In der Verkündigung des Evangeliums trifft ein Anspruch, der Anspruch Gottes, die Welt, anstößig und in eine ganze Welt von anerkannten Ansprüchen, von Rechten und Rechtsgewohnheiten einbrechend. Er verneint damit auch den Anspruch anderer Götter und fordert die Absage an sie. Er verneint damit auch der Rechtsanspruch dieser Götter auf die Welt, auf die ihnen gehorchenden Völker, er verneint die darauf folgende sakrale Kultusorganisation. Das zeigt sich sofort darin, daß die Christen die Obrigkeit als weltliche Größe nach Römer 13 willig ehren, aber die sakralen Rechtspflichten jeder nichtchristlichen Gottesverehrung einschließlich der Bürgerpflicht des Kaiserkultes bestreiten und nicht erfüllen. Sie sind hier im Gewissen gebunden. Die Kirche Christi ist nicht ein Religionsverein, der sich relativierend Glaubensfreiheit neben anderen Kulten erbittet; das römische Reich seinerseits ist sich seiner heidnisch-sakralen Grundlage sehr gut bewußt und findet sie in dem alle einzelnen Kulte überhöhenden Kaiserkult. Es ist mit Recht ebensowenig liberal. Deswegen ist es vollkommen begreiflich und notwendig, daß hier Anspruch und Anspruch hart aufeinandertreffen. So kam es zu den immer wieder einsetzenden Verfolgungen; sie zeigten, daß hier ein Problem nicht erledigt war. In diesem Kampfe hat die leidend bekennende Kirche gewaltlos gesiegt; bei sehr menschlicher Schwäche, Flucht und massenhaftem Abfall beharrten die Confessoren und Märtyrer. Am Ende aber konnte das Römische Reich im Widerspruch gegen die gewaltlose Kirche nicht mehr existieren. So wurde die Kirche vom Reich anerkannt. Das bedeutete zunächst nur die Anerkennung als religio licita neben anderen Kulten, in rascher Entwicklung aber die Erhebung zur Staatsreligion. Die unerbittliche Verneinung des Kaiserkultes auf der einen und die Festigkeit und Geschlossenheit der kirchlichen Gemeinschaft auf der anderen Seite ließen dem Reich nach seinem eigenen Selbstverständnis keine andere Möglichkeit. Es konnte nicht von den Anhängern der heidnischen Kulte den Staatskult im früheren sinne fordern und ihn den anerkannten christlichen Gemeinden erlassen. Das Reich suchte und fand seine sakrale Grundlage nunmehr in der Kirche; aber es mußte deren Verständnis grundsätzlich wandeln. Es fiel der Kaiserkult, wenn auch die Devotionsformeln weitgehend blieben; aus dem kultisch verehrten, eschatologisch verherrlichten Gott wurde das Gemeindeglied, ein praecipuum membrum ecclesiae (um einen späteren Ausdruck hier anzuwenden) und der Protector der Kirche. Die traditionelle Weiterführung
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dieses Gedanken hat im Mittelalter dem Kaiser die Stellung als Diakon der Kirche gegeben und die Frage aufwerfen lassen, ob der Kaiser ein Laie sei. Das rechtliche Ergebnis dieser Entwicklung war ein mehrfaches:
1. Die Anerkennung der Kirche als eines Rechtskörpers eigenen,
nicht abgeleiteten Rechtes in einer bis dahin grundsätzlich
unbekannten Weise. Denn der altheidnische Kultus war
grundsätzlich nur eine Seite der politischen Existenz; er kannte
zwar religiöse Verbände und Rechtsträger, wie Tempel und
Genossenschaften, nicht aber eine dem Ganzen des Gemeinwesens
gegenüberstehende, von ihm getrennte und getrennt verstandene
Gemeinde. Die vielfältigen Einzelkulte erlaubter Religionen waren
rechtlich Vereine, die sich im Rahmen der Staatsreligion
bewegten.
Das Recht der Kirche ist im Gegensatz dazu etwas grundsätzliches
Neues und Einzigartiges.
2. Mit dem Verzicht auf den Kaiserkult tritt eine Entmythologisierung des Kaisertums und rechtlich eine Änderung der Reichsverfassung ein. Das bis dahin im umfassendsten Sinne souveräne Oberhaupt des Reiches wird durch die verfassungsmäßige Eingliederung in eine Gemeinschaft eigenen Rechts grundsätzlich mediatisiert. Die Anerkennung des einen, der Kirche, ist also nur möglich um den Preis einer Rechtsänderung und Rechtsminderung des anderen, des Reichs. Dadurch, daß die Kirche einen Rechtsstatus erlangt, wird automatisch der Rechtsstatus des Reichs verändert. Denn ein Rechtsstatus bedeutet immer, daß der Statusinhaber an einen bestimmten Ort in der Gesamtrechtsordnung tritt und damit das Verhältnis aller in diesem Kraftfeld zueinander verändert, in Beziehung zu jedem anderen Statusträger tritt. Es gibt keine isolierten, per se bestehenden Rechte.
Als wesentlichste Rechtsfolge ergibt sich also die durch die
Anerkennung der Kirche gefolgte Selbstbegrenzung des Reichs, das
nunmehr einen gleichwertigen und selbständigen Partner erhält und
neben sich dulden, ja sogar fördern und von ihm wiederum
vielerlei erwarten muß. Eben damit und dadurch allein gibt das
Reich der Kirche nicht sein, sondern ihr eigenes spezifisches
Recht, indem es dieses Recht durch die Anerkennung objektiviert.
Mit der Gewährung der öffentlich-rechtlichen und
bürgerlich-rechtlichen Rechtsfähigkeit, mit vielfacher
Privilegierung und Begünstigung dagegen gibt das Reich etwas
Zweites und ganz anderes, nämlich aus seinem eigenen
Rechtsbereich. Nemo plus juris transferre potest quam ipse habet.
Parallel zu diesem Axiom des römischen Rechts kann man auch
formulieren: nemo aliud jus transferre potest quam ipse habet.
Die Existenz der Kirche ist deshalb von Anbeginn in doppelter
Weise jeweils sowohl eine rechtliche wie ein politicum:
1. Sie verändert in Anspruch und Widerspruch die Rechtsstellung
der politischen Gewalten, auf die sie trifft, und damit die
Verfassungslage.
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2. Sie kann potentiell einen status des weltlichen Rechtes erlangen.
Der Rechtsgrund beider Stellungen ist ein wesentlich verschiedener: der eine liegt im Missionsbefehl des Evangeliums, der andere in der legitimen weltlichen Gewalt.
Deswegen können weder das staatskirchliche, verfassungsmäßig christliche Reich noch irgend sonst ein Staat dem Recht der Kirche etwas hinzufügen, sondern es nur anerkennen. Nur aus dem eigenen Rechtsbereich können sie der Kirche eine für ihre rechtliche Existenz niemals konstituierende Stellung einräumen. Daß das erstere das letztere mit einer gewissen Folgerichtigkeit nach sich zieht, daß man die Kirche nicht als Kirche anerkennen kann, ohne daraus auch Folgerungen im weltlichen Rechtsbereich zu ziehen, leuchtet ein.
Indem nun der Staat der Kirche aus dem eigenen Rechtsbereich etwas gibt, tritt er in eine Wechselbeziehung zu ihr ein. Indem er sich bindet und auch damit beschränkt, erlangt er zugleich etwas, was ebenso politischen wie rechtlichen Charakter hat, ein positives Verhältnis zu ihr. Er vermag dieses Verhältnis aber nur in seinem Sinne zu verstehen. Die Kirche ist ihrer Struktur nach „Bund”, d.h. Gemeinschaft der Wahl, der Erwählung und Entscheidung, und insofern immer Minderheit und Teil in einer grundsätzlich andersgearteten Welt. Freilich, um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen, nicht Bund, der sich selbst bildet und bestimmt, sondern Bund Gottes mit den Menschen, die er erwählt und ergreift. Deswegen hat dieser Begriff mit dem Gegensatz etwa von Anstalt und Genossenschaft noch nichts zu tun. Der Staat dagegen umfaßt immer die Gesamtheit der Bewohner seines Bereichs auf Grund vorgegebener Tatsachen, denen man sich nicht entziehen kann: er ist insofern „Gemeinschaft”. Diese von G. van der Leeuw (Phänomenologie der Religion) geprägte Unterscheidung ist hier fruchtbarer als die in der allgemeinen Soziologie gebrauchte und auf moderne Verhältnisse zugeschnittene Unterscheidung von Gesellschaft und Gemeinschaft. Indem das Reich die Kirche zur Staatskirche macht, überdeckt es diese grundsätzliche Differenz. Nun hat die Kirche selbst sehr schnell und mit großem Eifer die Stellung als Staatskirche ergriffen und zur Verdrängung und Vertilgung der Reste heidnischer Religion benutzt. Sie war hier gedrängt und versucht vom Staate, aber selbst diese vis haud ingrata aufnehmend, in der ständigen Gefahr der unerlaubten Vermischung mit der Welt.
Deshalb wurde in weitestem Maß die Kirche Gegenstand des politischen Interesses und des sozialen Geltungswillens der führenden Schichten, die sich nach ihren Bischofssitzen drängten. Von Konstantin bis zur Gegenwart ergab sich jene unbeschreibliche Mischung von ehrlichem Glaubensinteresse der Fürsten und Gewalthaber und machtpolitischer Berechnung und Benutzung der Kirche als Ordnungsfaktor. Deswegen war die Herstellung dogmatischer und kirchenrechtlicher Einheit der
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Kirche jeweils ein hervorragendes politisches Interesse. Daß die Kirche dennoch in der großen Bekenntnisbildung der oekumenischen Concilien und an manchen anderen Klippen ihrer Geschichte in solchem Maße ihre Linie bewahrt hat, wie sie es tatsächlich inden sich überkreuzenden politischen und theologischen Wirren vermocht hat, gehört zu den großen Taten des Heiligen Geistes. Es ist hominum confusione sed dei providentia etwas wahrhaft Erstaunliches geschehen. Denn man wird rückschauend doch sagen müssen, daß jede der hier abgewehrteten großen Haeresien nach menschlichem Ermessen die Kirche zum Zerfall und in den Abgrund geführt hätte.
Karl Barth hat das große Verdienst, mit einer dialektischen Darstellung der großen Erscheinung des konstantinischen Bundes einer ebenso weitverbreiteten wie oberflächlichen geschichtstheologischen Schlagwortbildung entgegengewirkt zu haben, in welcher sich ungeschichtliches Denken, Leibfeindlichkeit und sehr vordergründige kirchenparteipolitische Interessen verbinden1.
Seine Voraussetzung freilich, daß eben dieser konstantinischen Bund so eindeutig zu Ende gegangen sei, ist nicht so selbstverständlich und nicht so eindeutig richtig, wie er es ausdrückt. Auch Heinrich Bornkamm2 warnt davor, das heutige Problem „Staat und Kirche” mit dem Schlagwort vom Ende des konstantinischen Zeitalters zu bezeichnen. Denn hier ist zweierlei zu unterscheiden.
Der konstantinische Bund bringt eine Tatsache zum Ausdruck, die mit der Fleischwerdung, mit der öffentlichen Wirksamkeit Jesu, mit seiner Verurteilung, Kreuzigung und Auferstehung bereits vor jeder weiteren und direkten Berührung mit der weltlichen Gewalt diese selbst verändert hat: eben jener schon beschriebene Anspruch und Einbruch. Diese Tatsache einer faktischen Veränderung auch der politischen Welt ist bis zum Ende der Tage durch die wechselnden Stellungnahmen dieser so angegriffenen weltlichen Gewalt nicht aus der Welt und der Geschichte zu schaffen und zu streichen. Jeder Versuch, es dennoch zu tun, ist im strengen Sinne reaktionär und anachronistisch. Denn reaktionär ist derjenige, der unwiderrufliche geschichtliche Tatsachen nicht wahrhaben und rückwärts revidieren will, weil er die Geschichte in seinem Sinne für verfügbar hält.
Daß das Römische Reich in der Konsequenz dieser Tatsache die Kirche nicht nur zur Staatskirche, sondern zur Reichskirche gemacht hat, in Parallele zu seinem universalen Anspruch und zu seiner scheinbaren Oekumenizität, seiner räumlichen Allumfassendheit, ist freilich eine historische Lösung, die als solche vergänglich ist und in der Tat als solche nicht mehr besteht, spätestens, wie Barth mit Recht bemerkt, seit dem Sturz der letzten Reste des alten Reichs in der Gestalt der österreichischen Monarchie, ja überhaupt der drei mehr oder minder übernationalen Kaiserreiche, mit denen eigenartigerweise zugleich auch ihr
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jahrtausendalter islamitischer Gegenspieler in Gestalt der Hohen Pforte dahingegangen ist.
Im Bereich der nunmehr durchweg und grundsätzlich partikularen, nationalen Staaten jedoch hat der konstantinische Bund eine große Fülle von Bruchstücken und Nachwirkungen hinterlassen, die sich keineswegs etwa von selbst ableben und zerfallen, sondern in allen denkbaren Spielarten kräftig weiterleben. Sie gehen auseinander und erlauben kaum eine gemeinsame inhaltliche Umschreibung. Sie bezeugen auch keineswegs die Unvergänglichkeit jenes Bundes, wohl aber die Unscheidbarkeit jener einmal begründeten Korrelation und konstitutiven Antithese von Kirche und weltlicher Gewalt. Von einer Erörterung der in diesem Sinne verstandenen nachkonstantinischen Lage muß die Bedeutung dieser Grundtatsache noch weiter bedacht werden3.
Das Verhältnis von Kirche und Staat läßt sich am leichtesten in einem Bilde, in einer mathematischen Figur darstellen und ist auch immer wieder in einer solchen Form begriffen worden. Die vorchristlichen Staatsgebilde stellen jeweils konzentrische Kreise, von einem Punkt her konstruierte Einheiten dar. Im Bereich der natürlichen Religion ist diese konzentrische Einheit von Kultus und öffentlicher Ordnung wohl am großartigsten in der griechischen Polis zur Darstellung gekommen. Nennen wir diesen Typus mit einer gewissen Verkürzung der Einfachheit halber den griechischen. Er besagt, daß mit strenger und frommer Beachtung der vorgegebenen Gesetze dieser Welt als göttlicher, erkennbarer Ordnung das öffentliche Gemeinwesen, die polis, die res publica nach menschlichem Vermögen, wenn die Götter sonst gnädig sind, zu ihrer rechten und idealen Ordnung gebracht werden können. Hier ist die Bildung eines Vollkommenheitsbegriffs und das Streben nach seiner Verwirklichung sinnvoll und möglich. Wo noch heute solche Vollkommenheitsbegriffe auftauchen, sind sie ein Erbe einer griechischen Tradition des Staatsdenkens. Die einzige echte und durchgehaltene Ausnahme von dieser antiken Konzeption stellt das jüdische Staatswesen dar. Es ist nicht auf der frommen Beobachtung der göttlichen Gesetze des Kosmos, sondern auf der geschichtlich-personalen Offenbarung von Noah über Mose bis zu den Propheten aufgebaut. Der volle Widerspruch zwischen dem Willen Gottes und der sündigen Welt, dem Abfall des Volkes wird immer wieder sichtbar. Immer wieder wird das Volk des Ungehorsams bezichtigt, von Richtern und Propheten gezüchtigt und angespornt, ermahnt, Buße zu tun, sich zu bekehren, Gottes Willen zu erfüllen. Nicht das fromme und ruhige Streben des Griechen, der Harmonie des Kosmos in seinem Leben genugzutun, ist bestimmend; dem Menschen wird der ganze Gegensatz von Gott und Welt mit aller Schärfe aufgelastet. Gott selbst soll König sein und bleibt es auch, wenn erleuchtete Könige wie David und Salomo regieren. Israel ist nicht Polis, sondern Theokratie. Die natürliche Eigenmacht des jüdischen Volkes als
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eines einzelnen Volkes neben anderen geht ganz darin auf und soll darin aufgehen, daß es das auserwählte Volk ist. Will es sein wie andere Völker, so fällt es eben damit schon ab. Dem Baum dieses Volkes ist sozusagen die Krone abgehauen, damit er etwas anderes tragen kann. Aber auch diese Theokratie ist ein konzentrischer Kreis. Nur sein Zentrum ist ein anderes. Es liegt nicht im sakralen Königtum der natürlichen Religion, sondern in dem einstmals und immer wieder offenbarten unmittelbaren Willen Gottes.
Der konstantinische Bund ist nun weder griechische Polis noch jüdische Theokratie. Er umschließt beide zu einem Ganzen und verwandelt seine beiden Elemente zu einem gänzlich neuen Dritten. Die Polis, mit ihr Könige und Cäsaren, verlieren den Charakter der Göttlichkeit, sind weltliche Ordnung, das heißt Ordnung einer vorläufigen und gefallenen Welt, die in sich nicht vollkommen sein kann und des endzeitlichen Gerichtes harrt. Die Theokratie dagegen verliert die Unmittelbarkeit der Gesetzesherrschaft, die direkt Durchsetzung des Gotteswillens. Aus dem einen auserwählten und begrenzten Volk werden die Völker der Oekumene. Das Volk Gottes verallgemeinert und spiritualisiert sich. Aus zwei konzentrische Kreisen, die sich ausschließen, wird eine Ellipse mit zwei Brennpunkten, ein bestimmt geordneter Dualismus. Sie hat zwischen ihren beiden Brennpunkten eine sogenannte Brennweite, einen Abstand, der nicht willkürlich verändert werden kann. Vergrößert man nämlich die Brennweite immer mehr, zo zerreißt die Ellipsenfunktion wie ein überdehntes Band, die Figur ist zerstört. Verengt man die Brennweite nach innen, so überdecken sich schließlich die beiden Brennpunkte, so, daß sie ununterscheidbar werden, wobei es dann offen bleiben muß, werden anderen überdeckt. Das hängt nur vom Standpunkt der Betrachtung ab. Die Brennweite ist also variabel, aber nicht über gewisse Grenzen hinaus, jenseits deren das Gefüge zerstört wird.
Mit der Entstehung der Kirche, nicht erst mit Konstantin, ist ein Dualismus zwischen Kirche und Welt, Kirche und Staat gegeben, der dann im konstantinischen Bund eine positive rechtliche Form gefunden hat. Diese Form läßt sich am ehesten von ihren Grenzwerten, von den mehr oder minder weitgehenden Mißbildungen her darstellen, die sie ermöglicht hat. Verkürzt man die Brennweite und bringt Kirche und Staat annähernd zur Deckung, so verwickelt man beide in einen hoffnungslosen Streit. Die jüdische und griechische Lösung treten wieder hervor und stoßen sich. Weil es dann im Grunde nur noch ein Körper, ein konzentrischer Kreis ist, muß die Frage „Theokratie oder Polis” zwischen ihnen zum Austrag gebracht werden, und eben dies ist unmöglich. Die Frage ist unlösbar, weil der vorgegebene Dualismus verkannt ist. So werden sie beide gezwungen, gegeneinander um ihr Lebensrecht zu kämpfen, weil sie sich „zu nahe treten”. Hier liegt auch die Schwierigkeit
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der geschichtlichen Beurteilung der Kämpfe zwischen Kirche und Staat im Hochmittelalter begründet. Wir sehen meist, daß die Kirche sich gegenüber dem Reich Rechte angemaßt und es herabgewürdigt hat. Die katholische Auffassung sieht es umgekehrt. Beides ist gleich richtig und gleich falsch. Die Ansprüche Innozenz’ III. und Bonifaz’ VIII., von denen sich die modernen Päpste vorsichtig distanziert haben, sind ebensowenig haltbar wie die Benutzung der Kirche und der Bischöfe als politischer Ordnungs- und Machtfaktor in der ottonischen Reichsverfassung. Wir Deutschen haben die Kirche zur Stabilisierung unserer nationalen Einheit benutzt und wundern uns darüber, daß das nicht ewig gehalten hat. Kaum aber war die Kirche wieder zu freier Eigenständigkeit gekommen, so excedierte sie mit so hochgespannten theokratischen Ansprüchen, daß eben daran die hochgerühmte Einheit des Abendlandes in der Tiefe zerbrach. So geriet man in einen circulus vitiosus von staatskirchlicher Abhängigkeit und theokratischer Machtanmaßung hinein. Man vergaß dann völlig, daß in diesem Verhältnis die konkrete Entscheidung immer nur eine relative und niemals eine prinzipielle Lösung bedeuten kann.
Die gleichen bedeutenden Schwankungen weist das Verhältnis Staat-Kirche schon im ersten Jahrtausend auf. Bald war das reich so stark und die Kirche so ohnmächtig, daß sie annähernd ein geistliches Departement des Staates darstellte; bald war das Reich so zerrüttet, daß die Kirche fast allein stand und ersatzweise in seine ordnenden und helfenden Aufgaben eintrat. Im ganzen aber begnügte man sich damit, daß die Brennstärken in diesem dynamischen Verhältnis wechselten. Erst mit dem zweiten Jahrtausend, nicht ohne viele schlechte Erfahrungen, ging man dazu über, die Brennweite auszumessen und festzulegen, juristisch, theoretisch, ideologisch und propagandistisch. Dieser Versuch der Objektivierung machte es nun nur noch schlimmer, weil er die Spannungen verstärkte, die Gegensätze verhärtete, die Positionen verabsolutierte.
Das Sachproblem war ja vorgegeben: die Beziehung zweier wesentlich und unaufhebbar verschiedener, und doch zugleich innerlichst auf einander gewiesene Größen. Die Rationalisierung dieses praktisch höchst unterschiedlich gestalteten Verhältnisses hebt nun diese Spannung auf. Sie wird aufgehoben, wenn sich der rex als sacerdos — ebenso wenn sich der pontifex als imperator versteht. Das begriffliche Mittel der Rationalisierung besteht aber darin, daß beide Größen unter einen Oberbegriff gebracht werden, durch den sie vergleichbar werden. Das geschieht im Ordo-Begriff, der ein Urteil über die Erfüllung der Sinnbestimmung eines jeden einzelnen Ordo erlaubt. So wird der geistliche und der weltlich-laikale Ordo vergleichbar: sie verhalten sich wie Sonne und Mond, wie Innen und Außen, wie Geist und Stoff. Zwischen Geistlichem und Weltlichem besteht ein Verhältnis des Größeren zum
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Kleineren, ein ständiges Argument a maiori ad minus. So entsteht die gänzlich unbiblische Vorstellung, daß Christus Petrus mit dem Regiment der Kirche erst recht das Oberregiment über die irdischen Königreiche „universo orbi imperare” verliehen habe. Mit dem gleichen argumentum a maiori ad minus wird sogar Röm. 13 umgedeutet. Gerade der stärkste Impuls geschichtlicher Verwirklichung nimmt die Last dieser Welt nicht auf, an und ernst. Die iustitia gebietet, beiden ordines ihren Platz und ihre Aufgabe zuzuweisen und zu wahren —, aber über diese iustitia kann letztlich nur urteilen, wer niemandes Urteil unterworfen ist, als Gott allein — der Papst. Aus der eschatologischen Struktur wird ein durchgängiges idealistisches System4.
Freilich ist mit alledem der dialektische Charakter dieses
Verhältnisses und seine Voraussetzung, die Anerkennung zweier
eigenständiger Größen in mehr oder minder hohem Maße
verlorengegangen. Die Anwendung des Begriffs der „societas
perfecta” auf die Kirche in Verbindung mit der Einheitlichkeit
des aufkommenden kausalen Weltbildes, welches nicht mehr
differente Mächte in sich zu begreifen vermag, führte zur
Nachordnung des Reiches hinter die Kirche, der societas minus
perfecta hinter die perfecta. So ergibt sich zwangsläufig die
Lehre Bonifaz VIII. über die potestas directa. „Oportet gladium
esse sub gladio, et temporalem auctoritatem spirituali subici
potestati” (Denz. 469).
Folgerichtig kehrt Marsilius von Padua dieses Einheitssystem um,
indem er nunmehr den Staat zur societas perfecta erklärte und ihm
zugleich alle rechtlichen und speziell jurisdiktionellen Elemente
der Kirche zu eigen gab. Nur die außerrechtlich-spirituale
Kirche, umgriffen von der Rechtsordnung des Staates, ist wahre
Kirche.
In der gemeinsamen Eingleisigkeit des Denkens wird versucht, die
jüdische bzw. griechische Lösung zur annähernd reinen Darstellung
zu bringen. Die integrale Fortsetzung des institutionellen
Priestertums des A.T., das Priestertum nach der Ordnung
Melchisedek verleugnet mehr oder minder folgerichtig die
eschatologische Öffnung und Verwandlung, die im Neuen Bunde
eingetreten ist. Schon Bonaventura macht in seiner
Hierarchienlehre Äußerungen, die nur mit Mühe auf eine gemäßigte
Linie der medietas ausgelegt werden können.
Die höchste Steigerung des Ordo-Gedankens bedeutet gerade die Auflösung des ordo. Die schlüssig-rationale Einheit der societas beruht auf der Vorstellung der Einheit des Individuums. Eben diese aber setzt voraus, daß das Individuum zu einer metaphysischen Einzigartigkeit, zu einem An-sich-Sein aus den konstituierenden Zusammenhängen bereits herausgelöst ist. Damit aber sägt sich das Priestertum selbst den Ast ab, auf dem es sitzt. Denn es läßt sich die Konsequenz nicht vermeiden, daß in der Folge jeder Staat und jedes Individuum sich als eine gleiche, gottesunmittelbare, von niemandem zu richtende Einheit versteht. Das
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Priestertum dagegen beruht gerade auf der prinzipiellen Unabgeschlossenheit des Menschen, auf seiner Angewiesenheit auf das Tun des anderen (s. Kap. IV). So reißt das Amt der Versöhnung einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Klerus und Laien auf, den keine Oboedienzforderung mehr aus der Welt schaffen kann. Das Instrument der Vergemeinschaftung wird zum Grund der Spaltung.
Den umgekehrten Weg ist dann die Moderne gegangen. Sie hat die Brennpunkte soweit voneinander zu trennen unternommen, daß aus dem Ganzen der Ellipse zwei selbständige Kreise werden. Dies ist nicht der Zustand der Kirchenverfolgung. Haßt man sich noch so sehr, daß man sich verfolgt, so beweist man nur, wie sehr man den Verfolgten für wichtig und wirksam hält. Die konsequente form der Trennung ist das staatskirchenrechtliche Prinzip der Dissimulation, der Nichtbeachtung. Der Staat duldet die Kirche, verweist sie aber auf ihre reine Innerlichkeit und den Kultus innerhalb der Kirchengebäude und verwehrt ihr jede, auch die geringste Ausstrahlung darüber hinaus. Dies ist das gemeinsame Prinzip des laizistischen Frankreich und der Ostblockstaaten kommunistischen Gepräges. Freilich ist dies nicht echt durchzuhalten, sondern führt immer zu deutlichen Formen der Unterdrückung. Die Verweigerung der bürgerlichen Rechtsfähigkeit für die Gemeinden oder ihre radikale Einschränkung, insbesondere im Vermögenserwerb, die laufenden Verwaltungsmaßnahmen, um die Öffentlichkeitswirkungen der Kirche immer wieder zu überwinden, bedeuten in Wahrheit keinen Status der Indifferenz, keinen einfachen Nicht-Stand, sondern einen deutlichen status negativus, auch wenn man förmliche Verfolgungsmaßnahmen vermeidet. Es gibt rechtlich keinen status indifferentiae. Denn wenn selbst die Kirche diesen ihr aufgezwungenen Status im geduldigen Leiden auf ich nähme, ohne für die Öffentlichkeit des Wortes Gottes und seinen Anspruch den status confessionis in Anspruch zu nehmen, selbst dann könnte der Staat nicht erreichen, was er versucht. Trennt er sich radikal von der Kirche und verweist sie in einen Winkel, so wird er eben dadurch gezwungen, seine Weltlichkeit wieder zur religiösen Ganzheit aufzufüllen, sich einen philosophisch-weltanschaulichen Ersatz zu schaffen. Das kann er in der intolerant-dogmatischen Form des orthodoxen Marxismus oder in der milderen Form humanistisch liberaler Dogmen, die man für so selbstverständlich erklärt, daß sie des Zwanges nicht bedürfen — das Ergebnis ist das gleiche. Je mehr man aber nun diese Weltlichkeit des modernen Staates als Weltlichkeit ohne Gegenüber echter Geistlichkeit betont, desto größer ist die Gefahr, daß die Kirche ihrerseits wieder theokratische Züge des jüdischen Typus annimmt. So werden Kirche und Staat gleichermaßen verderbt und treiben sich gegenseitig in eine immer stärkere Vereinseitigung.
Es wird also sehr deutlich, daß weder Trennung noch Verbindung beider Mächte gewisse Grenzwerte hier überschreiten darf, wenn nicht
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beide zu Schaden kommen sollen, wenn man nicht Unmögliches versuchen will. Aber es sind eben Grenzwerte, zwischen denen bedeutende Schwankungen möglich sind. Die rechte Brennweite kann nicht ein für allemal mit der theologischen oder staatsrechtlichen Elle festgelegt werden. Denn es sind dynamisch-geschichtliche Größen, die sich anziehen und abstoßen und miteinander ringen. Sie haben auch den Grad dieser Dynamis nicht in der Hand. Treitschke hat in einer Kritik der Cavourschen Formel von der „freien Kirche im freien Staate” mit Recht darauf hingewiesen, daß das Verhältnis von Kirche und Staat kein „rationelles” sei.
Der Staat, der der Kirche aus eigenem Recht eine Rechtsstellung einräumt, kann diese Stellung nicht unbeschränkt seiner Aufsicht unterwerfen, ohne damit zugleich in den innersten, eigentlichsten Bereich der Kirche einzugreifen. Die Vorstellung einer sauberen Scheidung ist eine unzulässige Objektivierung. Ein Vertrauensbereich innerhalb des Staats und Völkerrechts gehört zu den Phänomenen des Rechts, ist kein außerrechtliches Wohlwollen, keine bloße Frage des „usus”. Der Staat, der die Kirche um des Evangeliums willen anerkennt, kann also auch jura circa sacra nur in grundsätzlich begrenztem Maße besitzen und geltend machen. Er muß einen autonomen Raum weltlichen Rechts für die Kirche offenlassen. Die für die Theorie notwendige begriffliche Scheidung der iura in sacra, die dem Staate niemals zustehen, und der jura circa sacra ist als praktische, durchgeführte niemals möglich. Wer ein weltliches Recht der Kirche nicht dulden will, kann auch nicht behaupten, er dulde das geistliche.
Die preußische republikanische Staatsregierung hat die Anerkennung autonomer evangelischer Kirchenverfassungen von der Einführung eines kirchenfremdes Listenwahlrechts abhängig gemacht (und damit übrigens die Machtergreifung der Deutschen Christen im Jahre 1933 ermöglicht!). Eine moderne schweizerische Kantonalregierung beanstandete aus Liberalismus, daß die Taufe als Voraussetzung der Kirchenmitgliedschaft bezeichnet wurde. In beiden Fällen ist die Kirche zum Bekenntnis gefordert, das heißt auch zu der Entscheidung, ob sie um der Reinheit des Evangeliums willen auch auf die staatliche Anerkennung verzichten muß. Hier erweist zugleich das Recht der Kirche seine kritische Funktion gegenüber dem Rechte des Staates, dem Rechte dieser Welt.
Andererseits sind heute die kirchenfremden Anhänger der „freien Kirche im freien Staat” und Gegner der Staatskirche zu deren Verteidigern geworden. Denn sie rechnen, daß eine unabhängige Kirche eine sehr viel lästigere Mahnerin und unbequemere Partnerin sein wird als eine brave „Staatskirche”. Diese Einsicht erhärtet die Erkenntnis, daß die Kirche ein gewisses Maß — auch rechtlich zu sichernder Unabhängigkeit nicht unterschreiten darf, ohne ihrem Auftrag untreu zu werden.
Daß es in dem hier auftretenden Problem des Verhältnisses von Kirche
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und Staat um echte Grenzwerte geht, zeigt sich in der Ausbildung zweier wesentlich gegensätzlicher Verhaltensrichtungen, die mit der Folgerichtigkeit eines Gefälles die Assoziation, die Verbindung bestimmter Grundsätze hervorbringen, welche je für sich den inneren Zusammenhang nicht immer erkennen lassen. Man kann diese beiden Gruppen etwa wie folgt umschreiben:
Entweder:
kritische Haltung gegenüber dem weltlichen Regiment, ja geradezu
Abwertung desselben, Ausbildung und weite theologische Ausdehnung
eines Widerstandsrechts und naturrechtlicher Lehren, scharfe
Trennung von Kirche und Staat und Ablehnung jedes
Staatskirchentums, solange und sobald dieses nicht fest in der
Hand und unter der Autorität der Kirche steht, in scharfer
Gegenwirkung jedoch entschiedene theokratische Ansprüche an den
Staat, in der form sei es der hierarchischen, sei es der
Verkündigungstheokratie, Definition des Verhältnisses von Kirche
und Staat als des Höheren zum Niederen, von Seele und Leib, oder
des inneren Kreises zum äußeren.
Oder:
positive Haltung gegenüber dem weltlichen Gewalt bis zur
kritiklosen leidenden Hinnahme ihres Wirkens als eines Wirkens
des deus absconditus, Ablehnung oder wesentliche Begrenzung des
Widerstandsrechts und des Naturrechtsgedankens, Bereitschaft zum
Staatskirchentum und strenge Beschränkung der kirchlichen
Ansprüche gegenüber der weltlichen Gewalt auf den spezifisch
geistlichen Bereich, Ablehnung theokratischer Kirchenformen, sei
es vom Klerus, sei es von der klerusartigen Gemeinde der
Erwählten her, Voranstellung des Leidens in der Nachfolge
gegenüber innerweltlicher Aktivität.
Man kann diese beiden Richtungen und Tendenzen als die
theokratische und (im untechnischen Sinne) als die
staatskirchliche bezeichnen. Ich bin früher geneigt gewesen, die
erstere Haltung in der römischen Kirche seit der cluniazensischen
Reform und im Calvinismus, die andere im Luthertum und der
griechischen Orthodoxie mit einiger Grundsätzlichkeit
repräsentiert zu sehen. Indessen ist das historische Bild um
viele Grade differenzierter, als es diese antithetische
Typologie, bezogen auf die konkreten Kirchentümer, ausdrückt. Ich
müßte daher die Belege, welche jene Zuweisung stützen, und
diejenigen, die sie in Frage stellen, hier gegeneinander abwägen.
Aber davon kann die hier interessierende grundsätzliche Sicht der
Dinge nicht abhängen. Ebendieses Grundsätzliche scheint mir in
Folgendem zu liegen:
1. Die Entscheidungen von Kirche und Theologie auf diesem Felde
sind entgegen ihrer subjektiven Begründung keine einzelnen und
rein aktualen oder absoluten, sondern stehen regelmäßig in dem
Gesamtzusammenhang solcher Blickrichtungen.
2. Eine Besinnung in solchen Fragen, welche nicht diese
Gegenläufigkeit,
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die Antinomie oder Dialektik (wie immer man es begrifflich fassen
will) im Blick behält, muß notwendig auch die einzelne
Entscheidung verfehlen. Denn
3. ist es offenkundig, daß die eine Richtung und
Grundhaltung
a) die Kirche bis hinein in innerste Bezirke in unerträglicher
Weise der Welt ausliefert,
b) die reale Oekumenizität der Kirche durch die Verknüpfung mit
einem Volkstum oder einem geschichtlichen Reich entscheidend
zurücktreten läßt,
c) eben durch diese Verbindung mit der Realität der Welt die
Eschatologie zurücktreten oder aber zu schwärmerischen
Gleichsetzungen abirren läßt.
Ebenso offenkundig ist es aber, daß die andere Lösung, der Versuch kirchlicher Selbstbehauptung und Durchsetzung einen theokratischen Machtwillen erzeugt und eine Verwechselung von innerweltlicher und eschatologischer Gerechtigkeit hervorbringt.
Das Pathos des Widerstandes gegen die Vergewaltigung und Verfälschung des Evangeliums durch die Welt und der Gehorsam des Leidens in der Nachfolge sind noch nicht zu einem überzeugenden Ausgleich gebracht worden.
Dieses grundsätzliche und geschichtliche Problem kann mit der überlieferten Lehre von Gesetz und Evangelium nicht gelöst werden, weil diese wesentlich auf Trennung gestellte Lehre nur zu der einen Alternative führt und beides nicht hinreichend zusammenzubinden vermag. Barth hat versucht, sie durch die Formel „Evangelium und Gesetz” zu ergänzen. Das eigentliche Problem wird immer noch klassisch in der christologischen Formel von Chalcedon aufgewiesen, deren dialektisch-bezügliche, ineinander verschränkte Grenzwerte uns in der Denkform höchst modern anmuten. Es ist bedauerlich, daß auf der lutherischen Weltbundkonferenz 1952 die Ansätze zu einer Revision der Regimentenlehre von hier aus wieder zurückgedrängt worden sind6.
Von Chalcedon her ist auch gegen die von Karl Barth in „Christengemeinde und Bürgergemeinde” und auch später wieder vorgetragen Konzeption der konzentrischen Kreise (ganz abgesehen von den zahlreichen staatsrechtlichen Unmöglichkeiten) Bedenken zu erheben. Es ist wie das scholastische Schema von Übernatur und Natur eine Deutung, in der das höhere Geistige und das niedere Weltliche lenkt und leitet. Zieht an das Stufungsprinzip ab, so sind beide wesentlich identisch.
Nun hat die griechische Kirche die Lehre von Chalcedon von jeher als den goldenen Schlüssel für die Soziallehre betrachtet, hat aber selbst die in ihr enthaltene Dialektik ebensowenig durchzuhalten vermocht. Wenn Luther das Verständnis von Gesetz und Evangelium als die schwierigste Aufgabe bezeichnet hat, so gilt dies erst recht für die Christologie von Chalcedon, wiewohl diese das Problem von vornherein
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klarer aufdeckt. Ja, es macht dieser Ansatz geradezu die Unverfügbarkeit, den Gnadencharakter christlicher Existenz sichtbar.
Am Signorenpalast in Florenz stand schon vor Savonarola die Inschrift: „Jesus Christus rex populi florentini S.P.Q. decreto creatus” — und diese Dedikationsformel betrachtete er als seinen eigentlichen Wahlspruch. Aber der Spruch selbst enthält die bitterste Kritik dieser Haltung — und mit ihr der Christokratie aller Zeiten. Dieser traditionelle („S.P.Q.”) christliche Republikanismus, der keinen sichtbaren König dulden will, ist eben doch „decreto creatus”. Es ist der leidenschaftliche Wille zur Selbstverpflichtung, zur Aktivität, zur eindeutigen Durchsetzung. So entschieden diese Haltung gegen die Mächtigkeit alles Natürlichen wie Historisch-Vorgegebenen sich wehrt, so ersetzt sie beide doch nur durch die Selbstmächtigkeit eben dieses Dekrets als Selbstverpflichtung — und alle Kritik, alle Dialektik, alle Eschatologie endet dann doch nur (meist mit Elementen absoluter Moralität) in eine grundsätzlich einlinigen Ethos. „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt.”
Es gibt sich daraus weiter, daß das Verhältnis zwischen dem Recht der Kirche und dem Recht der Welt nicht in eine allgemein und zeitlos gültige explizite Formel gebracht werden kann.
Dennoch kann von hier aus noch sehr Konkretes gesagt werden. Zwischen der Kirchenrechtslehre und der Rechts- und Staatslehre einer jeden konfessionellen Theologie obwaltet ein eigentümliches Verhältnis: die Theologie, welche der sichtbaren Rechtsgestalt der Kirche mit Zurückhaltung und der Tendenz der Kritik gegenübersteht, wird genötigt, eine positivistische Rechtslehre zu vertreten. Wer aber zum Staate und zum positiv-historischen Recht kritisch sich verhält, muß eine positivistische Kirchenrechtslehre ausbilden. So entsprich dem massiven Positivismus der römischen Kirchenrechts, welches sich kaum noch die Mühe macht, seine Setzungen theologisch zu begründen, eine höchst kritische Naturrechtslehre, die sich zum Maßstab und Richter alles Vorfindlichen aufwirft. Die Distanz zur sichtbaren Kirche, welche das Luthertum auszeichnet, treibt es in die Nähe des juristischen Positivismus. Der Calvinismus wiederum entwickelt ein apodiktisches Kirchenrecht und hebt mit der Lehre von den Menschenrechten die historischen Rechtsordnungen aus den Angeln, während die griechische Orthodoxie zwar die heiligen Canones bewahrt, aber sonst hinnimmt, was im weltlichen Raum des Staates und Rechts sich ergibt, ohne in dessen aktiver Wandlung ein geistliches Ziel erblicken zu können.
Die Theologie braucht erstens immer sozusagen ein Standbein, um ein Spielbein haben zu können.
Zweitens ist das Interesse am Rechtsproblem und am Staatsproblem verschieden ausgebildet. Denkt die Theologie positivistisch, so wendet
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sie sich den Fragen des Staates zu, denkt sie in der Linie des kritischen Naturrechts, so blickt sie auf die Fragen des Rechtes, ohne in Wahrheit Recht und Staat in ein sinnvolles Verhältnis bringen zu können. Denn wo sie Kirchenrecht positivistisch versteht und handhabt, versteht sich die Kirche immer selbst als so etwas wie den wahren Staat, der vorbildlich ist für den weltlichen Staat, und diesen letztlich nicht braucht, weil sie alles ja im Grunde so viel besser weiß, auch dann, wenn sie sich von jeder konkreten Erfahrung des Machtproblems und des Machtgebrauchs sauber fernhält und rein postuliert.
Bedeutsame Folgerungen für das Verhältnis von Kirche und Stat zieht Rudolf Bultmann aus dem Prozeß Jesu7.
„Jesu Gespräch mit Pilatus ... hat zu seinem Inhalt das
Verhältnis von staatlicher Macht und göttlicher. Es soll deutlich
werden, daß die staatliche Autorität als von Gott gegründete der
Welt gegenübersteht, daß sie nicht zu ihr gehört und also
unabhängig von ihr handeln kann und soll, und daß deshalb der
Vollzug des staatlichen Handelns vor dem Entweder-Order steht:
Gott oder Welt?”
Aber „für Gott” hieße hier nicht: Annahme des Anspruchs und der
Botschaft Jesu: das Evangelium als solches kann der Staat nicht
beurteilen. Es geht vielmehr nur um „die schlichte Sachlichkeit
im Wissen um die Verantwortung für das Recht”. Vom Staat als
solchem „kann nicht die Anerkennung der Offenbarung gefordert
sein. Diese Sachlichkeit würde schon „die Entscheidung gegen die
Welt bedeuten” — „diese Sachlichkeit fordert die Offenheit vor
Gott”. So kommt er zu dem Schluß: „Ein unchristlicher Staat ist
grundsätzlich möglich, aber kein atheistischer Staat.”
Die Frage, vor der Pilatus steht, ist weit weniger eine Rechtsfrage als eine Tatfrage, und insofern eine Wahrheitsfrage: nicht die Wahrheitsfrage des Glaubens „was ist Wahrheit?”, sondern die simple innerweltliche, daß er als Richter nicht aus dem Nichts ein Etwas machen kann — oder darf. So gesehen wird der Staat zu einer exousia zwischen Gott und Welt, zu einer von oben bevollmächtigten Mittelmacht, die sich auch nach beiden Seiten entscheiden kann.
Die bewußt durchgehaltene Bindung an die Wahrheit und damit an das Recht entspricht also der Offenheit für Gott und hängt mit ihr zusammen. So gibt es, wie Luther so oft im Verhältnis etwa zum Türkischen Reich hervorgehoben hat auch rechten Staat außerhalb des christlichen Bereichs. Gibt der Staat diese Sachlichkeit auf, so verleugnet er seine eigene Legitimation.
Die erstaunliche Konsequenz dieser Sicht ist es, daß Staat ohne Religion in einem weiten Sinne als solcher nicht leben kann. Aber wichtiger als dieses Urteil ist das geschichtliche Geschehen: der Staat, der als solcher das Evangelium nicht vernehmen kann und nur in seiner Sachlichkeit
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fest zu stehen hat, wird dennoch dadurch verändert, daß seine Träger — Amt und Staatsbürger — dem Evangelium begegnen. Danach gelingt die Aufhebung dieser Beziehung nicht mehr — der Staat der sie aufheben will, wird von hier aus in den Atheismus einer ideologischen Totalität getrieben. Das Evangelium zwingt also den Staat doch in seiner Mittelposition zwischen Gott und Welt zur Entscheidung, freilich nicht zu einer Verchristlichung seiner Sachlichkeit, aber zur Anerkennung dieser korrelativen Beziehung. Anders gesprochen: der Staat christlicher Völker ist vom Atheismus stärker bedroht als der nichtchristliche. Aber wo er dem widersteht, gewinnt er auch eine besondere und eigentümliche Würde — er wird nicht nur in Frage gestellt und begrenzt, sondern auch bestätigt.
Der Staat aber wiederum ist ein notwendiges und unaufhebbares Gegenüber der Kirche. Es kann die Kirche nicht die Haltung einnehmen, als ob mit dem Werke Christi die Welt sozusagen als solche nicht mehr existent sei, weil sie im Grundsatz „überwunden” ist. Das hieße, daß mit Vernunft, Mission und gutem Willen wenigstens im christlichen Bereich die Welt alias Staat in den Bereich der Kirche aufgenommen und hineingezogen werden könnte. Das ist Schwärmerei. Im Gegenteil bildet der Staat immer wieder eine Begrenzung der Kirche, so wie ihre diener auch der allgemeinen Strafgerichtsbarkeit unterliegen und vom allgemeinen Gesetze nicht ausgenommen sind. Ein Staat ohne das Gegenüber der Kirche überschreitet seine Grenzen. Eine Kirche ohne die Last des Gegenübers der Welt verfällt der gleichen Verirrung. Hat sie von vornherein alle Chancen, durchzusetzen was sie meint fordern zu müssen, so werden aus dem von ihr zu vertretenden Anspruch des Evangeliums unmerklich Ansprüche. Das Recht der Kirche und das Recht des Staates sind zusammengenommen keine festen Größen, die sich wie Summanden oder Subtrahenden zueinander verhalten; sie bezeichnen eine unauflösliche Beziehung. Kirche ist ein notwendiges unablösbares „Gegenüber” des Staates; er lebt nicht nach ihren Weisungen, sondern von den Früchten ihrer geistlichen Existenz.
Was heißt das:
1. Post Christum gibt es in Ländern, die mit dem christlichen
Glauben in Verbindung gekommen sind, keine völlige Trennung von
Kirche und Staat. Dieser Versuch ist ebenso irreal wie
tödlich.
2. Die Kirche kann nur Kirche sein und bleiben, wenn sie von
Theokratie jeder Art wie von Staatshörigkeit gleich weit entfernt
ist. Dies ist der ihr gewiesene schale Weg, von dem sie immer
nach der einen oder anderen Seite herunterzukommen droht, durch
Eifer wie durch Anpassung. Das Verdikt gilt nicht allein der
hierarchischen Theokratie, sondern jeder wie immer gearteten
Theokratie oder Christokratie. Diese ist genau so eine
Vereinseitigung wie jene.
3. Wenn die Kirche Kirche, der Christ Christ ist, dann ist ihr
gemeinsames
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Sein im Herrn so bestimmend für sie, daß innerweltliche
Gegensätze dadurch zwar nicht aufgehoben, aber zu vorläufigen,
begrenzten, bedingten werden.
4. Umgekehrt ist durch die konkrete Gemeinschaft der Kirche durch
ihre geistliche Existenz auch jeder Souveränitätsanspruch des
Staates begrenzt und gebrochen, der Versuch unmöglich, über eine
Ideologie oder Weltanschauung zur Verwirklichung letzter
Sinnbestimmung zu kommen.
Am allerwenigsten brauchen wir bei der beschämenden Feststellung einer so vielfachen und verhängnisvollen Verfehlung der Aufgabe stehen zu bleiben. Es bieten sich heute die Begriffsmittel dar, mit denen wir jene beiden Grundtendenzen in ihrem Zusammenhang und ihrer Bezüglichkeit zu begreifen vermögen. Es sind komplementäre Gegensätze, die sich gegenseitig aus dem Blick bringen, aber sich gleichzeitig auch bedingen und ergänzen. Die Eigenständigkeit der Kirche ist die Bedingung der Möglichkeit ihrer Dienlichkeit, und ihre Dienlichkeit die Rechtfertigung ihrer Eigenständigkeit. Durch die Preisgabe der Eigenständigkeit verliert die Kirche ihre Unterschiedenheit von der Welt und verliert die Fähigkeit, dieser Welt recht zu dienen, und durch die bedingungslose Vorwegsicherung der Eigenständigkeit verliert die Kirche den Charakter der Dienstgemeinschaft. In dieser zirkulären Zuordnung liegt das Problem des Kirchenrechts beschlossen. Wer dienen soll, muß frei sein, und wer nicht dient, ist in Wahrheit nicht frei, sondern sich selbst verfallen.