Diese Theorie gipfelt in dem heute weithin anerkannten Satz, daß das Kirchenrecht eine Funktion des Kirchenbegriffs sei. Diese Anschauung hat unter Einschluss des katholischen Kirchenrechts15 fast allgemeine Gültigkeit errungen. Sie kann zweierlei miteinander verbinden und festhalten:
Der Dienstcharakter des Kirchenrechts, welches keine Eigengesetzlichkeit beanspruchen kann, die auch hier festgehaltene relative Ungleichwertigkeit seiner Begriffselemente „Kirche” und „Recht”, welche nun in einer hinkenden Dialektik gefaßt wird. Sodann wird hier die geschichtliche Erfahrung verständlich, daß tatsächlich jede Kirche das Recht hat, das sie haben will, welches sie als geistlich notwendig und ihr selbst wesengemäß fordert und in Anspruch nimmt. Diese Anschauung hat sich vielleicht auch deswegen durchgesetzt, weil sie bei formaler Deutung alle übrigen Konzeptionen in sich aufnehmen kann, auch die dialektische. Wird nämlich an Stelle der Dialektik von Kirche und Recht ein dialektischer Kirchenbegriff gesetzt (und so ist recht eigentlich auch die erwähnte Unternehmung von Wehrhahn zu verstehen), so vermag man die Grundfrage des Kirchenrechts von Grund auf zu theologisieren und jede Verhältnisbestimmung unter diesen Obersatz zu bringen.
Mit jenen beiden positiven Seiten der genannten kirchenrechtlichen Generalklausel sind jedoch auch entsprechende Nachteile verbunden. Daß man jede Konzeption in sie einordnen kann, zeigt, daß die Formel als solche das Problem nicht löst, sondern nur auf ein innertheologisches Feld verschiebt. Ausgeschlossen wird eigentlich nur die etatistische Form der additiven Zuordnung, das Rechtsmonopol des Staates, also
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diejenige Lösung, die in der gesamten Theorie mit Ausnahme der liberalen „revenants” schon fallengelassen worden ist. Damit wird jene Formel zu einer Art Blankett, welches jede Kirchengemeinschaft in ihrem Stile ausfüllt. Kirchenrecht kann demnach alles werden, was die Kirche dafür erklärt. Soll man sagen: Kirchenrecht ist, was der Kirche nützt? — oder anders: was sie als zweckdienlich in Anspruch nimmt? Steht hinter der dialektischen Konzeption die Tatsache, daß die Eigenstruktur des Rechtes auch in ihrer Bezüglichkeit und Dienlichkeit für die Kirche unbewältigt ist, so verliert umgekehrt das Kirchenrecht als Funktion des Kirchenbegriffs alle Kriterien, die es selbst als geistliches Recht ausweisen. Diese Theologisierung bejaht das Kirchenrecht im Ansatz (mit unterschiedlichen Inhalt und Umfang), aber nimmt im gleichen Augenblick dem Kirchenrecht als Recht im gleichen Maße seinen verbindlichen Gehalt, in welchem es theologisch korrekt abgeleitet wird. Dieser für die geschichtliche Erklärung höchst fruchtbare und durchaus unentbehrliche Satz, a posteriori evident richtig, ist als apriorisches Axiom höchst bedenklich. Das Kirchenrecht wird beliebig deutbar, unbegrenzt verfügbar — vom radikalsten Spiritualismus bis zum extremen Juridismus kann alles und jedes mit einem entsprechenden Kirchenbegriff gedeckt werden.
In der additiven und der konsekutiven Konzeption kehren im großen und ganzen die rechtsphilosophischen Grundlinien des abendländischen Denkens wieder, die als Rechtspositivismus und Naturrechtsdenken einander gegenüberstehen. Auch hier zeigt der Rechtspositivismus seine typischen Folgen: Verlust der Substanz und des tieferen Verständnisses für Grundsatzfragen — das Naturrecht jedoch eine Neigung zur unbegrenzten, unkritischen Ausdehnung seiner Postulate, und das Eindringen des Zweckdenkens.
Die additive Konzeption spaltet unbeschadet aller Verknüpfungen das positive Recht als verfügbares ius humanum und die spirituale Kirche als zwei positiva diversi generis. In der konsekutiven Lösung erscheint das Kirchenrecht als das Naturrecht der Kirche.
Das Kirchenrecht erstreckt sich nach Georg Ludwig Boehmer d.J. „ad ea tantum, quae ecclesiae per naturam societatis ecclesiasticae subsunt”16. Hier ist mit „tantum” der Bereich einschränkend ausgelegt. Aber es bedarf nur einer anderen Naturdefinition, um diesen Bereich zu erweitern. So bedarf es nur des Kirchenbegriffs als der Naturbeschreibung der Kirche, um das ihr zukommende Recht zu finden. Man stoße sich nicht an der Terminologie, auch nicht am Begriff der Natur. Es kommt in der Konsequenz auf dasselbe hinaus wie die konsekutive Kirchenrechtstheorie.
Es ist in der gegenwärtigen Situation nicht verwunderlich, wenn die Entwürfe auf ein mehr oder minder folgerichtig durchgebildetes Naturrecht der Kirche zulaufen. Dieses um so weniger, als der formale
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Charakter der These nicht zur Übernahme eines bestimmten Naturbegriffs oder Wesenbegriffs nötigt, sondern es gerade freiläßt, mit dem Kirchenbegriff so viel und so wenig zu fordern, wie man will. Die ganze Problemlast immanent-phänomenaler Strukturen, die den Naturbegriff belasten, ist durch die Theologisierung behoben. D.h. also im Ergebnis: schließt der additive wie der dialektische Ansatz ein eigentliches Kirchenrecht im Ergebnis aus, aller skeptischen Kirchenrechtsbetrachtung sehr genehm, so subjektiviert die konsekutive Methode das Kirchenrecht in unabsehbarer Weise unter der Maske der Theologisierung. Was dahintersteht und worüber sich unter dieser Formel die so hart streitenden Kirchengemeinschaften so völlig einig sind, ist ein idealistischer Ansatz. Aus dem definitorisch erfaßten Wesen der Kirche entspringt auch das Kirchenrecht. So haben schon die zitierten Positivisten sehr schnell nach dem spezifischen Lehrbegriff der Konfessionen gefragt. Das führt dann zu dem Schlusse, daß die römische Kirche Rechtskirche sei, weil sie nach ihrem Selbstverständnis Rechtsstruktur besitze. Die protestantischen Kirchen dagegen gehen, so sagt Kahl, eine nur empiristische Verbindung mit dem Rechte ein. Der evangelische Lehrbegriff versage der Kirche den Dienst einer zwingenden Verbindung mit dem Recht und verweise, um die Verbindung herzustellen, die Untersuchung auf den Boden der Empirie17. Den Ausgangspunkt bildet die für Kahl feststehende Annahme, daß die Kirche stiftungsgemäß keine rechtliche Ausstattung miterhalten habe. Mit ihrer Freiheit, sie sich nachträglich zuzulegen, bestreitet Kahl die Kirchenrechtsverneinung Sohns. Nun ist diese bis in unsere Zeit weitverbreitete Meinung der liberalen Theologie seither exegetisch widerlegt worden. Ernst Käsemann, Rudolf Bultmann, Hans v. Campenhausen18, also gerade radikale und kritische Exegeten stimmen darin überein19.
Das erneute Hervortreten einer theologischen Kirchenrechtsbestreitung in den letzten Jahren läßt den Ertrag einer generationenlangen Bemühung außer acht. Mit sehr viel schlechteren Begründungen wird erneut vertreten, was sich mit besseren schon als unhaltbar erwiesen hatte.
Nicht über die juristische Erstausstattung der Kirche, sondern über ihren Gehalt, ihre Art und Tragweite geht heute der Streit der Theologie20.
Schon der liberale Ernst Troeltsch hatte klar gesehen, daß Kirche und Recht untrennbar miteinander verbunden sind. Er war — wenn man so sagen darf — auf Sohm gar nicht erst hereingefallen. Dazu half ihm nicht so sehr die Theologie als sein scharfer soziologischer Blick. In einer längeren Anmerkung in den „Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen21” setzt er sich mit Sohm eingehend auseinander. Solange die Extremität des Wortes in beiderlei Gestalt nicht aufgehoben wird, muß es, so sagt er, immer Kirchenrecht geben. Er lehnt auch das Ausspielen des jungen gegen den alten Luther ab. Der entscheidende
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Satz aber lautet:
„immer werden Konsequenzen aus einem zur Rechtsbildung auffordernden Stamm supranaturaler Gemeinschaftsfundamente gezogen22”.
Er spricht klar aus, daß mit dem Recht auch die Kirche, der Kirchenbegriff in jedem Verstande, nicht nur im lutherischen, aber auch im lutherischen Sinn dahinfällt. Er sieht den Gegensatz nicht zwischen Kirche und Recht, sondern zwischen Religion und Recht, und insofern auch zwischen Religion und Kirche. Aber auf den Gedanken, den Pelz der Kirche waschen zu wollen, ohne ihn rechtlich naß zu machen, ist er doch nicht verfallen. Viele Ergebnisse Troeltschs sind überholt und seine Terminologie für uns nicht mehr annehmbar. Aber in der Verlagerung der Frage auf das Verhältnis von Religion und Recht sieht er richtig. Sein idealistischer Religionsbegriff ist durch die Phänomenologie der Religion überholt und deswegen seine negative Verhältnisbestimmung von Religion und Recht nicht haltbar. Sein oben zitierter Satz gibt selbst die Antwort: jene „Gemeinschaftsfundament” sind eben Fakten, mit denen die Rechtsbildung sich unausweislich verknüpft, in denen sie schon gegeben ist, und es ist dann nur noch eine wenig austragende terminologische Frage, ob man sie als „metajuristisch” oder als „juristisch” versteht. Was schließlich von der Frage übrigbleibt, ist im besten Fall eine Antinomie zwischen rechtsbildenden und rechtsfremden Tendenzen im Bereich von Religion wie Offenbarung23.
Die ganze Frage hätte innerhalb der protestantischen Theologie nicht dieses Gewicht erlangt, wenn sich diese nicht — zu Zeiten verschieden — im Wege des Vorverständnisses in einem antijuristischen Sinne festgelegt und andererseits darauf verzichtet und sich der Mühe entschlagen hätte, der neukatholischen Kirchenrechtstheorien mit juristisch gleichwertigen Mitteln zu begegnen. Wo sich die — auch theologisch relevanten — Fakten zeigen, ist es mit bloßen Ideen, Postulaten und manchem Tabu alsbald zuende. Der Blick auf diese Fakten und die geschichtliche Verantwortlichkeit der Kirche hat jedenfalls auch Troeltsch über die Kirchenrechtsbestreitung hinausgeführt.
So wenig nun das Kirchenrecht lediglich soziologisch begründet werden kann, so verwunderlich ist doch, daß in einem so stark von soziologischen Erkenntnissen bewegten Zeitalter die sich hier meldende geschichtliche Wirklichkeit nicht im mindesten dem Wiederentstehen des blutlosen Schemens einer genuin rechtsfremden Kirche entgegensteht.
Der Bejahung eigenständigen Kirchenrechts wird von Bultmann die Formel entgegengestellt, daß das Recht nicht konstitutive, sondern nur regulative Bedeutung habe und haben dürfte24. Während aber Hans Barion in seiner schon erwähnten Antrittsvorlesung über Rudolf Sohm gezeigt hat, daß Sohm in sich auch in seiner Kirchenrechtsbestreitung folgerichtig vorgeht und innerhalb dieser Konzeption nicht zu
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widerlegen ist, bedeutet die Unterscheidung von konstitutivem und regulativem Recht einen echten Selbstwiderspruch. Denn die regulative Funktion ist eine kritische, jurisdiktionelle, die, wenn sie überhaupt einen Sinn haben soll, Recht und Unrecht kirchlicher Gestaltung sondern, das Falsche vom Rechten trennen muß. Räumt man ihr aber diese weittragende Befugnis ein, so ist man gezwungen, die Rechtsdimension auch als konstitutiv gegeben anzusehen. Wie könnte etwas im Grenz- und Konfliktfall rechtlich beurteilt werden, wenn es dieses Merkmal der Rechtsfähigkeit, der rechtlichen Beurteilbarkeit nicht in sich trägt? Dem nicht näher definierten und in seinem Inhalt anscheinend als selbstverständlich vorausgesetzten „regulativen” Recht liegt, soweit erkennbar und mit einigem Grund vermutbar ist, die Vorstellung vom Recht als der technischen Ordnungsnorm, dem äußeren Verhaltensgefüge im Gegensatz zu der freien, außerrechtlichen Innerlichkeit zugrunde. Diese Struktur des Rechts wird zugleich mit dem vorfindlichen Recht und dieses wieder mit dem gleichgesetzt, was die säkulare Rechtswissenschaft darbietet und worüber der Theologe sich jedes Urteils, insbesondere jeder geistesgeschichtlichen Kritik und Analyse begibt. Joseph Klein25 hat den systematischen Fehler mit Bultmann gemeinsam, wenn er schon frühzeitig26 die konstitutive und die regulative Funktion des Kirchenrechts einander gegenüberstellt. Daher stammt auch die systematische Überbewertung des Zwangsmoments im Recht, welche solange die Debatte über Sohm beherrscht und irregeführt hat, besonders bei den Theologen. Die Bultmann-Schule selbst ist in ihren Fortgang über diese Position hinausgewachsen, wie die später zu erörternden Arbeiten von Käsemann zeigen. Denn dieser war von der Exegese her, wie Johannes Heckel von der Lutherforschung her, genötigt, die liberale Antithese von Evangelium und Recht, Kirche und Recht ausdrücklich preiszugeben, wenn auch beide nur das aufnehmen, was ihrem existenzphilosophischen bzw. systematisch-theologischen Vorverständnis entspricht. Aber immerhin: die systematische Verkennung wandelt sich allmählich in eine praktische Verengung.
Für die Methodenfrage ist dies zunächst belanglos. Auf alle Fälle gründet dann die Rechtsqualität der die Kirchenglieder verbindenden Gemeinsamkeit nicht in Merkmalen, die diese als rechtliche erkennbar ausweisen, sondern im Glauben an die rechtliche und nichtrechtliche Struktur. Also ist auch die Freiheit vom Rechtlichen im Raume der Kirche, wo sie vertreten wird, die Funktion des geglaubten Kirchenbegriffs. Das bedeutet aber, daß Begründung wie Bestreitung des Kirchenrechts sich als rechtliche Autonomie der Betreffenden darstellen. Die Kirchenrechtsbestreitung erzeugt also nicht eine rechtsfreie Kirche, sondern autonome, d.h. selbstrechtliche, selbstgesetzliche Kirchenglieder und Kirchengemeinschaften. Der Satz, daß das Kirchenrecht eine Funktion des Kirchenbegriffs sei, ist demnach nur so richtig unter der
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Voraussetzung, daß jeder Kirche das Rechtsmoment inhärent sei, nicht dagegen unter der offenen Alternative von Rechtskirche und rechtsfreier Kirche. Sonst stände die Kirche unter der Freiheit der Entscheidung zwischen Recht und Nichtrecht. Damit wäre in Wahrheit die Entscheidung gegen das Recht schon gefallen. Das Recht verliest seine Existenzialität, wird zur Ordnungstechnik. Innerhalb jener vorausgesetzten Verbindung von Kirche und Recht leistet uns jenes Axiom zur Erhellung der historischen Kirchenrechtsbildung unentbehrliche Dienste, und außerhalb ihrer erweist es sich als gegenstandslos.
Mit dem idealistischen Typus dieses Satzes kommen nun unversehens
eine Reihe fragwürdiger Momente in die Kirchenrechtslehre
hinein.
1. Der Terminus
„Kirchenbegriff” setzt voraus, daß die Kirche eine wesentlich
definierbare Größe sei, die bis zu dem Grade umschrieben werden
kann, daß man sich daran maßgebend entscheiden kann.
2. Die Kirche selbst
erscheint als präsumptives Rechtssubjekt und Träger eines
Inbegriffs von Rechten.
3. Es erscheint der Theologe
als Kirchenrechtslehrer, dessen begriffliche Erkenntnisfunktion
sowohl den objektiven Kirchenbegriff feststellt, wie die
Wahrnehmung der Rechte dieses Subjekts gedanklich
vorbereitet.
Daß alles dies an seinem Orte
seinem Dienst tun kann, mag sein. Etwas anderes ist es, ob es so
im ersten Rang und Ansatz vorkommen darf.
Und in der Tat: worum es in der Kirche und ihrem Recht geht, ist nach alledem sachlich nicht gefragt. Der Begriff, den wir a posteriori erheben mögen, ist a priori nicht konstituierend. Vollends lebt ein transpersonales Subjekt Kirche nur in unserer Vorstellung. In Wirklichkeit existiert allein ein personales Verhältnis und die ihm personal Zugehörenden. Dem Urteilenden geht voraus, daß er immer schon ein Beurteilter ist; seine Taufe, seine Belehrung über den Glauben liegt seinem Urteil grundsätzlich voraus. Das ist nicht allein eine Traditionsfrage im üblichen Sinne, sondern eine methodische Erkenntnisfrage. Es gibt kein Kirchenrecht ex nunc, über das wir durch unsere Begriffsbildung verfügen könnten: wir leben von dem Rechte, in dem wir stehen, welches uns selbst hervorgebracht hat. Jedem Kirchenbegriff und jeder hier möglicherweise an ihrem Ort auftretenden Person liegt der Vollzug voraus, der die empirische Kirche und den Christen in ihr begründet hat. Das Recht der Kirche ist identisch mit dem sie konstituierenden Vollzuge, von Anbeginn bis heute, in seiner Identität und Jeweiligkeit, ohne daß hier auf die Komplementarität von Kontinuum und Diskontinuum abgehoben zu werden brauchte. Weder die Vorstellung eines „Kirchenbegriffs” als eines definierbaren Grundansatzes noch diejenige eines Subjektes „Kirche”, welches zunächst an sich existiert und dann Rechte hat, ist hier zulänglich und zulässig.
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Daß es dazu einer Revision des Rechtsbegriffes bedarf, liegt auf der Hand. Wehrhahn bezeichnet diese Frage wie folgt27:
„Die eigentümliche Kirchenrechtsproblematik entsteht nun dadurch, daß unser Rechtsbegriff als persönlichen Geltungsbereich eine „Rechtsgemeinschaft” voraussetzt, d.h. einen soziologisch bestimmbaren, auf die Dauer angelegten Personenkreis, und innerhalb desselben einen regelhaften sich in den Grenzen des Kausalitätsdenkens (!) haltenden Ablauf der Lebensvorgänge und eine menschliche, ihr Ordnungshandeln rational bestimmende und ausweisende Autorität. Diesen Anforderungen entspricht der skizzierte christokratische, dynamisch-energetische Kirchenbegriff nicht: ,für den Juristen genügt, um von Recht sprechen zu können, ein rein transzendentales oder transzendentes Ordnungszentrum nicht’ (Beling)”.
Aber wessen Rechtsbegriff ist denn dieser „unser” Rechtsbegriff, von dem Wehrhahn spricht? Es besteht ein auffälliges Mißverhältnis zwischen den bedeutenden Anstrengungen zur theologischen Begründung des Kirchenrechts und dem nahezu völligen Mangel der Kritik am Vorfindlichen, d.h. dem von der säkularen Rechtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts dargebotenen Rechtsbegriff. Man streitet allenfalls über das Moment des Zwangs; Sohm findet den entscheidenden Grund seines Protestes, wie oft verkannt wird, nicht im Zwangscharakter, sondern im Dauercharakter des Rechtes. Ein durchgreifende Erörterung der Frage eines geistlich angemessenen Rechtsbegriff ist, soweit ich sehe, noch nicht einmal versucht worden. Die Theologie streckt vor der säkularen Rechtswissenschaft noch vor dem ersten Schuß die Waffen — ein Zeichen dafür, daß sie geistliches Recht nicht ernsthaft will. Daß die römische Kirche geistliches und weltliches Recht unter dem Zweckgesichtspunkt bedenkenlos vermengt hat, ist kein Grund dafür, die nominalistische Trennung von Theologie und Recht als Axiom festzuhalten und das Recht seiner angeblichen weltlichen Eigengesetzlichkeit mit dem Ergebnis zu überlassen, daß es zum Hindernis geistlichen Rechtes wird. Denn die Verweisung des Rechtes in seinen eigenen Bereich gibt der entsprechende Theorie einen Gültigkeitsanspruch für alles Recht und nimmt dabei der Kirche das ihr eigene Recht von der Wurzel her.
Mit derselben Selbstverständlichkeit wie Wehrhahn sagt Martin Heckel für das 16. Jahrhundert28:
„Der historisch ausgerichteten Wissenschaft fehlte die geistige Überlegenheit, sich von den überkommenen kirchlich erfüllten Begriffen zu lösen”.
Historisch ausgerichtet: das heißt vorrational, nicht aus Vernunftbegriffen deduzierend, sondern aus Offenbarung und Tradition denkend. War es die Aufgabe der Kirchenrechtswissenschaft, sich aus den „kirchlich erfüllten” Begriffen zu lösen? War das Ziel, an die Stelle eines in Wirklichkeit eben nicht geistlich-kirchlichen Rechtes ein echteres zu setzen,
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oder besaß die Verweltlichung einen Eigenwert? War das Ziel die geistliche Ordnung der Kirche oder die Weltlichkeit des Rechtes? Welches Rechtes? Des jeweiligen und vor allem des „wissenschaftlichen” Rechtes einer antitheologischen Tradition und Richtung? Hier steht der antikanonistische Affekt vor der Sacherwägung.
Die Debatte um das Kirchenrecht ist durch die Abstraktion des Begriffes Recht fast hoffnungslos belastet. Dieses Recht wird zunächst von allen in ihm verfaßten Bezügen abstrahiert und dann wieder auf sie angewendet. So entstehen in dieser Erörterung regelmäßig keine spezifischen Begriffe und Formen des Kirchenrechts. Der größte Teil der scharfsinnigen Abhandlungen über die Begründung des Kirchenrechts verbleibt in dieser Allgemeinheit und stößt niemals bis zu dem Punkte vor, wo sich spezifische Kirchenrechtsbegriffe zeigen. Das Sachenrecht hat die Auflassung, das Schuldrecht den Verzug, das Seerecht die Konnossemente. Nur das Kirchenrecht hat alles und nichts. Es kann sich, wie es scheint, alle Rechtsformen zunutzemachen und besitzt doch letztlich keine zu eigen. Allenfalls kommen solche Begriffe in dritter Linie, so daß die Erörterung ohne wesentliche Rücksicht auf sie, auch ohne substanzielle Problemkenntnis in dieser Allgemeinheit geführt werden kann.
So ist es verständlich, daß die Theologen sich scheuen, diese Büchse der Pandora zu öffnen. Wenn sie Recht in diesem allgemeinen Sinne in ihre theologischen Erwägungen hineinnehmen und nach erst nachträglich zu ermittelnden Maßstäben die Angemessenheit oder Unangemessenheit bestimmter Bildungen beurteilen müssen, so ist ihre Sorge begreiflich. Es ist ja vielleicht gut, den Löwen gegen die Räuber aus dem Käfig zu lassen; aber wie fängt man ihn wieder ein und verhindert, daß er einen selber frißt? Die ganze Verwirrung, Unkenntnis und tiefeingewurzelte Furcht der Theologen vor dem Kirchenrecht ist freilich ein selbstgeschaffenes Leiden. Wenn sie sich nicht durch die römischen Mißbräuche in die Abhängigkeit des Gegensatzes hätten treiben lassen, wenn sie nicht selber das Verständnis für Rechtsprobleme vernachlässigt hätten, so brauchten wir nicht in der heutigen ungeklärten Lage zu stehen.
Die Frage nach dem Kirchenrecht kann nicht durch die allgemeine Erörterung der Begriffe Kirche und Recht beantwortet werden, sondern nur durch eine Interpretation der hier zu verfassenden Bezüge. Es geht darum, wie hier Gott dem Menschen, der Mensch Gott begegnet, um die Relationen, die sich im gottesdienstlichen Handeln, und damit auch im Umgang der Glieder am Leibe Christi miteinander ausbilden. Es liegt der systematische Fehler darin, daß vom Rechte überhaupt als einer Wesenheit und nicht als einer Bezugsverfassung gesprochen wird.
Schon die alte Kirche ist in einer nicht ungefährlichen Weise in die Nähe eines so definierenden Kirchenbegriffes geraten. Mit weiser
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Voraussicht hat sie in den oekumenischen Bekenntnissen die an die Naturenlehre angelehnte Beschreibung der Kirche una, sancta, catholica et apostolica eingeklammert zwischen das personale Bekenntnis zum Heiligen Geist und dasjenige zu den Gnadenmitteln und dem Heilsweg:
remissio peccatorum (Taufe), sanctorum communio (Abendmahl), resurrectio carnis (eschatologische Hoffnung). Vollständig ist diese Folge nur im Bekenntnis des Hieronymus durchgeführt, auf welches Werner Elert hingewiesen hat29.
In die ökumenischen Bekenntnisse ist der Heilsweg jeweils in einem Teilstück aufgenommen. Die Folge Geist-Kirche-Gnadenmittel aber ist überall deutlich. So wird die Kirche zur Brücke zwischen dem personalen Geist und dem gebotenen Vollzug, während der Kirchenbegriff auch in orthodoxer Übereinstimmung mit dem Bekenntnis unvermeidlich eine für sich bestehende Entität bezeichnet. Nun definiert bewußt CA VII die Kirche nicht als communio, sondern als congregatio sanctorum. Congregatio bezeichnet als nomen actionis zu allererst den Vorgang der Versammlung, des „Zusammenherdens”, während im Nachsatz „in qua” die konstituierenden Mittel dieses Vorgangs (Predigt und Sakrament) bezeichnet werden. So eng das verklammert ist, so ist es doch zweierlei. Communio sanctorum dagegen ist untrennbar eines, sächlich und personal zugleich, wie insbesondere Werner Elert gezeigt hat.
Die dadurch ermöglichte Abwandlung des Verständnisses wird schon in den Erläuterungen deutlich, welche in den BSELK (2) S. 61, Anm. 3, gegeben werden:
„Die aus dem Apostolicum stammende, ursprünglich neutrische Formel communio sanctorum bedeutet im Mittelalter teils Anteilnahme an den Sakramenten, teils an den Verdiensten der Heiligen, bei Thomas beides. Bei Luther wandelt sie sich in die communio gegenseitiger Anteilnahme und Hingabe, die in der congregatio sanctorum (= Versammlung, Gemeinde, Volk der Christen) lebt.”
Das ist eine völlige Verwandlung der Bedeutung von communio. Sie ist jetzt die Innenstruktur der durch die Gnadenmittel Wort und Sakrament begründeten und erhaltenen congregatio, wobei ethische Züge und solche existentieller Gemeinschaft vermischt sind, Gnadenmittel und communio unterscheiden sich jetzt wir Grund und Folge. Die in der alten Kirche festgehaltene Coinzidenz von sächlicher und personaler Anteilhabe, Vorgang, Inhalt und Wirkung in einem, das Merkmal des Sakramentes ist zugunsten einer einseitigen Personalität um den Preis eines kausativen Verständnisses aufgelöst. Wir werden die gleiche Umsetzung vom Sakramentsbegriff in denjenigen der notae ecclesiae später noch einmal antreffen.
Von der congregatio kann erst jetzt wie von einem Quasisubjekt geredet werden. Diesem definitorischen Zug unterliegen in der Folge alle Teilkirchen einschließlich der zur Konfession gewordenen römischen
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Kirche. Der Charakter des Begriffs congregatio als nomen actionis ändert daran gar nichts — im Gegenteil. Die feine Differenz zwischen communio und congregatio ist der Spalt, der die Ablösung des neuen Kirchenkörpers aus dem Gebirge der Traditionsgemeinschaft ermöglicht. Denn communio ist Gemeinschaft des Betens, Dankens und Empfangens über Raum und Zeit mit der ganzen Kirche, in welche man immer wieder eintritt, congregatio ist ein immer neu einsetzender Vorgang. Die Preisgabe der Präfationen ist der liturgische Ort dieser Wandlung mit den weitertragenden kirchenrechtliche Konsequenzen. Vom congregatiobegriff her kann jedenfalls eine Grenze gegen einen körperschaftsrechtlichen Kirchenrechtsbegriff nicht gezogen, oder, wenn noch theoretisch gezogen, nicht praktisch durchgehalten werden.