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Mit Scharfsinn und Folgerichtigkeit hat Johannes Heckel das Kirchenrecht in die Reiche- und Regimentenlehre eingebaut. Dadurch gelingt es ihm, die verwickelten und verstreuten kirchenrechtlichen Aussagen Luthers überhaupt erst voll verständlich zu machen. Verbindet man damit die Grundthesen der Rechtstheologie und Ekklesiologie, so hat man bereits den vollständigen Grundriß des Kirchenrechts in Händen. Er gliedert sich in sechs Abschnitte.
1. Der eine Rechtswille Gottes ergeht im ius divinum
(positivum et naturale) an alle Menschen. Auf diesen
Anruf spaltet sich die eine Menschheit in zwei corpora,
das Reich Christi und das des Satans. Das Reich Christi lebt nach
dem göttlichen Naturgesetz in der Fassung der lex
Christi, das Reich des Satans mißdeutet es zum weltlichen
Naturrecht. Das geistliche und das weltliche Regiment Gottes aber
erhält die
beiden Reiche.
Daraus folgt der erste Grundsatz: Die Scheidung der
beiden Reiche und Regimente ist iuris divini1.
2. Das Kirchenrecht entsteht aus der Anwendung der Reiche- und
Rechtslehre auf die Kirche. Das Kirchenrecht ist ein Ausschnitt
des Rechts der beiden Reiche2. Denn das Reich Christi
ist die ecclesia spiritualis, sein göttliches Recht das
ius divinum der Kirche.
Somit lautet der zweite Grundsatz: Die geistliche
Kirche ist verfaßt nach dem göttlichen Recht des Reiches
Christi.
3. Jedes Reich hat aber drei Bestandteile: das Haupt, das Regiment, das Volk; und zwei daraus folgende Strukturprinzipien: das Haupt
1) WS 38 u.ö. — Rechtsfolgen iuris
divini sind Widerstandspflicht (oben 90100),
Verbot der Übernahme weltlicher Verfassungsgrundsätze in die
Kirche (unten A. 7), usf.
2) Abl. H.M. Müller InfBl 1960 116.
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mit seinem Regiment bildet die Vertikale, das Volk die
Horizontale. Im Reich Christi machen Christus und sein (inneres)
Regiment die Vertikale aus, die cives Christi dagegen
die Horizontale. Da die ecclesia spiritualis gleich dem
Reich Christi ist, das vertikal und horizontal verfaßt ist, so
folgt, daß Vertikale und Horizontale auch die Strukturelemente
der geistlichen Kirche sind. Weil die beiden Elemente göttlichen
Rechts sind, bezeichnen sie zugleich die beiden Fundamente
göttlichen Kirchenrechts. In der Rechtssphäre der geistlichen
Kirche besteht darum ein zweifaches Recht. In der Vertikalen
herrscht Christus durch das ius divinum positivum. In
der Horizontalen waltet die lex spiritualis charitatis,
das ist das ius divinum naturale oder das göttliche
Naturgesetz3.
Damit gilt der dritte Grundsatz: Die geistliche
Kirche besteht auf Grund von positivem, lebt gemäß natürlichem,
beide Male aber und ausschließlich nach göttlichem Recht.
4. Die Schauseite der geistlichen Kirche ist die leibliche
Kirche4. Das zugehörige Recht ist das menschliche
Kirchenrecht. Wie die ecclesia spiritualis in der
ecclesia universalis lebt, so das göttliche Kirchenrecht
im menschlichen.
Deshalb lautet der vierte Grundsatz: Die leibliche
Kirche lebt ausschließlich nach menschlichem
Recht5 auf der Grundlage des göttlichen
Rechts.
5. Da die leibliche Kirche auch im Recht die Schauseite der geistlichen ist, hat auch das menschliche Kirchenrecht den zweifachen Aufbau. Das positive göttliche Recht des geistlichen Regiments Christi setzt sich fort in dem von Heckel so genannten „heteronomen”, das göttliche
3) Hier als lex charitatis i.e.S.,
vgl. unten 18119. Bemerkenswerterweise kehrt sich nun
die Reihenfolge von natürlichem und institutionellem ius
divinum um; denn zuerst kommt Christus, dann erst sein Volk,
KuK 239 ff. gegen Lex 52 ff., 68 ff.
4) Das Haupt Christus hat aber keine Schauseite (KuK
224), denn das wäre der Papst (oder eine oberste Synode?). Von
den drei Konstituentien des corpus Christi und der
geistlichen Kirche wird also in der leiblichen Kirche das erste
nicht sichtbar.
5) Der Satz Init. 51 f. ecclesia universalis non
vivit lege humana bezieht sich auf das
weltlich-obrigkeitliche „Gesetz”, enthält also keinen
Widerspruch. Ebenso nicht die These, mit der geistlichen Kirche
sei „zugleich” auch die leibliche gestiftet, Lex 119 gegen E.
Brunner, ebd. A. 950. Das soll nicht ein ius divinum der
leiblichen Kirche aussagen (anders dagegen Gru. unten 241),
sondern nur, daß ius divinum mittelbare Rechtsgrundlage
der leiblichen Kirche sei — oder m.a.W. daß „ein geistlicher
Zusammenhang zwischen beiden” (Lex 119 A. 951) bestehe, also die
leibliche Kirche nicht „Welt” ist.
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Naturgesetz der Liebe wird ausgeformt im „autonomen”
Kirchenrecht. Was darunter des näheren zu verstehen ist, wird
noch zu zeigen sein.
So steht als fünfter Grundsatz: Das menschliche
Kirchenrecht ist teils Schauseite des geistlichen Regiments
Christi (heteronomes Kirchenrecht), teils der Bruderliebe der
Gläubigen6 (autonomes Kirchenrecht).
6. Der sechste Grundsatz schließlich ist negativ. Er entstammt
wieder der Unterscheidung der Reiche. Die Kirche kann nicht ihr
Recht aus der Herrschaft des Teufels entleihen7.
Also sagt der sechste Grundsatz: Das menschliche
Kirchenrecht ist kein weltliches oder staatliches Recht. Es ist
ein Recht sui generis8 und gehört allein ins
Reich Gottes zur Rechten.
Diese sechs Grundsätze enthalten den Aufbau des Heckelschen Kirchenrechts. Am Anfang steht das göttliche Recht der geistlichen Kirche (2), nämlich ihr Fundament im positiven (a) und ihr Ausbau im natürlichen göttlichen Recht (b). Darauf folgt das umfangreichere menschliche Recht der leiblichen Kirche (3), das deutlich das dialektische Gepräge der ecclesia universalis zeigt (a). Im übrigen ist es zweigeteilt wie das göttliche Recht; als heteronomes Recht deklariert es das positive göttliche Recht des Regiments Christi (b), als autonomes Recht ordnet es im Geist der Liebe das kirchliche Gemeinleben (c). Am Ende steht wieder die kritische Würdigung (4).
6) Melanchthons Kirchenrechtslehre
stimmt übrigens (trotz anderer Begriffe) mit diesem Aufriß im
wesentlichen überein, vgl. Mel. bes. 92 ff.; auch G. Holstein
1928 228 scheint beide Arten des Kirchenrechts zu kennen, mit dem
Unterschied, daß das autonome Recht zur Schöpfungsordnung
herabsinkt.
7) Gru. LWB 54, ZevKR 1957/58 284; das Kirchenrecht
geht die Welt nichts an, Init. 82; der Staat ist absolut
unzuständig, vgl. unten 19719.
8) Nicht nur die Kirchen- (oben 124), sondern auch die
Kirchenrechtslehre ist ein Ausschnitt aus der Zweireichelehre.
(Nur scheinbar a. M. ist Gru. ZevKR 1959/60 48 [5.], die Kirche
sei Ausgangspunkt des Kirchenrechts, denn Rechtsgrundlage der
Kirche wiederum ist das göttliche Recht [LWB 64]. Vorsichtiger
darum He., das kirchliche Recht müsse mit dem Wesen der Kirche
„übereinstimmen”, unten 18514.) Damit wird der Aufbau
des Rechts der beiden Reiche und Regimente genau
symmetrisch: Das göttliche Recht regiert im Reich Gottes
zur Rechten, also im Bereich des Reiches Christi, mittelbar der
Kirche, woselbst es durch menschliches (Kirchen-)Recht kundgetan
wird. Entsprechend herrscht im Reich Gottes zur Linken, also im
Bereich des Weltreichs (mittelbar der politia), das
mißverstandene göttliche Recht in Gestalt des weltlichen
Naturrechts, und es wird noch mehr mißdeutet durch das positive
weltliche Recht. Menschliches Kirchen- und positives weltliches
Recht entsprechen einander. (Im Sinne der „christokratischen”
Rechtslehre ist also das Recht im Reich Gottes [ontologisch!]
„vorbildlich” [oder besser „urbildlich”] für das weltliche Recht;
aber das Reich der Welt nimmt es nicht wahr.)
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„Die geistliche Kirche lebt ausschließlich nach göttlichem Recht”1. Das ist durchaus ungewöhnlich. Denn man war sich längst darin einig, daß das evangelische Kirchenrecht kein ius divinum kenne2. Aber es ist die zwingende Folge der „rechtstheologischen Grundformel”, der Zweireichelehre.
Zunächst also die Grundlage der geistlichen Kirche: das ius divinum positivum oder die Stiftung durch Christus.
Das positive göttliche Recht ist das „Fundament” der geistlichen Kirche3. Es entstammt einem Akt der Setzung göttlichen Rechts durch Christus. Drei Aufgaben nämlich hatte Christus vom Vater übertragen bekommen: die regeneratio hominis, die Wiederherstellung des Naturgesetzes und die Stiftung der geistlichen Kirche4.
Die dritte Aufgabe ist aber materiell Gesetzgebung, Setzung positiven göttlichen Rechts. Oben wurde behauptet, Christus sei nur formell, nicht materiell „Gesetzgeber” gewesen, da er nur den verlorengegangenen Sinn des Urstandsrechts restituiert habe. Wie also verhält sich das ius positivum Christi, seine Kirchenstiftung, zum göttlichen Institutionenrecht des Urstands? Näheres dazu fehlt bei Heckel fast völlig. Man kann nur vermuten, daß die Urstandskirche mit der Kirche Christi identisch ist5, wobei die gesetzgeberische Tätigkeit Christi ähnlich wie bei der lex Christi in der authentischen Interpretation bzw. Fortbildung der Urstandsinstitution bestünde6. Für die Identität der Kirchenstiftung Christi mit der institutio der Kirche im Paradies spricht auch
1) Cura 249 f. und so im folgenden ständig,
z.B. Init. 17, 24, 51 f., 86, Lex 171, 180, Grat. 511, ZRL 1942,
KuK 239; das ist auch der Sinn des häufig zitierten Satzes:
omnis structura ecclesiae est intus coram Deo
invisibilis, z. B. Grat. 499.
2) He. nennt „statt anderer” G. Wehrung, Init. 23 A.
86.
3) Dazu Lex 57 A. 373, 119 f., Grat. 500, WS 35, KuK
225 f., 239 f., 263; Gru. LWB 61 u.ö., ELKZ 1960 162 u.ö.
4) RuG 304 (unklar bez. regnum), Lex 118 ff.;
Gru. ELKZ 1960 162 u.ö.; auch insofern ist Christus
„Gesetzgeber”, Lex 120 A. 960, Gru. LWB 61.
5) Vgl. Lex 141 A. 1149 mit 68 A. 474.
6) So ist wohl (mit Gru. LWB 64) Init. 19 zu
verstehen, obwohl dort das positive ius divinum noch mit
dem natürlichen inhaltsgleich ist. Auch die Neueinsetzung der
➝
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die überaus enge Verbindung der Rechtsetzung Christi mit der Zweireichelehre und ihrem Recht.
Denn gemäß der Zweireichelehre ist der Rechtsetzungsakt Christi Ausfluß seines geistlichen Kirchenregiments, somit wesensgleich dem influxus capitis, dem zweiten Element der Reichslehre im Grundsinn7. Damit entspricht das „vertikale” kirchenbegründende und -erhaltende Rechtshandeln Christi der Vertikalen in Reichs- und Kirchenbegriff, der — wie dort auch — die Horizontale der geistlichen Gemeinschaft nachgeordnet ist.
Zum Zusammenhang der Kirchenstiftung mit dem institutionellen Urstandsrecht ist zunächst anzuführen, daß beide die gleiche Rechtsstruktur aufweisen. Mit dem natürlichen ius divinum der lex charitatis teilt das positive göttliche Kirchenrecht die „dialogische Struktur”: es ist geistliches Recht wie die lex charitatis, und wie sie ist es ius divinum nur im usus spiritualis iuris. Ungeistlich verstanden (etwa ein ungläubig empfangenes Sakrament!) gereicht es ebenso zum Gericht, wie eine egoistische Nächstenliebe zur lex irae et mortis wird8.
Auch inhaltlich läßt sich die Kirchenstiftung als interpretatio authentica der Urstandskirche verstehen; denn bezeichnenderweise geschah sie uno actu9. Im Stiftungsakt hat Christus die Kirche implizit mit allem ausgestattet, wessen sie für die Gottesverehrung bedarf. Er beauftragte sie zur Verkündigung des Wortes und setzte zwei Sakramente ein: die Taufe als das Sakrament des Christenstandes und das Abendmahl als Sakrament10 der Einheit der Kirche und der Vereinigung Christi mit den Seinen. Ferner übergab er ihr seine Königsgewalt als
➝ Sakramente spricht nicht dagegen, denn Luther kannte,
wie die Scholastik allgemein (dazu M. Schmaus KD IV/1 § 232), die
„Sakramente des Alten Bundes”, vgl. H. Bornkamm 1948 (He.
schweigt zu dieser Frage).
7) KuK 225 ff., 239, 256; — also nicht zu verwechseln
mit dem „geistlichen Regiment” Gottes!, s.o. Exkurs I 49. Das ist
am besten am Umfang zu erkennen. Das geistliche Kirchenregiment
Christi ist der Bereich des ius divinum positivum,
ausgeübt grundsätzlich durch das „Amt” als seine „Schauseite”.
Eben diese Schauseite ist aber das „geistliche Regiment Gottes”
i.S. der Regimentenlehre! (anders noch Init. 87).
8) Regim. 263, Lex 121 m. A. 964, 966, ZRG 1956 514.
Folge: es ist qua ius divinum nicht positivierbar (ZRG ebd.) und
objektivierbar (ebd. 517 f.). Zum usus spiritualis iuris
s.o. 82 f.
9) Lex 120; Gru. LWB 61.
10) „Siegel”, Gru. FS Liermann 52, ZevKR 1957/58 282;
verba visibilia, z.B. FS Liermann 52.
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Schlüsselgewalt11 und setzte das ministerium verbi als einziges „Amt” göttlichen Rechts ein12. Es ist dies das Hirtenamt, durch das Christus sein geistliches Regiment gleichsam durch „Röhren” ausübt. Er hat es auch mit den notwendigen Mitteln versehen: mit Wort13, Sakrament14 und Schlüssel15. Stiftung, Amt und Gnadenmittel sind Institutionen im Sinne des Urstandsrechts16, zugleich die „unveränderlichen elementaren Verfassungsprinzipien” jeder Kirche, und darum der Bereich des ökumenischen Rechts17.
Fassen wir mit P. Althaus und W. Elert zusammen: Das positive göttliche Recht der Kirche ist „das Verfaßtsein inWort und Sakrament” „im Gegenüber von Amt und Gemeinde” — oder mit J. Heckel selbst: der „Auftrag Christi zur Wortverkündigung und Sakraments Verwaltung durch das öffentliche Predigtamt”18.
11) RuG 346. Dazu gehören (und sind voneinander
zu unterscheiden) Bann und Bußsakrament, vgl. unten 189 ff.
12) KuK 227. Näheres gehört ins Amtsrecht.
13) Zur Wortverkündigung gehören rechtlich z.B. der
Bann und seine Aufhebung (s.u. 189 ff.), die Verkündigung des
Willens Gottes gegenüber der irrenden Obrigkeit und ihre
geistliche Bestrafung (wenn sie aus Christen besteht); die
Warnung an die Christen vor gottwidrigen Geboten der Obrigkeit
(WO 163) und die Belehrung über die geistliche Widerstandspflicht
(WS 32) — durchweg sehr aktuelle Lehren Luthers. Zu Bekenntnis
und Lehrentscheidung s.u. 18910.
14) Dagegen fehlt (systemwidrig!, aber durch die
augustinische Konkupiszenztheologie nahegelegt) ein ius
divinum positivum der Ehe (Lex 144 f. und oben
11379). Auch als Sakrament gilt sie Luther nicht
(anders noch 1519, Lex 144 A. 1169 b) wegen seines engeren, auf
die Rechtfertigung abgestellten Sakramentsbegriffes. Deshalb lebt
in der Ehe der Christ teils nach der lex spiritualis,
teils nach institutionellem Naturrecht (Lex 145) — also nach
weltlichem Erbsündenrecht. Denn Christus hat die Ehe nicht zur
res spiritualis wiederhergestellt (Lex 144). — Übrigens
scheint die von He. (Lex 145) unkritisiert übernommene Lehre, es
gebe nur evangelisches Trauungs-, kein materielles Eherecht (d.h.
kein ius divinum positivum für die Ehe), zumindest für
das Scheidungsrecht nicht zuzutreffen (ebenso E. Klaffke 74 ff.
m. A. 484 mit Dombois FamR 123). Denn wenn gewisse
Scheidungsfälle durch die Schlüsselgewalt sogar kraft heteronomen
Kirchenrechts mit dem Bann belegt werden, dann handelt es sich,
da bei heteronomem Recht kein Ermessen besteht, logischerweise um
kraft positiven göttlichen Rechts verbotene Scheidungen.
Ähnliches dürfte für bestimmte Eheverbote gelten (z.B. Bigamie,
Inzest).
15) Exkurs IV 192 ff.
16) Arg. Lex 120 A. 959 (Sakramente), ZRG 1954 324 f.
(Amt).
17) ZRG 1954 324 f., Gru. ZRG 1961 416.
18) ZRL 1942; Lex 120 f. A. 961 mit P. Althaus; KuK
273 mit H. Bornkamm. Diese Auffassung ist von Gru. verlassen,
s.u. 24530.
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Unter dem geistlichen Regiment Christi im positiven göttlichen Recht („Vertikale”) leben die cives Christi miteinander in der lex charitatis spiritualis, dem göttlichen Naturgesetz der Nächstenliebe („Horizontale”)19. Die „Horizontale” des Rechtsbegriffs setzt sich über die der Kirche nun im Recht fort. Auch hier also die Brücke von der Zweireichelehre über die Rechts- und Kirchen- zur Kirchenrechtslehre!
Die geistliche Kirche darf also im Verhalten ihrer Glieder zueinander nur die lex Christi gelten lassen; sie ganz und gar, aber auch nichts sonst.
Wegen der Identität von regnum Christi und ecclesia spiritualis wäre nun für die geistliche Kirche all das viele zu wiederholen, was über das Reichsgesetz des Christusreichs zu schildern war20: sein Charakter als eschatologisch-geistlich-natürliches Recht, seine besondere Art der Kundgebung im Herzen, seine innige Nähe zur göttlichen Liebe, deshalb seine Eigenheit, vorab Geschenk zu sein, dann erst Forderung; seine Christozentrik weiterhin und Universalität, besonders seine dialogische Struktur (sog. usus spiritualis iuris), zuletzt seine Rechtsqualität.
Doch gilt es fortzuschreiten zum menschlichen Recht. In ihm wird sich ohnedies das göttliche Recht widerspiegeln müssen, wenn es überhaupt Kirchenrecht sein will. Es soll nur festgehalten werden: die geistliche Kirche ist ganz und ausschließlich iuris divini; sie beruht auf positivem und lebt nach natürlichem göttlichen Recht.
Das menschliche Kirchenrecht verleiblicht das göttliche Recht der geistlichen Kirche in die leibliche Kirche hinein. War jene ganz auf das
19) Vorrang der Vertikalen vor der
Horizontalen!, KuK 239. — Im Kirchenrecht ist die lex
charitatis i.e.S. gemeint (unklar AS 63 f.). Warum ist die
„vertikale” rechtfertigende lex fidei nicht erwähnt?
Vielleicht weil das geistliche Regiment Christi, das positive
göttliche Recht, die „vertikale” Position der lex fidei
besetzt hält? Oder aber einfach deswegen, weil He. noch einmal an
RuG 356 anknüpft? Hier anders Gru. AÖR 1959 17.
20) S.o. 68 ff. 73 ff.
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ius divinum gegründet, so steht nun diese ausschließlich auf dem Boden des ius humanum1.
Diese säuberliche Distinktion ist nicht weiter verwunderlich. Denn die ecclesia universalis ist ja keine eigene Kirche, sondern nur die irdische Schauseite der ecclesia spiritualis. Das kehrt jetzt im Recht wieder. Das menschliche Kirchenrecht ist nur die Schauseite des göttlichen. Man darf demnach göttliches und menschliches Recht nicht in gewohnter Weise trennen. Das wäre ganz falsch. Aber zugleich muß man es aufs peinlichste unterscheiden. Die „dialektische” Sicht der leiblichen Kirche überträgt sich mit innerer Notwendigkeit auf das menschliche Kirchenrecht! (unten a).
Da nun die Weichen richtig gestellt sind, kann von den beiden Arten des menschlichen Kirchenrechts gehandelt werden. Sie sind die Fortsetzung der beiden genera des göttlichen Rechts. Das „heteronome” menschliche Kirchenrecht ist, wie sein Name sagt, fremdbestimmt. Es gibt delatorisch in der leiblichen Kirche bekannt, was in der geistlichen Kirche vorgeht, nämlich das (innere) geistliche Regiment Christi (unten b), z.B. Exkommunikation und Rekonziliation.
Das „autonome” Kirchenrecht2 ist (relativ) eigenbestimmt. Denn es umfaßt die gesamte sonstige Kirchenordnung, die auf der Rechtsgrundlage des geistlichen Liebesgebots, der lex spiritualis charitatis, von der gläubigen Vernunft erlassen ist. Hier bestehen weiter Ermessensspielraum und geringere Verbindlichkeit. Seine Hauptbereiche sind Gottesdienstordnung, Ämterrecht und äußeres Kirchenregiment (unten c).
1) Init. 27, 42, Lex 141 A. 1148, Grat. 511, IZ
62, KuK 239 f., Gru. LWB 61 f. — Aus der Symmetrie von
geistlicher und leiblicher Kirche, göttlichem und menschlichem
Kirchenrecht (s.o. 1778) folgt, daß jedes ius
divinum seine facies im menschlichen (nicht notwendig
positiven) Kirchenrecht finden soll. Die leibliche Kirche darf
die geistliche Kirche in keinem Stück verleugnen (vgl. IZ 24
f.).
2) Das hat nichts mit (weltlicher) Autonomie
zu tun! Es handelt sich vielmehr um eine Umprägung des von H.
Liermann gebrauchten (1933 24) auto- und hetero-nomen
Kirchenrechts (Init. 43 A. 179), hat also einen neuen Sinn: Bei
Liermann ist das autonome das von der Kirche, das heteronome das
vom Staat gesetzte Kirchenrecht, bei He. sind beide von der
Kirche gesetzt, aber das autonome in relativer
Ermessensausfüllung, das heteronome in strenger Akzessorietät zum
ius divinum. Gru. unterscheidet auch zwischen dem
Kirchenrecht i.w.S. (göttl. und menschl.) und i.e.S. (dem
menschl. Kirchenrecht), LWB 64 u.ö.; beides zusammen ist (nach
älterem Sprachgebrauch) das „innere Kirchenrecht” (FS Smend II
325) im Gegensatz zum Staatskirchenrecht. Wegen der naheliegenden
Assoziationen an die idealistische Begrifflichkeit ist die
Terminologie He.s nicht unbedenklich; vgl. auch Th. Heckel 1961
128: „Das ius humanum (ist) nicht schlechthin autonom,
sondern . . . im ➝
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Das ius mere ecclesiasticum Heckels kann man wieder nur „dialektisch” fassen. Es steht in engster Beziehung zum göttlichen Recht und ist doch durch eine Kluft von ihm getrennt — wie die leibliche Kirche von der geistlichen. Das ist kein Zufall. Die Gegensatzeinheit des Kirchenrechts entstammt ja der gleichen Quelle wie die der Kirche: den beiden Reichen und Regimenten.
Nähe und Ferne zum ius divinum finden ihren Ausdruck in der Dialektik zweier Sätze: Extra Christum nullum ius — und: „Kirchenrecht ist nichtiges Menschenwerk!”. Schärfer noch: zwischen göttlichem und menschlichem Kirchenrecht besteht ein unüberbrückbarer Gegensatz3!
Die fast unerträgliche Spannung zwischen christologischem Recht und „Bettelwerk” findet ihre Begründung in der Dialektik der leiblichen Kirche, die ihrerseits auf der anthropologischen Dialektik des simul peccator et iustus beruht. Darum ist diese christologisch-ekklesiologische Dialektik das allgemeinste Charakteristikum des menschlichen Kirchenrechts. Sie ist so grundlegend, daß sie noch genauer dargelegt werden muß.
Zunächst: Kirchenrecht ist christologisches Recht, und zwar nach Ursprung und Struktur. Dies beides ist im Aufbau der geistlichen Kirche begründet; auch darum ist Kirchenrecht von allem anderen Recht geschieden4. Wie die ecclesia spiritualis in der ecclesia universalis lebt5, so das göttliche Recht im menschlichen. Aber wie es nur ius divinum im usus spiritualis iuris gibt, so auch nur ius humanum ecclesiae im usus
➝ Dienst . . . der Kirche, deren Haupt Christus ist.” Er
verwendet darum diese Begriffe nicht. Kritisch auch H. Dombois
RdG 965 ff., H. Diem III 334 A. 62. Gleichwohl ist die
Unterscheidung sachlich gerechtfertigt; sie ist auch die
rechtstheologische ratio legis der poena latae et
ferendae sententiae des kanonischen Rechts (wenn auch nicht
ihrer Ausgestaltung im einzelnen). Auch die Bezeichnung als
deklaratorisches und konstitutives Kirchenrecht ist wegen der von
Dombois erhobenen durchschlagenden Bedenken (unten 648 ff. mit
Exkurs XIV) nicht möglich.
3) Init. 39.
4) Lex 174 — woraus folgt, daß auch rechtlich von der
geistlichen Kirche auszugehen ist.
5) Der kirchenrechtliche canon charitatis
bleibt zunächst der Klarheit halber unberücksichtigt.
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spiritualis,6 — also innerhalb des personhaft-christologischen Bezuges zum Haupt Christus. Entweder ist es „Werk des Glaubens” aus Glauben für den Glauben7 — oder es ist kein Kirchenrecht8. Christus ist Grund und Grenze des Rechts9. Werk des Glaubens ist es in mehrfacher Hinsicht: in seiner Rechtsgrundlage (denn es steht „in unauflöslicher Beziehung zum ius divinum”10), im Verfahren (denn die Rechtsetzung geschieht, wo sie recht geschieht, von Gläubigen im Glauben) und im Vollzug (das ist der eben genannte usus spiritualis iuris).
Wie die Kirche gemäß der Reichslehre in ihrer Struktur „kreuzförmig” ist, so das göttliche und, ihm folgend, das menschliche Kirchenrecht; die Vertikale ergibt das heteronome, die Horizontale das autonome Kirchenrecht11. Das ist der zweite christologische Bezug des ius ecclesiasticum: Wie die Vertikale (die institutio der Kirche durch Christus und sein geistliches Kirchenregiment) erst die Horizontale (das Zusammenleben des Volkes Gottes) ermöglicht, so das irdische Spiegelbild im hetero- und autonomen Kirchenrecht; ersteres gestaltet das geistliche Regiment Christi in strenger Akzessorietät, letzteres ist Ausformung der lex Christi, des durch Christus wiedergeschenkten Naturgesetzes der Liebe.
6) Zum usus spiritualis iuris des
göttlichen Rechts vgl. oben 82 f., des menschlichen Kirchenrechts
in beiden Arten: Lex 143 f., SA Lex 318 f., ZRG 1954 325, Grat.
498 ff., Gru. LWB 67 mit Hinweis auf Ernst Wolf; Luther greift
hier scholastische Ansätze auf, vgl. J. Gerson Grat. 501 A. 57
(vgl. auch Thomas, s. o. 120 f.). Gru. scheint den usus spir.
iuris neu zu interpretieren; der geistliche Gebrauch bestehe
in der beständigen Orientierung am göttlichen Recht (ZevKR
1957/58 283).
7) Lex 40 A. 248, 142 f. mit H. Schreiner, ebd. A.
1161 a, AS 1956 45, IZ 48, — ein Werk des Glaubens, aber kein
Glaubensakt selbst!, Init. 49; Gru. LWB 62. Zur
„Glaubensverbindlichkeit” s.u. 20874. — Wenn also He.
für Melanchthon berichtet, die Kirchenordnung zähle zu den
„Mitteldingen” ohne jede Heilsbedeutung (Mel. 93 — eine Meinung,
die sehr verbreitet ist), so würde der Kanonist hier eine
genauere Unterscheidung wünschen: Das ius mere
ecclesiasticum ist nicht unmittelbar, wohl aber mittelbar
heilsbedeutsam, insoweit als seine Beachtung von der lex
charitatis geboten und eine wahre vita christiana
ohne es nicht möglich ist.
8) AS 1956 45 — und weil es kein Kirchenrecht wäre,
ist es auch kein Recht mehr; es „gilt” nicht mehr in der Kirche;
oder mit Gru. LWB 67 f. u.ö.: der bloße Normenbestand ist
geistlich auch hier irrelevant.
9) Vgl. Gru. LWB 535: Autonomie im Rahmen der
Christonomie!; zum Axiom extra Christum nullum ius, das
auch fürs menschliche Recht gilt, Lex 142, KuK 283.
10) ZRG 1956 532 mit Ernst Wolf, Lex 139 A. 1136 gegen
H. Jedin; es hat „nicht nur eine grundlegende und zielsetzende,
sondern auch eine begrenzende Funktion” für das menschliche
Kirchenrecht, Gru. ZevKR 1964/65 17 in Anlehnung an eine Formel
Wolfs zum ius divinum der „biblischen Weisung” (s.u. 350
f.).
11) Diese Erkenntnis findet sich sachlich bereits RuG
304; die terminologische Einteilung des Kirchenrechts ab
Init.
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In dieser zweifachen ekklesiologischen Beziehung ist Christus Richtpunkt des menschlichen Kirchenrechts und das ius divinum sein Fundament12.
Das christologische Kirchenrecht ist zugleich ganz und gar nichtiges Menschenwerk. Es darf sich nicht „Werkstück des Heiligen Geistes”13 nennen, ist kein „geistliches Recht”14. Erst die scheinbar entgegengesetzten Aussagen zusammengenommen ergeben Fülle und Bedeutung des ius mere ecclesiasticum.
Auch hier ist eine mehrfache Betrachtung vonnöten; wieder leitet das Verständnis der Kirche dazu an. Was ist gemeint? Drei Bezeichnungen standen der geistlichen Kirche gegenüber: die leibliche Kirche (als Schauseite), die soziologische Kirche (als uneigentliche Kirche) und die „zwote” Kirche des Teufels. Entsprechend beim christologischen Recht!
„Menschenwerk” ist es schon in der Entstehung. Nur auf höchst unvollkommene Weise vermag das menschliche Recht seiner Aufgabe nachzukommen, Schauseite des göttlichen zu sein. Noch am ehesten gelingt es dem heteronomen Recht, obwohl seine geistliche Schwäche deutlich genug wird. Nur in engster Anlehnung an das geistliche Regiment Christi wird es überhaupt rechtlich existent. Schon bei der geringsten Abweichung ist es nichtig. Wo es ihm nicht gelingt, dem influxus capitis in der leiblichen Kirche menschlich-rechtliche Gestalt zu verleihen, bleibt es unbeachtlich.
Die spirituelle Schwäche menschlicher Rechtsschöpfung ist vollends klar beim autonomen Kirchenrecht. Hier ist das geistliche Regiment Christi nur mittelbar wirksam, insofern es auf die lex charitatis spiritualis verweist: sie gebietet Erlaß einer Kirchenordnung durch die
12) Vgl. Init. 27, Grat. 511, IZ 62, KuK
240.
13) Lex 143 A. 1162.
14) KuK 245 ff., dazu unten A. 15. — Wenn Init. 49, 59
f. noch gesagt wird, dieses Recht „bleibe streng innerhalb der
natürlichen Ordnung”, es sei — gegen J. Bohatec — ohne jeden
spirituellen Charakter, kein Glaubensakt, in keiner Hinsicht
„geistliches” oder „heiliges” Recht (während Luther die
weltlichen Ordnungen überaus gepriesen habe, ja ihre Einhaltung
aus Gewissenspflicht gefordert habe!) — so ist das alles im
Lichte der im Text aufgeführten späteren Aussagen He.s nur noch
abgeschwächt aufrechtzuerhalten; denn dieses Recht muß nach Init.
81 f., 62 A. 265 (mit G. Holstein, H. Liermann, H. v.
Campenhausen) gleichzeitig geistlich legitimiert sein und mit dem
(scil. geistlichen) Wesen der Kirche übereinstimmen (vgl. dazu
348) und geistlichen Aufgaben dienen (Th. Heckel 1961
119).
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menschliche ratio im Rahmen und nach Maßgabe der christlichen Bruderliebe. Das bedeutet aber einen noch weiteren Abstand zum ius divinum als ohnedies schon beim heteronomen Kirchenrecht.
Unmittelbare Quelle des autonomen Rechts ist das Ermessen der menschlichen Vernunft, die als simul iusta et peccatrix versucht, von steten Fehlschlägen begleitet, das christliche Gemeinleben im Geiste des göttlichen Naturgesetzes zu ordnen. Das erklärt, weshalb dieser Teil des menschlichen Kirchenrechts für Luther einen durchaus „weltlichen” Charakter annimmt15, viel mehr als das heteronome Recht. Doch würde man Luther mißverstehen, wenn man „weltlich” anders als nur analog verstünde: auch dieses Recht ist ganz und gar Kirchenrecht, also im Glauben begründet, verbindlich und vollzogen16.
„Menschliches” Kirchenrecht, rangminderes Menschenwerk ist es auch in seiner Rechtsform. Wie die ecclesia universalis nur Kirche ist, wenn und soweit in ihr die ecclesia spiritualis lebt, so ist auch das Kirchenrecht nur Recht im usus spiritualis iuris. Greift man dagegen nach dem bloßen Normenbestand, so hält man ein geistliches Nichts in Händen17. Darin zeigt sich der ungeheure Abstand des Menschen und seines Rechts von Gott: die bloße Form als Norm ist nichts als „soziologischer Rechtsschein”. Sinn und Gehalt dieses Rechts stammen nicht aus eigenem. Zum Heil kann es selbst nichts beitragen. Alles ist Gabe.
In einem dritten peiorativen Sinn muß vom Kirchenrecht als Menschenwerk gesprochen werden — uneigentlich zwar, doch nicht weniger bedeutsam. Denn nicht nur die simul peccatores et iusti, die cives Christi also, gestalten das menschliche Kirchenrecht; auch die Namenschristen, die cives diaboli, versuchen Einfluß zu gewinnen, das Recht der Kirche zu verfälschen und es in den Dienst der Heuchelkirche zu stellen. Weil die irdische Existenz der Kirche faktisch diesen Makel nicht abwaschen kann, ist auch ihr Recht ständig von daher bedroht, und nie kann die leibliche Kirche die geistliche „einholen”. Immer bleibt sie Schlachtfeld und Siechenanstalt — auch in ihrem Recht18.
15) Z.B. Init. 81 A. 346 gegen G. Wehrung und
wieder KuK 267 ff. (d.h. nicht „geistlich” i.S. Luthers [KuK 245
f.], sondern „weltlich” = „nicht geistlich” = nicht zur
geistlichen Kirche gehörig [nicht „weltlich” i.S. des weltlichen
Regiments], KuK 267 ff.; zu dieser Sprachverwirrung s. u. 230
ff.). Ebenso bei Melanchthon, Mel. 91 ff.
16) KuK 267 ff.
17) ZRG 1956 518. — In Lex 142 f. sind beide
Gedankengänge ineinander verflochten, was die Schwierigkeit
dieses Textes ausmacht.
18) Init. 39 A. 155, 47 f., Lex 139 f., KuK
276.
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Nur in einem Sinn ist es nicht Menschenwerk, obwohl gerade hierin praktisch die gesamte protestantische Kirchenrechtstheologie ungeachtet aller sonstigen Divergenzen übereinstimmt: es ist nicht weltliches Recht19. Denn das verstieße aufs gröbste gegen die Trennung der beiden Reiche.
Dreifach ist also Kirchenrecht ein Bettelwerk — als Geschöpf des Menschen, als armseliges Gefäß der Gnade, als bedrohtes, unvollkommenes Recht. Und dennoch — es ist Recht zur Rechten Gottes, hoch über allem Recht der Welt, „Christusrecht” im ganzen wie in allen Teilen.
Wer dies zusammen zu sehen vermag, der hat, wenn das Bild gestattet ist, den Universalschlüssel zum Kirchenrecht Heckels20. Im Grunde handelt es sich um den wohlbekannten doppelten Schlüssel des canon fidei et charitatis, wie Heckel selbst sagt21. Extra Christum nullum ius, verkündet der untrügliche Maßstab des Glaubens — aber zugleich gebietet die Bruderliebe, als Kirchenrecht gelten zu lassen, was nicht offenkundig Teufelswerk ist22.
Diese Grundmaße sind nun im einzelnen zu entfalten. Das Gliederungsprinzip ist auch hier der Reichslehre entnommen: es leitet von der Kreuzesstruktur des Reiches Christi über die Zweiheit des göttlichen Rechts wieder zur Kreuzesstruktur der Kirche und ihrem zweifachen menschlichen Recht.
19) He. nennt als Beispiele R. Sohm, K. Rieker,
G. Holstein (Init. 81 A. 344), ferner P. Althaus (IZ 37). —
Althaus hat aber seine Meinung geändert, vgl. ThLZ 1965 137 gegen
E. Brunner: Die Kirche ist glaubensnotwendig (!) auch Institution
und schafft deshalb ihr Kirchenrecht im Gehorsam gegen ihre
Sendung.
20) Namentlich zu Lex 142 f., KuK 267-273, wo alle
diese Gesichtspunkte ineinanderspielen.
21) ZRG 1960 614 f., KuK 273.
22) So Luther in seiner Frühzeit (RuG 299 u.ö.); das
entspräche der analogen Anwendung des canon charitatis
auf das menschliche Kirchenrecht. Da He. diese Folgerung später
nicht mehr ziehen will, gibt er dem canon charitatis
einen neuen Sinn in KuK 273: wie die eccl. univ. nur
„Kirche” ist vermöge der in ihr lebenden eccl. spir., so
ist das menschliche Recht der Kirche nur „Kirchenrecht” kraft des
darin lebenden göttlichen Rechts (He. setzt also den canon
fidei gleich dem usus spiritualis iuris, den
canon charitatis gleich dem soziologischen
Normenbestand!). Noch einmal ganz anders verwendet He. den
doppelten Maßstab in ZRG 1960 614 f.: nach dem canon
fidei bestehe in allen Dingen der Kirchenordnung Freiheit,
nach dem canon charitatis aber Bindung um der Brüder
willen.
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Zunächst also zum „vertikalen” Recht, das ist das heteronome Kirchenrecht1! Im Wesen ist es nichts anderes als der rechtliche Vollzug des ius divinum positivum in der leiblichen Kirche. In der Sprache der Zweireichelehre heißt das: es ist die Ausstrahlung des geistlichen Kirchenregimentes Christi2 auf die ecclesia universalis. Das ius divinum positivum ist ja gleich dem verborgenen Kirchenregiment Christi. Deshalb heißt es auch das „Recht des geistlichen Kirchenregiments” und beansprucht geistlichen Gehorsam3, soweit in ihm die Stimme Christi laut wird.
Ist das nicht überaus gefährlich? Wird hier nicht menschlicher Willkür Tür und Tor geöffnet? Man denke an eine irrige Verhängung des Bannes! Nein, antwortet Heckel. Hier gibt es keinen Ermessensspielraum. Dieses Recht hat die Eigentümlichkeit, daß es in strikter Abhängigkeit zum Spruch Christi steht. Es tut nur deklaratorisch kund, was in der geistlichen Kirche bereits eingetreten ist4. Die strenge Akzessorietät des heteronomen Kirchenrechts hat zur Folge, daß es, wo es vom Spruch Christi abweicht, sofort nichtig ist. Es steht und fällt mit dem Urteil Christi — und ist folglich unfehlbar5!
1) Dazu Init. 35 ff., 43 f., 86 f., 100, 114,
Lex 141 f., 146, AS 1956 44 f., IZ 24 f., 62 f., Padua 333, ZRL
1943, KuK 225 ff., 239 ff., Gru. LWB 63.
2) Es ist wieder vom geistlichen Regiment Gottes zu
unterscheiden, s.o. Exkurs I 49 und 1797.
3) Cura 245 (Melanchthon).
4) Zur Abhängigkeit von der Bußlehre des Petrus
Lombardus und G. Biels vgl. Init. 90 ff.
5) Init. 43, Lex 141 f. m. A. 1152. Teilweise aber
anders IZ 45, 58, im Anschluß an Luthers Frühzeit Init. 75: die
Exkommunikation durch einen Amtsträger der leiblichen Kirche
erschöpfe sich mit ihren Rechtswirkungen in der leiblichen
Kirche, wirke nicht in die geistliche Kirche. Aber: entweder
handelt ein Namenschrist: dann hat der Bann überhaupt keine
Rechtswirkungen, ist nichtig, auch in der leiblichen Kirche; nur
de-facto-Folgen können eintreten; oder es handelt ein
homo spiritualis, dann treten Rechtswirkungen sowohl in
der geistlichen wie der leiblichen Kirche ein, da ja ius
divinum vollzogen wird (dazu s.u. 191 f.). Zur
Unfehlbarkeit: Neben der Unfehlbarkeit der geistlichen Kirche
(Lex 142) gibt es also eine Unfehlbarkeit der leiblichen Kirche
(KuK 232), aber auf den Bereich des heteronomen Rechts beschränkt
und nur deklaratorisch (z.B. bei dem Konzil, Init. 75 ff., und
den notae ecclesiae, Exkurs III 133 ff.).
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Darum steht das heteronome Kirchenrecht nicht nur im Rang, sondern auch im Umfang näher beim göttlichen Recht als das menschliche Kirchenrecht sonst. Denn sein Inhalt ist der des geistlichen Kirchenregiments Christi: Wortverkündigung, Sakramentsverwaltung, Handhabe der Schlüssel (i.e.S.) und das ministerium verbi.
Weil das ganze Kirchenregiment Aufgabe des Amtes ist, vielleicht aber auch, weil dieses Recht von der blendenden Herrlichkeit des ius divinum positivum überstrahlt wird, tritt der reiche Gehalt des heteronomen Kirchenrechts bei Heckel nicht offen zutage — sowohl was seine Definition6, als auch was seine Durchführung im einzelnen anlangt. Denn „als Beispiele” findet man nur die Taufe7 und Verhängung samt Aufhebung des Bannes (Exkommunikation und Rekonziliation als Ausübung der Schlüsselgewalt i.e.S.)8; alles übrige fehlt! — und es ist gerade das allerwichtigste9: Wortverkündigung10 und Abendmahl11,
6) In Init. 43 f. (anders [?] in SA Init. 478)
ist das heteronome Kirchenrecht die Ausstrahlung der geistlichen
Gerichtsbarkeit in der eccl. spir. auf die leibliche
Kirche, also zu wenig; in Init. 86, Lex 141 A. 1152 ist es die
Ausstrahlung des göttlichen Rechts auf die leibliche Kirche, also
zu weit (denn auch die geistliche Bruderliebe ist [natürliches]
göttliches Recht, bildet aber kein heteronomes Kirchenrecht); in
KuK ist die hier wiedergegebene Konzeption zugrunde gelegt. Sie
paßt am besten zu He.s Aufbau.
7) Init. 44 A. 181.
8) Ständiges Beispiel!, s.u. 190 ff. Die
Exkommunikation ist also Rechtsakt, gegen W. Köhler, Init. 44 A.
180.
9) Es ist vielleicht nicht völlig abwegig, hier ein
gemein-evangelisches Anliegen wirksam zu sehen: Es darf keine
Institution „mittlerisch” zwischen Christus und dem Gläubigen
stehen. Im Bilde der Kirchenlehre He.s bedeutet das: In der
„Vertikalen” wird das Menschliche eliminiert, hier das ius
humanum, also das heteronome Kirchenrecht. (Dabei ist gerade
das kirchenrechtliche System He.s besonders dazu tauglich, diese
falsche Antithese zu einem behaupteten „mittlerischen”
katholischen Kirchenbegriff zu überwinden.)
10) Zum rechtlichen Umfang der Wortverkündigung s.o.
18013. Die Bekenntnisschriften sind ebenfalls
beim (heteronomen) menschlichen Kirchenrecht einzuordnen, vgl.
Gru. LWB 65 ff., 400 ff. (obwohl sich an ihnen sogar entscheidet,
„ob eine Kirche lutherisch ist oder nicht” [ebd. 110]!).
„Bekennendes Kirchenrecht” ist es nur im „Erlaß und Vollzug”
(ebd. 68), also im usus spiritualis iuris. — Gru. hat
folgerichtig die Lehrentscheidung zu den (im Kern
heteronom-rechtlichen) Aufgaben des öffentlichen Predigtamtes
(LWB 104), also des Pfarrers gezählt (ZevKR 1962/63 22 A. 34),
während er das Lehrurteil über den Pfarrer der Synode zuerkennt,
die im übrigen nicht weisungsbefugt ist (ZevKR 1964/65 49).
11) Das Abendmahl wird rechtlich bei He. nur
vorgefunden im ius divinum positivum („Sakrament der
Einheit”) und im autonomen Kirchenrecht (Gottesdienstordnung in
dem auf das Abendmahl bezüglichen Teil). Nach der Systematik He.s
➝
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das Gegenüber von Amt und Gemeinde12 in der leiblichen Kirche, überhaupt das Ämterrecht in seinem positiv-göttlichen Kern13. Oder sollte es insoweit kein heteronomes Kirchenrecht, keine irdische Schauseite, keine recht verstandene ecclesia universalis geben? Träfe man hier auf das reine ius divinum ohne jede menschliche Beimischung?
Die Frage stellen, heißt sie verneinen14. Wie es keine geistliche ohne leibliche Kirche gibt, so kein ius divinum positivum ohne heteronomes Kirchenrecht — das dann im autonomen Recht seine der lex charitatis entsprechende nähere Ausgestaltung findet15.
Nun zum Verfahren und den Besonderheiten dieses Rechts, dargestellt am Beispiel der Exkommunikation („kleiner Bann”)16.
➝ wäre aber zu unterscheiden zwischen dem Vollzug des
positiven und des natürlichen göttlichen Rechts des Abendmahls:
der „Gestalt” der Stiftung im heteronomen Kirchenrecht (vgl. aber
die [legitimerweise] verschiedenen „Wandlungsworte” bei der
evangelischen und der katholischen Feier) und der zugehörigen
Liturgie im übrigen, die von der Kirche im Glauben verantwortlich
zu gestalten ist (autonomes Kirchenrecht).
12) S.o. 18018.
13) Zum Ineinander beider Rechtstypen im Amtsrecht
s.u. Exkurs V 249 ff.
14) Das ist gar nicht so selbstverständlich. He.
selbst scheint diese Ansicht eine Zeitlang vertreten zu haben,
wie sich aus Init. 32 f., 36, 86 ergibt. Denn dort wird klar
gegenübergestellt: die Schlüsselgewalt gehört zum (positiven)
göttlichen Recht und zur eccl. spir., die äußere
Kirchenleitung aber zum (autonomen) menschlichen Recht und zur
leiblichen Kirche. Des weiteren kennt He. ebd. 92-116 ein
forum Dei, dem kein forum der eccl.
spir. entspricht. Auch bei Gru. tritt das heteronome Recht
so weit zurück, daß öfters göttliches (scil. positives) Recht und
menschliches (scil. autonomes) Recht konfrontiert werden, (also
wie oben in Init.; z.B. LWB 535 zur Kirchenverfassung allgemein,
ebd. 97 ff. zum Kirchenregiment, 535 f. zu den Bedingungen der
Kirchengemeinschaft, ELKZ 1960 162 f. zum Kirchenrecht). Ebenso
erwähnt Th. Heckel FS Heckel 256 f. das heteronome Kirchenrecht
nicht. Aber: „wo immer die geistliche Kirche lebt, gibt es
notwendigerweise heteronomes menschliches Kirchenrecht” (Init.
44), und zwar überall. Das folgt nicht nur aus der Zurechnung der
Taufe auch zum heteronomen Kirchenrecht (ebd. A. 181), sondern
vor allem aus dem klaren Wortlaut von KuK 240 als dem endgültigen
Stand der Erkenntnisse He.s.
15) Die Verbindung von hetero- und autonomem
Kirchenrecht ist bei He. nicht ungewöhnlich, vielmehr die Regel;
so bei der Kirchenzucht und beim Bann (s.u. A. 20, 22). Das ist
die logische Folge des Zueinander von regimen und
lex Christi: ihre innere Einheit in Christus setzt sich
fort in der Verschränkung von hetero- und autonomem menschlichen
Recht (dazu s.u. 194 ff. [19926]).
16) Init. 43 f., 71, 108 ff., 113 ff. (mit wichtigen
Berührungen zur altkirchlichen Rekonziliation!), Lex 141 f. A.
1152, 146, ZRG 1956 527, IZ 54, 58 f., KuK 238 ff. ➝
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Es ist zu unterscheiden zwischen dem positiven göttlichen und dem heteronomen menschlichen Recht, hier also zwischen der excommunicatio interna durch Christus aus der geistlichen Kirche (poena latae sententiae iure divino) und der excommunicatio externa als ihrem deklaratorischen Vollzug kraft heteronomen Rechts in der leiblichen Kirche17. Erstere geschieht ipso facto mit der Tat und mit dem Ausscheiden aus dem Reich Christi18, letztere vollzieht sich in einem förmlichen Verfahren, das Christus selbst geregelt hat (das also im Kern wieder iure divino ist). Nur von letzterer ist im folgenden die Rede.
Die Verhängung des Ausschlusses aus dem Kirchenwesen19 ist formell eine geistliche Strafe, kanonistisch eine Zensur. Sie ergeht in Gestalt eines richterlichen Spruches, als schärfstes Reaktionsmittel der Kirchenzucht20. Zuständig ist das öffentliche Predigtamt mit Zustimmung der Gemeinde.
Materiell ist sie Wortverkündigung an den Sünder mit dem Zweck der Besserung (poena medicinalis). Der Tatbestand ist erfüllt bei besonders schweren öffentlichen Sünden verbunden mit Halsstarrigkeit21. Das öffentliche Predigtamt verkündigt dem Sünder die lex irae, exkommuniziert ihn dadurch, d.h. schließt ihn von ihrem geistlichen Leben22,
➝ m. A. 110; ebd. und 4. Schmalkald. Artikel zum „kleinen”
Bann. Wenn He. ihn KuK 279 ff. zugleich zum Themenbereich der
„Kirchenordnung” zählt (= autonomes Kirchenrecht, s.u.
1953), so ist das nur als Sachzusammenhang
gemeint.
17) Selbstverständlich gehört die Exkommunikation also
nicht dem weltlichen, sondern dem geistlichen Regiment zu, ZRG
1957 503.
18) In Übereinstimmung mit der Reichslehre, s.o.
4455; IZ 23, AS 64.
19) Unklar ZRG 1956 514 „Ausschluß . . . und
Exkommunikation”.
20) Die Kirchenzucht (oder poenitentia
publica, u.a. ZRG 1958 534) ist teils heteronomes
Kirchenrecht (was den Bann betrifft), teils autonomes
Kirchenrecht (im übrigen, namentlich das bloße Disziplinarrecht).
Sie ist vom Bußsakrament zu unterscheiden, das nicht zur
kirchlichen Strafgewalt gehört, sondern den andern Teil der
Schlüsselgewalt bildet (das also, um mit Melanchthon zu reden,
nicht potestas iurisdictionis, sondern potestas
ordinis ausübt, während die Exkommunikation wegen des von
Christus vorgeschriebenen ordo iudicialis zur
potestas iurisdictionis gehört), vgl. Init. 36, 98 ff.,
108 ff., 113 f., 115 f., Lex 141 A. 1152, ZRG 1956 526 f., KuK
241 A. 100, 279 f.; Gru. RGG III 1435. Rechtsgrundlage des
kirchlichen Disziplinarrechts ist die charitas fraterna,
die nicht nur schenkt, sondern — wie hier — auch fordert (IZ 24
A. 76), der rigor charitatis (Th. Heckel FS Heckel 266
f.); dazu Gru. ZevKR 1961/62 338 f. (und Augustins caritas
severitatis!, F. Hofmann 251). Wegen gleicher Wirkung (!)
bezeichnet Luther aber Beichtabsolution und Bannaufhebung
gleichermaßen als Sakrament (Init. 112).
21) Darin wird der Abfall vom Haupt offenkundig, Init.
63, KuK 238.
22) Der Bann nimmt die geistlichen Aktivrechte (IZ 54,
KuK 238, — heteronomes Kirchenrecht —), beläßt aber die Teilnahme
an der Predigt (Init. 113 A. 483 — ex
charitate).
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namentlich dem Abendmahl, aus, ermahnt ihn zur Umkehr und verheißt ihm die göttliche Gnade, bedingt durch seine künftige Buße.
Dieses menschliche Urteil ratifiziert Gott und bindet sich daran23. Die Bindungswirkung besteht darin, daß Gott den Sünder erst wieder in Gnaden aufnimmt, wenn dieser (gemäß dem Gebot 1 Joh 4.20) die Versöhnung mit den Brüdern, mit der Kirche gesucht und gefunden hat, deren Gemeinleben er durch seine groben Verstöße gestört hat. Erst dann löst auch Gott die Verstrickung24.
Wenn aber das menschliche Urteil falsch gesprochen wurde25, also nicht die geistliche in der leiblichen Kirche zum Zuge kam, dann ist es in vollem Umfang nichtig. Das göttliche Urteil ist nicht nachvollzogen. Die Rechtslage bleibt beim status quo. Ein schuldlos Gebannter bleibt Glied der geistlichen Kirche, wenn er auch rein faktisch seine leiblichen Gliedschaftsrechte26 nicht ausüben kann. Umgekehrt bleibt der fälschlich wieder aufgenommene Scheinchrist civis diaboli, obwohl er wegen des canon charitatis de facto die Gliedschaft auszuüben vermag.
Ein Zentralbegriff der Heckelschen Kirchenrechtslehre ist die Schlüsselgewalt (potestas clavium). Sie steht in engstem Zusammenhang mit der potestas ecclesiastica, der Kirchengewalt27.
Anfangs hat Luther mit seinen Zeitgenossen beide in eins gesetzt — ein erster und uneigentlicher Sprachgebrauch, der auch später noch bei ihm vorkommt28.
Dann aber verbindet er die Schlüsselgewalt mit seinen Erkenntnissen in der Reichs- und Kirchenlehre. Er setzt die Schlüsselgewalt mit dem geistlichen
23) Ist hier das heteronome Recht noch „rein
deklaratorisch”?
24) Init. 43 A. 178, 115 f., KuK 241 f. m. A. 110. Bei
der Absolution dagegen folgt die pax cum ecclesia der
pax cum Deo nach, Init. 91 ff., 112 ff., KuK 241 A.
100.
25) Das ist die kanonistische Lehre vom clavis
errans, die Luther in der Sache bejaht, aber begrifflich
ablehnt, weil Gottes clavis nicht zu irren vermöge (dazu
Init. 43, 72, 104 A. 437, KuK 243 f. A. 112).
26) IZ 58, KuK 244. — Da er auch das Abendmahl de
facto nicht empfangen darf, erhebt sich auch hier die Frage nach
dem „Standort” der Sakramente (dazu s.o. Exkurs III 133 ff.).
27) Für Gru. vgl. bes. RGG III 1434 f. und ZevKR
1964/65 61-64.
28) RuG 344, Init. 10, 16, 26, 31 A. 111, 69.
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Regiment Christi gleich29. Dadurch beschränkt sie sich auf die Vertikale im Kirchenbegriff. Die Schlüsselgewalt wird nun (i.S. Heckels) rein geistlich und damit jedem weltlichen Zugriff weltlicher oder geistlicher Fürsten entzogen. Sie geschieht durch Wort und Sakrament, und bleibt damit ganz im Bereich der geistlichen Kirche, wenn sie auch in der leiblichen Kirche durch das heteronome Kirchenrecht vollzogen wird.
Dadurch spaltet sich die Kirchengewalt in einen „geistlichen” und einen „leiblichen” Teil30. Der geistliche Teil ist „die” Schlüsselgewalt. Das ist die eigentliche Kirchengewalt, nämlich die „geistliche” Kirchenleitung durch das Wort. Sie „ist ausschließlich zur Weckung und Bewahrung des Glaubenslebens bestimmt”31, zu nichts außerdem. Was übrigbleibt, bildet den leiblichen (nicht „weltlichen”!32) Teil der Kirchengewalt, die sogenannte „Kirchenleitung”, oder nach Heckel das „äußere Kirchenregiment” (das also nicht ohne weiteres mit der kanonistischen hierarchia iurisdictionis vergleichbar ist). Es gehört fortan nicht mehr zum geistlichen Regiment Christi, zum ius divinum positivum33, zur „Vertikale”, sondern zur „Horizontale”, zum autonomen menschlichen Kirchenrecht auf Grund geistlicher Bruderliebe34 — eine entscheidende Erkenntnis der Reformation35 und ein Vorgang von äußerster Tragweite. (Ab hier gibt es darum kein [scil. positives] göttliches Recht des Bischofs mehr36!)
Das ist der eigentliche Begriff der Schlüsselgewalt, fortan als „Schlüsselgewalt i.w.S.” gekennzeichnet.
Daneben gibt es noch den dritten, engsten: die Schlüsselgewalt als Teil des Bußverfahrens, das „Binden und Lösen”, die Exkommunikation und
29) Zu diesem Vorgang vgl. RuG 344 ff.
30) So der Sprachgebrauch Luthers (Init. 70 A. 294),
dem He. in Init. folgt; für Gru. vgl. LWB 80, 91 ff. (96) u.ö.:
das öffentliche Predigtamt (die Ausübung der Schlüssel i.w.S.)
ist göttlichen, die Kirchenleitung menschlichen Rechts. In der
Sprache He.s muß es genauer heißen: die Schlüssel (i.w.S.)
gehören zum ius divinum positivum und damit auch zum
heteronomen Kirchenrecht; die Kirchenleitung dagegen stützt sich
auf die lex charitatis spiritualis und gehört deshalb
zum autonomen Kirchenrecht.
31) ZRG 1956 532, Th. Heckel FS Heckel 265. Das ist
das (scil. „geistliche”) Kirchenregiment der Bekenntnisschriften,
Gru. LWB 91 mit W. Trillhaas und E. Schlink. — Natürlich kann es
mit der äußeren Kirchenleitung kraft autonomen Kirchenrechts
organisatorisch verbunden werden, und ist das auch im allgemeinen
in der Person des lutherischen „Bischofs”, des Kirchenpräsidenten
o.ä.
32) So scheinbar Init. 34, 119 (mit 52)!
33) Das wird, nach He. Init. 99 A. 410, sogar von
Denifle-Weiss und J. Lortz übersehen. — Anders noch Grat. 500 für
die Frühzeit Luthers.
34) Noch schärfer trennt Init. 32 f., 86 (dazu s.o.
19014).
35) Gru. LWB 93.
36) Zum lutherischen Bischof s.u. 206
f.62.
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Rekonziliation also. (Schließlich zählt Luther auch gelegentlich das ganze Bußverfahren zur Schlüsselgewalt37.)
Es sind also vier38 verschiedene Begriffe
auseinanderzuhalten — nicht nur bei Luther, sondern bei
Heckel39! Auch bei ihm findet sich Luthers
„überraschende Sorglosigkeit"40:
1. Im weitesten (uneigentlichen) Sinn ist Schlüsselgewalt die
Kirchengewalt;
2. im weiteren Sinn die geistliche Kirchengewalt;
3./4. im engeren Sinn das Bußverfahren, im engsten als
Exkommunikation und Rekonziliation.
Das autonome Kirchenrecht ist die „horizontale” Ergänzung des „vertikalen” heteronomen Kirchenrechts. Das „Recht der geistlichen Bruderliebe” dient dem „Recht des geistlichen Kirchenregiments”1. Es ist also dem heteronomen Kirchenrecht ein- und untergeordnet.
Dieser Rangabstand prägt das Wesen dieses Rechts (c 1); er zeigt sich im Gesetzgebungsverfahren wie im ganz anders gearteten Inhalt (c 2, 3); er schlägt sich sogar in geringerer Rechtsqualität nieder (c 4).
Das autonome Kirchenrecht ist ein Geschöpf der geistlichen Bruderliebe. Bei ihm gilt der „Kernsatz”: Respublica christiana (i. e. ecclesia universalis) unica lege charitatis instituta est. Es beruht ausschließlich auf der lex divina naturalis, also keinesfalls auf einem abstrakten Ordnungsprinzip2 oder gar auf weltlicher, obrigkeitlicher Gewalt.
37) Init. 114 A. 485.
38) Init. 31 A. 111 nennt drei; dazu kommt ebd. 114 A.
485.
39) Im uneigentlichen Sinn: s.o. A. 28; im
weiteren Sinn: Init. 31 ff., 43 f., 68 ff., 86, 113, SA
Init. 478, KuK 240, 244, 267, Gru. LWB 80 (CA XXVIII), Th. Heckel
FS Heckel 264 f.; im engeren Sinn : Init. 31 A. 111, 70 A. 294,
101, Lex 57 A. 373, 120 A. 956, IZ 62; Gru. RGG III 1324, FS
Heckel 150. Erschwert wird das Verständnis He.s dadurch, daß er
einmal das geistliche Kirchenregiment Christi ausdrücklich in der
Schlüsselgewalt i.e.S. sieht (Init. 36), ein andermal aber i.w.S.
(KuK 244 „außerhalb des Bereichs der Schlüsselgewalt”). Nur
letzteres entspricht seinem System.
40) Init. 31 A. 111.
1) IZ 62.
2) Init. 57 ff. unter Hinweis auf die seit Melanchthon
(WS 43) h. M., die aus 1 Kor 14.33 die Ordnung der christlichen
Kirche zu begründen pflegt, und ZRG 1956 ➝
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Vielmehr ist „es eine um der christlichen Bruderliebe willen geschaffene und befolgte Ordnung”.
Damit wird „Satzung und Vollzug des menschlichen Kirchenrechts . . . eine Tat des Gehorsams gegen das göttliche Naturgesetz”, und die lex charitatis spiritualis „ist die Grundlage der gesamten menschlichen Kirchenordnung”3. Das gesamte irdische Gemeinleben der Christen untereinander steht unter dem Gebot der Nächstenliebe. Denn „daran werden alle erkennen, daß ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe habt untereinander”4.
Unterschied und Bezug des autonomen Kirchenrechts zum heteronomen sind augenscheinlich. Gleich sind beide Arten erstens darin, daß sie in Ursprung und Charakter menschliches Kirchenrecht sind. War dieses die menschlich-rechtliche Schauseite der „Vertikalen” in der Kirche, nämlich des influxus capitis Christi auf sein regnum, so ist nun jenes die Schauseite der „Horizontalen”, der geistlichen Bruderliebe des populus Christi untereinander5. Gleich sind sie zweitens darin, daß die Übereinstimmung dieses wie jenes Rechts mit dem göttlichen Recht nicht an äußeren Maßstäben abgelesen werden kann; nur der geistliche Mensch sieht den verborgenen Quell6 und weiß aus ihm zu trinken. Gleich ist schließlich ihr Vollzug; nur im usus spiritualis sind sie Recht7.
➝ 514 f. gegen Höflings „göttliches Gesetz der Ordnung”.
(ZRG 1954 324 „um der Ordnung willen”, KuK 258 „Ordnungsauftrag”
sind deshalb als Forderung der lex charitatis zu
verstehen.)
3) Lex 139 f., ähnlich Init. 47 f.; Gru. LWB 535 f. —
„Kirchenordnung” ist bei He. der autonomrechtliche Teil des
ius ecclesiasticum, KuK 244 u.ö.
4) Joh 13.35; dazu SA Init. 478, NR 51, Lex 40, 119 A.
951, 136, 139, 143, Grat. 520, AS 65, ZRL 1942, ZRG 1956 539, KuK
248, Gru. LWB 62 u.ö. (hier handelt es sich um die lex
charitatis i.e.S.!, s.o. 18119). — Das gilt
natürlich nur, soweit nicht schon heteronomes Recht gilt, Lex 140
zum ius divinum positivum, AS 1956 44 f.
5) Das „Kreuz” ist also die durchgängige Struktur der
Rechtstheologie, von den Zwei Reichen (oben 41) über die
Rechtstheologie (oben 97132), die geistliche (128) und
leibliche Kirche (139), bis zum göttlichen (179 ff.) und nun zum
menschlichen Kirchenrecht. In RuG 340 ff., Init. 43 drückt He.
dies noch (ohne Abgrenzung zu G. Holstein, aber „nicht i. S. . .
. des 19. Jahrhunderts”, RuG 358, Gru. LWB 21 f.) mit dem
„herrschaftlichen” und „genossenschaftlichen”
(„gemeinschaftsmäßigen”, Cura 245 ff.) Gepräge des Kirchenrechts
aus (Herrschaft Christi, Genossenschaft der Christen). Init. 43
ist bei ersterem die Kirche Dienerin am regnum Christi,
bei letzterem aber an ihren Mitgliedern — nicht unbedenklich,
weil auch das autonome Kirchenrecht (mittelbar) dem regnum
Christi dient.
6) Lex 143 f.
7) Im usus spiritualis treffen also
„Vertikale” (Bezug zum Haupt) und „Horizontale” (geistliche
Bruderliebe) zusammen.
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Verschieden ist aber erstens die Rechtsgrundlage8. Das heteronome Kirchenrecht tut das geistliche Regiment Christi in der leiblichen Kirche kund, vollzieht also das ius divinum positivum; das autonome Kirchenrecht ist das Geschöpf der menschlichen Bruderliebe, füllt also den von der lex charitatis spiritualis eingeräumten Spielraum mittels der Vernunft nach dem an die Liebe gebundenen Ermessen aus. Zweites (formelles) Unterscheidungsmerkmal des autonomen Rechts vom heteronomen ist der Ermessensspielraum, den die menschliche ratio bei der Regelung des christlichen Zusammenlebens hat, während das heteronome Recht streng akzessorisch ist, wie schon hervorgehoben wurde. Beide haben demgemäß, drittens, verschiedene geistliche Aufgaben9. Das heteronome Kirchenrecht vollstreckt das geistliche Regiment Christi; das autonome nimmt die Gemeinschaftsaufgaben der ecclesia universalis wahr10. Es steht damit im Dienst des heteronomen Rechts, ist „Dienstrecht”11.
Alle Unterschiede zusammengenommen ergeben einen gewissen Rangabstand der beiden Bereiche; das autonome Kirchenrecht ist als Geschöpf der ermessensfüllenden menschlichen ratio viel weiter in das Menschlich-Allzumenschliche verstrickt als das heteronome12.
Wie beim heteronomen Kirchenrecht sind zur Rechtsetzung zuständig die cives Christi; demnach die in der ecclesia universalis lebende ecclesia spiritualis. Das ist die lutherisch verstandene „Autonomie der Gemeinde”.
Aber: charitas non auctoritas facit ius13! Wegen des canon charitatis handeln alle Getauften; demnach die leibliche Kirche14. Wegen
8) ZRG 1956 527, 530, 532; Init. 48 kein
„freies Belieben”.
9) Th. Heckel 1961 119.
10) ZRG 1956 518 f. Dazu kommt — von He. nicht weiter
hervorgehoben — die Ergänzung des heteronomen Rechts (oben
19015).
11) ZRL 1943; arg. Lex 141, KuK 245; vgl. Mel. 93
(Melanchthon).
12) Das heteronome Kirchenrecht ist gewissermaßen
„geistlicher”, vgl. ZRG 1956 514; zur Funktion der ratio
s.u. 199.
13) Init. 64 f., dazu AS 1956 45.
14) Init. 61 f., 82 (a. M. H. Sasse: die geistliche
Kirche, Init. 62 A. 264; vgl. aber auch H. Diem III 334 f. A. 65
mit M. Heckel 1963), WO 161, ZRG 1954 325, AS 65; Gru. LWB 63
(dazu vgl. Th. Heckel 1961 144-165). Ihre „Vertretung” (?) ist in
der übergemeindlichen Ordnung der Synode, Gru. LWB 105 (zur
Synode allg. ferner ZevKR 1962/63 22 ff., ZevKR 1964/65 39 ff.).
Zum allgemeinen Konzil s.u. A. 20.
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des canon fidei hindert aber das Veto eines einzigen fidelis15. Natürlich droht hier der geistliche Hochmut besonders stark. Aber vor der Gefahr des Subjektivismus schützt der geistliche Dialog mit dem Amt. Spricht dort der Geist, so gehorcht der wahre Christ. Dabei wird er auch auf die schwachen Brüder Rücksicht nehmen16.
Dieses Kirchenrecht ist also keine „obrigkeitliche Satzung”, sondern Ordnung der Gemeinde durch die Gemeinde. Subjekt der Rechtsgewalt ist das totum corpus ecclesiae17. Es ist demnach nicht zuständig die Kirchenleitung allein18, nicht die weltliche Obrigkeit19.
Daraus ergibt sich eine große praktische Schwierigkeit. Dieses Kirchenrecht steht und fällt damit, daß sich die wahren Christen bei der Rechtsetzung (und im Vollzug) behaupten. Das gelingt aber beileibe nicht immer, denn die (leibliche) Kirche ist ja selbst Schlachtfeld und Siechenanstalt. Man kann deshalb nicht generell sagen, daß die geistliche Kirche tatsächlich der Gesetzgeber sei. Es gibt auch keine irdische Instanz der leiblichen Kirche, die mit Sicherheit die sanior pars feststellen könnte. Erst recht kann das leibliche Recht nicht dekretieren, daß nur wahre Christen es setzen sollten. So weit reicht seine Macht nicht.
Wenn es den cives Christi aber gelingt, das Recht der Kirche nach der lex Christi zu gestalten, dann handeln sie unfehlbar! — natürlich, denn homo spiritualis omnia iudicat20.
15) Init. 62 f., 65 f., KuK 253; ein Gedanke
aus der mittelalterlichen Kanonistik, s.u. 19924.
16) Init. 66-68, Lex 139.
17) Init. 60 f., 86 f., Lex 139 m. A. 1138 f. gegen
Wolf, 141 A. 1152, ZRG 1956 530 (wobei die eccl. part.
gemeint ist), also wie bei Melanchthon und Calvin, ZRG ebd. 530,
Gru. LWB 62, ZevKR 1957/58 283.
18) Init. 37, Lex 138 A. 1122, 139, KuK 249 f.
19) S.o. 1777, Init. 61 „. . . wäre . . .
ein Widersinn ohnegleichen . . .” (a. M. noch Wolf ARG 1952 117).
Etwas anderes ist die cura religionis eines christlichen
Fürsten (des pius magistratus) — nicht als Fürst (aus
weltlichem Rechtstitel), sondern ex lege charitatis
(geistlicher Titel), d.h. als Christ (Melanchthon: als
membrum praecipuum ecclesiae, Cura 251 ff., Grat. 520,
ZRG 1960 622; — aber wieso ist der Fürst geistlich ein
praecipuus?); wenn alles andere versagt, kann er in
Unterordnung unter das Predigtamt (!) subsidiär ein äußeres
Kirchenregiment bestellen, aber nicht als hoheitliches Gebot,
sondern als christliches Beispiel, das wegen des Grundrechtes der
Gleichheit der Anerkennung durch die übrigen Christen bedarf. Im
heteronomen Kirchenrecht hat er in keinem Fall etwas zu suchen
(dazu Cura 227 f., Init. 84 f., Lex 44, 182, 192 ff., Grat. 520
f., IZ 65 f., KuK 252 ff. („Ersatzvornähme”); Gru.
RGG III 1572 f.
20) Init. 62 ff. m. A. 264, Lex 142, KuK 284. Darauf
beruht auch die Legitimität eines allgemeinen Konzils: es ist
unfehlbar, wenn die sanior pars ecclesiae sich
durchsetzt, Init. 76 ff.; ob diese Rechtsvoraussetzung vorliegt,
entscheidet die eccl. ➝
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Wenn dieses Kirchenrecht Ordnung der Gemeinde als ganzer ist, so ist damit noch nichts über die Aufgabenverteilung in den einzelnen Stadien der Gesetzgebung vorentschieden.
Sie liegt bei dem Inhaber des öffentlichen Hirtenamtes; aber nicht aus heteronomem, sondern nur aus autonomem Rechtstitel. Er hat dieses Recht nicht kraft göttlicher Notwendigkeit, sondern aus Sachzusammenhang; denn als „Exekutor” des geistlichen Regiments durch das Wort hat er auch in Dingen der äußeren Kirchenleitung größeren Sachverstand. Die Kompetenz fällt ihm also nicht als dem Hirten zu, sondern als dem mit dem Hirten in Personalunion verbundenen Leiter seiner Kirche. Wer das ist, richtet sich nach den Umständen; je nach Größe der Gremien wird es der jeweilige Pfarrer oder Bischof sein21.
Beschlossen22 wird die Kirchenordnung durch die Gemeinde; wie dabei vorzugehen ist, steht in ihrem Ermessen. Jedenfalls geschieht es in einem öffentlichen Verfahren, in dem auch die Aufnahme des Rechts durch die Rechtsgenossen zu beachten ist23. Innerhalb dieses Verfahrens wirken sich die drei Grundrechte der Christen aus. Es kommt durch die Bruderliebe in Gang, Gleichheit und Freiheit verlangen die freie Zustimmung aller Gläubigen der betroffenen ecclesia particularis. So kommt die Ordnung der Kirche „durch einträchtiges freiwilliges Zusammenwirken der Christen einer Partikularkirche” zustande. Ausschlaggebend ist der consensus fidelium: nach dem canon charitatis beschließen die Getauften, nach dem canon fidei darf der Beschluß nicht auf das Veto der fideles stoßen; es hätte derogierende Kraft. So beruht das gesamte autonome Kirchenrecht auf dem „Gemeinwillen” der Kirche, es ist getragen von der Zustimmung der Rechtsgemeinschaft.
➝ spir., m.a.W. die Anerkennung durch die
Gesamtkirche — also kanonistisch gesprochen: das gesamtkirchliche
Gewohnheitsrecht. Eine gewisse Nähe zu neueren kath. Auffassungen
über die ökumenizität von Konzilien ist unverkennbar!, vgl. H.
Küng Qd 17 53 ff., H. Jedin 10; H.E. Feine I 54 f., 107.
21) Dazu Init. 65 f., 83 f., KuK 256 (XL). Aussagen
über das kirchliche Gewohnheitsrecht fehlen und sind nur aus
Grat. 523 ff. zu erschließen.
22) Dazu Init. 65, Lex 142, KuK 253, 256 f. (XII.),
284, und unten A. 24.
23) Erst recht gilt also hier, was von der Aufnahme
der lex divina zu berichten war (s.o. 76 f. [1
d]).
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Es ist deshalb nicht zuviel behauptet, wenn man sagt, dieses Recht lebe von der Anerkennung, seine Geltung beruhe auf freier Gefolgschaft, diese sei aber geboten von der Verantwortung füreinander. Doch gerade dieses Ideal der Rechtsetzung durch die ganze Kirche ist besonders schnell vergessen worden24.
Ein letztes Problem, ehe der Inhalt des autonomen Kirchenrechts beschrieben wird: Warum ist es nötig, menschliches Kirchenrecht zu erlassen? Bestehen überhaupt rechtspolitische Gründe dafür, und gegebenenfalls in welchem Umfang? Oder besagt nicht der Satz, daß der geistliche Mensch alles beurteile, zugleich die Überflüssigkeit jeden Kirchenrechts25? Ist es nur ein Produkt der Nachsicht mit den Schwachen im Glauben? Keineswegs! Auch der Gläubige bedarf seiner.
Zunächst verhält es sich damit wie bei der ecclesia universalis. Das Geistliche lebt in der Welt, obgleich es nicht von der Welt stammt. Es bedarf des irdischen und irdenen Gefäßes. Deshalb findet die lex divina ihre notwendige Schauseite in der lex humana — wobei allerdings sofort wieder dazugesagt werden muß, daß jede, auch die „kirchlichste” Rechtsordnung bloße litera bleibt, wenn sie nicht im usus spiritualis iuris zu geistlichem Leben erweckt wird26.
Das bedeutet aber des weiteren: Ob und wieviel autonomes Kirchenrecht geschaffen werden soll, entscheidet die vom Glauben erleuchtete menschliche Vernunft. Sie wird vom Antrieb der lex spiritualis bewegt, die richtige Entscheidung zu treffen. Die christiana et libera ratio fide illuminata hat ja Einblick in den Kampf der Reiche und weiß sich nach den jeweiligen Erfordernissen zu richten27.
Schließlich muß die Kirchenordnung in allen Stücken Rücksicht auf
24) Init. 50 f., Grat. 521, 523, AS 1956 45, IZ
64, Padua 333; das ist die necessitas fratrum, Lex 128
A. 1036, AS 1956 ebd., ZRG 1957 503, ZRL 1943, KuK 247; opera
charitatis . . . non propter legem sed propter fratrem
fiunt, WA LVII 2,97,25, Lex 89 A. 653. Der Gedanke des
schriftbegründeten Veto eines homo spiritualis ist schon
in der mittelalterlichen Kanonistik zu finden, vgl. R.H. Bainton
27, K. Nörr 133 zu Nicolo de Tudeschis, gen. Panormitanus.
25) So noch Init. 39, 45, 60, unter Berufung auf 1 Tim
1.9: iusto non est lex posita.
26) Dazu oben 136 ff. 183 ff.; He. verweist dagegen
nur auf die „Schwachen”, Lex 139 f. Ein weiterer Rechtsgrund ist,
daß das ius divinum positivum gelegentlich ausdrücklich
ermessensausfüllende menschliche Rechtsetzung verlangt, so z.B.
im Ämterrecht.
27) Init. 49, 82, Lex 142, IZ 64, ZRG 1960 624, KuK
249; Gru. LWB 62 f.
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die geistlich Schwachen nehmen. Das Liebesgebot verlangt dies in besonderem Maße. Das bedeutet größte Behutsamkeit, was die Zahl der Regeln anbetrifft, äußerste Zurückhaltung bei der Positivierung von Brauchtum — um ja nicht die Vielzahl von Ordnungen und Normen zum geistlichen Fallstrick, ja zu einer alles geistliche Leben erstickenden Reglementierung werden zu lassen28. Darin zeigt sich die Geschichtlichkeit des Kirchenrechts. Bildung und Reform des Kirchenrechts richten sich danach, „ob eine neue Ordnung unter den jeweiligen geschichtlichen Verhältnissen besser der geistlichen Kirche zu dienen geeignet ist als der bestehende Rechtszustand”29.
Der Inhalt des autonomen Kirchenrechts ist allgemein als Vernunft- oder besser Ermessensrecht zu beschreiben (3 a), das sich auf dem Fundament der drei (sogenannten) „Grundrechte” der Brüderlichkeit, Gleichheit und Freiheit konkretisiert (3 b) als Gottesdienst-, Leitungs- und Amtsrecht (3 c-3 d, Exkurs V). Auch hier stellt sich wieder mit innerer Notwendigkeit die Frage nach der Rechtsqualität dieses Rechtes (c 4).
Der Inhalt des autonomen Kirchenrechts ist der der lex charitatis, entfaltet durch die ratio humana fide illuminata. Es ist ein Vernunftrecht — aber ein christliches, kein Recht des regnum rationis, der „Welt”30!
Das bedeutet nach Heckel zugleich, daß ein Ermessensspielraum besteht31, ob menschliches Kirchenrecht erlassen werden soll und was im
28) Init. 9, Grat. 502 f., KuK 253-256 (X.);
RuG 303 f. „yhe weniger gesetz, yhe besser recht”. Das ist
allerdings kein Sondergut Luthers (a. M. He. RuG 339 f.), sondern
ist auch die Ansicht z.B. Ciceros, Thomas’ u.v.a.
29) ZRG 1954 325. Ähnlich Th. Heckel 1961 128
„variabel je nach den geschichtlichen Notwendigkeiten”.
30) Lex 142 f.; entgegengesetzt noch Init.
passim, SA Init. 478.
31) Woher stammt diese Vollmacht der ratio,
nach Ermessen zu handeln? Kann sie das, wenn doch die lex
charitatis spiritualis universal gilt, jeden Einzelfall
berücksichtigt und also jedes Ermessen ausschließt, und zwar auch
in der leiblichen Kirche (denn sonst wäre sie nicht Kirche)? Bei
He. findet sich auf dieses logische Problem keine Antwort. Sie
folgt aber aus den sogleich zu erörternden Grundrechten: Die
lex spiritualis gewährt das dritte Grundrecht der
christlichen Freiheit — auch zur Rechtsetzung. Wo also
Ermessensspielraum besteht, hat die lex spiritualis „vorher”
Freiheitsraum geschaffen und — von Fall zu Fall — auch
Rechtsetzung geboten. Da ➝
|201|
einzelnen sein Inhalt ist. Die christiana ratio konkretisiert die lex charitatis spiritualis. Es ist ein Recht des an die Gottes- und Bruderliebe gebundenen Ermessens32.
Christliche Brüderlichkeit, Gleichheit und Freiheit — in dieser Reihenfolge — sind der grundlegende Inhalt des autonomen Kirchenrechts, die deshalb so genannten „Grundrechte” der Christen.
Sie sind nur die leibliche Schauseite der Grundrechte der lex spiritualis33. Sie sind die Auswirkung des Regiments Christi im Leben der Christen untereinander: „Einer ist euer Meister; ihr alle aber seid Brüder”34.
Aus der communio fidei folgt die communio iuris. „Im Dienst der charitas fraterna gegenüber den Mitchristen (bilden) die gläubigen Kirchengenossen auf der Grundlage der Rechtsgleichheit freiwillig das menschliche Kirchenrecht.” Damit ruht die Gemeinschaft der leiblichen Kirche auf dem dreifachen Fundament der Bruderliebe, der christlichen Freiheit und Gleichheit. Nach ihnen vollzieht sich auch das Gemeinleben der Christen untereinander: Die Grundrechte sind nicht nur „Legitimitätsgrundlage”, sondern auch Inhalt des autonomen Rechts.
ba) Die christliche Bruderliebe
„Die christliche Bruderliebe ist das erste und im Rang wichtigste
Grundrecht”35. Es geht der Gleichheit und
Freiheit36 vor; der Freiheit, weil sie ja sich und dem
anderen Freiheit zu lassen gebietet. Zur charitas
fraterna gehört die Verantwortung füreinander, überhaupt ist
hier die
➝ göttliches Recht im Wesen Freiheit ist, kann das
autonome Recht diesen Freiheitsraum gestalten. — Das katholische
Naturrecht kennt eine analoge Rechtsfigur. Es gebietet (etwa)
nicht zu morden und (z.B.) Straßenverkehrsregeln zu erlassen und
ihnen zu gehorchen. Das heteronome Kirchenrecht entspricht dem
ersten, das autonome dem zweiten Naturrechtsbereich. Entsprechend
kann man auch im katholischen Kirchenrecht untergliedern.
32) Lex 142, Gru. FS Arnold 49.
33) Dazu Init. 50 (noch nicht unter dem Titel
„Grundrechte”), Lex 137, 139, 143, AS 1956 45, ZRG 1959 397, KuK
249, Gru. RGG III 1572. Zu den drei Grundrechten der lex
spiritualis s.o. 86 f., zur terminologischen Kritik
4135.
34) Mt 23.8; Lex 137 A. 1112.
35) Dazu Init. 47, Lex 40, 119 A. 951, 136 f., 139, WS
34 f., KuK 282 f.
36) Lex 40 A. 245, 136 A. 1104: die christliche
Freiheit kann nicht von der Bruderliebe dispensieren.
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Quelle der Gemeinschaft der Christen. Denn die Bruderliebe ist das „organisatorische Hauptprinzip für den Aufbau des Kirchenwesens” (d.h. der ecclesia universalis) und insofern das Grundmaß des menschlichen Kirchenrechts.
bb) Die christliche Gleichheit37
Sie ist zunächst die Gleichheit vor Gott (lex
spiritualis); sie wird auch im Zusammenleben der Christen
anerkannt (lex humana). Die Ungleichheit der Heiden ist
beseitigt. Unter dem Regiment Christi gibt es kein Ansehen der
Person, keine geistliche Ungleichheit, keine Verschiedenheit der
Heilschancen. Das Gemeinwesen der Christen kennt kein anderes
Maß. Die geistliche Gleichheit gilt auch für die leibliche
Kirche. Denn sie muß als Schauseite der geistlichen Kirche ihr
verborgenes Gnadenleben sichtbar machen. Nicht Schwärmertum also
ist die Wurzel der innerkirchlichen Gleichheit, sondern sie ist
die strikte Konsequenz der Gleichheit vor Gott.
Die Folgen der geistlichen Gleichheit sind: Rang- und Standesunterschiede entfallen; es gibt keine „Obrigkeit”38 in der Kirche, keine geistliche, erst recht keine weltliche. Daraus erfließt ein ius commune ohne Privilegien- und Exemtionenwesen39.
Wie wenig Luther daran gedacht hat, nun jede Über- und Unterordnung zu beseitigen, erhellt aus seiner Auffassung von Kirchenleitung und Papsttum40. Nur sieht er jede Kirchenleitung streng als Dienst der Brüder aneinander: „wer unter euch will der erste sein, der sei euer
37) Dazu Lex 40, 136 f., Padua 333, KuK 261
f.
38) S.o. 469 (Christus solus
dominus). Es bedürfte einer eigenen Untersuchung, in welchem
Sinn Luther von Obrigkeit spricht. Die bei He. beigebrachten
Stellen lassen vermuten, daß der Begriff von der recht
weltförmigen kirchlichen Praxis der Zeit Luthers geprägt ist, die
die Wesensverschiedenheit von geistlicher und weltlicher
„Obrigkeit” nur sehr unvollkommen dargestellt hat, so daß sie für
Luther sehr nahe zusammenrückten und ebenso gemeinsam für den
kirchlichen Bereich abgelehnt werden (vgl. Lex 39 A. 235 ff., WS
36, und den Hinweis auf das berühmte Wort, die Kirche sei so
sichtbar „wie die Republik Venedig”, AS 52 = Bellarmin!), während
er das Dienstamt sehr wohl bejaht (s.u. 206). — „Obrigkeit” ist
also ein polemischer Begriff, der nur die negative Seite
hervorhebt.
39) Lex 137 m. A. 1106-1118, 139 A. 1139, KuK 226;
zurückhaltender KuK 262 A. 175: Privilegien sind nicht
grundsätzlich rechtswidrig; frühere seien aber „durch Mißbrauch
hinfällig geworden”.
40) Dazu s.u. 206 f.62.
|203|
Knecht”41! — in scharfem Gegensatz zu jeder Obrigkeit, die doch primär Sündenfolge ist.
Weil die Liebe den ersten Rang hat und aus ihr das Recht entsteht, nicht aus der Gleichheit, deswegen trifft auch die oft gehörte Behauptung nicht zu, daß das allgemeine Priestertum mit seiner Gleichheit Quelle und Aufbauprinzip des (autonomen) Kirchenrechts sei42.
Aus dem gleichen Grund soll die brüderliche Eintracht der Kirchen ökumenisch-rechtlich zum Ausdruck kommen — freilich in einer christlichen Gleichheit: weder in Uniformität noch in partikularistischer Zersplitterung43.
bc) Die christliche Freiheit
Damit ist zugleich einer falsch verstandenen evangelischen
Freiheit gewehrt. Denn nach Bruderliebe und Gleichheit folgt erst
als drittes und rangletztes das Grundrecht der christlichen
Freiheit44.
Was ist das für eine Freiheit? Zunächst ist es eine theologica libertas; der Christ ist frei von der dominatio legis, und folgeweise auch exemt vom weltlichen Recht und allem Zwang. Die lex spiritualis hat ihn freigemacht zum christlichen Dienst in der Welt — eine Freiheit „von” und zugleich eine Freiheit „zu”.
Aber die Freiheit der Kinder Gottes ist keine Freiheit vom Recht überhaupt. Deshalb gibt es Kirchenrecht. Doch ist es keine Frucht des göttlichen Zornes, wie das weltliche Recht, und kennt darum keinen Zwang. Denn es beruht gerade auf der christlichen Freiheit; sie ist hier Recht geworden. Man gehorcht freiwillig, wie es die charitas fraterna gebietet, — nämlich aus dem Antrieb des Herzens. Damit erübrigt sich die Forderung einer „kanonischen” Gehorsamspflicht45.
41) Mk 9.35, 10.43 f. parr., vgl. Lex 157.
Damit erweist die Kirchenleitung den Dienstcharakter des
autonomen gegenüber dem heteronomen (bzw. positiv-göttlichen)
Recht.
42) Init. 45 ff., Lex 138 mit P. Althaus, W. Maurer
gegen früher (Einbruch 121) und K. Holl; zustimmend Ernst Wolf
ZevKR 1951 107.
43) ZRG 1960 615, KuK 274 f., 283, für Melanchthon
Mel. 93.
44) Dazu Lex 40 m. A. 247, 136 ff. m. A. 1123, ZRG
1957 502 f.
45) Init. 50, Lex 40, 138 ff. Hieraus leitet He.
(Init. 50) mit R. Sohm ab, daß dieses Recht nicht im Gewissen
verpflichte (im Gegensatz zum gewissensverbindlichen heteronomen
Recht, oben 188). Ähnliche Verbindlichkeitsfragen stellen sich
auch im Verhältnis von (kath.) Natur- und positivem Recht (vgl.
oben 201 31). Zur Parallelfrage der Glaubensverbindlichkeit s.u.
20874.
|204|
Die Grundrechte entfalten sich in vorzüglich drei Sachbereichen: der Gottesdienstordnung, dem äußeren Kirchenregiment und dem Amtsrecht. Das sind die Hauptthemen46 des autonomen Kirchenrechts; daneben gibt es noch weitere, die nicht „dieselbe Nähe zum Dienst am Heilswerk Christi” haben47. Sie alle sollen nur so weit entwickelt werden, als es notwendig ist, um die Grundstruktur dieses Kirchenrechts zu zeigen.
Die Ordnung des Gottesdienstes ist das erste Hauptthema. Was ist Gottesdienst?
Drei Begriffe findet man: Gottesdienst in der geistlichen, in der leiblichen Kirche und schließlich in der Welt.
In der geistlichen Kirche ist Gottesdienst das Gemeinleben der Christen, für das Christus Wort und Sakrament und das Zusammenkommen dazu verordnet hat48. Es ist der Gottesdienst der Paulusbriefe, in dem sich die Gemeinde in allen Stücken auf erbaut; wo auch das Menschenwerk ganz Gottes Werk ist, wo vor allem Christus im sacramentum unitatis des Abendmahls sich fortwährend mit den Gliedern seines mystischen Leibes vereinigt.
Wie eng der Zusammenhang zwischen Gottesdienst und Kirche ist, merkt man daran, daß Gott schon im Urständ zum cultus Dei, also zum Gottesdienst, die Kirche einsetzte49. Das ist zugleich der Bereich des göttlichen Rechts des Gottesdienstes.
Der Gottesdienst setzt sich fort in der leiblichen Kirche. Dort schließen sich die Christen zu gemeinsamer Gottesverehrung zusammen50. Es ist ein Tun der Christen untereinander, es verbleibt in der „Horizontalen”. Nun gewinnt das Wort „Gottesdienst” einen ganz anderen „leiblichen” Klang! Vergleicht man die präziseren Rechtsaussagen, so ist die autonomrechtliche „Gottesdienstordnung” bei Heckel nur Teilordnung des Gottesdienstes im ersteren Sinn. Sie umfaßt nämlich nur das sogenannte „gemeindliche Kultusrecht” — die Agenden und Rubriken,
46) Lex 141, ähnlich für Melanchthon Mel.
94.
47) Th. Heckel FS Heckel 268, 1961 119; vor allem
Kirchenzucht und Disziplinarrecht, daneben Vermögensrecht
u.a.
48) Lex 119 m. A. 954 a.
49) Lex 68 f., 79 A. 569.
50) IZ 62.
|205|
daneben alles, was sich auf den Kult bezieht bis herab zu den Kirchengebäuden51, kurz, das was man unter „Liturgie” zu verstehen pflegt mit ihren Accessoires. An sich wäre diese Gottesdienstordnung sogar überflüssig. Sie ist nur um der Bruderliebe willen da und nur für die „Schwachen” gegeben52. Freilich umfaßt der Gottesdienst in der geistlichen Kirche viel mehr53 — aber es wird von Heckel im Recht der leiblichen Kirche unberücksichtigt54 gelassen.
Daneben gibt es noch — drittens — den „Gottesdienst” des Christen in der Welt: in Ehe, obrigkeitlichem Amt und Beruf55.
Das äußere Kirchenregiment56 darf nicht mit dem geistlichen Kirchenregiment Christi verwechselt werden, wie schon zur Schlüsselgewalt ausgeführt wurde. Christus übt sein geistliches Regiment in der ecclesia spiritualis und über das geistliche Regiment Gottes in der ecclesia universalis aus.
Das äußere Kirchenregiment dagegen ist nur in der leiblichen Kirche beheimatet. Es ist die Kirchenleitung, die dort kraft der Ordnungsvollmacht der lex charitatis errichtet ist. Nur insoweit geht es auf göttliches Recht zurück57. Seine konkrete Gestalt gewinnt es aus dem Ermessen des autonomen Kirchenrechts, also aus geschichtlicher Zweckmäßigkeit.
Der „Vertikalen” der Kirche entspricht das geistliche Kirchenregiment Christi, der „Horizontalen” dagegen das äußere Kirchenregiment. Daraus erklärt sich der große Rangabstand von geistlichem und äußerem Kirchenregiment.
51) Dazu Lex 68, 141, KuK 244 ff. (VI.), 279,
ZRG 1960 615.
52) Init. 60, Lex 141 A. 1149 — an sich systemwidrig
(s.u. 208 f.),weil einseitig die
pädagogische Seite hervortritt.
53) Lex 141 A. 1149.
54) Anders dagegen Gru. 24221.
55) Lex 144, 161-164 u.ö.; eines der wichtigsten
Stücke evangelischer Sozialethik!
56) Dazu Init. 32, 68 ff., 117 ff., Lex 141, ZRG 1956
528 ff., KuK 245; auch nicht zu verwechseln mit der
(landesherrlichen) „äußeren Kirchengewalt” des großen
lutherischen Dogmatikers des 17. Jh. J. Gerhard (Cura 273 ff.)
und dem landesherrlichen Kirchenregiment überhaupt. Zur Stellung
Gru.s vgl. LWB 91 ff.; er nennt das geistliche Kirchenregiment
die innere oder geistliche, die Kirchenleitung die äußere
Kirchenleitung, ZevKR 1962/63 20 A. 22.
57) Das beruht aber nicht auf dem allgemeinen
Priestertum, ZRG 1956 519 mit R. Sohm gegen J.W.F.
Höfling.
|206|
Auch die Aufgabe der Kirchenleitung ist grundverschieden vom geistlichen Regiment. „Regierte” dieses allein durch Wort und Sakrament, so hat jene nun die (relativ) „weltlichen” Angelegenheiten der Kirche zu ordnen58; vor allem indem sie die Gläubigen anleitet und beaufsichtigt, aber auch die Gemeindeämter errichtet.
Keineswegs darf die rein äußerliche Ähnlichkeit mit weltlichen Regierungsgeschäften dazu verleiten, „Rechts- und Organisationsgrundsätze des (weltlichen) Reiches auf das geistliche zu übertragen”, selbst wenn sich das Recht der Kirche gelegentlich — ex charitate! — an die Naturrechtsordnung der politia anpaßt (also etwa im Disziplinar-, Grundbuch-, Haushalts-, Arbeitsrecht u.ä.); natürlich ohne dadurch seinen geistlichen Standort im Reich Gottes zur Rechten zu verlieren59.
Aus dem großen Rangabstand zum geistlichen Regiment hatte und hat60 man immer wieder geschlossen, Luther zähle die Kirchenleitung zum weltlichen Regiment; das geborgte landesherrliche Kirchenregiment mag diesen Gedanken sehr gefördert haben. Ganz anders Luther selbst! Das wäre ihm gar als Verstoß gegen das ius divinum vorgekommen61. Weit entfernt, das äußere Kirchenregiment entgegen der Zweireichelehre der weltlichen Obrigkeit zu überlassen, vertraut Luther es sogar dem öffentlichen Predigtamt an (also dem Werkzeug des geistlichen Regiments). Zwar geschieht das nicht aus Notwendigkeit; doch zur guten Ordnung des äußeren Kirchenregiments gehört, daß es für die an sich zuständigen Glieder der ecclesia spiritualis vom Inhaber des öffentlichen Predigtamtes in Personalunion ausgeübt wird62. Obwohl es angezeigt ist, geistliches und äußeres Regiment scharf zu unterscheiden, hängen sie doch ebenso eng zusammen wie die lex divina positiva und die lex naturalis.
58) KuK 271; z.B. die Gottesdienstordnung (!),
Gru. LWB 95.
59) IZ 48, Padua 332, KuK 270 f., Th. Heckel 1961 119,
Gru. ZevKR 1957/58 283. — Insofern gilt: „Die Verfassung einer
leiblichen Gemeinde der Christenheit ist in allen Stücken das
Gegenteil eines politischen Herrschaftsverbandes”, AS 1956
44.
60) Zuletzt G. Törnvall, vorher etwa K. Rieker, Init.
83 A. 355. — Recht mißverständlich selbst He. (Init. 119
„Regiment der Welt”) auf Grund der später aufgegebenen Zuweisung
der eccl. univ. zur „Welt” (s.o. 13970).
61) S.o. 175 ff. erster und sechster Grund-Satz;
abwegig also Dombois RdG 759. Rechtsfolge: die Kirchenleitung ist
Dienst, nicht Herrschaft.
62) Die Personalunion ist also menschlichen
Rechts (Gru. RGG III 1435), wenigstens auf überörtlicher Ebene
(Gru. FS Heckel 155 ff. — in der Pfarre lautet die entsprechende
Differenzierung: öffentliches Predigtamt — Kirchen vorstand, FS
Heckel 158 f.), nämlich beim „lutherischen” Bischof. Luther und
Melanchthon waren ➝
|207|
Überblickt man das autonome Kirchenrecht, so stellt man fest, daß „überhaupt keine Rechtsfragen i.S. des weltlichen Rechts” auftauchen, abgesehen von Randgebieten (wie dem kirchlichen Vermögensrecht usf.), aber selbst dort ist es nur eine scheinbare Ähnlichkeit. Denn alles ruht auf der christlichen Bruderliebe und wird von daher bestimmt63. Ist es also kein „Recht”, wie die Bekenntnisschriften nahelegen64?
Es ist Recht, wenn man nicht einem veralteten Rechtsbegriff anhängt, der einseitig am Staat und an hoheitlicher Setzung ausgerichtet ist65, oder in der Liebe des Rechtes Gegensatz sieht66.
Freilich ist es ein Recht eigener Art67, es nimmt allenthalben eine Sonderstellung ein. So in seinem Wesen: es ist eigengeartetes, nicht-normatives Recht68; in seiner Rechtsgrundlage: die lex charitatis mit den drei Grundrechten; in seinem Erlaß: es ergeht nicht im Wege hoheitlichen Befehls69, sondern durch brüderliches Zusammenwirken der ganzen
➝ übrigens Anhänger der Bischofsverfassung (Lex 141 A.
1146, KuK 282 A. 249); Luther hat sogar den päpstlichen
Jurisdiktionsprimat (in seinem Sinne des) menschlichen Rechts
(bis 1519) anerkennen wollen (Init. 28, Lex 139 A. 1140, KuK 225
A. 13). Nach He. (schon ZRG 1924 268 f. mit K.F. Eichhorn 1831 I
690 A. 9; vgl. auch ZRG 1954 321 ff., ZRG 1956 529 f., IZ 63 f.)
und Gru. (LWB 97 ff., mit Schärfe ZevKR 1962/63 20 ff.) ist der
Bischof nach (positiv-)göttlichem Recht nichts anderes als ein
Pfarrer, d.h. er verwaltet das ministerium verbi
publicum (das geistliche Kirchenregiment). Nur iure
humano, also auf Grund der lex charitatis, ist
damit in Personalunion die „äußere Kirchenleitung” verbunden; der
Unterschied von Pfarrer und Bischof ist also allein im
autonom-menschlichen Recht (bzw. mittelbar in der lex
charitatis) begründet.
63) Init. 53, Lex 136; Gru. ZevKR 1957/58 283.
64) ZRG 1956 530 f.
65) Init. 52 f., Lex 143 A. 1164 gegen G. Wünsch, K.
Köhler, H.W. Beyer, ferner ZRG 1956 530 f.
66) Gru. ZevKR 1961/62 339 f. mit Wolf RuL 479 ff.
gegen E. Ruppel, E. Brunner u.a.
67) Init. 53, IZ 48, ZRL 1943; Gru. ZevKR 1957/58 283.
Es gibt also nach Luther ein ius utrumque, Lex 143. Dazu
oben 183 ff.
68) Zutreffend Gru. ZRG 1961 412 ff. — mag es auch in
seiner leiblichen Gestalt Gesetzesform tragen, Gru. LWB 67 f.,
ZevKR 1961/62 332, ja überhaupt weitgehend der modernen
Rechtstechnik anzugleichen sein, ebd. 337 f., ZRG 1964 XXV. Aber
es ist kein „Gesetz” im theologischen Sinn, sondern bleibt
Ordnung aus Liebe, ZevKR 1961/62 338 f. Zur Eigenständigkeit und
-geartetheit vgl. Gru. LWB 49, 51 ff., 64, FS Heckel 149, EvW
1960 113, KuSt 35, ZevKR 1961/62 331, ThLZ 1963 803 u.ö.
69) S.o. 196 ff.; deshalb nennen es die
Bekenntnisschriften nicht „Recht”, wohl aber Melanchthon, ZRG
1956 530 f. Wenn Gru. LWB 62, ZevKR 1957/58 283 sagt, es sei
deshalb kein „Gesetz”,so ist damit die theologische lex
angesprochen, dazu s.o. 92 ff.
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Kirche; ebenso im Vollzug: nur im usus spiritualis ist es wahres Kirchenrecht, ja — Recht überhaupt70.
Seine Verbindlichkeit ist teils geringer, teils stärker71 als die des kanonischen Rechts. Denn auch für die Verbindlichkeit gilt das Grundrecht der Freiheit im Rahmen der Bruderliebe. Man gehorcht dem ius ecclesiasticum in freier Gefolgschaft, aber aus strenger Verantwortung für die Brüder. Sind sie doch alle Glieder eines Leibes! Es gibt keine Freiheit außer im Rahmen der Liebe: die christliche Freiheit ist „nicht das oberste, sondern das letzte Grundrecht”72. Das will besagen: man kann im Einzelfall dann von den Regeln dieses Rechts abweichen, wenn man nicht die Liebe verletzt, also weder das eigene Seelenheil noch das des Bruders in Gefahr bringt. Die Rücksicht auf den Schwachen wird deshalb eine große Rolle spielen73. Soweit das autonome Kirchenrecht jedoch gelten will, ist es Werk des Glaubens74, oder, wenn man so will, „liebesverbindlich”. Also: wo die Bruderliebe es gebietet, gilt es streng und ohne Ausnahme75; wo die necessitas fratris nicht besteht, wird es nicht beachtet76.
Die vergleichsweise geringe Verbindlichkeit rückt es in die Nähe des Rechts der Eltern und der Schule; es ist ein pädagogisches Recht. Es ist eine erleichternde Hilfe für den Vollzug des positiven göttlichen Rechts,
70) S.o. 1846ff.
19924.
71) Grat. 501 f.
72) ZRG 1957 503, oben 196 ff.
73) Init. 50, 59, Lex 141 f., AS 1956 45, ZRG 1960
624; vgl. Lex 139 f. über die Notwendigkeit, das Kirchenrecht
stets den Schwachen anzupassen.
74) S.o. 1847; die Ablehnung
glaubensverbindlichen menschlichen Rechts in KuK 268 u.a. bezieht
sich auf das Kirchenrecht als Norm; von Glaubensverbindlichkeit
zu reden, hat freilich nur einen Sinn innerhalb des lebendigen
Gottesbezuges, also soweit durch usus spiritualis iuris
die glaubensverbindliche lex Christi in der menschlichen
Norm lebendig wird, oder, entsprechend zu oben (95 f.), soweit es
an der Glaubensverbindlichkeit der lex spiritualis
teilhat, nämlich nur mittelbar. Vgl. auch die angedeutete Kritik
Ernst Wolfs ZevKR 1951 107.
75) So mit Entschiedenheit gegenüber dem Verdacht
einer „pneumatischen Anarchie” Th. Heckel FS Heckel 266 f.; vgl.
ebd. den zutreffenden Hinweis auf die Kirchenzucht aus dem
rigor charitatis. Das ist zu verstehen nicht nur als
moralische, sondern als Rechtspflicht zum Gehorsam, „nicht
weniger als (beim) weltlichen Gesetz”, ZRG 1957 503; weiter geht
mit Recht Gru.: das kirchliche Gesetz verlangt auch mehr als das
weltliche, denn ein äußeres Verhalten genügt ihm nicht, es will
in innerer Zustimmung erfüllt sein, ZevKR 1961/62 338. (Ebenso
ist es beim kanonischen Recht, K. Mörsdorf I 103.)
76) Init. 55, ZRG 1957 503.
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namentlich für den Anfänger im Glauben77. Es soll sichern, fördern und bewahren; wo es hindert, gilt es nicht. Man muß sogar sich darüber hinwegsetzen, wenn die Nächstenliebe es gebietet, denn die lex charitatis spiritualis geht vor. Mit einem Wort: es soll öl sein im Getriebe, nicht Sand. — Deshalb gibt es zwar eine Sanktion eigener Art, wenn es übertreten wird, nämlich die Kirchenzucht, aber keinen Zwang, im Gegensatz zum weltlichen Recht78, denn die Liebe zwingt nicht. Es ist deshalb nicht abwegig, dieses Recht als „Rechtsbrauch” zu charakterisieren79.
Wenn aber menschliches Kirchenrecht direkt gegen göttliches Recht verstößt, sei es positives oder natürliches? Dann gibt es für den civis Christi nur eines. Er leistet aktiven geistlichen Widerstand und erstrebt die Bildung gesunden Rechts, was bis zur Bildung eigener Gemeinden innerhalb der Taufgemeinschaft gehen kann. Dagegen kann ein Christ — natürlich — nicht aus der allgemeinen Kirche austreten80. Ein letztes Mal also — es ist kein Zufall — schlägt man das Kapitel vom Widerstandsrecht auf. Von ihm nahm Luthers Kirchenrecht den geistlichen Ausgang, es steht nun auch am Schluß. Es liefert den bündigen rechtlichen Nachweis, daß Luther die allgemeine Kirche nicht verlassen, sondern erneuern wollte.
Überblickt man die Rechtstheologie Heckels, so steht man vor einer klaren Konzeption, die Gott, die ganze Schöpfung, ihren Fall, ihre Erlösung und endliche Heimholung umfaßt und die auch den einzelnen nicht ohne Weisung läßt, sondern ihn in die großen Zusammenhänge der Heilsgeschichte stellt.
Dieses Lebenswerk eines großen Rechtshistorikers verdient höchste Bewunderung; der daraus entstandenen Summa Iuridica des ebenso großen Rechtsdogmatikers wird die gebührende Ehre gezollt, wenn ihre
77) Lex 141, KuK 245, 276; Gru. ZevKR 1961/62
338 f. Aber es ist nicht nur um der infirmi willen da,
oben 199 f.
78) Init. 51, 56, Lex 141 f., KuK 257 f.; Gru. LWB
62.
79) ZRG 1956 530 f., ZRG 1960 615; für Melanchthon
Mel. 93 f. allgemeiner Brauch, Verwaltungsbrauch.
80) Lex 140, KuK 273, 276 ff.
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Aufforderung zu kritischem Weiterfragen gehört und aufgenommen wird. Dazu sollen im folgenden einige Fragen gestellt werden1, deren Lösung sich jedoch unschwer aus seinem System ableiten läßt.
1. Was zunächst die Terminologie betrifft, so ist sie in zweifacher Richtung kritisiert worden. Der Reformationshistoriker bemerkt zu Recht die Übersystematisierung Luthers, die durch die aktuelle Absicht Heckels mitbedingt ist2. Der rechtstheologische Systematiker dagegen fragt sich, ob die oft mehrdeutigen Begriffe nicht hätten klarer gefaßt werden können3 — und gerät dadurch unweigerlich in Kollision mit den Notwendigkeiten der historischen Methode.
2. Wie ist das Verhältnis der Urstandskirche zur ecclesia spiritualis oder anders, wie verhält sich die Urstandsinstitution durch Gott zum kirchenstiftenden Tun Christi4?
3. Die Rechtsgrundlage der Kirche ist zunächst das ius divinum positivum, nämlich ihre Stiftung bzw. Wiederherstellung durch Christus, sodann die lex charitatis spiritualis i.e.S., nämlich die Bruderliebe als Richtmaß der κοινωνία der Gläubigen. Warum ist im Recht der beiden Reiche die sachliche Reihenfolge umgekehrt, nämlich zuerst das göttliche Naturgesetz (= lex charitatis spiritualis i.w.S.), dann erst
1) Vgl. zusätzlich den Problemkatalog M.
Heckels ZevKR 1967/68 6.
2) Hierzu oben 22 ff. und M. Heckel ebd. 5: Gru.
bediente sich „der (bisweilen allzu scharfen und den
Reformationshistorikern manches Stöhnen abringenden)
systematischen Begrifflichkeit . . ., die Johannes Heckel für die
Rechts- und Reichslehre Luthers fand”; ferner G. Ebeling 1962
409. — Die folgenden Fragen beziehen sich ausschließlich auf He.s
rechtstheologische Systematik, die gerade unter ökumenischem
Aspekt bedeutsam genug ist, um ohne „Ahnenpaß” beachtet zu
werden. Sie lassen also, um es noch einmal zu betonen, die
historische Frage außer acht, etwa ob He. (wie z.B. P. Althaus
moniert) das Spätwerk Luthers zu wenig berücksichtigt habe.
3) Ebenso Ernst Wolf schon ZevKR 1951 107. Beispiele:
a) geistliches Regiment Christi bzw. Gottes (oben 4925
gegen 1797); b) Reich Gottes zur Rechten — zur Linken:
Reich oder Regiment? (oben 5312); c) lex
charitatis spiritualis — mit oder ohne lex fidei?
(Einerseits oben 731 8571 in der
Grundlegung, andererseits im Kirchenrecht 18119; dazu
s.u. 211 [4.]; d) Schlüsselgewalt (vier Bedeutungen, s.o. Exk. IV
19439); e) Gottesdienst (s.o. 204 f. und unten 214). —
Es ist darum nur folgerichtig, daß sich Gru. als Schüler He.s auf
die Transformation des Zwei-Reiche-Rechts in unsere Zeit
beschränkt hat — wodurch sich freilich die Frage nach der
dogmengeschichtlichen Überprüfung der Rechtstheologie He.s um so
dringlicher stellt (M. Heckel ZevKR 1967/ 68 5).
4) S.o. 178 f.: auch hier hat Christus das
ursprüngliche Recht wiederhergestellt.
|211|
die Urstandsinstitutionen? Warum ist bei den Zwei Reichen die lex charitatis i.w.S., bei der Kirche i.e.S. verwendet? Spielt die lex fidei (als der andere Teil der lex charitatis spiritualis i.w.S.) in der geistlichen Kirche keine Rolle mehr5? Ferner: Wie ist das innere Verhältnis von ius divinum positivum und ius divinum naturale? Darf man sie so unverbunden stehenlassen6?
4. Heckel hat den rechtlichen Aufbau der Kirche auf die Grundannahme gestellt, daß geistliche und leibliche Kirche trotz ihres Abstandes einander in allen Stücken entsprechen, denn sie stellen die göttliche und die menschliche Seite der einen Kirche dar. Nur ist die Symmetrie an einer wichtigen Stelle gestört. Aus drei Elementen göttlichen Rechts ist die geistliche Kirche zusammengesetzt, wie es sich bei ihrer Herkunft aus dem regnum Christi geziemt: aus dem caput Christus, eius influxus (= geistliches Regiment Christi) und dem corpus der Gläubigen. Die menschlich-rechtliche Schauseite, nämlich die leibliche Kirche, zeigt aber nur das zweite und dritte Element, nämlich das geistliche Regiment Gottes durch das Amt und die getauften Gläubigen. War nicht Luther nur konsequent, wenn er (bis 1519) bereit war, auch das dritte Hauptstück der leiblichen Kirche anzuerkennen7, nämlich das caput iure humano? Wie Heckel in diesem Punkte allerdings G. Holstein8!
5. Wenn die geistliche Kirche ganz nach göttlichem, die leibliche ganz nach menschlichem Recht lebt, dann ergeben sich nicht geringe
5) Vgl. 97135 — ein unzureichend
geklärter Individualismus? In Lex ist die Reihenfolge:
natürliches göttliches Gesetz — positives göttliches Recht (weil
das positive göttliche Recht „nach” der lex naturalis
erlassen wurde), in KuK umgekehrt (wegen der drei Elemente des
mittelalterlichen Corpusbegriffs); aber dieser systematische
Grund reicht nicht aus, die Begriffsverschiebung zu erklären.
Vielleicht kann man annehmen, daß die „vertikale” lex
fidei seit Christus mit dem „vertikalen” ius
divinum (dem Kirchenstiftungsakt Christi) zusammenfällt.
6) Das Problem der Doppelwirkung: wie oft ist ein
Verstoß gegen die Stiftungstat Christi zugleich und notwendig ein
Verstoß gegen das Gesetz der Liebe!
7) S.o. 1764 206 f.62. Das
regimen Christi hat seine Schauseite im geistlichen
Regiment, das caput hat keine Schauseite. Aber geht es
an, zwischen caput und influxus capitis so zu
trennen?
8) G. Holstein 1928 227 f.: „Während also
katholisch-kirchenrechtliche Auffassung der herrschaftlichen
Struktur der Geistkirche (scil. der „Vertikalen”) eine analog
gebildete herrschaftliche Struktur der Rechtskirche an die Seite
stellt, indem für die Autorität Christi eine irdische
Stellvertreterschaft interpoliert wird, wird die evangelische
Auffassung zu dem genau entgegengesetzten Weg getrieben.”
Allerdings übersieht Holstein, daß es sogar nach Luther eine
(wenn auch nur menschlich-rechtliche) facies capitis in
der eccl. univ. gibt.
|212|
Schwierigkeiten. Denn entweder ist die leibliche Kirche nicht Christi Stiftung oder sie beruht auf göttlichem Recht9, kennt also ein ius divinum.
Das umgekehrte Problem taucht bei der Taufe auf. Wenn sie auch zur leiblichen Kirche gehört, inwiefern ist sie dort göttliche Stiftung10?
Daß es sich nicht nur um eine aus der „katholischen” Zeit Luthers stammende Problematik handelt, zeigt die Unsicherheit in der Zuordnung der Sakramente bzw. der notae ecclesiae zur geistlichen oder zur leiblichen Kirche11 oder, was dasselbe ist, zum göttlichen oder zum menschlichen Recht.
Eine Anomalie ersten Ranges ist die Ehe der Christen. Obwohl sie neben der Kirche die einzige Urstandsinstitution ist, wird sie von Christus nicht im ursprünglichen Glanz wiederhergestellt. Zwar lebt der homo spiritualis ausschließlich nach dem Recht des Reiches Christi — aber nicht hinsichtlich seiner Ehe! Dort ist er Bürger zweier Reiche, dort unterliegt er auch dem Recht des Reiches Gottes zur Linken, dort unterwirft er sich auch dem weltlichen Regiment. Wie kann das angehen? Im Grunde ist die Zweireichelehre durchbrochen, ihre universale Gültigkeit in Frage gestellt12.
9) Oben 138 mit 1765, Gru. 240 f.
ist eine Lösung versucht, die aber selbst wieder logischen
Schwierigkeiten begegnet.
10) Exk. III 133 (II 2). Die Unterscheidung von Taufe
als res (= zur geistlichen Kirche) und als
signum (= zur leiblichen Kirche) hilft nicht viel
weiter, weil auch die signifikative Funktion gottgestiftet sein
muß, wenn sie geistlich signifikativ sein soll.
11) Vgl. Exkurs III 133 ff.
12) 11379 18014. Eine erste
Antwort liegt nahe: Es verhält sich mit der Ehe wie mit dem
weltlichen Recht sonst; der Christ unterwirft sich „indirekt”
ex charitate und dient so dem weltlichen Regiment
Gottes. Doch sie enthielte eine petitio principii: Es
wäre erst zu fragen, warum die Ehe des Christen weltlichen
Rechtes ist! Denn Christus hat den Gottesbezug wiederhergestellt.
Da die corruptio matrimonii aus dem verlorengegangenen
Gottesbezug entstand, wie die corruptio hominis
überhaupt, ist mit der iustificatio hominis auch seine
in Glaube und Liebe geführte Ehe wieder zur geistlichen
Institution i.S. He.s geworden. — Aber hat nicht He. gerade das
ausdrücklich ausgeschlossen (Lex 144): Christus habe für die Ehe
kein ius divinum positivum gegeben? Das war auch nicht
notwendig; denn durch seine Kirchenstiftung ( = Wiederherstellung
des Gottesbezugs) wurde mittelbar auch die Beziehung zwischen
Mann und Frau geheilt (ebenso wohl E. Klaffke 70-74). Luthers
Ablehnung eines ius divinum positivum Christi will nur
die Sakramentsnatur der Ehe ablehnen (ebenso E. Friedberg, S.
Reicke, W. Mahrenholz u.a.; E. Klaffke 74 A. 484). Außerdem
dürfte eine Rolle gespielt haben, daß für Luther die Erbsünde vor
allem in der fortdauernden Konkupiszenz bestand und diese die
christliche Ehe in die Tiefen des weltlichen Rechts hinabzieht
(oben 11378). Es handelt sich also um eine nur
historisch begründete Systemanomalie.
|213|
6. Ungelöst ist — trotz mancher Ansätze — auch das Rätsel, weshalb es überhaupt menschliches Kirchenrecht geben muß. Denn nur cives Christi sind wahre Glieder der Kirche; sie leben aber ausschließlich nach der lex Christi, oder genauer nach dem positiven und dem natürlichen göttlichen Recht13.
7. Wenn die Kirche des menschlichen Kirchenrechts bedarf, dann ist es nicht wenig verwunderlich, daß das zweite Hauptstück der Kirchenlehre, auf dem alles weitere aufruht, nämlich die ecclesia universalis, kein Kirchenrecht kennen soll14, sondern nur ihre Teilgemeinschaften
13) Oben 68 ff. 181 (ähnlich wohl auch Wolf ARG
1952 118). Zwar läßt He. erkennen, daß das menschliche
Kirchenrecht vorwiegend die Schwachen anleite (oben 199 f. 208
f.), aber es ist dennoch auch für die „Starken” da, wie das
heteronome Kirchenrecht beweist, für dessen Erlaß Christus sogar
bei Gelegenheit eigene Vorschriften gegeben hat und das Gott
selbst anerkennt (nämlich beim Bann, 190 ff.). Gru. verweist auf
die Trennung von Innen und Außen: das menschliche Kirchenrecht
sei für das äußere Gemeinleben notwendig (AÖR1959 20 f.); aber
erstens bezieht sich das nur auf das autonome Recht, zweitens
verstößt es gegen die Universalität der lex spiritualis.
Eine Teillösung würde lauten: Wie die geistliche Kirche eine
leibliche Schauseite hat, so lebt das göttliche Recht im Gefäß
des menschlichen Rechts (oben 182 ff.). Außerdem sind die
cives Christi trotz verschiedener Glaubensstärke nicht
nach Personen in „Starke” und „Schwache” zu teilen: jeder ist
simul peccator und darum „schwach”, also auch des
menschlichen Kirchenrechts bedürftig. Schließlich verlangt das
ius divinum ergänzende menschliche Rechtsetzung (vgl.
oben 200 f.31): das ius divinum kann mir
nicht sagen, wann die Wortverkündigung stattfindet.
14) Unschwer läßt sich von He. aus die (materielle,
vgl. Gru. LR 1964 223) Verfassung (nicht „Organisation”, KuK 230)
der eccl. univ. in ihrer Grundstruktur umschreiben. Da
auch die leibliche Kirche aus Wort und Sakrament auferbaut wird,
besteht sie aus dem heteronomen Kirchenrecht. Dort muß man also
suchen, nicht im autonomen! Ihre (vorpositive) Verfassung ist das
„Kreuz” aus Vertikale und Horizontale (vgl. 139). Alles übrige
ist geschichtlich variabel. Wo eine Teilkirche sich an eine
solche Ordnung gebunden weiß, gehört sie zur geistlichen Kirche,
und nur aus solchen Teilkirchen besteht auch die leibliche
Kirche. Das Recht all dieser Teilkirchen ins gesamt ist
das Recht der eccl. univ. Es existiert also ein
Kirchenrecht der eccl. univ. — eine Vielfalt in der
Einheit, nicht positiviert, wenig sichtbar, aber von der
geistlichen Kirche her zur Sichtbarkeit drängend. So kann man
He.s System weiterdenken. Ansätze sind dafür auch bei He.
vorhanden: Wie die politia für das Reich der Welt (165;
verfaßt unter dem Kaiser, Lex 146 f.), so ist die eccl.
univ. „Organisationsform” des Reiches Christi auf Erden (WS
35, ähnlich WO 159), eine weltumspannende Gemeinschaft (Mel. 96);
die eccl. part. setzt (menschliches) Kirchenrecht voraus
(Init. 42, ZRL 1941 — das also zur eccl. univ. gehören
muß!). Sie trägt eine Taufverfassung (KuK 230, oben 131 ff.). Sie
muß darüber hinaus in irgendeiner Form den Grundbestand des
ius divinum positivum im heteronomen Recht
widerspiegeln. Das ist in der Tat der Fall, wenn man die
ökumenische (Gru. AÖR 1959 51) Lehre von den vestigia
ecclesiae rechtlich zu Ende denkt (vgl. die bei U. Valeske
[XVIII/c] angegebene Literatur, ferner die äußerst wichtige
Toronto-Erklärung [deutscher Text ELKZ 1951 120 ff., dazu Gru.
LWB 512-518 m. Lit.] Nr. 5).
|214|
— mit einer Ausnahme: dem Recht des allgemeinen Konzils15. Wie soll die leibliche Kirche dann noch als „irdische Schauseite” der ecclesia spiritualis taugen, wenn das, was sie von der ecclesia spiritualis vor allem unterscheidet, nämlich die menschliche Rechtsform, zugleich verborgen ist?
8. Daß das Recht der allgemeinen Kirche bei Heckel fast völlig
vermißt wird, hängt wohl damit zusammen, daß das
heteronome Recht kaum entwickelt ist. So fehlt
nicht nur — von Ansätzen im Bekenntnisrecht abgesehen — die
gesamte „Schauseite” des ius divinum der
Wortverkündigung (!), sondern auch das gesamte Sakramentsrecht
mit Ausnahme des Bußverfahrens und einer kurzen Bemerkung zur
Taufe16; also der ganze leibliche Vollzug des
Gottesdienstes der geistlichen Kirche. Damit besteht die Gefahr,
daß das geistliche Kirchenregiment (das zweite
constituens der geistlichen Kirche) in der leiblichen
Kirche keine angemessene Schauseite mehr findet und göttliches
und menschliches Recht auseinanderfallen.
Daß die Kirche im Urständ nur gestiftet wurde um des
Gottesdienstes willen, wie Heckel selbst sagt, und daß
alles übrige Beiwerk ist — wo findet sich das leibliche
Gegenstück dazu in der ecclesia universalis, wo das
Äquivalent davon im heteronomen Kirchenrecht? Gottesdienst ist
kirchenrechtlich nur als Menschenwerk in den Blick gekommen!
Dabei kann man doch cultus internus und cultus
externus nicht trennen17.
9. Beim autonomen Kirchenrecht bleibt unklar, wie es in die Regimentenlehre einzuordnen ist. Denn es gibt zwei Regimente: das geistliche Regiment über das Reich Gottes zur Rechten und das weltliche Regiment über das Reich Gottes zur Linken. Da Kirchenrecht in jeder Form ins Reich Gottes zur Rechten gehört, folgt daraus mit Notwendigkeit, daß auch die Setzung des autonomen Kirchenrechts zum Bereich des geistlichen Regiments Gottes zählt. Anders Heckel! Es ist „auch nicht dem geistlichen Regiment zuzurechnen”, denn es ist „von irdischer Vernunft geschaffen”18!
15) Das allgemeine Konzil ist eine (die
einzige?) Institution der allgemeinen Kirche, Init. 75 ff.; zum
Papst s.u. 219 (5.).
16) S.o. 189 f. m. A.
17) Lex 68 f. m. Anm. 477, 482. Zum Fehlen des
Gottesdienstes in der Zweireichelehre s.o. 67.
18) KuK 272. Also eine Dreiregimentenlehre, die beiden
Regimente Gottes im ➝
|215|
10. Auch die „äußere” Kirchenleitung scheint noch nicht die abgewogene kirchenrechtliche Mittellage gefunden zu haben, die ihr im System Heckels gebührt. Ihre Stellung ist nach den Äußerungen Heckels dadurch charakterisiert, daß sie nur im Rahmen der einzelnen ecclesiae particulares gesehen und ihr Rang nur im Gegensatz zum allein „geistlichen” Amt des Pfarrers bestimmt wird. Wie steht es aber mit der universalkirchlichen Funktion der äußeren Kirchenleitung? Dazu fehlt jede Äußerung. — Eine vertiefte Analyse des heteronomen Rechts der Wortverkündigung dürfte weitere Gesichtspunkte beitragen. Es wäre vor allem zu erwägen, ob und wieweit jede Wortverkündigung kirchenleitende Elemente enthält, und umgekehrt, ob es Kirchenleitung geben kann, die nicht zugleich und wesensnotwendig Wortverkündigung ist. Denn: Spricht nicht aus den verschiedenen Ämtern derselbe Geist (1 Kor 12.4)? Sind nicht alle Ämter zwar funktionsverschieden, aber gleich notwendig zur Auferbauung des Leibes Christi (Rom 12.4 f.)? Die Kirchenleitung kann nicht völlig von der Wortverkündigung abstrahiert werden19, so wenig wie das Kirchenrecht vom Bekenntnis20.
11. Abschließend soll noch einmal die Aufmerksamkeit auf die beiden menschlich-rechtlichen Formen des ius ecclesiasticum gelenkt werden. Denn heteronomes und autonomes Kirchenrecht scheinen sehr weit, ja zu weit voneinander entfernt zu sein21. Auch der Grad ihrer rechtlichen
➝ Verein mit einem „Rechtsregiment” (so H. Harten InfBl.
1959 331!) der christiana ratio? Das ist nicht möglich,
denn extra Christum nullum ius! Oder sollte He. selbst
das geistliche Regiment Gottes mit dem verborgenen geistlichen
Regiment Christi verwechselt haben? Des Rätsels Lösung dürfte
darin bestehen, daß es He. nicht gewagt hat, dieses inferiore
Recht dem geistlichen Regiment zu unterstellen (das doch in
keiner Weise mit dem öffentlichen Predigtamt zusammenfällt,
sondern auch von der ganzen Gemeinde wahrgenommen werden kann),
um nur ja den Rangabstand des autonomen menschlichen Rechts vom
göttlichen und heteronomen Kirchenrecht sicherzustellen und zu
betonen. Aber darf man das ius divinum positivum und das
autonome Recht soweit auseinanderreißen, ohne auch die
Rechtsgrundlage des letzteren, die lex charitatis, in
Verruf zu bringen? Sind sie doch im Urständ eng verbunden!
Dadurch gerät das heteronome Kirchenrecht bis zur
Ununterscheidbarkeit ins ius divinum, während das
autonome jeden geistlichen Boden verliert.
19) Diese Frage ist dadurch entlastet, daß die
Abgrenzung zwischen Predigtamt und Kirchenleitung keineswegs mit
der kanonistischen Unterscheidung von potestas ordinis et
iurisdictionis zusammenfällt (Gru. RGG III 1435, ZevKR
1964/65 61 ff.).
20) Barmer Erklärung zur Rechtslage III (in: Zeugnisse
14): „In der Kirche ist eine Scheidung der äußeren Ordnung vom
Bekenntnis nicht möglich.”
21) Hat die gläubige ratio im heteronomen
Kirchenrecht wirklich gar nichts und im autonomen Recht alles zu
sagen? Gibt es menschliches Recht in der Kirche anders als in
geschichtlicher Brechung durch die ratio humana?
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Verbindlichkeit dürfte noch nicht völlig geklärt sein. Vergleicht
man mit dem weltlichen Recht, so ergibt sich:
1. Das weltliche Recht bindet den Christen ex charitate
im Gewissen.
2. Das heteronome Recht hat gleiche Verbindlichkeit. Es ist sogar
„glaubensverbindlich”.
3. Das autonome Recht ist nicht
gewissensverbindlich22.
Aber: Weltliches Recht und autonomes Kirchenrecht sind beide für den Christen aus demselben Rechtsgrund verbindlich, nämlich aus der lex charitatis spiritualis. Die Verwirrung wächst, wenn man erfährt, daß das autonome Kirchenrecht zwar nach Heckel weniger oder gleich, nach Grundmann aber strenger verbindlich ist23 als das weltliche Recht, da es innere Zustimmung verlangt. Schließlich ist doch das heteronome Recht nicht weniger dem Mißbrauch ausgesetzt als das autonome, was für gleiche oder ähnliche „Verbindlichkeit” trotz verschiedenen Ranges spricht. Man muß sogar sagen: Entweder spricht aus beiden das ius divinum, dann ist ihre Verbindlichkeit absolut; oder nicht — dann fehlt ihnen sogar die Rechtsqualität24.
Nicht geringe systematische Probleme harren also noch der Lösung! Man darf sie nicht dem Rechtshistoriker Heckel anlasten, oder zumindest nicht alle; aber man darf sich vom Rechtsdogmatiker Heckel anregen lassen, diese große Rechtstheologie kritisch weiterzudenken. Die noch offenen Fragen sollten vor allem nicht vergessen lassen, ein wie reicher Ertrag mit dieser Rechtstheologie noch einzubringen ist.
In folgenden sieben Punkten sieht Siegfried Grundmann die Gegenwartsbedeutung der Kirchenrechtslehre Heckels25.
22) Vgl. oben 54 f. 87 1847
18514 188 20345 20874. Werden
hier nicht verschiedene Dinge mit gleichen Namen belegt? Was
heißt „eigentlich” „gewissensverbindlich”? Was hat man unter
„glaubensverbindlichem” Recht zu verstehen? Sind solche
Bezeichnungen überhaupt adäquat?
23) Weniger verbindlich: so bis Lex; gleich
verbindlich: ZRG 1957 503; strenger verbindlich: ZevKR 1961/62
338.
24) Verwandt, aber von der Verbindlichkeit zu
unterscheiden ist die leichtere Abänderbarkeit des autonomen
Rechts im Verhältnis zum weltlichen. Zur (fehlenden)
„Heilsnotwendigkeit” des katholischen Kirchenrechts vgl. G.
Söhngen 1957 47 ff., 74 f.; zur „Gewissensverbindlichkeit” B.
Häring I 191 f., 199 ff.
25) LWB 63 f., FS Arnold 47 f.
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1. Die Einheit des göttlichen Rechtswillens verbindet kirchliches
und weltliches Recht.
2. Die geistliche Kirche erhält durch die (positive und
natürliche) lex Christi eine Rechtsgrundlage.
3. Die leibliche Kirche besteht auf Grund menschlichen Rechts,
das vom weltlichen Recht unterschieden und auf das göttliche
bezogen ist.
4. Das Kirchenrecht hat zwei Teile: das göttliche Recht der
geistlichen Kirche und das menschliche der leiblichen Kirche.
5. Daraus folgt die „Eigengeartetheit des Kirchenrechts”.
6. Der Staat ist nicht mehr alleinige Rechtsquelle. Daneben tritt
die Kirche („Eigenständigkeit des Kirchenrechts”).
7. Rechtsnormen des Staates im kirchlichen Bereich („Autonomie”,
„Körperschaft des öffentlichen Rechts”) sind nur deklaratorisch.
Es sei gestattet, auf einige weitere Ergebnisse ergänzend hinzuweisen, die vielleicht nicht offen zutage liegen, aber von ökumenischem Interesse sind.
1. Die heute so viel erörterte „Geschichtlichkeit” ist in der Rechtstheologie Luthers auf ihre, nämlich mittelalterliche, Weise durchaus berücksichtigt, wenigstens, was die Veränderlichkeit des Rechts betrifft26. Auch der Gedanke des hetero-27 und autonomen Kirchenrechts kann als Beitrag zur Lösung dieser jeder Zeit aufgegebenen Frage aufgefaßt werden. Denn er läßt sich verstehen als der Versuch, das positive und natürliche göttliche Geist-Recht in der Zeitlichkeit des menschlichen Rechts auszusagen.
2. Auf Grund der Forschungen Johannes Heckels erscheinen die Initia des lutherischen Kirchenrechts in viel geringerem Abstand zur Rechtstheologie Calvins, als man bisher angenommen hatte. Während die lutherischen Bekenntnisschriften, entsprechend ihrer polemischen und apologetischen Zwecksetzung, in der Hauptsache nur das ius divinum positivum hervortreten lassen, ergibt die Gesamtschau der
26) S.o. 84 f. m. A. 70.
27) Sonst erübrigte es sich nämlich!, da es „rein
deklaratorisch” ist und nur insoweit Rechtsqualität besitzt, als
es das göttliche Recht „wiederholt”.
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Rechtstheologie Luthers, daß es eine doppelte Quelle des menschlichen Kirchenrechts gibt, nämlich neben dem positiven auch das natürliche göttliche Recht. Das hat zur Folge, daß die Kirchenordnung (das „autonome Kirchenrecht”) Ergebnis der Rechtsetzungsbefugnis der Gemeinde ist. Subjekt der Rechtsetzungsgewalt ist die ecclesia particularis28.
Ich stehe nicht an, diese Entdeckung Heckels als sensationell zu bezeichnen und mit Heckel ihre „entscheidende Bedeutung” für das innerevangelische Gespräch anzunehmen. Denn das bedeutet doch, daß in diesem bisher strittigen Zentralpunkt die Übereinstimmung zwischen lutherischer und reformierter Kirchenrechtslehre hergestellt ist. Es gibt also legitimes „gemeines evangelisches Kirchenrecht”29; und zwar in großem Umfang, weil die hier verbleibende konfessionelle Divergenz30 sich allein auf die größere oder geringere Wertschätzung des menschlichen Kirchenrechts bezieht, also auf Fragen, in denen Verschiedenheit bestehen darf.
3. Weniger spektakulär, aber auf weite Sicht wohl nicht weniger wichtig ist die Klärung des lutherischen Begriffs des ius divinum durch Heckel. Bisher vernahm man nur allenthalben, er sei „ganz anders” als der katholische; aber worin der Unterschied bestehen sollte, blieb ins Dunkel konfessioneller Polemik gehüllt31.
Mit der Heckelschen Deutung des ius divinum ist das Gespräch in eine neue positive Phase getreten, und zwar gerade darum, weil Heckel die Inhaltsverschiedenheit des „evangelischen” vom „katholischen” ius divinum nachgewiesen hat32. Denn bisher war das Gespräch schon zu Ende, ehe es begonnen hatte, etwa nach dem Schema: Der Papst oder das „Amt” ist in katholischer Sicht ius divinum, in evangelischer nicht, ergo . . . Wenn aber schon streitig ist, was ius divinum ist, und nicht nur, welche Bereiche ins ius divinum zu rechnen sind, dann wird diese simplifizierende Methode fortan nicht mehr statthaft sein. Auch wird man nicht mehr vom ius divinum sprechen können, ohne seine unlösbare Verbindung mit dem wiederum eigengearteten lutherischen Kirchenbegriff
28) ZRG 1956 525-530; zur gemeindlichen
Satzungsgewalt vgl. oben 196 ff.; abl. früher Wolf ARG 1952
118.
29) ZRG 1956 530.
30) Für weiteres vgl. 117 ff. (Rechtfertigung und
Recht, christologische und heilsgeschichtliche
Rechtsbegründung).
31) Vgl. H. Fagerberg 1965 24-27.
32) Z.B. SA Lex 314.
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zu berücksichtigen. Schließlich wird man nicht übersehen dürfen, daß die Konstatierung von Divergenzen noch nicht die der Unvereinbarkeit enthält. Diese ist vielmehr an der Offenbarung zu messen33.
Die formal-begrifflichen Verschiedenheiten im Kirchenrechtsbereich seien kurz an zwei Beispielen ausgeführt.
4. Heckel stellt fest: Die leibliche Kirche kennt kein göttliches Recht. Dagegen lautet die katholische Lehre: Die verfaßte Kirche ist iuris divini. Hier sind erstens völlig verschiedene Rechtsbegriffe zugrunde gelegt! Die Folge ist, daß die beiden Sätze trotz scheinbarer Harmonie, was die Kirche, und scheinbarer Dissonanz, was das ius divinum betrifft, zunächst überhaupt nicht vergleichbar sind. Beachtet man nun, zweitens, daß die „leibliche” Kirche Heckels wegen seiner „existentiellen” Sicht der „Welt” relativ näher steht als die „verfaßte” Kirche des „metaphysischen” katholischen Kirchenbegriffs, andererseits, daß das ius divinum bei Heckel viel näher zu Gott gerückt ist als im katholischen Verständnis — dann ergibt sich die Konsequenz, daß sachlich der Unterschied weit geringer ist als der offenkundige formale Widerspruch vermuten läßt.
5. Ein anderes Beispiel. „Luther anerkennt den Jurisdiktionsprimat des Papstes nur iure humano”34. Was heißt das „katholisch”? Bei gleichsinniger Terminologie wäre dieser Satz eine Häresie. Dazu ist aber zu erwägen: Erstens ist das ius divinum nach Luther „Geist, nichts als Geist”, also viel höher im Rang und enger gefaßt als nach katholischer Auffassung35, wie eben ausgeführt, und zweitens existiert dieses ius divinum überhaupt nur im dialogischen Bezug zum Haupt Christus („usus spiritualis iuris”). Das hat zur Folge, daß, was nach Luther zum ius humanum zählt, nach katholischer Terminologie sachlich durchaus zum ius divinum gehören kann. Die Ausgangsfrage nach dem Papat ist also offen geblieben. Sie ist auch — ebenso wie das vorige Beispiel — ohne weitreichende vergleichende Spezialuntersuchungen nicht zu beantworten; dabei ist sogar vorausgesetzt, daß es eine eindeutige Transformierung von Sachverhalten aus einem Denk- und Sprachhorizont in einen weit entfernten anderen überhaupt gibt.
33) Nicht am ius divinum, weil dieser
Begriff wegen des verschiedenen Verständnisses des
Begriffsinhalts als Maßstab nicht brauchbar ist.
34) S.o. 1764 206 f.62
2117.
35) Dazu J.A. Fassbender.
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6. Nur beiläufig sei vermerkt, daß die Gliederung des menschlichen Kirchenrechts in hetero- und autonomes Recht auch der katholischen Rechtstheologie nicht fremd ist36.
7. Die Nähe des lutherischen „Kirchenrecht ist Liebesrecht” (Grundmann) zur augustinischen Rechtstheologie, ja vielleicht sogar zur Auffassung der Kirchenordnung als Liebesordnung über Gratian bis herauf zu Thomas von Aquin stellt auch die heutige Kanonistik vor die Frage nach den geistesgeschichtlichen Voraussetzungen ihres weithin untheologischen Rechtsbegriffs37.
36) Das menschliche Recht kann auf zweierlei
Weise vom Naturrecht abgeleitet sein: per modum
conclusionis und per modum determinationis (STh
II/1 q 95 a 2; vgl. oben 200 f.31). Entsprechendes
gilt vom menschlichen Kirchenrecht: entweder entfaltet es
göttliches Kirchenrecht oder es wird „in freier Entscheidung nach
den Bedürfnissen der jeweiligen Situation geschaffen” (d.h.
ius mere ecclesiasticum), so M. Schmaus III/1 458 f.
37) Gru. ÖAfKR 1965 300; zu Gratian und Thomas vgl. L.
Buisson 37 ff., 84, 109 (freilich weiterer Nachprüfung bedürftig,
H. Barion ZRG 1960 512 ff.), ferner die Kritik K. Mörsdorfs am
naturrechtlichen, an der Kirche als societas perfecta
ausgerichteten Kirchenrechtsbegriff HthG I 836, schließlich die
Gleichsetzung von Naturrecht und lex Christi noch bei
Thomassin (K. Demmer 161).