1. Die soziologische Struktur der ekklesia

Die Soziologie ist eine beschreibende Wissenschaft. Sie kann ihren Gegenstand immer nur unter bestimmten Perspektiven und Aspekten darstellen, Zusammenhänge und Schwerpunkte aufzeigen. Sie kann nur selten ausschließende, niemals vollständige Begriffsbestimmungen unternehmen. Deswegen kann auch eine Soziologie der Kirche niemals den systematischen Charakter der Vollständigkeit erstreben und beanspruchen. Dieser Teilcharakter nimmt ihren Erkenntnissen freilich nichts von ihrem Erkenntniswert. Sie setzt voraus und benutzt ein Verständnis für Typen, Strukturen, Formen. So wie es unmusikalische Menschen gibt, so ist auch das soziologische Formverständnis manchen Menschen verschlossen oder schwer zugänglich.

Eine ernsthaft betriebene Kirchensoziologie erfordert die Bereitschaft, auch ins eigene Fleisch zu schneiden. Man wird erkennen müssen, daß Dinge höchst zeitbedingt sind, die wir für unbedingt halten, und daß an anstößigen, ungewohnten Stellen sich unabdingbare Gegebenheiten zeigen. In den oekumenischen Bemühungen um diese Fragen hat man mit Recht die sog. innertheologischen von den außertheologischen Faktoren unterschieden. Daß eine völlige Trennung nicht möglich ist, ist selbstverständlich. Die außertheologischen Faktoren umfassen die vielfältigen Umwelteinflüsse, denen die Kirche immer ausgesetzt gewesen ist und sein wird. Die innertheologischen Faktoren bezeichnen das eigene Wachstums- und Lebensgesetz der Kirche selbst. Die Kirche hat mehr als irgendeine geschichtliche Erscheinung die Fähigkeit, Umwelteinflüsse in sich aufzunehmen, ohne in ihnen aufzugehen. Gerade die Unterscheidung jener beiden Faktorengruppen macht die Standortbedingtheit unseres Urteilens sehr deutlich. Da für die liberale Theologie die Kirchen tendenzmäßig zurücktritt, treten in ihren Darstellungen die außertheologischen Faktoren bestimmend in den Vordergrund. Man fragt sich schließlich verwundert, was denn alle diese Einflüsse als Kraft und Kern durchgetragen hat.

Konservative Darstellungen dagegen, welche das Kontinuum der Kirche voranstellen, bagatellisieren tendenzmäßig die Umwelteinflüsse. Sie verlieren damit den Blick auch für die Eigenentwicklung der Kirche selbst. Deren wesentliche Wandlungen treten zurück gegenüber der zeitlosen Gültigkeit eines Grundansatzes oder werden als bloße Entfaltung dieses einen eindeutigen Wachstumsgesetzes verharmlost. So schwankt die Betrachtung zwischen idealistisch-metaphysischer Zeitlosigkeit und profaner Entleerung und Schwund des Gegenstandes.

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Der Beitrag des Juristen kann nicht der der allgemeinen Soziologie sein. Er gehört der Soziologie und Morphologie des Rechtes an — aber freilich der des Kirchenrechts. Auch die durchaus eigenständigen Formen des pneumatischen Kirchenrechts bieten Vergleichspunkte mit der allgemeinen Morphologie des Rechts.

In den rechtssoziologischen Strukturen der Kirche im engeren Sinne tritt das Entwicklungsproblem mit der gleichen morphologischen Präzision auf1.

In der Erforschung der Urkirche nimmt die schon wiederholt zitierte Dissertation von Olof Linton über den Stand dieses Arbeitsgebiets (Uppsala 1932) eine besondere Stellung ein. Sie stellt nicht allein die Gesamtentwicklung für fast ein Jahrhundert abschließend zusammen, sondern sie widerlegt zugleich fast mühelos die vorangehenden Auffassungen. Ja, diese widerlegen sich durch die bloße Darstellung gegenseitig von selbst. Der Konsensus dieser Zeit, den Linton erhebt, geht gemeinschaftlich von der idealistischen Konzeption der Kirche als Religionsgesellschaft aus. Sohm als Denker von leidenschaftlicher Radikalität hat daraus die Unvereinbarkeit von Kirche und Recht gefolgert. Holstein als Rechtslehrer, der den praktischen Bedürfnissen Rechnung trug, hat dies umgekehrt und im Gegensatz in der Doppelheit von autoritativ geordneter Geistkirche und genossenschaftlicher Rechtskirche harmonisiert. Es ist hier nicht nötig, diese Entwicklung der Anschauungen im einzelnen zu verfolgen. Linton stellt am Ende mit Recht fest, daß keine dieser Auffassungen dem biblischen Tatbestand gerecht wird, und schließt seine Untersuchungen damit, daß die Urkirche eine völlig andere Sozialform dargestellt habe, die der „ungleichmäßigen beschließenden Versammlung”. Dies sei eine im umgebenden Orient durchaus bodenständige und typische Form. Sein Thema beschränkte sich auf das Ergebnis der bisherigen Forschung. Er hat sich nicht die Aufgabe gestellt, eigene Lösungen zu entwickeln. Aber selbst seine knappen Schlußfolgerungen, in denen er das Vergangene richtigstellt und der Forschung der Zukunft die Richtung weist, zeigen die Absperrung des Theologen von sozialgeschichtlichen Einsichten, mögen sie auch noch so nahe liegen. Was er sagt, ist nicht falsch und doch nur halb richtig. Seine Kennzeichnung der Urkirche ist durchaus zutreffend. Aber das mit diesem Begriff Gemeinte ist und war schon damals der Soziologie wohlbekannt. Es ist nichts Neues und Einzigartiges, welches der Theologie am Ende einer langen Arbeit endlich aus Mißverständnissen hervorzuheben hätte — es ist ein bekannter Typus, auf den man nur zurückzugreifen brauchte und über den auch in einem Schlußkapitel sofort sehr viel mehr hätte gesagt werden können. Es mag auch durchaus zutreffen, daß dieser Typus im vorderen Orient im ersten Jahrhundert im Gegensatz zum westlichen Altertum weit verbreitet lebte. Aber ein wesentlich lokaler oder nationaler Typus ist es keinesfalls. Es ist vielmehr eine Sozialform, die in

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allen frühen Kulturen mit großer Übereinstimmung anzutreffen ist. Diese Form mag sich im vorderen Orient zum Teil bis in die Moderne erhalten haben — sie gehört jedenfalls einer frühen Stufe an. Die in der gesamten Kulturmorphologie anerkannte Tatsache, daß gleichzeitige Erscheinungen noch längst nicht im Sinne der Entwicklungsgeschichte gleichzeitig sind, wird hier wie in ähnlichen Untersuchungen (insbesondere auch zum AT) nicht in Betracht gezogen. Dadurch wird auch Lintons richtige Erkenntnis durch Unvollständigkeit falsch.

Die Urkirche entsteht also innerhalb eines Gebiets relativ früher Sozialformen. Aber weit entscheidender ist die Tatsache, daß sie selbst einen neuen Einsatz von großer elementarer Triebkraft darstellt. Man hat mit Recht untersucht, welchen Einfluß jüdische und griechische Rechtsformen und Begriffe wie Schaliach, Ekklesia, Episkopos usw. auf die frühe Kirche ausgeübt haben. Im ganzen ist der Ertrag aber bemerkenswert gering. Die Kirche hat auch dem Übernommenen einen durchaus eigenen Sinn und Inhalt verliehen. Sie gleicht einer starken Quelle, welche Wurzeln, Erde, Geröll von ihrem Ausbruchsort mitreißt, von alledem eine gewisse Färbung mitbekommt, aber nicht bestimmt wird. Die ungleichmäßige beschließende Versammlung im Sinne Lintons, mit der er treffend die Struktur der Urkirche bezeichnet, ist soziologisch das sog. Collegium inaequale. Man kann drei rechtlich-soziologische Lebensformen unterscheiden:
a) das collegium inaequale (c.i.)
b) das collegium aequale exclusivum (c.a.e.)
c) das collegium aequale inclusivum (c.a.i.).

zu a): das c.i. trifft man in allen frühen und ursprünglichen Gruppen an (bekanntlich sind frühe Gruppen nicht „primitiv”, sondern eher komplizierter aufgebaut als späte). Es wird durch eine Reihe präziser rechtlicher und soziologischer Merkmale ausgewiesen:
1. Hochgradiges Identitätsbewußtsein der Glieder, konkrete, weitreichende Vergemeinschaftung. Das Identitätsproblem und -phänomen reicht weiter als die Einzellösungen, insbesondere der Bereich des magischen Denkens allein.
2. Außerordentlich hohe Differenzierung der Gaben und Aufgaben, der Rechte und Positionen innerhalb der Gruppe, die weder rational voneinander scharf abgegrenzt, noch nach einem rationalen Maßstab einander zugeordnet oder untereinander bewertet werden.
3. Einheit und Differenzierung werden unter keinen Umständen im Gegensatz zueinander gesehen: die Einheit allein ermöglicht die Differenzierung (ein Geist, viele Gaben, aber Gaben des einen Geistes). Die Differenzierung aber bringt die Macht und Fülle des Geistes, ihn gleichsam potenzierend, zum Ausdruck, wird vom einzelnen nicht als Beschränkung, sondern als Erhöhung auch des Eigenen aufgefaßt.
4. Verfassungsrechtlich-funktional drückt sich dies darin aus, daß in

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consensu zur gesamten Hand gehandelt wird,aber erst nachdem in der Beschlußfassung der Unterschied der Gaben und des Gewichts der verschiedenen Positionen zur unverkürzten Auswirkung gekommen ist. Es gibt weder eine Abstimmung nach Köpfen, noch nach Mehrheiten im allgemeinen Sinne, sondern wo sich das Schwergewicht der Entscheidung hinneigt, treten die Dissentierenden entweder hinzu oder aber es tritt ein Schisma auf. Niemals bleibt der offene Dissensus der Mehrheit und Minderheit in der Einheit, wie es uns heute als selbstverständlich erscheint.
5. Es gibt keinen Subjektbegriff im Sinne einer irreduziblen Grundgröße des Individuums, hinter das nicht zurückgegangen werden darf. Vielmehr wird der einzelne in höchster Individualisierung der verliehenen Gaben durch die Teilhabe am gemeinsamen Geist konstituiert. Das Pneuma ist nicht Inspiration eines an und für sich vorhandenen Subjekts, sondern konstituiert alles, was an seinem Träger von Interesse und Bedeutung ist.

zu b): Im c.a.e. wird aus der immer noch keineswegs einfach undifferenziert-homogenen Gruppe eine bestimmt qualifizierte Gruppe ausgesondert, die untereinander gleich, an bestimmten Merkmalen der Berufung und sonstiger Qualifikation des Amtes erkennbar ist. Diese Gruppe repräsentiert mit zunächst relativer, aber steigender und endlich unbedingter Ausschließlichkeit das Ganze. Erst von hier ab und von hier aus ist der Begriff der Repräsentation sinnvoll (von der liturgischen repräsentatio ist hier nicht zu reden). Die Ausbildung solcher exklusiv-repräsentativer Gruppen setzt normative Maßstäbe für die Zugehörigkeit voraus, deren Erfüllung die Bedingung für eine durchgängige Gleichberechtigung der Zugehörigen ist. Die Differenzierung der Nichtprivilegierten nicht Ausgesonderten, sowie ihr Mitwirkungsrecht wird nicht von vornherein und grundsätzlich verneint, aber verliert schrittweise an Bedeutung und Kraft. Andererseits gewinnt das Collegium durch Rationalisierung seiner konstituierenden Maßstäbe die Möglichkeit von Mehrheitsentscheidungen, welche die Einheit nicht mehr sprenge. Wo andererseits trotzdem schismatische Entscheidungen auftreten, ist es ein Zeichen, daß der Charakter des c.i. noch nicht völlig verlorengegangen ist. Die Entwicklung geht in der Entscheidung von der pars sanior über eine pars sanior et maior zur pars maior.
Die Entwicklung des c.a.e. und innerhalb desselben hat zwei hauptsächliche geschichtliche Stufen: die erste, noch sehr sich in der Relation zur Gesamtheit verhaltende, ist das altkirchliche Bischofsamt, das oekumenische Collegium der Bischofsgemeinschaft, die zweite, qualitativ wesentlich mehr rationalisierte, wird durch die Ausbildung des Cardinalkollegiums, der Domkapitel und weltlich des Kurfürstenkollegiums gekennzeichnet.

zu c): Das c.a.e. unterliegt auf dem Wege der Verallgemeinerung

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der Aufhebung durch das c.a.i. Die Berechtigung der immer exklusiv verstandenen Repräsentation durch die privilegierte Gruppe wird von Grund auf bestritten und jedem Glied dieselbe Befähigung potentiell zugesprochen, die jene für sich exklusiv in Anspruch genommen hätten. Über die Betonung der potentiellen Fähigkeit wird die Erwägung der konkret gegebenen Berufung und Befähigung zurückgestellt und diese nur als konsekutiv-kausale Funktion verstanden. Die Einheit wird durch die Verallgemeinerung, das Charisma durch die kausale Funktion, die Konstituierung des Menschen durch die Geistteilhabe durch die Bewußtseinsinnerlichkeit des an und für sich bestehenden Subjekts ersetzt.

Es ist eine Illusion, den Gedanken des Priestertums aller Gläubigen unabhängig von dieser historisch-soziologischen Bedingtheit zu betrachten. Die Umsetzung des konkreten besonderen Charismas in die aus der primären Allgemeinheit des Geistes fließenden, an sich bedeutungslosen, von der Person abgelösten Funktionen, zeigt Denkstrukturen an welche den Kausalstrukturen der scholastischen Sakramentslehre völlig gleichen und sich nur durch die Spiritualität des Gegenstandes unterscheiden. Solange das bei den Collegiatformen des c.a.i. zugrundeliegende Subjektverständnis nicht preisgegeben wird, solange bewegen sich hier römische und protestantische Theologie in Position und Kontraposition auf genau der gleichen Ebene, ist eine Erreichung des biblischen Tatbestandes in Aussage und Gestaltung nicht möglich. Der Frage, warum von dem paulinischen Tatbestand nicht nur nichts wieder hervorgetreten, sondern eher noch mehr zugunsten der Unifizierung der Kirche verlorengegangen ist, kann nicht mit dem Abfall vom wahren Luther oder sonst mit einem argumentum ex abusu ausgewichen werden. Es ist vielmehr schon aus dem Gesagten ersichtlich geworden, daß diese drei soziologischen Formen nicht abstrakt nebeneinander, sondern in einem geschichtlichen Entwicklungszusammenhang stehen. Es zeigt sich hier erneut die Verwandtschaft der biblischen-pneumatischen Aussagen zu bestimmten historisch-kontingenten Lebens-, Denk- und Rechtsformen: und umgekehrt die Tatsache, daß mit der Erkenntnis dieses Sachverhalts nicht einfach die Möglichkeit des Rückgriffs auf frühere Formen gegeben ist. So ist die Reformation, objektiv-historisch und a posteriori gesehen, etwas ganz anderes gewesen und geworden, als sie subjektiv und a priori gemeint hat zu sein — nicht der Rückgang auf das biblische Urbild, sondern die Fortentwicklung aus dem c.a.e. in das c.a.i.

Haben wir uns also in diesem Fortgang dem biblischen Vorbild genähert oder von ihm entfernt? Das ist nicht eindeutig zu beantworten. Der Zug der Exklusivität in dem c.a.e. ist beseitigt, der zweifellos nicht der Schrift entspricht, aber doch nur um den Preis eines weiteren starken Verlustes an realer pneumatischer Identität des ganzen Leibes Christi und des ihn einigenden Geistes mit einer folgenschweren Bedeutungsverschiebung von der Teilhabe, der koinonia, in das Subjekt, ebenso

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von der pneumatischen Vielgestaltigkeit in die Differenzierung des Individuellen und des Funktionalen. Anders gesprochen: von dem biblischen Tatbestand hat das c.a.e. das Moment der Besonderung bewahrt, das der Allgemeinheit verloren, umgekehrt: hat das c.a.i. die Besonderung aufgehoben und die Allgemeinheit wieder hergestellt. Keine von beiden Lösungen hat die strenge Paradoxie der konkreten Besonderung in einer ebenso konkreten Vergemeinschaftung zusammengehalten oder wiederherzustellen vermocht, ja, sie unter ihren Formen mißverstanden. Es ist das hier Gemeinte auch mehr als die relativ unverbindliche und idealistisch harmlose „Einsicht in der Mannigfaltigkeit”, weil hier wirklich die unverfügbare Identität des Geistes in beiden eine echte Spannung trägt. Die Entwicklung umkreist gewissermaßen den biblischen Tatbestand, ohne ihn erreichen zu können.

„Indem Calvin den Universalepiskopat des Papstes bestreitet, fordert er die Wiederherstellung des alttestamentlichen Ältestenkollegiums, das er seiner rechtlichen Struktur und Funktion nach mit dem römischen Senat und mit dem Synhedrion in Parallele stellt und in dem er die lehrhaften und jurisdiktionellen Befugnisse je auf einen anderen Personenkreis verteilt sieht. (V 201) ... Das Wesen eines Kollegiums besteht für Calvin in einer völligen rechtlichen Gleichheit seiner Mitglieder ... Solche Gleichheit ist der Kirche ,contra fas et ius’ (V 202) infolge des monarchischen Episkopats verlorengegangen, ebenso wie sie im alten Rom durch das Aufkommen der Tyrannis zugrunde gerichtet wurde. Die Wiederherstellung des Kollegialismus erscheint daher Calvin als das Gebot der Stunde.”2

Mit Recht weist Maurer auf den hier hervortretenden Einfluß rein säkular geschichtlicher und rechtsphilosophischer Traditionen hin, die dann im Rechtsdenken der Aufklärung münden.

Inzwischen hat die Exegese und die Erforschung der Urkirche diese Ausschließlichkeit des Gleichheitsgrundsatzes als unbiblisch erwiesen (Linton, Wendland). Vom Standpunkt der Rechtssoziologie ist die Gleichung, Kollegium = Gleichheit der Glieder, indiskutabel. Selbst der römische Senat war nicht so gleichheitlich, wie der Humanismus des 16. Jahrhunderts mit seiner republikanischen Romantik annahm: in ihm gab es sehr entschiedene Ränge (Consulare usw.) und wirksame Vorstimmrechte3.

In der humanistischen Tradition lebt die Idealstaatslehre Platons und Aristoteles’ fort, — wie Plato meint Calvin, die wahre Staatsform sei die Aristokratie4, und dementsprechend hat er seine Kirche als presbyterale Aristokratie geordnet. Dieses Verfassungsideal der rechten Mitte wirkt sich auch in Calvins Exegese von Acta 6, 6 aus, wo er das Zusammenwirken von Gemeinde und Aposteln als „gleichweit von Tyrannei und unordentlicher Freiheit” interpretiert. Wo solche metaphysischen Staatslehren aber in der Kirche formbildend, vorbildlich wirksam werden,

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da zeigt eben dies an, daß die Geheimnisse des christlichen Glaubens ihre gemeinschaftsbildende und -formende Kraft verloren haben.

Aber eben diese irrige Interpretation von Schrift, Soziologie und Geschichte hat als ein neuer Einsatz selbst Geschichte gemacht, Vorstellungen und Menschen geformt. Als virulente Kräfte haben sich eine einseitig alttestamentarische orientierte Tradition mit humanistisch-modernen Gleichheitsgedanken zu einer festen Legierung verbunden. Eine noch so drastische Widerlegung dieser Vorstellungen ändert naturgemäß an dieser Prägung noch nichts.

Wenn wir den Romanismus bekämpfen, in dem so deutlich Traditionen des königlichen Rom fortleben5, welche Verpflichtungskraft sollen diese ungeschichtlichen, aber ideologisch wirksamen Vorstellungen für unser Kirchenrecht haben? Wenn man sich auf diese, dem biblischen Vorbild unbedenklich gleichgestellten Traditionen auch heute nicht mehr beruft, so ist doch das Pathos dieses Republikanismus deswegen nicht verschwunden.

Die Prinzipien der Ungleichheit und der Gleichheit sind die undiskutierten tabus der getrennten Kirchen. Praktisch und formal wäre diese Prinzipienförmigkeit nicht ganz so gefährlich wie sie Ernst Käsemann mit Recht grundsätzlich ansieht: — wenn nicht material die Prinzipienförmigkeit die Entscheidung für die Ableitung der Gestalt der Kirche aus einem Grundsatz, und damit für die Einlinigkeit des Denkens bedeutete. Ein gewisses Maß an Rationalisierung ist als Mittel weder vermeidbar noch verwerflich. Aber eine Kirche, die die Dreifaltigkeit Gottes noch ernst nimmt, die sich durch das Parado von Prädestination und Inkarnation nicht auseinandersprengen läßt, muß alle Mittel festhalten, suchen und erschöpfen, um sich nicht in jene Eingleisigkeit abdrängen zu lassen. Die Zurückdrängung der immanenten Trinität zugunsten der oekonomischen, weit verbreiteten Formen christologischer Engführung sind Zeichen dafür, daß diese Notwendigkeit nicht gesehen wird — und immer hat dies kirchenrechtliche Relevanz. an den Mißbildungen des Kirchenrechts werden die Folgen sichtbar.