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Das ökumenische Kirchenrecht verlangt einen neuen Rechtsbegriff. Um ihn formulieren zu können, bedarf es zuvor gründlicher Besinnung auf die verwendeten Denk- und Aussageformen. Da Dombois zu dem Ergebnis kommt, daß das bisherige Rechtsdenken in Theologie und Jurisprudenz hierfür nicht ausreicht, ja hinderlich im Wege steht, versucht er in kühnem Zugriff, „moderne Denkformen”, die dem ökumenischen Recht und dem Geschichtsverständnis angemessener sind, zu finden und zu begründen.
„Erst wenn sich die Theologie der getrennten Kirchen in neuen Denkformen diesem Problem zuwendet, welches dasjenige der Geschichte umschließt, wird ein wirklich sachlicher Schritt in Richtung auf die Einheit getan sein. Diese neuen Denkformen bieten sich heute an im Komplementaritätsbegriff, in der Ersetzung der expliziten Definition durch die implizite und das Denken von Grenzwerten her, durch die Ausscheidung inadäquater Begriffe von Substanz und Kausalität aus dem Raum des geistlichen Geschehens und schließlich in der Konzeption der Institutionenlehre”1.
Das ist in der Tat das vollständige Programm.
Genaueres Zusehen zeigt, daß es sich in formaler Hinsicht um
folgende Einzelfragen handelt (unten 1 a-d):
1. Komplementarität
2. Nichtobjektivierbarkeit
3. Grenzwert
4. Implizite Definition.
Sie entfalten eine spezifische Form dialektischen Denkens (unten 4), deren theologische Legitimation Dombois in der christologischen Formel von Chalcedon, deren anthropologische er in seiner Relationenlehre (usw.) findet (unten 2). Damit entfallen2 (unten 3 a-d):
1) FS Karrer 404; vgl. NRE 4, MuS 103, 155.
2) Einige weitere Entgegensetzungen, die Do. zu
überwinden hoffe, sind: vorgegeben-frei verfügbar;
kategorial-historisch bedingt/wandelbar; statisch-dynamisch; bzw.
Sein/Status-Akt; Form-Inhalt; Ganzheit-Teilaspekt.
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1. die Spaltung Subjekt-Objekt
2. das kausale Denken
3. das funktionale Denken
4. das begriffliche Denken.
„Dieser für die heutige Physik fundamentale Begriff” Niels Bohrs hat in den letzten Jahrzehnten eine große Bedeutung gewonnen, weit über die alltagssprachlichen „Komplementärfarben” und den juristischen Komplementär der Kommanditgesellschaft hinaus. Der Anstoß ging aus von der Atomphysik. Bohr versuchte mit diesem Begriff, den logisch rätselhaften Dualismus von Korpuskel und Welle philosophisch zu bewältigen. Von dort ging die Komplementarität in die Geisteswissenschaften ein. Auch in der evangelischen und katholischen Theologie wird er auf seine Tragweite geprüft3. Dombois übernimmt „diese moderne Denkform” in die Rechtslehre und macht sie zu einem wichtigen Bestandteil seiner juristischen Erkenntnislehre.
Zum Verständnis dessen, was mit „Komplementarität” gemeint ist, geht man am besten von der Erfahrung aus, daß es schwierig, ja unmöglich ist, ein komplexeres Phänomen auf einen Blick räumlich zu erfassen. Es bildet zwar ein Ganzes, aber man kann sich ihm immer nur von einer Seite her nähern, beide Seiten zugleich zu sehen ist nicht möglich. Je schärfer man sogar eine Seite erfaßt, um so mehr wird die
3) C.F. v. Weizsäcker RGG III 1744 f. (H.H. Schrey und G. Howe); H. Schroer 1960 und FS Schlink z.B. 53, H. Thielicke ThE I 354-356, W. Stählin 13 ff., u.v.a. — Zur kath. Theologie vgl. etwa H. Küng 1957 228, O. Karrer 1966 522; zur Komplementarität divergierender dogmatischer Lehrformeln vgl. das Dekret Unitatis Redintegratio Nr. 17 des II. Vatikanischen Konzils. — Zur psychologischen Komplementarität vgl. wieder v. Weizsäcker ebd., aber auch C.G. Jung nach LThK VI 422. — Auf den Hintergrund der Gegensatz-Lehren Goethes, Schellings, A.H. Müllers (1804: Die Lehre vom Gegensatz), Schleiermachers, aber auch R. Guardinis kann nur hingewiesen werden.
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andere verkürzt, oder verschwindet ganz aus dem Blick4. Es handelt sich also um zwei oder mehrere gleich- oder ungleichwertige Erscheinungsweisen oder Dimensionen eines realen Ganzen, die nicht auseinandergetrennt werden können, die sich aber dennoch für unser Erkennen ausschließen5. Anders ausgedrückt: es sind mehrere Aussagen, die zur vollständigen Beschreibung eines Gegenstandes notwendig sind, zusammengenommen aber einander zu widersprechen scheinen6. Dazu kommt, daß die Teilaussagen selbst durchaus eigenständige Bedeutung haben und sachlich (und logisch) auseinandergehalten werden müssen (z.B. Korpuskel ist nicht Welle), da sie nicht voneinander ableitbar sind. Zugleich aber ergänzen und erhellen sich die Aussagen, „entsprechen” einander und sind aufeinander bezogen (z.B. das Elektron erscheint als Korpuskel oder Welle je nach Versuchsanordnung). Um Verbundenheit und Eigenständigkeit der beiden Aussagereihen zu veranschaulichen, benützt Dombois das Bild der zwei Brennpunkte der einen Ellipse für die Komplementarität7.
Dombois diskutiert nicht darüber, ob es solche Aussagen logisch geben kann. Es genügt ihm, daß die theoretische Physik solche Verhältnisse aufgewiesen hat und daß die hierdurch gewonnene „Verständnisform” auch für die Geisteswissenschaften viele Probleme einfacher zu verstehen lehrt, als das bisher möglich schien8.
4) GRE 175, OU 49, 75, 105, Kathol. 298, MuS
10, 101 f., 105, RdG 192, 254, 390, 667, 794 f., 848. Vgl. das
Bild vom Paternosteraufzug KuD 1957 67, Kathol. 303.
5) MuS 18, 154, RdG 190, 1008. — Meist sind es zwei
Seiten (vgl. MuS 154; „Dualität” RdG 849); aber wie eine Sache
mehr als zwei Seiten haben kann, so auch die Komplementarität
(RdG 835 Zuordnung von Partikularkirchen). — Ungleiche Seiten:
vgl. RdG 692 f., 1011; doch ist die Gefahr groß, in einem Aspekt
das „Eigentliche” zu sehen, MuS 154, RdG 266; kein Aspekt ist dem
andern eingeordnet und jeder hat sein Eigenrecht.
6) MuS 10, 65 mit 102 f. antinomisch; 154
Alternativen; MuS 68, Kathol. 298 Paradox; anders Strafe 170
keine echten Gegensätze, nur Schwerpunkte. Komplementarität liegt
also zwischen kontradiktorischem und konträrem Gegensatz: MuS 20
„Beziehungsform jenseits dieses Gegensatzes”; RdG 848 f.: weder
zusammengehörig noch getrennt.
7) OU 49, 75 Wechsel Verhältnis; MuS 20, RdG 272, 693,
847, 1009 Wechselbezüglichkeit; 797, 847 aufeinander bezogen
(relativ); 380 unauflösliches metaphysisches Kontinuum. Das
klassische Beispiel des Elektron (OU 34, RdG 254) ist wohl
übernommen (vgl. Kathol. 298, RdG 190, 230 A. 17) von G. Howe KuD
1958 20 ff. — Ellipse: MuR 142 f., OU 115 f., RdG 1023 f., 1033
f. u.ö.
8) Vgl. MuS 20, 154, 161, RdG 190; dazu RdG 110, 190
m. A. 17, 230 unter Hinweis auf die Arbeit G. Howes über Niels
Bohr, ferner Kathol. 298, RdG 190 ➝
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Bereits hieraus ergeben sich mehrere und für Dombois grundlegende Folgerungen. Weil man komplementäre Verhältnisse (z.B. das Verhältnis von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes — so schon N. Bohr!) nicht auf einen Blick sehen kann, kann man sie auch nicht zusammen aussagen, deshalb auch nicht auf einen Einzelakt komprimieren9. Man darf aber umgekehrt nicht eine Seite allein („objektivierend”) beschreiben wollen. Wer das versucht, verfehlt das Ganze. Denn die „Einheit in der Unterschiedenheit” geht verloren, das ganze Verhältnis wird zerstört. Man darf nicht „auseinanderreißen, was unterschieden, aber nicht geschieden werden kann”. Tut man es dennoch, sind Auflösungserscheinungen die geschichtliche Auswirkung. Freilich ist das „Durchhalten” dieser Spannung eine „schmerzhafte Aufgabe”10.
Aber auch die Ausgleichung der Spannung dahin, daß eines aus dem anderen kausal folge und somit abzuleiten sei, ist verfehlt. Vielmehr muß man von allen Seiten her „gegenläufig” das Phänomen beschreiben. Dabei kommt zustatten, daß dadurch die „Strukturen" des Gegenstandes erkennbar und somit wiedergebbar werden. So kann zwar keine explizite Definition herkömmlichen Stiles, wohl aber eine von Dombois so genannte „implizite Definition” erreicht werden.
➝ zu Niels Bohrs Übertragung auf Gerechtigkeit und Liebe
Gottes, schließlich Kathol. 306. — Die Komplementarität einander
ausschließender ethischer Verhaltensweisen (Atombewaffnung —
Bejahung oder Verneinung?) ist nach einer Anregung Do.s in die
These 6 der im EKD-Auftrag erarbeiteten Handreichung „Zur
Friedensfrage” aufgenommen worden; ähnliche Lösungen vertritt Do.
zur Wehrdienstpflicht bzw. -Verweigerung sowie zur
Ehescheidbarkeit.
9) RdG 190; sie können darum in der Geschichte als
getrennte Phasen auftreten, z.B. SS 19. — Der Versuch,
komplementäre Verhältnisse auf einen Akt zu komprimieren (wie
etwa im Infallibilitätsdogma die freie Rezeption durch den
populus fidelium zur Rechtspflicht und damit
überflüssig gemacht werden soll — RdG 827 f.) ist verfehlt,
obwohl er auf einer jahrhundertealten Entwicklung zur
Einaktigkeit aus gewandeltem Wirklichkeitsverständnis beruht (FS
Karrer 398 ff.). Denn wenn mehraktige Gefüge uno actu
realisiert werden, kommt immer der komplementäre Teil zu kurz
(RdG 848). Auch aus diesem Grund also insistiert Do. so
hartnäckig auf der „Mehraktigkeit”.
10) MuR 116, 146, OU 49, 75, Kathol. 299, 302, FS
Karrer 404, RdG 104, 218, 380, 847 f., 1008; zur Einheit in der
Unterschiedenheit RdG 835 (anders OU 129 „idealistisch
harmlos”!). Besonders eindrücklich RdG 794 f.: „Je mehr wir die
(eine) Seite des Problems betonen, desto mehr potenzieren wir
ebendiese Seite durch den Akt der Betrachtung . . . in Richtung
auf eine Absolutsetzung”.
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Das Ergebnis wäre dann eine Beschreibung, die einerseits hinreichend exakt ist, um die Strukturen wiederzugeben, andererseits genug Spielraum läßt, um die legitime geschichtliche Variationsbreite eines Phänomens zu umfassen11.
In den Begriff der Komplementarität nimmt Dombois ein weiteres Element auf, das ursprünglich nichts damit zu tun hat: das Zeitmoment. „Im Komplementaritätsbegriff sind Elemente unumkehrbarer Geschichtlichkeit inbegriffen.” Das bedeutet sachlich, daß eine Seite des Ganzen der anderen zeitlich und sachlich vorgeht und das Verhältnis beider sich als der schon erwähnte „progressive” „Vorgang” darstellt; daß der Vorgang eine Richtung hat, die, wenn sie ihren „Grenzwert" erreicht hat, wieder umkehrt zum Ausgang, usf. Damit enthält das komplementäre Verhältnis ein doppeltes dynamisch-gegenläufiges Gefälle entgegengesetzter, aber aufeinander zuführender „Tendenzen”, die sich nicht in ihrer Wirkung gegenseitig aufheben, sondern dynamisch nebeneinander bestehen. Sie bilden so ein struiertes Geschehen.
Die relativ eigenständigen Handlungsrichtungen der aufeinander zuführenden Gegenpole begrenzen einander; denn „kein Prinzip vermag sich . . . selbst zu begrenzen”. Sie haben (negativ) eine kritische Funktion füreinander, (positiv) stützen sie sich gegenseitig in ihrem Bestand, weil nur so das wechselbezügliche Verhältnis stabil bleibt. So kann man schließlich sagen, daß jeder Teil den anderen (in seinem Bestand) konstituiert, darüber hinaus, daß einer auf den andern angewiesen ist aus innerer Notwendigkeit12.
11) MuS 12, 65, 87, 103, 147, 155, FS Karrer
399, RdG 380, 908; Struktur und Komplementarität: MuS 155; und
implizite Definition: MuS 105 f.
12) Kathol. 302, MuR 146, MuS 65, 74, 87, RdG 110,
190, 693, 778, 797, 847, 849 „Rückbezug”, 1008, 1034 „zirkuläre
Zuordnung”; schon NRE 58: „Beide Strukturreihen sind . . .
gegensätzlich und führen doch aufeinander zu und wieder
aufeinander zurück”. Das bedeutet der häufige Terminus
„Doppelläufigkeit” (NR 202) oder „Gegenläufigkeit” (z.B. MuS 65,
87, MuR 116, SS 15; des geistlichen Handelns: RdG 693, d.h. von
Verkündigung und Doxologie: RdG 695; von iurisdictio und
ordinatio: RdG 847; von Kirche und Welt: RdG 1008; der
Strafe: MuS 65, 74, 87; von Tauf- und Abendmahlsrecht: RdG 797).
— RdG 693, 695, 1009 (wechselbezüglich), MuR 116, OU 75
(Wechselwirkung), RdG 695, 839 (verschränkt), 104, 1053
(konstitutive Interdependenz). — Do. verweist in diesem
Zusammenhang auf den Zeitbegriff von Mathematik und Physik (seit
den öfters zitierten Arbeiten G. Howes). Denn Zeit ist kein
mathematischer Punkt, sondern immer Weg zwischen zwei ➝
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Die Anwendung dieses Denkmodells auf die personale Struktur der Kirche und die Brüderlichkeit ihrer Glieder liegt nahe. Sie bildet in der Tat sogar die formale Grundkonzeption der Rechtstheologie Dombois’13.
Von der Komplementarität ist die speziellere „Supplementarität” zu unterscheiden. Sie verdient besondere Aufmerksamkeit, da sie das Verhältnis der beiden Rechtstypen (des Gnaden- und Anspruchsrechtes) bezeichnet14. Der Unterschied ist aus dem, was Dombois dazu schreibt, nicht mit Sicherheit zu entnehmen. Die Begriffsmerkmale sind:
➝ (verschiedenen!) Punkten, „Zusammenordnung mindestens
zweier verschiedener Ereignisse”, mit Beginn und Abschluß. Der
einzelne „Zeitpunkt” steht nicht isoliert da, sondern ist
„diakritischer” Punkt-zu-etwas (MuR 103, Berichtskizze 253, FS
Karrer 401, RdG 154, 213 A. 32, 231 [nach G. Howe KuD 1958 27 f.,
nicht 22a!], 313, 847).
13) Die komplementäre Aussageform ist häufig
benützt, ohne daß dies ausdrücklich gesagt wird (vgl. unten 556
f. zur Dialektik; ferner RdG 637: reziproke Denkformen
und überall, wo von „Gegenläufigkeit”, „Wechselbezüglichkeit”,
„Verschränkung” gesprochen wird). Ausdrücklich verwendet wird sie
für das Verhältnis Einzelner-Gemeinschaft (MuS 105),
einschlußweise für Bund-Gemeinschaft (G. van der Leeuw
PhdR 269 ff.; NRE 58), damit zusammenhängend für Freiheit und
Determination (MuR 116), Kontinuität und
Diskontinuität (Quatember 1953/54 209, MuR 116, 146, OU 72;
G. Howe 1949 107 f., FS Barth 421), Sache und Person
(RdG 380) bzw. Akt und Sein (OU 72; G. Howe FS Barth
413), von konstitutiv und deklaratorisch (MuR 116, OU
49, RdG 192), von Subjekt und Objekt (MuR 124; G. Howe
FS Barth 413, 415 u. ö. mit Hinweis auf W. Heisenberg [413 A.
10]), für die verschiedenen Kirchen (Kathol. 297, RdG
272, 719, 835 — vgl. Unitatis Redintegratio 17!), das Verhältnis
von Gemeinde-Gesamtkirche (OU 40), Kirche und
Welt (GRE 169) bzw. Staat (MuR 110,RdG 1003);
im engeren Rechtsbereich: für die Strafzwecke
usw. (MuS passim, 155), für Recht und Ethik (MuS 20
u.ö., RdG 637, ebenso Ernst Wolf II 203), für naturrechtliche
und positivistische Rechtsbegründung (NR 202), für Recht
und Ordnung (RdG 1011), speziell im Kirchenrecht:
für das Verhältnis Kind-Erbe (RdG 104),
ordinatio-missio (RdG 380) und iurisdictio (RdG
847-849, OU 44), traditio-receptio (dazu OU 74),
successio fidei et personae (OU 72, 75 [10.]),
Konsekration und Epiklese (RdG 667), Amt und
Gemeinde beim „Urteil” (OU 44, RdG 272, 693, 835) usf. Vor
allem liegt sie seiner Gegenüberstellung der beiden
Rechtsformen zugrunde, nämlich des institutionellen und des
normativen Rechtskreises (unten bes. 636), nämlich als
„Supplementarität”.
14) RdG 267 „nicht so sehr komplementär, sondern
supplementär”; gegen ZevKR 1962/63 40!, Quatember 1963/64 8 ff.
Do. hat sie von H. Schroer (1960 44) übernommen, der sie als eine
Form der Dialektik auffaßt; dazu RdG 218 A. 33, 231, 272. Do.
kennt also verschiedene Formen der Komplementarität. Ferner für
die eschatologische Existenz des Christen, der die Güter dieser
Welt (auch die „Institutionen”) ὡς μή gebraucht, aber nicht
zugleich besitzen und nicht besitzen kann, darum der ➝
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1. ein Verhältnis zweier Größen (a — b),
2. von denen die eine „die Vorhand hat” (a > b),
3. wobei die eine zugleich ein unumkehrbares „Gefälle” zum
„Supplement” in sich enthält (a ➝ b), also ein gewisses
(nicht-kausales) „Folgeverhältnis”,
4. und nur beide zusammen die Sache in ihrer Gänze darstellen a +
b), also jede ohne die andere unvollständig wäre, also ein
Verhältnis gegenseitiger Ergänzung.
Die Begriffsmerkmale sind damit die gleichen wie bei der Komplementarität. Die Supplementarität betont nur die Einordnung der zweiten Verhältnisgröße in eine übergreifende Einheit. Dombois verwendet für sie die Metapher des musikalischen Kontrapunkts15.
Die andere Lehre, die Dombois aus der Atomphysik16 in die Rechtswissenschaft überträgt, ist die der „Nichtobjektivierbarkeit”. Sie ist für ihn eine mit der Komplementarität eng zusammengehörige „grundlegende erkenntnistheoretische Einsicht”, die eine Steigerung der Erkenntnisfähigkeit bedeutet und endlich auch für die Jurisprudenz
➝ „supplementären”, stellvertretenden Ergänzung durch
andere bedarf: RdG 271 ff.; hierher gehört auch die für die
Kirche „supplementäre” Existenz evangelischer Bruderschaften, RdG
266 ff., ZevKR 1962/63 40, Quatember 1963/64 4-10; allgemein das
Verhältnis von Gemeinschaft und Freiheit, RdG 218.
15) RdG 218, 271 f., 1008 — also: Die eine Größe
fordert zu ihrer Vollständigkeit die andere untergeordnete,
enthält sie aber nicht — wie die Suppe das Salz! Damit dürfte die
ungleichwertige Komplementarität (oben 5386) mit der
Supplementarität gleichzusetzen sein. Kontrapunkt: RdG 267, 270,
273.
16) Nämlich die Heisenbergche Unsicherheitsrelation
(MuS 13, 147), eine der wesentlichsten Erkenntnisse der
Naturwissenschaft (KuD 1957 71, Quatember 1953/54 208). Dagegen
nicht aus der Theologie, nämlich der existentialen Exegese
insbes. R. Bultmanns, der indes nicht von der Physik zur
Nichtobjektivierbarkeit kommt, sondern von der Heideggerschen
Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung! Dann hat die
Nichtobjektivierbarkeit der Glaubensaussagen auch einen anderen
Sinn, nämlich ihre Verwechslung mit immanenten Erkenntnisobjekten
abzuwehren. Vgl. dazu E. Käsemann I, H. Ott ZThK 1964, F. Buri
ZThK 1964. — R. Bultmann (1964 134, 152 u.ö.) weist auf den
Zusammenhang dieser Erkenntnis mit der „Geschichtlichkeit”
historischen „Verstehens” hin. Ferner E. Frank (zit. ebd. 134):
„Der Gegenstand historischen Verstehens ist nicht ein Ding an
sich, unabhängig vom Geist, der es betrachtet.” „In dieser Sphäre
kann eine endgültige Unterscheidung zwischen dem Erkennenden und
seinem Gegenstand nicht aufrechterhalten werden.”
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fruchtbar gemacht werden muß. Diese zweite Grundkategorie seines Denkens ist die formale Voraussetzung für die existentielle Untrennbarkeit von Subjekt und Objekt, Person und Sache, Mensch und Recht. Die „Nichtobjektivierbarkeit” bezeichnet verkürzt die Tatsache, daß der Erkennende von dem Gegenstand der Erkenntnis nicht abgetrennt werden kann, weil er „ihn schon durch die Anlage seiner Untersuchung, durch den Blickwinkel und die Beleuchtung” verändert17. Also: der Erkenntnisakt verändert den Erkenntnisgegenstand. Dombois geht noch darüber hinaus mit „der Einsicht, daß nicht nur das Subjekt den Gegenstand der Erkenntnis durch den Akt des Erkennens verändert, sondern auch der Gegenstand der Erkenntnis das erkennende Subjekt”. Also: der Erkenntnisgegenstand wirkt auf das erkennende Subjekt zurück. „Wird die Verschränkung beider gelöst, so kommen wir zu einer gegenstandslosen Erkenntnis oder zu einem apersonalen Gegenstand.” Das gilt nicht nur für das Erkennen, sondern auch und erst recht für das Handeln18.
Das komplementäre Denken geht immer von mindestens zwei Punkten aus; diese nennt Dombois „Grenzwerte”, da sie die Grenzen des Phänomens anzeigen. Sie haben die Funktion, das durch die Nichtobjektivierbarkeit des Erkennens eigentümlich unscharf gewordene Bild des zu beschreibenden Gegenstandes wieder genauer zu umreißen.
Negativ umschreiben sie einen relational struierten Raum durch deutliche Grenzen, an denen mit Sicherheit das Phänomen seine Identität verliert — wo z.B. Strafe einerseits zu bloßer Pädagogik, andererseits zum Unrecht wird; wo die Kirche nicht mehr „Kirche in der Welt” sein will, sondern sich entweder mit dem Staat identifiziert (Bild des [konzentrischen] Kreises), oder die Verantwortung für ihn ablehnt (Bild
17) Quatember 1953/54 208, MuS 13,147,153 ff.,
161, KuD 1957 71,RdG 821,849; überall, wo die „moderne
Erkenntnistheorie” erwähnt wird, z. B. MuS 10, RuI 72, OU 75.
Dazu die anthropologische Anknüpfung: Die Nichtobjektivierbarkeit
des Erkennens impliziert die Unmöglichkeit eines von den
Relationen abstrahierten Personbegriffs, MuS 147, auch für die
Kirche und ihr Recht, 153, RdG 895.
18) MuS 153, RdG 839. — Hier vom Erkenntnis „Subjekt”
zu sprechen, ist angesichts der „geradezu babylonischen
Sprachverwirrung” (G. Stammler KuD 1957 3) auf diesem Gebiet
nicht ganz unbedenklich.
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zweier sich nicht schneidender Kreise) und deshalb selbst staatsähnlich werden muß. Überschreitet man die Grenzwerte, wird das ganze Verhältnis zerstört.
Positiv geben sie die Richtung an, in der gedacht werden soll, um das Phänomen adäquat zu beschreiben, den Weg, den die „rechte” Existenz zu gehen hat, den „echten Raum”, innerhalb dessen das Phänomen „lebt”. Sie sind nicht einander übergeordnet, sondern stützen und tragen einander und bilden so ein verständliches, sinnvolles Gefüge.
Die Beschreibung dieses Strukturgefüges von den Grenzwerten her ergibt die „implizite Definition” des Phänomens19.
Wenn man Komplementarität und Nichtobjektivierbarkeit im Erkenntnisvorgang berücksichtigt, so gelangt man zur sogenannten „impliziten Definition”20. Implizite Definition ist nichts anderes als die
19) SS 50 ff., MuR 146, Kathol. 299, MuS 12,
29, 103, 155, OU 114 ff., RdG 905, 1033 ff. u.ö.; zur Strafe
DtPfBl 1949 58, Hochland 1953/54 353, MuS 101 ff.; Institution
(Ehe: Ehe 101, Staat: SS 50 ff., Staat-Kirche: RdG 1012);
rechtliche Sicht der eschatologischen Existenz MuR 146, RdG 104;
Recht zwischen den Grenzwerten Naturrecht und Positivismus NR
203, KuD 1957 67, Kathol. 299 u.ö. — Grenzwert im mathematischen
Bilde: der Nullpunkt einer Kurve, die jenseits dessen in einen
Minuswert übergeht, ZevKR 1956 56. Offen bleibt freilich, woher
man weiß, wann etwas nicht mehr mit sich selbst identisch ist.
Denn um das zu wissen, bedarf es einer Kenntnis der Sache; das
ist aber wiederum nichts Besonderes, sondern der
geisteswissenschaftlich unausweichliche hermeneutische Zirkel
(vgl. P. Tillich I 16). Zu jeder wissenschaftlichen
Begriffsbildung bedarf es eines „Vorverständnisses” — gleich ob
es sich um begriffliches Denken oder um Grenzwertdenken handelt.
— Das Grenzwert-Denken hat seinen Höhepunkt in MuS; in RdG
schreitet Do. fort zum mehr inhaltlichen Denken, vielleicht, weil
der Jurist eben nicht vom Extrem her denken soll, wie Do. selbst
einmal (gegen C. Schmitt?) sagt (RdG 624 A. 156). Der Schwerpunkt
verschiebt sich auf Struktur und Relation, ohne jedoch die vorher
gewonnenen Erkenntnisse preiszugeben (vgl. RdG 779, 1030). Das
zeigt sich auch darin, daß die darauf beruhende implizite
Definition beibehalten wird.
20) Die „implizite Definition”
stammt aus der Logistik und der Mathematik. Sie bezeichnet dort,
verkürzt gesagt, das Verfahren, die Axiome eines mathematischen
Systems nicht ausdrücklich zu bestimmen (x = . . .), sondern
unerklärt zu lassen und sie durch ihre Relationen untereinander
zu begrenzen. Eine verblüffende Parallele zu den von Do.
ebenfalls Undefiniert gelassenen anthropologischen
Grundbegriffen, die sich aber gegenseitig „definieren”!
Gleichwohl meint Do. die „implizite Definition” nicht im
ursprünglichen (dazu U. Klug 88), sondern in dem im Text
beschriebenen Sinn. — Übrigens beschreibt J.B. Metz 1962 27 „die
Denkform des Thomas von Aquin” in der thomanischen Anthropologie
mit Worten, die für die ➝
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„Definition” eines komplementären Phänomens von verschiedenen Seiten (= „Grenzwerten”) her durch Wiedergabe der Struktur21 und durch In-Beziehung-Setzen mit anderen Phänomenen, die ihrerseits wiederum nicht (im klassischen Sinn) „definiert” werden.
Eigentlich ist die „implizite Definition” gar keine Definition, sondern eine „hinweisende Umschreibung”. Denn Bezüge und Existenzvorgänge kann man nicht definieren, schon wegen des immer anwesenden geschichtlich-kontingenten Momentes verantwortlichen Handelns22. Versucht man es dennoch („explizite Definition”), so fallen die Relationen weg oder auseinander. Außerdem kann keine Definition alle (Rechts-) Folgen erfassen, die verantwortliches Handeln in der Geschichte auslöst. Die Folgen bestimmen aber das Bild des Lebensvorganges, der definiert werden soll. Der Lebensvorgang in seiner Fülle kann durch Aufzählung positiver Merkmale nicht eingefangen werden, erst recht nicht das Mysterium im geistlichen Geschehen. Obendrein hat jede positive Definition negative Ausschlußwirkung. Sie beschneidet die Fülle der personalen und geistlichen Vorgänge. Nur die implizite Definition
➝ Grundbegriffe der juristischen Anthropologie Do.s
(Relation, Person, Existenz usf.) unverändert übernommen werden
können: „Zwischen den einzelnen Begriffen der theologischen
Anthropologie besteht ein Integrationsverhältnis: . . . Der eine
Begriff erhellt und modifiziert den anderen; jeder kann in seinem
vollen Sinngehalt nur verstanden werden in der Einheit mit dem
andern. Jeder einzelne Begriff wird damit zum möglichen
Kristallisationspunkt der gesamten Anthropologie . . .”
21) MuR 13, MuS 12, 155; Grenze RdG 104, -linie RdG
1012, -wert FS Karrer 404, RdG 693 ff., 1030 u. v. a.; Aspekt =
Grenzwert MuS 103 f.; Grenzwert und Struktur MuR 145, EltR 75. —
Implizite Definition folgt aus Komplementarität: MuS 103, aus
Nichtobjektivierbarkeit: MuS 155. Vgl. RdG 779 zur Sukzession
vorsichtig abwägend: Für das „Wie” der Sukzession „kann nicht ein
explizites Prinzip entwickelt werden, aus dem das alles
abzuleiten wäre. Wohl aberläßt sich via implicationis
zeigen, welche Folgen bei Grenzüberschreitungen und
Unterbildungen, wie Vereinseitigungen sich zeigen. Daraus läßt
sich das Gesamtbild im Umrisse erschließen”.
22) FamR 135, RdG 592, 780 gegen „definitorische”
Begriffe. — So für das Recht RdG 216, die Gnade RdG 178, 191,
Institutionen überhaupt FamR 135, RuI 61, Kathol. 298, EltR 75,
RdG 905, 917, z. B. Ehe RGG II 330, Strafe MuS 101 ff. Diese
Erkenntnis ist auch sonst nicht unbekannt: so allgemein die
Nichtdefinierbarkeit aller Axiome; rechtsphilosophisch angewandt
auf den „Urbegriff” des Rechtes, der „höchstens umschrieben, aber
nicht definiert werden” kann: J. Pieper 18. Do. unterscheidet
sich hier darin, daß er die Nichtdefinierbarkeit der personalen
(und geschichtlichen) Dimension überhaupt vorträgt. Wie Do. A.
Guggenberger HthG II 303: „Personsein . . . sprengt alle . . .
Wesensgrenzen, weil es gleichermaßen wie das Sein nicht
(gegenständlich) definiert und auf einen Begriff . . . gebracht
werden kann (Nichtdefinierbarkeit der Person).” Die
Nichtdefinierbarkeit der Kirche ist allgemeine katholische
Auffassung.
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umgrenzt das Ganze der Wirklichkeit — freilich um den Preis der begrifflichen Schärfe. Aber nur ein die ganze geistlich-personale Realität erfassendes Rechtsdenken ist zureichende Voraussetzung für ein wahrhaft ökumenisches Recht23.
Die Denkform der Komplementarität sieht Dombois legitimiert in der Formalstruktur der chalcedonensischen Christologie und in der relationalen Anthropologie.
Das christologische Dogma vonChalcedon enthält für Dombois nicht nur die sachliche Umschreibung der beiden Naturen Christi, sondern zugleich eine methodische Aussage größter Tragweite:
Diese „eigentümlich modern anmutende” Formel stellt „keine der bekannten logischen Formen und insbesondere kein dialektisches Verhältnis dar. Hier wird gerade nicht im logischen Sinne explizit definiert, sondern es werden nur Grenzwerte gesetzt, zwischen denen sich ein grundsätzlich nicht definierbares Verhältnis befindet.”
Es handelt sich hier nach Dombois um nichts anderes als die Denkform der Komplementarität. Sie hat die Aufgabe, durch eine Paradoxie das Mysterium zu wahren. Sie versucht nicht, das Unaussprechliche definierend auszusagen, sondern nähert sich ihm von den Grenzen her1.
Die Komplementarität ist die Denkform des Mysteriums.
Wegen der zentralen Stellung des Dogmas gewinnt auch dessen Denkform umfassende Bedeutung. Wie das Chalcedonense für Dombois den
23) FamR 135, MuR 135, 139, Karbol. 299, MuS
12, FS Karrer 404, RdG 848, 905, 917; 780 „definierte Struktur”
meint wohl „definite Struktur”. — Der Ethiker H. van Oyen (ZEE
1958 175) hat dieser Konzeption im Grundsatz zugestimmt.
1) NR 203, MuR 139 (anders RdG 110, 636, 1030
„dialektische Dualität”), Kathol. 297 f., RdG aaO. Vgl. schon
vorher: OU 136 „das unverfügbare Geheimnis der Geschichte”; GRE
141, Kathol. 298: der Geist hält die Gegensätze zusammen. GRE
142: diesem unverfügbaren Geist muß das Kirchenrecht strukturell
entsprechen. Dazu der Hinweis auf Nikolaus von Kues Kathol. 302
und der Vorbehalt gegen die „griechische” Terminologie NR 203,
MuR 138 f.
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„goldenen Schlüssel” zur Erhellung aller Sozialstrukturen darstellt, so wird die zugeordnete Komplementarität zur „angemessenen Denkform” für eine konservative Revolution der spannungsgeladenen Wirklichkeit des Menschen, der Kirche und ihres Rechts2.
Es geschieht also bei Dombois ein ähnlicher Vorgang wie bei Hegel. Dieser versuchte durch seinen dialektischen Dreischritt die Trinität auch methodisch als Mitte des Seins und der Geschichte zur Geltung zu bringen; jener unternimmt das gleiche mit der chalcedonensischen Christologie durch die Denkform der Komplementarität.
Die Berechtigung seines „komplementären” Denkens von „Grenzwerten” her entnimmt Dombois auch der Anthropologie — wobei Christologie und Anthropologie wieder nicht unverbunden im Räume stehen; die Glaubenserkenntnis Christi als des wahren Menschen
2) MuS 51, 81, OU 93, Kathol. 305, RdG 110, 1030; wohl nach G. Howe 1949 107, MuR 145 f. Bedeutsam, aber wohl so nicht haltbar (s.o. 481 m. A. 33) ist die Einbeziehung der Geschichtlichkeit (!) in die chalcedonensische Formel (FS Karrer 404, RdG 110): Das „Unvermischt” und „Ungetrennt” entspricht (formal?) dem „Noch nicht” und „Doch schon” der eschatologischen Existenz des Christen in den beiden Äonen. Das revolutionäre Programm wird frühzeitig verkündet: „Das alte Weltge-bäude der dialektischen Rationalität muß notwendig von seinen Eckpfeilern, der systematischen Theologie und der theoretischen Physik her eingerissen werden” (GRE 97; vgl. NRE 5 die Verbindung dieses Gedankens mit der Rechtswissenschaft). Die chalcedonensische Aussage ermöglicht sogar die juristische Kritik an den Fehlhaltungen der Konfessionen. Überall kommt entweder das „Unvermischt” oder das „Ungetrennt” zu kurz (RdG 986); die römische Seite tendiert zum Monophysitismus, die reformatorische ist dem „Gegenvorwurf der Verletzung des ,Ungetrennt’ ausgesetzt”, OU 67. „Der christliche Glaube ist eine Reihe von Gegensätzen, die durch die Gnade zusammengehalten werden” (Kathol. 298, MuS 81, RdG 204 „mit dem Jansenisten St. Cyran”). Von hier aus polemisiert Do. etwa gegen das katholische und das davon zu unterscheidende reformierte Verständnis des ius divinum (OU 93, RdG 1008 f.; OU 67), gegen das kongregationalistische Verhältnis von Amt-Gemeinde (OU 35), vor allem aber gegen eine „rationalistische Verengung” der Christologie (NRE 60) hauptsächlich der dialektischen Theologie (der Frühphase): es fehle die Inkarnation (OU 123). Aber auch K. Barths „Christengemeinde und Bürgergemeinde” (RdG 1030) wie die (traditionelle, also nicht Heckels) Reiche-und Regimentenlehre einschließlich der herkömmlichen Sicht von Gesetz und Evangelium (NR 203, RdG 986, 1030) können nicht bestehen. Selbst die Ostkirche, die so großen Wert auf die chalcedonensische Aussage legt, vermag deren Dialektik nicht durchzuhalten (RdG 1030 f. — gemeint ist ihr Verhältnis zum Staat: „Unvermischt”!).
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bestätigt die Erkenntnisse der juristischen Anthropologie, auch in formaler Hinsicht.
Wenn man aus der juristischen Anthropologie Dombois’ das formale Gerüst herauslöst, erhält man seine Denkform. Die Grundbezüge zwischen Personen sind — formal gesehen — gegenläufige Relationen, die von den beiden Grenzen („Grenzwerten”) her gesehen werden. Auch die individuelle Existenz ist „Zwischenexistenz” innerhalb der „Grenzwerte” der Existenz der anderen, der Bezüge. Die Beschreibung des „geschichtlichen” Verlaufs der Relationen als „Vorgang" enthüllt ihre innere „Struktur”; diese von den „Grenzen” her beschriebene Struktur heißt in formaler Hinsicht „implizite” Definition3.
Es ist unnötig, dies noch bis in alle Einzelheiten auszuführen; es dürfte so viel deutlich geworden sein, daß das „komplementäre” Denken so eng mit der Theologie und Rechtsanthropologie verflochten ist, daß die „physikalische” Ausdrucksweise eher als eine mehr oder minder passende Zutat denn als das tragende Fundament dieser Denkform erscheint.
Wo die Nichtobjektivierbarkeit des Erkennens des Menschen gesehen, wo seine Relationalität und existentielle Geschichtlichkeit anerkannt ist, dort ist es unmöglich, Person und Sache und also erkennendes Subjekt und erkanntes Objekt so zu zertrennen, wie es seit langem üblich geworden ist1.
3) MuS 29, 36 f., 65, 76, 153 und oben 490
f.
1) RdG 283, 453. — Do. greift damit eines der
wichtigsten Themen der gegenwärtigen geschichtswissenschaftlichen
und theologischen Hermeneutik auf und transponiert es in die
Rechtswissenschaft, wie vor allem auch W. Maihofer (1963 164 f.,
FS Wolf 262 ff.) von existential-rechtsphilosophischer Seite,
damit Ansätze des rechtsphilosophischen Gegenangriffs gegen den
Neukantianismus in den 20er Jahren aufgreifend. Vgl. H. J.
Marrou: „Nous ne pouvons isolier . . . d’un côte un
objet . . . de l’autre un sujet” (De la
Connaissance Historique 1956 37, zit. bei R. Bultmann 1964 134 A.
2); R.G. Collingwood (The Idea of History 1946, zit. ebd. 155
ff.) ganz ähnlich, wie auch R. Bultmann selbst (1964 158) als
geschichtstheologische Aussage. Von theologischer Seite hat F.
Gogarten „den schärfsten Angriff gegen das ➝
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Dombois hält dafür, daß die Ursachen der „kantianischen” Subjekt-Objekt-Spaltung kurz nach Beginn des zweiten Jahrtausends in der Frühscholastik zu suchen sind, als man infolge eines gewandelten Wirklichkeitsverständnisses die dynamische Einheit von Sein und Akt zerstörte und gemäß dem Axiom agere sequitur esse in ein rationales Folgeverhältnis auflöste.
Parallel damit geht die „Spiritualisierung” des Denkens einher; Innen und Außen, Geistlich und Weltlich werden getrennt, die gegenständliche Welt wird als bloßes Gegenüber erlebt; die Beziehung nach außen verliert ihre Existentialität2.
So wird schließlich dem autonom gewordenen Subjekt Mensch das versachlichte Objekt seines Verhaltens gegenübergestellt; die Ethisierung des Rechts und der Theologie ist die Folge. Schlimmer noch ist die Auswirkung im Kirchenrecht; die falsche Autonomie des Subjekts verhindert es, die Bedeutung der christlichen Gemeinde, des priesterlichen Handelns der Glieder aneinander zu sehen. Die Kirchenrechtsgeschichte zeigt die Folgen: Das autonome Subjekt Kirche verwaltet das Objekt Verkündigung; der autonome Papst wird doppelt dialektisch negiert: lutherischerseits durch die Übertragung seiner „äußeren” Kirchengewalt auf den weltlichen Souverän, reformierterseits durch die Gemeinschaft der hauptlos-souveränen Erwählten. Der existential(theologisch)e Ausbruch aus dem Subjekt-Objekt-Schema führt auch nicht weiter, da er an den Bezügen und der Institutionalität des Menschen vorbeigeht3.
➝ herkömmliche Denken im Subjekt-Objekt-Schema” geführt
(G.W. Ittel ZThK 1963 349; vgl. dazu G. Noller 1962, H. Ott KuM
IV [1955] 105-131, aber auch P. Tillich z.B. III 290 ff.).
Bemerkenswert, daß auch Do. von geschichtstheologischen
Überlegungen her (Geschehen als Vorgang) zu diesem Ergebnis
kommt, jedoch nicht, wie die Existentialtheologie, auf dem
Hintergrund der Heideggerschen, sondern einer eigenen
Existenzphilosophie, wobei wieder zu vergleichen ist G. van der
Leeuw PhdR 768, 770 f.: „Das Phänomen ist ein subjektbezogenes
Objekt und ein objektbezogenes Subjekt.”
2) FamR 121, Kathol. 163, 165 f., 300 f., OU 62, 74,
MuS 137, 154, Berichtskizze 251, FS Karrer 399 ff., RdG 27 f.,
254, 283, 453, 848, 1007. Die Folgen für die Institutionalität
(auch die „idealistische” Spaltung von Geist- und Rechtskirche,
RdG 1007) werden heute von der anthropologischen Soziologie
überwunden: ebd. 912 mit A. Gehlen.
3) EltR 99, RdG 245 f., 250, 456, 806, 930.
Zusammenhang mit dem funktionalen Amtsverständnis RdG 946 f.
(skeptisch Ernst Wolf ZevKR 1963/64 84); zur Ethisierung des
Rechts s.u.; zum Zusammenhang zwischen „Personalismus” und
Ethisierung vgl. H. Volk in Grillmeier/Bacht III 656 A. 6 gegen
E. Brunner; zustimmend W. Pannenberg KuD 1958 271 A. 20.
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Um nun diese Verkehrungen „nach vorn” bereinigen zu können, muß man auch hier, legitimiert durch das Chalcedonense, vom „gegenwärtigen Stand des Erkenntnisproblems” (Nichtobjektivierbarkeit!) ausgehen: Subjekt und Objekt können voneinander nicht getrennt werden; sie stehen im Wechselbezug — sie sind komplementär. Das bedeutet rechtstheologisch: Die Beachtung der Relationalität und Geschichtlichkeit menschlicher Existenz sowie der Ausgang vom „Recht als Vorgang” überwinden die Subjekt-Objekt-Spaltung, auch im Bezug zur gegenständlichen Welt4. Selbst die Institutionenfurcht und -faszination wird so gegenstandslos5.
Mit der Subjekt-Objekt-Spaltung hängt aufs engste das „kausale Denken” zusammen. Wenn die Komplementarität von Subjekt und Objekt aufgelöst wird, dann muß man entweder vom Objekt oder vom Subjekt allein ausgehen und alles übrige davon kausal ableiten. Alles wird in der Konsequenz dieser beiden Ansätze in „eingleisige”, „einlinige” Kausalreihen aufgelöst. Man ist gezwungen, für alles eine prima causa zu suchen, also stets von einem einzigen Punkt auszugehen6.
4) Vgl. die Ausführung in Sache; der
Korrespondenz zu magischen Vorstellungen ist sich Do. bewußt (MuS
136 f.), glaubt sie durch die modernen Aussageformen aber
angemessen in heutige Rechtsstrukturen übertragen zu können.
5) MuR 114, 124, OU 62, 74, Kathol. 165 f., 300,
Berichtskizze 252, RdG 27 f., 456, 849 (3.), 946 f., 912 (A.
Gehlen), 1007.
6) MuR 111, MuS 87, 102, RdG 848, 1026. Der folgende
Überblick zeigt, daß Do. mit seiner Ablehnung kausalen Denkens
eine bestimmte rationalistische Ausprägung meint. Ob damit das
Kausalprinzip überhaupt im personalen und geistlichen Bereich
nicht gelten soll, bleibt offen. Freilich hat Do. im Zusammenhang
mit Komplementarität und Nichtobjektivierbarkeit Aussagen in
dieser Richtung gemacht. Dazu s.u. 559 m. A. 12 f. Zur Deduktion
s.o. 506, zum begrifflichen Denken s.u. 554 ff. — Paradebeispiel:
der scholastische Satz agere sequitur esse: Operari sequitur
esse (in dieser Fassung bei K. Barth KD II/1 88-92, G. Howe
FS Barth 410 ff., 1950 178 ff.) wird u.a. von Do. darum
verworfen, weil das Sein nicht das Tun „kausal” begründen könne —
so weit mit Kant. Außerdem bilden Sein und Tun ein
„gegenläufiges” Verhältnis, in dem es nicht möglich ist, das Tun
vom Sein „abzuleiten” (RdG 908; vgl. 465 4.). Kurz, die
Scholastik reduziere das agere auf das esse.
(Zunächst lehnt er ihn sogar deshalb ab, weil man sonst den
Heiligen Geist der menschlichen Vernunft unterwerfe [MuS 125],
also „das geistliche Geschehen den Begriffen der Philosophie und
der Physik” [OU 33, milder Kathol. 300 f.]. Dieser einem
katholischen Leser in seiner Kürze zunächst kaum zugängliche
Vorwurf wird verstehbar auf dem Hintergrund der Barthschen
Ablehnung dieses Axioms [ebd. 89 f.]: es stehe in notwendigem
Zusammenhang mit „jener Erfindung des ➝
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Daraus entsteht zunächst — wieder etwa ab dem 12. Jahrhundert — die scholastische Tendenz zur Objektivierung und zur Vergegenständlichung der Gnade7. In der Neuzeit bildet sich in derselben Linie das rationalistische, mechanistische Weltbild, das noch keineswegs
➝ Antichrists”, der analogia-entis-Lehre in der
[unvollständigen] Fassung von D. Feuling und J. Fehr.) — Aber die
Reformation handelt nicht besser als die Scholastik: Sie streicht
aus dem agere sequitur esse das esse heraus;
übrig bleibt ein austauschbares agere bei grundsätzlich
gleicher (kausaler) Denkstruktur. Weil es nicht mehr im Sein
verwurzelt ist, droht nun die Gefahr des Aktualismus und
Funktionalismus genauso wie vorher die der falschen
Objektivierung. Beide Positionen hängen historisch und genetisch
zusammen. Sie sind Folge des schon erwähnten Wandels im
Wirklichkeitsverständnis (OU 33 f., 66, Kathol. 300 f., Priest.
78 f., RdG 254. FS Karrer 398 ff.: Weil man etwa seit dem 2.
Jahrtausend den Sinn für Zusammenhänge, Bezüge und Ergänzungen
verlor, zerfielen sie in voneinander unabhängige Akte, wobei es
in der historischen Konsequenz gleich bleibt, ob diese
„scholastisch” im Sein gründen oder „nominalistisch” dies nicht
tun). — Nun könnte man versucht sein, den Satz einfach
umzukehren, also das Sein aus dem Tun fließen zu lassen, denn,
wie Do. sagt, der personale Akt führt in einen Status (RdG 907
[1.]; vgl. auch RdG 66 „kultisches Handeln erzeugt Recht”; OU 33
f. „Ich komme, bring und schenke dir, was Du mir hast gegeben”
[P. Gerhardt] — das wäre esse [Gabe] — agere —
esse, durchaus „katholisch”, zumal das sequitur
nicht notwendig [aristotelisch] „kausativ”-konsekutiv [so RdG 465
(4.)], sondern [augustinisch] im Sinne eines in-esse
interpretiert werden kann). Doch auch damit würde Do. sich nicht
einverstanden erklären. Denn Vorgang und Zustand, Akt und Sein
sind komplementäre und damit gegenläufige Erscheinungsweisen
eines sie umfassenden und transzendierenden Dritten, das sie
ermöglicht: der Institution. (Das ist der Sinn von RdG 907 [2.]
i. V. m. 908; vgl. FamR 139 „vorauslaufende Vergemeinschaftung”.
„Gegenläufig” besagt: Sein und Akt sind zwei einander notwendige
Aspekte der Realität, wobei Sein zum Akt und Akt zum Sein
tendiert.) Damit ist das Problem formal auf die Komplementarität,
material auf die Institution zurückgeführt.
7) MuR 111, 136, MuS 147, 152, FS Karrer 399 f.,
Priest. 78 f., RdG 184, 254, 631 ff., 848, 908. Dazu RdG 217 f.
und der Hinweis OU 65, RdG 870 f. A. 13 auf den
biblisch-personalen, also nicht-objektivierenden
Wahrheitsbegriff: „Ich bin die Wahrheit . . .” (Joh 14.6). Ferner
G. Stammler KuD 1957 5 (woraus hervorgeht, daß der Vorwurf der
Verfügbarmachung [der der katholischen „objektivierenden”
Sakramentslehre gemacht wird] auf eine Umkehrung des sonstigen
philosophischen Sprachgebrauchs zurückgeht). — Verwandt damit ist
die von Do. in der Scholastik konstatierte Verwandlung der
Eschatologie in eine „rationale Teleologie”. Darunter versteht
Do. die Einebnung der grundsätzlich transrationalen Eschatologie
in rational erfaßbare Ziele, unter die alles untergeordnet wird;
und was sich nicht unterordnen läßt, fällt weg bzw. wird
übersehen. Das jenseitige Eschaton, das vom Menschen nicht
vollendet werden kann (MuR 104, MuS 124), wird (seil, in der
Neuzeit) zum (MuR 104: zeitlichen, korrigiert RdG 209: zeitlichen
oder transzendenten) Ziel, das als wenigstens näherungsweise
erreichbar angesehen wird (NRE 14 f., 42). — Die Rationalisierung
der Eschatologie in der Scholastik dürfte richtig beobachtet
sein; aber ob man das äußerst komplexe Phänomen auf einen so
einfachen Nenner bringen kann?
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überwunden ist, wie seine vielfältigen Wirkungen zeigen, gerade in der Jurisprudenz. Auch die Person wird mit einbezogen. Ihre schöpferische Kontingenz wird belanglos; sie wird zur Kausalität, zur bloßen Funktion erniedrigt.
Als Gegenbewegung zu dieser Verselbständigung des Objekts bildet sich die Autonomie des Subjekts heraus. Die Person wird als autonom der kausalen Sachwelt gegenübergestellt. Auch der theologische Personalismus und der philosophische Indeterminismus (der die Verantwortlichkeit der Person retten will) haben hier ihre Wurzel8.
Beide Denkrichtungen, scholastische Objektivierung und moderner Personalismus, sind jedoch aus demselben theologischen Motiv entstanden, nämlich aus dem legitimen Anliegen, der Alleinwirksamkeit des Handelns Gottes Raum zu geben. Beide Ansätze haben auch die gleiche formale Struktur: Die komplementäre Gegenläufigkeit des personalen Geschehens kann nicht mehr ausgedrückt werden. Die Gegenrichtung wird unverständlich und darum umgedeutet. Sie wird entweder als „kausal" von der ersten Richtung verursacht interpretiert, oder man stellt sie sich als von der Primärtendenz aufgehoben vor. Das geschichtlich-kontingente Moment ist sprachlich nicht mehr faßbar9.
8) MuR 111, MuS 61 f. (Alternative
Objektivierung — Idealismus), 137; die Folgen für den rechtlichen
Personbegriff: MuS 152. Das (juristische) Gesetz wird als
Ursache-Wirkung (Tatbestand-Rechtsfolge) abstrahiert von seiner
Entstehung (Gesetzgeber) und sozialen Funktion
(Herrschaftsausübung), Hochland 1953/54 347. — Ebenso lehnen
sowohl Determinismus wie Indeterminismus ab z.B. K. Barth (KD
II/1 633), W. Pannenberg (KuD 1958 272 A. 24). Zur
rechtsphilosophischen und strafrechtlichen Diskussion vgl. Strafe
170 und K. Engisch 1963.
9) MuS 87, 102, Priest. 78 f., RdG 254, 380, 908.
Ebenso für das scholastische Kausaldenken M. Schmaus KD IV/1 92
f. Dieses Anliegen ist beiden Kirchen gemeinsam (OU 34). Zum
dogmatischen Sprachgebrauch „bewirkendes” Zeichen für das
Sakrament vgl. B. Bartmann II 226 ff., zum Mißverständnis des
Sakraments als mirakelhafte Kausalitätsdurchbrechung und dem
entsprechenden „spiritualen Mirakel der Innerlichkeit” vgl. RdG
191. Zum Eindringen kausaler Vorstellungen in die
Sakramentenlehre H.R. Schlette HthG II 456-460, auch Do. RdG 449
(244 gegen „objektivierte” Sicht der Sakramente), und in die
Amtslehre vgl. u. 554 f.15. Im allgemeinen
kirchenrechtlichen Zusammenhang bedeutet die „einlinige”
Kausalität die Ausbildung der spiritualistischen „monistischen”
Rechtsform im Gegensatz zu der „dualistischen” Struktur
personaler Rechtsakte (OU 74 [5., 6.]). Vgl. auch noch das
beachtliche Votum W. Pannenbergs gegen das kausale Denken, das
die Bedeutung der spätscholastischen Diskussion mit dem
Averroismus für seine Überwindung hervorhebt (KuD 1958 251-280
[279]). Vom phänomenologischen „Verstehen” her wird der
Kausalzusammenhang ebenfalls (relativ) bedeutungslos, G. van der
Leeuw PhdR 770, 775.
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Gegen das „erkenntnistheoretisch unhaltbare” kausale Denken stellt Dombois seine relational-geschichtliche Denkform. „Personal-soziale Bezüge können nicht noch einmal rein innerweltlich mit kausalen Kategorien verstanden und erklärt werden.” Erst recht hat das rationale Kausalschema innerhalb des inkarnatorisch verstandenen Heilsgeschehens seine selbständige Bedeutung verloren. Mit dem Gedanken des gegenläufigen „Vorgangs” ist das kausale Denken in vereinzelten Kausalakten im Ansatz überwunden. Es behält eine negative Bedeutung, insofern es auszuscheiden hilft, was nicht zur positiven Beschreibung eines Bezuges gehört, hat also seinen Platz nur innerhalb der von Dombois vorgeschlagenen Denkform10.
Wie das kausale, so ist auch das funktionale Denken für die Rechtstheologie ungeeignet. „Funktional” bedeutet für Dombois stets zugleich „auswechselbar”.
Funktionale und kausale Vorstellungen hängen genetisch und historisch zusammen, insofern auch das Denken in Funktionen die Person in ihrem geschichtlichen Handeln notwendig entweder ausklammert oder versachlicht und die personalen Rechtsbezüge verkümmern läßt11. Auch besteht theologisch eine Verbindung. Um die Alleinwirksamkeit des göttlichen Handelns zu demonstrieren, entfernt man die menschliche Person aus dem geistlichen Handeln und sieht das personale Geschehen als bloße Funktionsausübung an, damit ja der Mensch nicht sich anmaße, „selbst” göttlich zu handeln. Aber die Gegenüberstellung von Funktion und Person ist ebenso falsch wie ihre Vermischung. Denn Person und Funktion sind komplementär. Es ist erkenntnistheoretisch unmöglich (Nichtobjektivierbarkeit!), den Handelnden vom Gegenstand seines Handelns zu trennen. Das wäre nur das übliche Subjekt-Objekt-Schema. Person-ohne-Handeln und Handeln-ohne-Person gibt
10) MuR 136, MuS 162 (10.), Priest. 78 f., RdG
254, 465 (4.). Zum relativen Recht von Kausalvorstellungen vgl.
MuS 137, ferner RdG 946: „Ein gewisses Maß ,an’ Rationalisierung
ist als Mittel weder vermeidbar noch gefährlich.”
11) OU 34, 61, 66 f., Priest. 78, RdG 506 f.; RdG 254:
schon der Übergang von der relativen zur absoluten Ordination
zeigt ein funktionales Denken (OU 67), ebenso die „funktionalen”
Ämter ohne Ordo in den Bettelorden (RdG 450). Funktional
unpolemisch: NRE 46 (wohl einzige Stelle!).
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es nicht, auch kein „Sein an und für sich”, sondern nur personales Sein-für-andere12.
„Ethisch-funktionales” Denken vermag also existentiale Probleme nicht unverfälscht darzustellen13. Die Ablösung des (ontologisch-)personalen Elementes macht das Handeln „verfügbar”, vertretbar, unbegrenzt aufteilbar und zerstört zugleich die Person, weil sie ja doch von ihrem Handeln nicht abgetrennt werden darf, ohne zu verkümmern. Die Beobachtung der fortschreitenden säkularen Funktionalisierung sollte den Theologen davor warnen, die Funktionalisierung der Kirche als rechtstheologisch unbedenklichen, wertfreien Vorgang anzusehen; derartige Entwicklungen sind sozialgeschichtlich bedingt, nicht apriorisch gültig14. Darum auch sind funktionalistische Vorstellungen nicht geeignet, den Dienst der Kirche an der Welt, die institutionelle Wirklichkeit im allgemeinen, die Kirche und ihr Recht im besonderen15 zu beschreiben.
Wirklichkeit, Geschichte ist für Dombois personale und existentielle Wirklichkeit, die in dynamischen „Vorgängen” abläuft. Wegen ihres (theologischen und) personalen Kernes ist sie für ihn nicht „explizit”
12) S.o. 495 ff.; ferner OU 34, 67, 129, RdG
217 f., 849; 565 (gegen J. Heubachs Vermischung von Person und
Funktion), 582 zur falschen Alternative habitus gratiae
oder Funktion; ähnlich OU 61, RdG 506 zu der von
qualitas und Funktion; zum Selbstwiderspruch des
„Personalismus” Priest. 77, RdG 252 f., 931 (2.). Seit RdG
scheint das Funktionale ein Aspekt des Personalen zu werden (s.u.
581 f. m. A.20 zur tpI, „Kirchenrecht als ,Funktion’ des
Gottesdienstes”, Berichtskizze 251 f.), somit eine leichte
Verschiebung vom Komplementären zum Supplementären eingetreten zu
sein; vgl. RdG 237 i. V. m. 245: transfunktional = personal.
Damit behält das funktionale Denken eine relative Berechtigung,
die sich auch zur „funktionalen Institution” zeigen wird. Vgl.
noch RdG 795 für die Bischofsgemeinschaft.
13) Kathol. 301, FS Smend II 298, wegen des
kontingent-personalen Elementes in jedem geschichtlichen Handeln
(RdG 947).
14) Priest. 77 ff., RdG 252 ff., 898 f.; RdG
254 für Spätantike und Gegenwart, ferner OU 61; MuR 144 unter
Hinweis auf A. Gehlens „Überlastung sozialer Institute”; vgl. für
Schelsky bzw. Gehlen RdG 913, 919; zu den spiritualen Bettelorden
vgl. unten Exkurs XVII 665.
15) Berichtskizze 251 f., RdG 35, 243, 897 ff. — Diese
Erkenntnisse werden (vorbereitet in OU und Berichtskizze,
endgültig) in RdG auf die Amtslehre angewandt: „die
Funktionalisierung (des Priestertums) . . . entsteht durch eine
folgerichtige Anwendung kausaler Denkformen auf personal-soziale
Zusammenhänge” (Priest. 77 f., RdG 254). Daraus folgt:
das Amt ist keine Funktion, vielmehr ist die Funktion in das Amt
eingeschlossen (RdG 192, 947); dazu aber: das Amt ist nicht
Funktion der ➝
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definierbar, sondern nur „komplementär” (von Grenzwerten her) und unter Einbeziehung des erkennenden Subjekts „implizit” beschreibbar.
Daraus folgt aber, daß das „begriffliche” Denken für eine personal-existentielle Rechtsbegründung nicht tragfähig genug ist. Denn begriffliches Denken setzt (explizite) Definierbarkeit der Wirklichkeit voraus.
Man muß aber zusehen, was Dombois unter begrifflichem Denken versteht16! Er meint nicht die scholastische Abstraktion von bloßer Empirie zu höherer Seinsfülle, sondern — die Blickrichtung ist ganz anders — das Bestreben, mit „Generalbegriffen” unter Absehen von der relationalen und geschichtlichen Wirklichkeit zu hantieren, die gerade von den eigentlichen Sachfragen abstrahiert sind, nämlich den rechtsgeschichtlichen Zusammenhängen, den Bezügen, den unableitbaren personalen Momenten in der Geschichte. Außerdem unterschlägt die begriffliche Deduktion das Einmalig-Besondere. Schließlich kennt es keine innere Begrenzung, sondern läuft mit begrifflicher Strenge immer weiter bis zur extremen und nicht mehr sinnvollen Konsequenz. Kein Wunder, daß diese Art zu denken am abendländischen Schisma (mit) schuld ist17.
Dennoch gesteht Dombois dem Generalbegriff18 ein relatives Recht zu, unter zwei Voraussetzungen: daß er aus realen Vollzügen (Lebensvorgängen) abgeleitet und nicht mit der Sache selbst verwechselt wird19.
➝ Einzelgemeinde, sondern der Gesamtkirche in Hinordnung
auf eine Gemeinde (RdG 774 ff.); die Gesamtkirche „ist” nicht an
und für sich, sondern stellt sich (u.a.) in ihren Ämtern dar (OU
129, RdG 946 analog der Smendschen Integrationslehre; ferner
Priest. 77 f., RdG 252 ff.); priesterliches Handeln ist
nicht Ausdruck einer Funktionsverteilung, sondern der
menschlichen Angewiesenheit aufeinander (RdG 237). Amt als reine
Funktion mißverstanden führt entweder zum Funktionär oder zu
einem neuen Amtstypus (RdG 947, 952). — Hierher gehört auch die
Parallelisierung von Person-Funktion mit
konstitutivem-deklaratorischem Handeln (RdG 192; s.u. 648 ff. mit
Exkurs XIV); ferner OU 60 f., 74 (6.), Kathol. 166, RdG 952.
18) RdG 592, 631, 780. — Do. unterscheidet zwischen
bloßen Begriffen, rationalen „Prinzipien” (ZevKR 1956 56, Kathol.
297, RdG 799) oder Ideen (Kathol. 299!) einerseits und realen
Vorgängen (ebd. und RdG 45) andererseits. Das „unbiblische
Prinzipiendenken” ist unzulänglich (Lücke 353, RdG 558)! Die
Überschätzung der Begrifflichkeit ist „Idealismus” (RdG 32) à la
Hegel: Nicht die Begriffsjurisprudenz bringt das Recht erst zu
sich selbst (RdG 212)!, darum stellt er die Begriffsgeschichte
zugunsten der Realien und der Morphologie hintan, oben Exkurs X
519 f.
17) MuR 99, 146, Lücke 353, Kathol. 299, 302, RdG 631,
780, 874, Exk. XVII 663 ff.
18) RdG 908 auch „Spitzenbegriff”, der alles aufs
äußerste zuspitzt; oft „Oberbegriff”.
19) RdG 549, 799 — kein Nominalismus, trotz
(scheinbar!) universalia post rem, weil diesem die
Dimension der Geschichte fehlt, vor allem aber, weil für Do. das
➝
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Deshalb sollte die immer wieder vorgetragene Ablehnung begrifflichen Denkens nicht verdecken, daß auch Dombois „Begriffe” kennt, so den Begriff des Rechts, des Sakraments usf.20. Er lehnt es nur ab, Definitionen als „abschließende” Beschreibung von Wirklichkeit anzusehen. Personale und existentielle Wirklichkeit in der Geschichte ist nicht definierbar21.
Sind Komplementarität und Supplementarität samt impliziter Definition nur Spezialformen des schillernden Begriffes „Dialektik”? Dombois bestreitet es. Doch sehen wir näher zu!
Das Wort Dialektik kommt sogar noch häufiger vor als Komplementarität. Gleichsinnig wird gelegentlich auch von Polarität gesprochen1. Zudem fällt auf, daß gleiche Dinge einmal als dialektisch, ein andermal als komplementär bezeichnet sind2; ferner werden dialektisch,
➝ Geheimnis „in” der Sache liegt (sonst brauchte er die
implizite Definition nicht!). Vgl. auch MuS 81 gegen den „alten
nominalistischen Irrtum”, Glaube und Erkennen zu trennen, wegen
der christologisch erhellten Einheit der Existenz.
20) Richtig Grundmann ThLZ 1963 811; z.B. die Begriffe
des Rechts RdG 169; des Gnadenrechts OU 47, RdG 90 Überschrift,
166 u.ö.; des Sakraments RdG 132 Überschrift; der Institution RdG
907, u.ö.
21) Z.B. RdG 216 für den Rechtsbegriff, RdG 907 für
den Institutionsbegriff usf.; s.o. 544 ff. Auch in der
katholischen Rechtslehre sieht man unter augustinischem Einfluß
die Nachteile einseitig begrifflich-abstrahierenden Denkens
deutlicher, wie die Kritik an einer einseitigen
„Konklusionentheologie” zeigt. Darum K. Demmer 9 ff.:
„Augustinisches Denken . . . geht nicht von einem durch induktive
Abstraktion gewonnenen, ungeschichtlichen Allgemeinbegriff zu
seiner konkreten Verwirklichung im historischen Faktum; vielmehr
setzt es am unmittelbar gegebenen, konkreten Tatsachenbefund als
der Fülle der Wirklichkeit an und schaut von hier zu den . . .
Begriffen und ihrem entsprechend geringeren Wirklichkeitsgrad"
(16) und J. Pieper oben 54522.
1) SS 15 „doppelte Polarität, doppelte Dialektik”, MuS
36. Kritisch ist Do. nur gegen bestimmte Auffassungen von
Dialektik, ThLZ 1962 952, evtl. MuR 139, RdG 26-30.
2) Kirche-Welt (dialektisch: RdG 1026 bzw.
komplementär: RdG 1034); Kontinuität-Aktualität (RdG 690 f. bzw.
OU 49); eschatologische Existenz (RdG 145, 147, 287 bzw. 104,
110); Person-Sache (RdG 166, 838 f., 885 bzw. OU 49 [7.], RdG
565); (Traditions- bzw. Institutions-)Verzicht-Übernahme (RdG 782
bzw. 272) usf.
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komplementär und supplementär im Sinn einer Steigerung oder Präzisierung nebeneinander gestellt3; (relative) Gewißheit gibt schließlich eine Definition: „Ein dialektisches Verhältnis bedeutet . . . die Zuordnung zweier gegensätzlicher Momente, die aufeinander angewiesen sind, einander in ihrer Gegensätzlichkeit bedingen, also nicht voneinander gelöst werden können”; dazu kommt die „formale Gleichwertigkeit” der beiden Momente. Das sind fast genau die Begriffsmerkmale der Komplementarität. Sie kommen auch einzeln vor (immer verbunden mit der Auskunft, daß es sich um ein dialektisches Verhältnis handle); so die Zuordnung von Grenzwerten, die Gegensätzlichkeit, ja Antinomie von bestimmten Sachverhalten, die dennoch im „Vorgang” „vereinend überwunden” ist4, ihre gegenseitige Abhängigkeit und Untrennbarkeit, mit der Aufgabe, die Spannung durchzuhalten5, die Unmöglichkeit, einen Oberbegriff namhaft zu machen6, die Verbindung zur Geschichtlichkeit; schließlich ihre theologische Begründung. Die Komplementarität ist also für Dombois eine Form der Dialektik7.
Daß diese Dialektik ein spätes (aber legitimes!) Kind des hegelianischen Idealismus ist, zeigt die Betonung von Relation und Geschichte.
Erik Wolf hat schon gezeigt — und darin stimmt er mit Dombois überein —, daß die dialektische Redeform, hier die Komplementarität, ihren legitimen Ort hat, wo es darum geht, das Mysterium zu umschreiben, wenn sie es nur versteht — da durch Strukturen, dort durch
3) RdG 267, 565, ähnlich FS Karrer 399, ZevKR
1962/63 40. Komplementarität und Supplementarität: s.o. 541
f.14.
4) DtPfBl 1949 58 f., NRE 31 f., SS 50, FS Karrer 399,
Priest. 82 ff., RdG 27 (gegen H. Wehrhahn), 204, 207 ff., 209,
222, 242, 256, 272, 565, 690 f., 838, 995, 1030; fehlt die
Gleichwertigkeit, so handelt es sich um eine „hinkende Dialektik”
(RdG 30), denn diese Dialektik ist „begrifflich unvollständig”
(RdG 27).
5) „Ergänzung”: MuS 162 (9.); „gegenläufiges Gefälle”:
DtPfBl 1949 58 f., Priest. 83 ff., RdG 256 f., 502, 1029 f.;
Regel und Ausnahme bedingen und begrenzen sich gegenseitig: RdG
843 und wieder SS 15 (Polarität); existentielle Aufgabe: RdG 204,
886.
6) RdG 222 mit J.L. Leuba; das wäre
„Rationalisierung”, RdG 1025.
7) SS 50, RdG 690 f., 1030 gegen MuR 139. Der Grund
der Bevorzugung der Komplementarität liegt wohl in ihrer relativ
größeren Eindeutigkeit. Eine mehr als zweigliedrige Dialektik
scheint bei Do. nicht vorzukommen (aber s.o. A. 1), wohl aber als
Komplementarität. Anders in letzterem Punkt Wolf und G. Radbruch,
oben 43319.
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Analogien — zu positiven Aussagen fortzuschreiten. (Freilich sollte sie auch angeben können, wo undialektisch bzw. nicht-komplementär zu sprechen ist.) Dazu kommt bei Dombois das äußerst diffizile Beginnen, die Zeitlichkeit in rechtliche Denk- und Sprachformen einzubeziehen; es ist so bedeutsam, daß es demgegenüber fast sekundär ist, ob Dombois nun schon, wie in seiner Institutionenlehre, „im ersten Anlauf” bleibende Resultate gewonnen hat. Jedenfalls ist das Problem jetzt unüberhörbar formuliert.
Nicht unbedenklich ist dagegen der Versuch, sich dabei der Ausdrucksformen der in schneller Entwicklung begriffenen modernen Physik zu bedienen.
1. Zunächst wäre — mit Dombois selbst — zu fragen, ob es erlaubt ist, ohne genaue Prüfung „physikalische” Aussagen in die Theologie und damit in die Rechtstheologie zu übertragen, zumal sie im Ansatz von allen personalen und geschichtlichen Kategorien gleich weit entfernt sind. Wird hier nicht gerade die „Logik der Sprache” unterschätzt?
2. Ferner: Handelt es sich überhaupt um physikalische Aussagen? Gerade die „Komplementarität” entstand doch aus dem Bemühen der sogenannten „Kopenhagener Schule”, ihre atomphysikalischen Forschungsergebnisse philosophisch zu verstehen8. Sie entsprangen, um es überspitzt zu sagen, nicht einem physikalischen, sondern einem philosophischen Interesse. Dabei darf auch die naturphilosophische Herkunft der Überlegungen Niels Bohrs und Werner Heisenbergs nicht übersehen werden.
3. Selbst wenn man zugibt, daß analoge(!)9 Übertragung von philosophischen Deutungen physikalischer Phänomene auf andere — philosophische oder theologische — Bereiche zulässig und vielleicht sogar notwendig ist, dann bleibt gerade für die Komplementarität von Welle und Korpuskel10 die Frage, ob nicht ihre ursprüngliche
8) C.F. v. Weizsäcker RGG III 1744 f. Hier ist
auch daran zu erinnern, daß Do.s Beiziehung des „mathematischen
Zeitbegriffs” (oben 540 f.12) streng genommen bereits
eine Vermengung von philosophischen und naturwissenschaftlichen
Kategorien darstellt. Die Mathematik kennt keinen „Zeitbegriff”;
ihn zu finden ist Aufgabe der Philosophie.
9) Richtig G. Stammler KuD 1957 5 (der im übrigen die
Übertragung bejaht), W. Büchel 241 f., F. Selvaggi 138 ff.
10) Ob für die anderen Komplementaritäten
Entsprechendes gilt, muß hier offen bleiben.
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Ausprägung bei Niels Bohr von der Entwicklung der physikalischen Forschung selbst überholt ist. Denn es scheint inzwischen eine widerspruchsfreie mathematische Deutung zumindest des Welle-Korpuskel-Dualismus gelungen zu sein. Das würde für Dombois „entsprechend” besagen, daß jede Komplementarität einen nicht-komplementären Ermöglichungsgrund hat. Oder anders: Komplementarität ist nicht das letzte, sondern das vorletzte Wort zur Sache; sie ist selbst logische Folge eines widerspruchsfrei beschreibbaren Sachverhalts11.
4. Dombois wiederholt übrigens auch die betagte Behauptung, daß die Entwicklung der Komplementarität die Ungültigkeit des Kausalgesetzes für einige Bereiche der Physik erwiesen habe12. Aber nicht das Kausalprinzip, sondern der Determinismus hat versagt (C.F. von Weizsäcker)13.
11) Die Komplementarität bedeutet
historisch folgendes: Für eine Theorie des Elektrons gab
es im Rahmen der klassischen Physik zwei grundverschiedene
Ansätze, einen korpuskularen und einen auf der Wellenvorstellung
beruhenden. Beide sind im Rahmen der klassischen Theorie nicht
vereinbar. Beide beschreiben aber gewisse Experimente zutreffend.
Mit der Quantenmechanik ist nun eine übergeordnete Theorie des
Elektrons gegeben, die die klassische Theorie als Grenzfall
enthält. Innerhalb dieser Theorie ist das Elektron
eindeutig durch gewisse mathematische Formeln
beschrieben, und es kann im Rahmen dieser Theorie „ausgerechnet”
werden, unter welchen Umständen sich ein Elektron „wie” ein
Korpuskel und wann es sich „wie” eine Welle verhält; d.h. es ist
bekannt, unter welchen Umständen und wie weit gewisse klassische
Theorien und deren Denkmodelle (Korpuskel, Welle) für die
Beschreibung der Phänomene brauchbar sind.
12) Kathol. 298, MuS 147; er verlangt deshalb die
Aufhebung des Satzes vom Widerspruch konsequenterweise auch für
die Theologie (Kathol. 306; theologische Begründung ist das
göttliche Mysterium, Kathol. 301), die Ethik (zur „mehrwertigen
Ethik” RdG 265 f., 719; die Existentialethik als
„Komplementärbegriff” F. Böckles LThK III 1301-1304 gehört nicht
hierher) und Rechtswissenschaft (MuS 155), wie dies G. Howe
ebenfalls tut (FS Barth 420 u.ö.).
13) RGG I 685. Do. legt also (mit G. Howe) hier den
naturwissenschaftlichen Realitätsbegriff zugrunde, der sich auf
die bloße Erscheinungswirklichkeit beschränkt, die Frage nach dem
den Erscheinungen zugrundeliegenden Wesen der Dinge ausklammert
und darum folgerichtig die Kausalität nicht mehr als
Realbeziehung von Ursache und Wirkung versteht, sondern als
„regelmäßige und vorhersehbare zeitliche Aufeinanderfolge von
Erscheinungen” (G. Wetter 474). Wenn nun Do. (mit G. Howe und den
Physikern N. Bohr, P. Jordan, M. Born u. a.) daraus auf die
Ungültigkeit des Kausalprinzips schließt, dann liegt dem die
Verwechslung von Kausalprinzip und seiner Beobachtbarkeit
zugrunde. Deshalb „folgt aus dem indeterministischen Charakter
der physikalischen Aussage noch keineswegs die Indeterminiertheit
des physikalischen Geschehens selbst” (J. Hessen 1958 294 f.; so
auch die Physiker L. de Broglie, A. Einstein, E. Schrödinger, M.
Planck und der Diamat; G. Wetter ebd.). Die Frage für die
Geisteswissenschaft ist nur, ob es eine solche ➝
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5. Dombois hält sich — man möchte sagen, zum Glück — selbst nicht ganz an seine Übernahme der „physikalischen” Komplementarität; er unterwirft sie vielmehr nicht geringen Abänderungen. Bei ihm beschreibt sie nicht nur die polare Struktur innerhalb eines Einzelphänomens (z.B. Person und Sache; die beiden Rechtskreise, Recht und Ethik), sondern dient ihm auch zur Verknüpfung mehrerer Einzelphänomene, z.B. wo er interpersonale geschichtliche Vorgänge wiedergibt. Auch hat bei ihm die Komplementarität nicht das letzte Wort, vielmehr sind die Institution und das Recht das sie umgreifende und ermöglichende Ganze14. Schließlich ist die Komplementarität bei ihm nicht allein in der Physik begründet, sondern auch und wohl sogar in erster Linie in seiner chalcedonensischen Christologie und Anthropologie. Es hat den Anschein, daß Dombois in der „physikalischen” Formulierung seiner Dialektik eine willkommene Bestätigung und Präzisierung der formalen Aspekte seiner christologischen Anthropologie gefunden zu haben glaubt15. Durch diese Modifikationen wird die komplementäre Denkform das geeignete Instrument zur Bewältigung der spannungsreichen Wirklichkeit der Institutionen und des Rechts.
➝ beschränkte Beobachtbarkeit des Kausalgesetzes nicht
auch und gerade im personalen Bereich gibt. D.h. für unseren
Zusammenhang, daß die Übernahme der Aussageform der
Komplementarität in die Rechtsbegründung unabhängig von ihrer
unzureichenden philosophischen Begründung Beachtung beanspruchen
darf (vgl. z.B. R. Guardini 1955, H. Meyer II 34 ff., A. Kaufmann
WdF 22 470 ff. [478 A. 21]). Do.s Behauptung, daß nur-kausales
Denken personalem und geschichtlichem Geschehen prinzipiell
inadäquat ist, dürfte zu Recht bestehen. Diese Fragen sind aber
keineswegs auch nur annähernd geklärt — auch nicht für die
Rechtswissenschaft.
14) Vgl. RdG 907 f. und unten 589.
15) Oben 547 f. Man muß sich darum hüten, die
„Komplementarität” bei Do. über-zuinterpretieren; Do.
unterscheidet auch, abgesehen von der Supplementarität, nicht
zwischen den verschiedenen Interpretationen dieses
Begriffs.