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II. Theologische Anthropologie

 

Die dualistische Anthropologie1 Luthers ist theologische Anthropologie. Sie umfaßt das Verständnis von Urständ, Erbsünde, Erlösung und Heiligung2.

Aber alle theologischen Aussagen über den Stand des Menschen vor Gott sind zugleich Rechtsaussagen, wie Heckel zeigt. Umgekehrt verspricht die rechtliche Betrachtungsweise tiefere Einsichten in die theologische Anthropologie.

Die Grundthese lautet: Christus hat die geistlich verdorbene Natur des Menschen wiederhergestellt3.

 

1. Urstand

 

Der Urstand ist das geistliche Rechtsverhältnis zwischen Schöpfer und Geschöpf4. Das ist die rechtliche Seite. Die anthropologische wird durch den Naturbegriff umschrieben.

Zunächst: Was für eine Natur ist das?

Weil Luther davon ausgeht, daß der Mensch durch die Gottesbeziehung erst zum Menschen wird5, ist ihm die Urstandsnatur natura und gratia in einem. Sie ist der Mensch, wie ihn Gott geschaffen hat: in


1) Lex 31; Gru. LWB 33 f., bes. A. 158.
2) Lex 31, 117 ff. zur Lex Christi, WS 81 — Heiligung ist nicht die objektive Heiligkeit durch Gott, sondern die subjektive Heiligkeit des Gerechtfertigten, wie es dem unterschiedlichen katholisch-evangelischen Sprachgebrauch entspricht (H. Küng 1957 260).
3) Das könnte so in jeder katholischen Dogmatik stehen — und ist doch nur ein besonders deutliches Beispiel für den so häufigen versteckten interkonfessionellen Dissens, für gleichen Wortlaut bei verschiedenem Sinn.
4) Lex 9.
5) So Ernst Wolf in der Diskussion WS 87.

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Einklang mit Gott und sich selbst, mit recta ratio und bona voluntas erga Deum und in der ganzen Ausstattung der iustitia originalis6).

Man muß sich sehr hüten, bei Luther den thomistischen, den spät-reformatorischen7 oder gar den säkularisierten modernen Naturbegriff finden zu wollen! Er knüpft vielmehr an Augustinus an8, wie die Schilderung Heckels nahelegt. Aber fast noch ärger wäre der Fehler, wenn neuzeitlicher Individualismus dazu verführte, die Aussagen Heckels auf das isolierte Individuum zu beziehen. Die natura humana ist die der ganzen Menschheit9 — sonst könnte Heckel nicht ohne Bruch von der Anthropologie auf die Reichelehre übergehen.

 

2. Erbsünde

 

Aber die Urstandsnatur ist geistlich gänzlich pervertiert durch die Erbsünde. Sie ist „der geistliche Rechtsbruch κατ᾽ ἐξοχήν”. Was besagt diese rechtstheologische „Grundlehre”10 Luthers?


6) Lex 60; zu ratio und voluntas vgl. ferner Lex 32; zur conscientia unten 10216; zum Wandel der Synderesis-Auffassung Luthers s.u. A. 10; zum liberum arbitrium und zur conformitas voluntatis vgl. unten 7625 — also das ganze scholastische Repertoire der theologischen Psychologie ist vertreten und an die veränderte Erbsündenauffassung angepaßt. — Ferner Lex 69; 66 mit A. 460: die iustitia originalis ist kein donum superadditum, weil die lex naturae zugleich lex divina ist.
7) Gleichwohl redet He. gelegentlich auch vom „natürlichen Menschen” im Gegensatz zum homo spiritualis (z.B. Lex 32 f., 53), oder von der „natürlichen” ratio (z.B. Lex 69) usf.; dann ist es aber die gefallene Natur. Ob das Luthers Terminologie entspricht, ist zweifelhaft (vgl. zum entsprechenden Naturbegriff Pufendorfs ZRG 1959 391).
8) Nach He. gingen die Reformatoren und die lutherische Orthodoxie mit der Scholastik von der urständlichen Gottesebenbildlichkeit (imago Dei) aus; Pufendorf verließ diese gemeinchristliche Basis (ZRG 1959 391 — wobei aber He. die entscheidende Frage nach der Gnadenhaftigkeit dieser Gottesebenbildlichkeit überspringt). — Die hier behandelten evangelischen Juristentheologen greifen dagegen wieder auf die alte Tradition der imago Dei zurück (He.: Lex 34, 59 A. 392, 119 A. 947 u.ö.; Wolf: 298 ff. 305 ff.; Dombois: 4747). Was He. betrifft, so legt seine Darstellung nahe, die Urstandsnatur Luthers nicht bajanisch, sondern augustinisch zu begreifen (vgl. unten die Rechtsauslegung der Erbsünde), zumal Luther nicht metaphysisch, sondern personhaft-dynamisch denkt (richtig B. Schüller 82 f.; dazu s.u. 224 ff.).
9) Zum „kosmischen” Aspekt vgl. NR 38, WO 159, WS 36 und die gesamte Reiche- und Regimentenlehre.
10) Lex 9, 55. — Luther hat auch hier eine Entwicklung durchgemacht, die mit der traditionellen Erbsündelehre beginnt und mit der Römerbrief Vorlesung 1515/16 im wesentlichen abgeschlossen ist (Lex 28 f., Grat. 507 f.); bezeichnend ist der Wandel ➝

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Man muß zunächst unterscheiden: Der Mensch steht in zwei Grundbezügen, dem zu Gott und dem zur Schöpfung. Nur der Gottesbezug ist total korrumpiert11.

 

a) Gottesbezug

Die natura humana ist geistlich tot. Ihre geistliche Anlage ist völlig zerstört. Sie vermag nicht mehr das Wort Gottes zu hören; die deiformitas voluntatis geht verloren. Der Mensch wird geistlich blind. Er hat sich von Gott ab- und dem Geschöpf zugewandt. Der aversio a Deo folgte die conversio ad creaturam. Zur Strafe ist er unter die Knechtschaft des Satans geraten. Der Böse gewinnt die Oberhand. Die Gottesliebe schlägt in ihr Gegenteil um. Ein unablässiger Aufruhr gegen Gott hebt an. Fortan gilt: Naturalia erga Deum plane corrupta12.

Hier droht ein Mißverständnis. Nicht die metaphysische Wesensnatur ist zerstört! Von ihr ist (positiv und negativ) gar nicht die Rede. Denn es ist — scholastisch gesprochen13 — die natura gratia formata des Urstandes, die korrumpiert ist; ihre aktuelle Einheit von Natur und Übernatur geht verloren. Oder mit Heckel: der Mensch verliert die Gnade, der geistliche Tod tritt ein — „ein ontologischer und zugleich rechtlicher” Tatbestand14!

 

b) Schöpfungsbezug

Was aber das Verhältnis zur Schöpfung anlangt, so kann man gerade nicht von einer totalen Korruption sprechen. Nicht nur katholische, und nicht nur Kontroversliteratur hat hier unbesehen spätere


➝ der Synderesis (zur Begriffsgeschichte vgl. E. Klostermann, W. Steinmüller 370 ff. m. A. 83, J. Stelzenberger HthG I 524 ff.; die Schreibweise variiert) von einer inclinatio boni als habitus voluntatis (RuG 333 ff.) et rationis (Grat. 504 A. 71) zur schwindsüchtigen voluntula voluntatis (RuG 336 A. 2, Lex 73 A. 511); die synderesis theologica verschwindet durch die Sünde ganz (Lex 32; anders Grat. 507: die Synderesis überhaupt); es bleibt nur noch der „angeborene Rechtssinn” für das irdische Rechtsleben (NR 47 m. A. 1, Lex 73 m. A. 511).
11) SA Grat. 498.
12) NR 38, Lex 24 A. 85, 31 f., 37, 41, 55, 72,122 f., 130 ff., u.v.a.
13) Und damit ungenau gesprochen! Verschiedene Denkformen lassen sich eben nicht völlig transformieren. Für unsere Zwecke soll es jedoch damit genügen.
14) Lex 91. — Unter Vorbehalt (!) wäre also zu sagen: die Hauptwirkung der Ursünde ist der Verlust der gratia sanctificans.

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Vereinfachungen der Lehre Luthers übernommen15. Totale Perversion — ja; aber nur im Bezug zum Schöpfer, nicht im Bezug zum Geschöpf. Die geistliche Anlage wurde zerstört, die leibliche blieb jedoch bestehen! „Leiblich” (d.h. im Verhältnis zur Schöpfung) ist der Mensch durchaus „lebendig”; naturalia sunt integra, concedo, sagt Luther 1531 in der Galatervorlesung16, und Heckel erläutert, daß die „Schöpfungskonstanten” (E. Brunner) nicht zerstört seien17. Sogar die natürliche Gotteserkenntnis geht nicht verloren; aber den wahren Gott erreicht sie nicht mehr; sie vermag deshalb für das Heil nichts beizutragen, auf das es doch Luther allein ankommt18.

Doch die perversio reicht noch viel tiefer. Weil die „geistliche” Natur zerstört ist, geht die „leibliche” in die Irre; sie hat sozusagen die Orientierung verloren und verfällt deshalb widerstandslos den Verlockungen des Teufels. Die Schöpfungskonstanten bleiben zwar bestehen, geraten aber nun in den Dienst der Sünde19. Die gefallene Menschheit hört zwar noch alles, versteht aber auch alles falsch, nämlich „fleischlich”20. Ihre heillose Verwirrung geht so weit, daß sie nur noch das leibliche Wohl (die felicitas humana) an Stelle des Seelenheils (der beatitudo


15) Auch He. spricht anfangs noch von der „totalen Verderbtheit der menschlichen Natur” - also nicht nur der geistlichen, sondern „Verfall . . . des ganzen inneren und äußeren Menschen”, „und nicht einmal die Taufe kann (diesen Fluch) tilgen” (RuG 324; doch ebd. 333 ff. bleibt die geschwächte Synderesis. He. bemerkt den Widerspruch ebd. 337 und versucht ihn dadurch zu lösen, daß er statt der Synderesis das Gewissen einführt). Ähnlich auch Init. 19: das lumen naturae sei „völlig verfinstert”, ebd. 87 die „durch die Sünde verderbte ratio” (scil, des Christen!). Ebenso Gru. LWB 34 A. 158 „absolute Pervertierung des Menschen”; ferner H. Rommen, J. Messner, H. Thielicke u.v.a.
16) NR 38, 46 f., Lex 32, IZ 30, SA Grat. 498; ferner Lex 33 A. 157, Luther WA XL 1, 293, 7.
17) Lex 73 A. 512, nämlich ratio, voluntas, synderesis, liberum arbitrium, aber — natürlich — nur gegenüber der Schöpfung!, Lex 32 A. 153, 64, 72, 96 A. 717. Vgl. dazu Denz. 392, 1555, 1927 (zur Deutung dieser einander widersprechenden Stellen H. Küng 1957 176-178).
18) Lex 32 ff. m. A. 157, 72, 78 f. — Luther sieht also die Erbsünde — wie schon die Urstandsnatur — ganz personhaft (in ihrem [negativen] aktuellen Gottesbezug) und „unmetaphysisch”.
19) Lex 73 A. 512 nach E. Kohlmeyer. — Wenn der Mensch durch seine Beziehung zu Gott konstituiert ist, dann sind, scholastisch gesprochen, insoweit Natur und Gnade enger verbunden, als die Schule es annimmt; folglich trifft der Verlust der Gnade die Natur tiefer. Sie kann nicht mehr anders als vom rechten Weg abweichen! — Von da aus erklärt sich Luthers Konkupiszenztheologie als leibliche Auswirkung der geistlichen aberratio, unten 32 ff. m. A. 30 ff.
20) NR 47, Lex 32 f., 73 A. 512 (E. Brunner), WO 158.

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aeterna) erstrebt21. Sie weiß jetzt so wenig von Gottes Evangelium „als der blinde von der färbe”; statt des gnädigen Gotteswillens wird die Ichsucht (concupiscentia) zur Triebfeder. Der voluntas, der ratio, dem liberum arbitrium teilt sich die Verwirrung mit. Selbst die religio naturalis wird pervertiert; Gott wird gar nach des Menschen Bild und Gleichnis entworfen22. Hier muß das göttliche Weltregiment eingreifen und die Menschheit vor dem Chaos retten. Aber das gehört schon zur Zweireichelehre.

Es ist schwierig, Luthers Aussagen recht zu verstehen. Er denkt ganz vom aktuellen Gottesbezug her. Über die naturalia ut naturalia will er nicht viel reden; sie liegen außerhalb seines Interesses. Auch die scheinbar so pessimistischen Worte von der Natur, die in die Irre geht, sind immer gesehen im Kontrast zum Rechtfertigungsgeschehen. Von dort her sieht, von ihm her beurteilt er alles; davon muß ausgehen, wer Luther richtig interpretieren will.

Es ist also auseinanderzuhalten: Durch die Erbsünde sind mit der Gnade nur die naturalia erga Deum gänzlich verlorengegangen, die naturalia erga creaturam nicht. (Wie sollte es auch sonst außerhalb des Christusreiches ein Recht geben können!)

 

3. Erlösung und Heiligung

 

Um die heillos verwirrte und korrumpierte Menschheit zu retten, schickt Gott seinen Sohn. Christus entreißt am Kreuz die menschliche Natur der Gewalt des Satans, was rechtlich heißt: Christus hat das geistliche Rechtsverhältnis des gefallenen Menschen zu Gott wiederhergestellt. Dies geschieht dadurch, daß zuerst Christus, dann die Kirche die lex Christi verkündet23. Wenn der Mensch sie im Glauben annimmt, wird er gerechtfertigt.


21) NR 47 — wobei aber die felicitas humana nicht dem finis naturalis der katholischen Soziallehre gleichgesetzt werden darf! — He. und Luther nennen den gefallenen Menschen mit Augustin den homo incurvatus in se (ZRG 1959 392), der nur noch den „extremen Egoismus” kennt (ebd., vgl. aber unten 106 zur regula aurea).
22) Lex 25, 32 ff. m. A. 157 und 162, Padua 330, KuK 269; Luther WA XLVI 669,7. — Zur concupiscentia s.u. 32 ff., 30 ff..
23) Lex 9, 117 ff.

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Nun ist zwischen status und vita des Christen zu unterscheiden, nämlich zwischen seinem Gerechtfertigtsein vor Gott und dem „Unterwegs” zur ewigen Heimat24.

 

a) status

Der Status des Christen ist durch zwei Momente charakterisiert: erstens die Neuschöpfung durch Christus und zweitens die Nachwirkungen der Satansherrschaft. Christus schafft ihn um zu einer neuen Kreatur, einem neuen Sein. Er wird mit Christus eins sicut sponsa(m) cum sponso, und seinem Leibe inkorporiert25. Durch diese regeneratio wird er wieder in die verlorene Unschuld und Gottesbeziehung restituiert und damit homo novus, ja filius Dei26.

Nun kann die Gnade in den Menschen einströmen. Sein geistlicher Sinn wird erneuert, die zu den Geschöpfen abgeirrte voluntas aversa kehrt zu Gott zurück, die ratio empfängt das lumen gratiae zur Erkenntnis der lex Christi, der intellectus vermag ihren geistlichen Sinn zu erschließen; der ganze innere Mensch ist wieder auf Gott ausgerichtet27.

Wenn solchergestalt das Mißverständnis der nur-forensischen Rechtfertigung abgewehrt ist, darf nun kräftig von der „imputierten” Gerechtsprechung gehandelt werden. Dabei kann sich Heckel — es sind durchwegs bekannte Dinge — kurz fassen28.

Dennoch ist die frühere Satanshörigkeit nicht ohne Folgen. Nicht nur der fomes peccati29, sondern sogar die Erbsünde selbst blieb zurück „wie


24) Die Unterscheidung christianus in statu — in vita (Lex 122 ff., 132, IZ 11, 16) wird von He. nur für die Lösung des Rätsels von simul peccator et iustus gebraucht. Sie gemahnt an die paulinische Dialektik von Indikativ und Imperativ (Rom 6), ist aber ins Rechtliche gewendet.
25) WA VII 54, 31; Christus nos . . . transmutat in se, WA III 434, 13; dazu RuG 331, Lex 119-122; 2 Kor 5.17a neues „Sein”, Lex 122 A. 979 mit H. Iwand gegen E. Seeberg; zum rechtstheologischen Aspekt s.u. 78 ff.
26) RuG 331, Lex 118 m. A. 946, 121; Gru. ZevKR 1957/58 282; anders noch RuG 290 mit W. Elert. Es trifft also wenigstens auf He. nicht zu, daß seine theologische Anthropologie den ontologischen Aspekt ausschließe (so B. Schüller 86 f. gegen 82 f.!).
27) Lex 40, 122, 127; 60 A. 400 zu Geist — Seele — Leib.
28) Zur „imputierten” Gerechtigkeit vgl. Lex 125 (übrigens im Gefolge Occams [K.A. Meissinger 107], aber dessen uferlose Imputationslehre einschränkend, W. Joest RGG III 695 f.).
29) Lex 24 A. 84, 123 A. 990, IZ 8. — Fomes (Zunder, Zündstoff) ist die Neigung zur Sünde aus Sünde (Denz. 1453, 1515, nach Gen 37.8).

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eine Wunde . . ., die erst im Jenseits ausheilt”30! Dabei ist aber mit Augustin unter „Erbsünde” die concupiscentia gemeint31, dieser „nachgelassene Verräter” in der eigenen Brust, nämlich die Anfälligkeit für die Sünde, die Macht des Bösen, die Schwäche zum Guten32.

Darin zeigt sich die heilsgeschichtliche Stellung des homo christianus. Er „ist” gerecht — aber diese Gerechtigkeit ist erst ein Angeld; er hat die volle Christusgemeinschaft erst am Ende. Das ist ein eschatologisches Zeichen!, denn das Reich Christi steht in seiner Fülle noch aus, ist zugleich stets im Kommen, auch für den Christen33.


30) NR 38 A. 10, Lex 24 A. 88, 123, 132; Gru. LWB 34; noch pessimistischer: s.o. 3015. — Ob die Erbsünde bei Luther ontologisch-seinshaft oder nur existentiell fortdauert (so z.B. E. Schlink KuD 1957 251-306, F. Lau RGG II 1531: betrifft den Christen in concreto), das zu erhellen „ist eine dringende Aufgabe” (A. Brandenburg 262-266), wobei die Erkenntnis der verschiedenen konfessionellen Denkformen „überraschende gemeinsame Aussagemöglichkeiten” (Schlink KuD 1962 226 f.; ähnlich O.H. Pesch LR 1966 402 ff.) verspricht. Als „konkret geschichtliche” Aussage ist sie vom Tridentinum nicht betroffen (M. Schmaus KD III/2 120). Denn „erst wenn . . . die Gerechtigkeit dem Menschen nur als Hoffnung, nicht auch in gegenwärtiger Wahrheit zugesprochen wird, . . . wird die Formel für die katholische Dogmatik untragbar” (H.U. v. Balthasar 1962 378 f.). — Doch scheint die Alternative „ontologisch” oder „existentiell” neben der Intention Luthers zu liegen, wenn man das mittelalterlich-personhafte Denken Luthers berücksichtigt (dazu 224 ff.). Aber klebt man nicht überhaupt zu sehr am Buchstaben? Nach Luther lebt die Erbsünde fort, nach dem Tridentinum der fomes; das Wesen der Erbsünde ist nach Luther die concupiscentia (s.u. A. 31), das Wesen des fomes — die concupiscentia!, ja noch mehr: er ist proprie die radix omnium peccatorum (Thomas In Sent. II, 43 1 ad 2); schließlich hat Luther einen „objektiven” Sündenbegriff (vgl. Lex 132 f. m. A. 1079, weil auch zur Sünde noch die imputatio durch Gott kommen muß, damit die Sünde zur Schuld wird), die Scholastik in der Hauptsache einen objektiv-subjektiven (obwohl auch das Tridentinum den objektiven Sündenbegriff kennt, vgl. Denz. 1521).
31) Vgl. Lex 123 A. 989 und unten A. 32 (Regim. 258 nennt sie den gottfeindlichen Willen) — weswegen K.A. Meissinger genauer von der Fortdauer der erbsündlichen concupiscentia spricht (113 ff.). Die Fortdauer der Konkupiszenz im Gerechtfertigten wird trotz des Tridentinums auch in der katholischen Theologie noch vertreten, vgl. die Konzeption K. Rahners I 377 ff.; J.B. Metz’ HthG I 843 ff. Zu Augustin vgl. M. Schmaus KD II/l 502, M. Strohm 184-203.
32) NR 38 A. 10, Lex 131, IZ 8, AS 62; concupiscentia, id est „infirmitas nostra ad bonum”, Lex 132 A. 1076; sie affiziert sogar die ratio, KuK 269 f.; zur Konkupiszenz in der Ehe s.u. 11378.
33) Lex 131 f., AS 62, KuK 233; Lex 123 A. 987 iustus . . . nullus nisi inchoative; ähnlich Wolf (s. u. 299 ff.); Luther definiert also den Urstandsmenschen nicht „eben so” wie den Gerechtfertigten, Lex 125, 144 f., a. M. Ernst Wolf ZevKR 1955 235. Damit löst sich die von Ernst Wolf ebd. 241 bemerkte Schwierigkeit. Zur katholischen Diskussion des eschatologischen Charakters der Rechtfertigung vgl. H. Küng 1957 231-242.

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Daß die „Erbsünde” auch im Gerechtfertigten bleibt, ist für Luther die logisch notwendige Voraussetzung für sein Verständnis der Erlösung. Denn erlöst ist der Sünder nur „während” des personalen Bezugs zu Christus; wäre die Erbsünde ein für allemal durch die Taufe vernichtet, etwa wie eine Sache zugrundegeht, dann bedürfte es keiner weiteren Begegnung mit Christus — was unsinnig wäre.

So weit über den Status des Christen. Wie steht es mit seiner vita?

 

b) vita

Im konkreten Leben ist der Status des Gerechtfertigten überaus gefährdet. Der Christ steht mitten im Kampf zwischen Gottes- und Teufelsreich. Das Schlachtfeld geht quer durch seine Brust34. Der Unterschied zum Ungläubigen besteht nur darin, daß der Gerechtfertigte — wenn er die geschenkte Gerechtigkeit willig annimmt — gegen den Satan bestehen kann, der Sünder dagegen fallen muß. Wäre der Christ noch dem Teufel hörig, so wäre er wehrlos der Sünde ausgeliefert. Nun aber trägt er die geistliche Waffenrüstung und hat die Kraft zu widerstehen, wenn er auch immer wieder fällt35. Nichts vermag er aus eigener Kraft; er hat nicht mehr die iustitia originalis des Urstandes36. Blickt er auf sich selbst zurück, verharrt er in Sünde; blickt er auf Christus, ist er gerechtfertigt. Nur sola fide37, d.h. nur in Gemeinschaft mit Christus ist


34) S.u. 43 f. zum Kampf der beiden Reiche.
35) Lex 131, IZ 8.
36) Das besagt nur(!), daß sie nicht mehr „natürliche” Ausstattung des Menschen ist, sondern allein innerhalb des personalen Bezugs zu Christus besteht, Lex 125.
37) Grat. 508 (wobei es für Luther einen wahren Glauben ohne Liebe [fides informis] nicht gibt, R. Schwarz 171, Gerh. Müller FS Maurer 43 f.); vgl. unten 8571 lex charitatis = lex fidei + lex charitatis i.e.S.; Grat. ebd. „für . . . verdienstliches Handeln . . . ist kein Raum mehr”. Zur „nachfolgenden” cooperatio s.u. 7625. — Ob man nicht schärfer zwischen der Unmöglichkeit des Verdienstes des Sünders und der Möglichkeit eines nur analogen (!) „nachfolgenden Verdienstes” des Gerechtfertigten unterscheiden sollte (nämlich als eschatologischer Lohn, J. Schmid, Exkurs: Der Lohngedanke im Judentum und in der Lehre Jesu, 1952 287-294; ebenso Preisker-Würthwein ThW IV 699-736), nachdem der aktuelle Anlaß der großen Heilspolemik Luthers gegen gewisse Praktiken vorbei ist? Auf die augustinische meritum-Terminologie sollte es nicht ankommen. Sagt doch auch Luther zum Galaterbrief 1531: (bona opera sunt) facienda ut fructus iustitiae, sed non facienda ut efficientia iustitiam (WA XL 1, 287, 3). Sachlich sagt das gleiche die katholische Dogmatik: Die Gnade kann durch kein der natürlichen Ordnung angehöriges Werk verdient werden; Gottes Rechtfertigungsgnade ist absolut frei. Es gibt kein heilsrelevantes Tun, das nicht „zuvor” von der Gnade ermöglicht, getragen und geführt wäre. Der Mensch ➝

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er ein sanctus, und das allein ist seine iustitia38. Die Gnade ist alles, der Mensch, auch der gerechtfertigte, ist nichts.

So ist der Christ in einer wenig beneidenswerten Lage. Er ist zwar gerechtfertigt, aber lebt dennoch immer wieder in Sündhaftigkeit (concupiscentia) und aktueller Sünde. Diese Spannung ist auf Erden unaufhebbar39.

Kein Wunder, daß der Christ in seinem alltäglichen Leben nicht erreicht, was ihm kraft Status zukäme: seine ratio und voluntas tragen trotz der Gnade immer noch „welthafte” Züge40. Die Folgen dieses eschatologischen Dualismus im Leben der Christen finden sich im kirchlichen Recht auf Schritt und Tritt41.

Darin zeigt sich das den katholischen Christen so paradox anmutende Selbstverständnis des evangelischen „getrennten” Bruderchristen. Er ist seines Heils gewiß 42 — und dennoch in so unfaßlich großem existentiellen Abstand von seinem Herrn; er ist simul peccator et iustus.

 

c) Simul peccator et iustus

Nicht nur katholische Forscher haben an diesem kühnen Wort Luthers Anstoß genommen, „das das Neue Testament so nicht kennt”43.


➝ kann weder zum Glauben gelangen noch gerechtfertigt werden noch gerecht bleiben ohne Gnade (B. Bartmann II 26-36, 45 f.; W. Dettloff HthG II 394 f.).
38) Lex 125; KuK 233 A. 64 zur iustitia trotz der inhabitatio peccati in carne; sie ist iustitia aliena, scil. Christi (Lex 125 f., Padua 329) und passiva (weil sie willig entgegengenommen werden muß, RuG 331, Lex 131 [insofern wäre sie auch nach katholischer Lehre eine iustitia passiva, vgl. M. Schmaus KD III/2 137]) und darum kein habitus (Lex 123 A. 992; so seit den skotistischen Franziskanertheologen über Luther bis heute, obwohl hier habitus nicht im üblichen [aristotelisch-thomistischen] Sinne gebraucht wird, H. Küng 1957 194 ff., 203).
39) Lex 124.
40) KuK 269, 272; so versuche ich den Widerspruch aufzulösen, daß He. einerseits von der im Glauben erleuchteten Vernunft des Christen redet (Lex 40, 127 u.ö.) und doch andererseits ebendiese Vernunft kein „geistliches” Recht zu setzen vermag, KuK 268 f.
41) S.u. 183 ff. zur Kluft zwischen lex spiritualis und lex humana und 205 f. zur Abwertung des „äußeren” Kirchenregiments.
42) Dazu zuletzt M. Keller-Hüschemenger und S. Pfürtner (die evangelische Heilsgewißheit entspreche der thomasischen Hoffnungsgewißheit, STh 11/2 q 18 a 4 ad 2).
43) P. Althaus (1958) weist auf das autobiographische Mißverständnis von Röm 7.14 durch Luther hin — was natürlich nichts darüber sagt, ob dieses Wort nicht dennoch die Existenz des Menschen vor Gott gültig umschreibt (vgl. die oben 3330 genannten evangelischen und katholischen Stimmen).

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Andererseits lautet ein Hauptvorwurf gegen Heckels Reiche- und Regimentenlehre, sie mißachte diesen Grund-Satz der Rechtfertigungslehre44. Aber das trifft in keiner Weise zu.

Heckel45 verweist auf die doppelte Fassung bei Luther, der vom gerechtfertigten Sünder einmal sagt, er sei totus iustus et totus peccator, ein andermal aber partim iustus partim peccator. Totus und partim peccator — wie reimt sich das zusammen?

Darauf antwortet Heckel mit der Unterscheidung von status und vita. Das totus bezieht sich auf den Status des Menschen, das partim meint seine vita.

Der Christ ist als ganzer Sünder ganz gerechtfertigt, gehört ganz ins Reich der Gnade. Die doppelte Beziehung des Christen zur Sünde und zur Erlösung wird auf paradoxe Weise zusammengefaßt im totus peccator, totus iustus. Das partim dagegen drückt die vita christiana aus in ihrem ständigen Kampf gegen die Sünde46.

Dementsprechend ist „Sünde” beim ersten Satz das peccatum originale, beim zweiten jedoch das peccatum actuale47.

Simul peccator et iustus sind also die zwei Seiten der eschatologischen Existenz des Christen48, der Ausdruck des eschatologischen Kampfes um den in Christus Gerechtfertigten, die Rechtsformel seiner Existenz.

Ihre Spuren werden deshalb im folgenden ständig wiederkehren: in der Zweireichelehre (ist der Christ „Bürger zweier Reiche”?), in der Rechtslehre (der zweifache Charakter des menschlichen Rechts), in der Kirchenlehre (die beiden Gesichter der Kirche) und schließlich in der Kirchenrechtslehre.


44) Regim. 258, 12 7 A. 19: G. Hillerdal; KuK 233 A. 64: H. Brunotte; Lex 34 A. 176: G. Wingren.
45) Er stützt sich vor allem auf W. Elerts Morphologie (gegen G. Wingren) und R. Hermann (NR 38 A. 10, Lex 34 A. 176, 125 A. 1013, 132 A. 1074). Vorstufe: RuG 332; Gru. LWB 34. Zum folgenden vgl. Lex 131 f.
46) Dazu auch AS 62 f.; zweifelnd Ernst Wolf ZevKR 1955 241 A. 22.
47) Lex 132 — wobei die Tatsünde die objektive Sündenmacht ist, die den Menschen okkupiert.
48) So die Deutung der Formel durch R. Bultmann 1964 183 f., die (insoweit) mit He. übereinstimmt, vgl. wieder Lex 131 f.