Wolf ZevKR 1955 232. Auch Th. Kliefoth unterscheidet zwischen dem
αἰὼν οὕτος und dem αἰὼν μέλλων, was aber mehr mit der Romantik
als mit dem NT zu tun hat (H. Fagerberg 246).
47) Vgl. H. Sasse ThW III 882 ff. Damit ist ihre
sonstige Vereinbarkeit nicht bestritten. Ansätze zu dieser Frage
bei F. Lau RGG VI 1948.
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In rechtstheologischer Hinsicht — nur diese soll zu Rate gezogen werden — ist Heckels Reichslehre im Grundsinn mit der Äonenlehre nahe verwandt, und zwar in mehreren Beziehungen. Wie jene ist die Äonenlehre „personhaft”, sogar so sehr, daß die Äonen selbst personifiziert werden können. Wie jene sind die Äonen dualistisch-eschatologisch-apokalyptischem Denken entsprungen. Wie jene sind sie im endzeitlichen Kampf miteinander, wobei der „kommende” Äon verborgenerweise jetzt schon herrscht48. Doch bestehen nicht unwichtige Differenzen. Das zeithafte Element der Äonenlehre tritt bei Heckel nicht hervor, wird aber auch nicht ausgeschlossen. Vor allem ist der neutestamentlichen Äonenlehre der augustinisch-mittelalterliche Spiritualismus naturgemäß fremd, der die Zweireichelehre durchzieht49.
Zusammenfassend kann also behauptet werden, daß diese Zweireichelehre in größerer Nähe zur Äonenlehre des Neuen Testaments steht als die herkömmliche Regimentenlehre. Freilich darf auch die neutestamentliche Äonenlehre nicht isoliert gesehen werden. Sie steht im Gesamtzusammenhang mit der neutestamentlichen Eschatologie.
Wenn die Zweireichelehre Luther von Augustin über G. Biel überkommen ist, wie Heckel gezeigt hat, dann liegt es nahe, nach dem Verhältnis der beiden regna zu den zwei civitates Augustins zu fragen. Aber nicht nur die Zweireichelehre Luthers ist seit Anbeginn stets wechselnden Deutungen unterworfen gewesen; auch die civitates Dei et diaboli Augustins hat jede Zeit anders verstanden. Doch geht es hier weder um Lutherforschung noch um Augustinus-Interpretation. Es ist nur zu klären, wie sich Heckels rechtstheologischer Aufriß der Zwei Reiche zum heutigen Verständnis Augustins verhält50.
48) Vgl. P. Hoffmann HthG II 423, 664 f., N.
Brox ebd. 817, R. Bultmann NT 175 f., 256 f., H. Schlier Eph. 101
f. („personhaft”), id. Gal. 33 f., O. Kuss Röm. 278 f. Die
verborgen gegenwärtige universale Herrschaft Christi nach der
Äonenlehre ist ein wichtiger Berührungspunkt zur Regimentenlehre,
s.o. Exkurs I 49 (I 3 b).
49) Dazu siehe unten 230 ff. 234 ff., wo der Nachweis
versucht ist, daß der Spiritualismus i.e.S. nicht wesensnotwendig
mit der ZRL und der Rechtstheologie He.s verbunden ist.
50) Dieses Problem ist auch für die innerlutherische
Polemik nicht ohne Belang; je nach Standort ist eine
„augustinische” Sicht Luthers ein hohes Lob oder schlimme
Ketzerei, wobei noch gesondert zu beachten ist, welcher Deutung
Augustins der jeweilige Autor anhängt.
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Dabei ist es nicht zu umgehen, wenigstens kurz anzudeuten, mit „welchem” Augustin Heckel verglichen werden soll. J. Ratzinger51 stellt drei Richtungen der Augustindeutung einander gegenüber; die mittelalterlich-„theokratische”: sie hat die Reichstheologie und (Teile der) Kanonistik des Mittelalters bestimmt; nach ihr ist die civitas Dei das politische Ideal, das dem imperium christianum zur Verwirklichung aufgegeben ist; zweitens die „idealistische”: nach H. Scholz und A. Harnack sind die beiden civitates ideale Mächte „quer zu den konkret-geschichtlichen Gemeinschaften”, sprich Kirche und Staat — womit der Katholik die augustinische Bedrohung der naturrechtlichen Grundlegung des Staates abgewehrt zu haben hoffte, der liberale Protestant dagegen die „hierarchische Kupidität” der römischen Kirche.
Die dritte Augustinus-Interpretation stützt sich auf W. Kamlahs Forschungen52. Ihm haben sich J. Ratzinger, H.Urs von Balthasar und K. Demmer angeschlossen. Sie stimmen darin überein, daß Augustins civitas Dei nicht eine „umwälzende (Neu-)Konstruktion” ist, sondern „aus der ur- und gesamtchristlichen Überlieferung” stammt53, — nicht ohne wichtige Ergänzungen, auf die sogleich zurückzukommen sein wird. Kamlah räumt die modernen Ängste beiseite und identifiziert einfach die civitas Dei mit „der” ecclesia, die wiederum nichts anderes sei als die eschatologische Gemeinde, wobei „eschatologisch” die aktuelle personale Entscheidung des isolierten einzelnen zur Nachfolge Christi meint. J. Ratzinger behebt die aktualistisch-personalistische Schwäche der Kamlahschen Deutung durch den Aufweis der geistigen Mitte der civitas Dei im cultus Dei, oder anders, im sacerdos Christus54. H.Urs von Balthasar trägt die platonisch-mythologische spätantike Sicht nach55. K. Demmer steuert die rechtstheologische Struktur der civitas Dei bei56.
Heckels Zweireichelehre paßt nun — bemerkenswerterweise? — vorzüglich zur dritten Deutung Augustins. Die augustinische Zweireichelehre
51) J. Ratzinger Aug. II 55-58.
52) W. Kamlah 1938, 1951.
53) H.U. v. Balthasar 1961 29 f.
54) J. Ratzinger Aug. I und Aug. II 73. — Man vermißt
bei Ratzinger die Verhältnisbestimmung zum (dreifach gestuften)
Kirchenbegriff Augustins.
55) H.U. v. Balthasar 1961 30-33.
56) K. Demmer passim. Ebenso E. Gilson und L. Buisson
20 ff. mit hier nicht interessierenden Abwandlungen.
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ist (relativ) dualistisch57, eschatologisch und spiritualistisch; das Aufbauprinzip der civitas Dei und der civitas terrena ist der Glaube bzw. Unglaube; das „Reichsgesetz” (Demmer) der civitas Dei ist die caritas oder der amor Dei, das der civitas terrena der amor sui und der contemptus Dei. Beide Reiche tragen „Agoncharakter” (v. Balthasar); sie liegen so sehr im Streit, daß sie erst durch Gottes Gericht geschieden werden können. Die civitas terrena oder diaboli hat kein eigenes Naturrecht, sondern lebt nach dem Naturrecht der sittlichen Weltordnung, aber nicht mehr auf Gott ausgerichtet, sondern der Schöpfung verfallen. Das eigentliche Naturrecht aber ist die lex Christi58; die irdische Kirche und der Staat können sowohl der civitas Dei als auch der civitas diaboli gehorchen; gleichwohl stehen sie stets im Dienste Gottes — alles Worte und Inhalte, die bei Heckel wiederkehren.
Also hat Heckel bei Luther die zwei civitates Augustins rein vorgefunden? Das wäre zu viel behauptet59. Denn Luther denkt vom mittelalterlichen corpus her, Augustin (wenn Ratzinger recht hat) von der antiken polis60; Luther geht von der personhaften Sicht der Reiche aus, vertieft also das skotistische Relationendenken61 durch seine Rechtfertigungslehre, Augustin sieht zwar auch den personhaften Grundbezug, umkleidet ihn aber mit dem Gewand der spätantiken Kosmologie62. Schließlich — darauf hat G. Ebeling zu Recht hingewiesen63 — ist die Kombination der Zwei Reiche mit dem „mittelalterliche(n) Ordnungsschema der zwei potestates”, also mit der Regimentenlehre, ein geistesgeschichtliches Novum.
57) Dabei muß man in Rechnung stellen, daß die
zwei civitates bei Augustin durch analogia
fidei verbunden sind (Demmer 48 f.), was bei der Reichslehre
im Grundsinn He.s nicht zutrifft. Doch fällt dieser sachliche
Unterschied weg, wenn man die Regimentenlehre einbezieht, ohne
die die ZRL He.s unvollständig ist.
58) H.U. v. Balthasar 1961 31, 35; K. Demmer 46, 149,
250; zur lex Christi id. 57 f., 150, 259 ff.; J. Hirschberger I
373 f.
59) He. läßt offen und verweist nur auf die
Erbsündenradikalisierung (oben 56 zu 1); P. Althaus
wirft „augustinische Verzeichnung” vor (ThLZ 1956 131, LuJ 1957
42 A. 3), Gru. repliziert Verwechslung der juristischen und der
rechtstheologischen Ebene (FS Arnold 50 f. A. 66), P. Althaus
konzediert daraufhin für die Frühzeit Luthers (1965 57; E. Kinder
FS Eiert 24 ff.); a. M. K. Demmer 48 f., der sich aber auf E.
Kinders (FS Elert 41) Deutung der Zwei Reiche stützt, die die
Einheit des göttlichen Rechtswillens vernachlässigt.
60) J. Ratzinger Aug. I, Aug. II.
61) Dazu W. Dettloff bes. 1964 (die
acceptatio ist eine Relation göttlicher
caritas!).
62) H.U. v. Balthasar 1961 30 f. in leiser Kritik an
Ratzingers Polis.
63) RGG IV 509 f.
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Man könnte also zusammenfassen: Die Zwei Reiche Heckels sind die Übertragung der zwei civitates Augustins in den gewandelten Verstehenshorizont des Spätmittelalters.
Doch ein gewichtiger rechtstheologischer Unterschied zu Augustin blieb bis jetzt unerwähnt. Die eigentliche differentia specifica zu Augustin besteht nicht, wie Heckel gemeint hat, in der dualistischen Anthropologie Luthers aus der pessimistischen Sicht der Erbsünde. Denn es ist sehr die Frage, ob die gemäßigte Zwei-Reiche-Interpretation Heckels nicht Satz für Satz aus Augustin zu belegen wäre. Vielmehr fehlt das Herzstück der civitas Dei Augustins, der Gottesdienst, bei Heckel; wohingegen bei Augustin der amor Dei nur als cultus Dei das Gottesreichsgesetz ist. Ob das Fehlen des Gottesdienstes in der Heckelschen Interpretation auf Luther selbst oder auf Heckel zurückzuführen ist, mag hier offen bleiben64. Jedenfalls wird die Gemeinde Christi oder die civitas Dei nach der Schrift in Wort und Sakrament auferbaut.
Das letzte Wort soll aber nicht ein Wort der Kritik sein. Denn in einem Punkt führt Luther weit über Augustin (und G. Biel) hinaus65. Diese Zwei Reiche sind als These und Antithese streng christozentrisch66. Christus ist Mitte und Bezugspunkt. Rechts- und Kirchenlehre werden das noch ausführlich beweisen.
64) Für die reiche Gottesdienstlehre Luthers
vgl. V. Vajta 1959, E. Hertzsch ThLZ 1964 801-812, W. Elert 1954
36 ff. „. . . berührt sich Luther aufs engste mit der
Abendmahlstheologie der alten Kirche”, — und unten 204 f. Das
wäre zugleich die wichtigste Frage, die an die ZRL He.s zu
stellen wäre.
65) Man wird heute noch einen Schritt weitergehen
müssen als Luther. Der universale Liebeswille Gottes ist in der
Welt nicht nur als lex spiritualis latens und als
weltliches Regiment gegenwärtig; es gibt keinen Sünder ohne das
Gnadenangebot Gottes (vgl. M. Schmaus KD III/2 274 f.). Auch die
Anwesenheit (der Predigt) des Evangeliums im Reich der Welt
sollte in der ZRL deutlicher sichtbar werden. Vielleicht ist das
aber im regnum Christi über die Welt enthalten (Exk. I
[I 3 b] 49)?
66) Zu Augustin vgl. H.U. v. Balthasar 1961 16 ff., zu
G. Biel s.o. 56. — Ein weiterer Vorzug ist die eindeutigere
Definition des Staates „zwischen Röm 13 und Apk 13” bei He. Doch
kommt ein weiterführender Gedanke Augustins bei He. wohl zu kurz.
Für Augustin ist der Staat nicht nur Zerrbild, sondern auch
Abbild des Gottesstaates; die platonische Ontotogie läßt ihn
erkennen, daß damit der Staat auch einmal, als Folge der (wenn
auch pervertierten) Urordnung, zum Vor-Bild der ecclesia
militans werden kann — nicht grundsätzlich und prinzipiell,
wohl aber als geschichtliche Möglichkeit. Für He. ist diese
Betrachtungsweise nicht völlig fremd; der Christ erkennt die
„heimliche Ordnung” in der politia; sie kann sogar zum
Gericht der leiblichen Kirche werden!