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Jede Rechtslehre setzt eine Anthropologie voraus. Jede juristische Anthropologie ist zuletzt eine theologische Anthropologie1. Diese beiden Sätze gilt es im Auge zu behalten, wenn im folgenden die juristische Seite der Anthropologie Hans Dombois’ dargelegt wird, soweit sie für die Rechtstheologie erforderlich ist.
Die Eigenart des Denkens Dombois’ — es wurde schon eingangs erwähnt — verlangt ein etwas ungewöhnliches Vorgehen. Es ist nicht möglich, einfach sein begriffliches System der Anthropologie vorzulegen. Denn er denkt in „existentiellen”, „personalen” „Strukturen”, die untereinander in „geschichtlich” variabler „Beziehung” stehen und so eng miteinander verflochten sind, daß ein jeder dieser (hier so genannten) „anthropologischen Grundbegriffe” jeweils durch die anderen „definiert” wird2 (unten 2-6), was durch die Dombois eigene Denkform einer sich in „komplementären” „Grenzwerten” bewegenden „Dialektik” seine Erklärung findet (unten IV). Es handelt sich um die fünf Grundbegriffe der Relation, Existenz, Person, Struktur und Geschichte. Die eigentliche „Systematik” dieser Grundbegriffe ist erst die Theorie der Institution (unten V).
Doch ehe das Gefüge der anthropologischen Grundbegriffe angegangen werden kann, muß man sich vergegenwärtigen, welche Ziele Hans Dombois mit seiner Rechtsanthropologie verfolgt.
Hans Dombois beabsichtigt mit seiner so weit ausholenden und in scheinbar ganz unjuristische Bereiche abschweifenden Rechtsanthropologie
1) FamR 125 f. (gilt allgemein), MuS 161 (2.),
RdG 560, 769 A. 26.
2) Vgl. zum Kirchenamt (!): Es ist „ein Bezugsbegriff.
Es wird definiert durch die Bezüge, in denen es steht” (FKL
46).
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nicht weniger als die Revolution des gegenwärtigen Rechts3. Auch diese Revolution ist nicht Selbstzweck; sie steht im Dienst des ökumenischen Gedankens. Dombois prüft die Rechtsvorstellungen, die dem säkularen und konfessionellen Rechtsdenken zugrunde liegen, und kommt zu dem Ergebnis, daß sie alle für die Aufgaben der Zukunft ungeeignet sind. Darum macht er sich auf die Suche nach denjenigen Rechtsformen mitsamt ihren theologischen und philosophischen Voraussetzungen, die tragfähig und umfassend genug sind, die bisherigen Rechtskonzeptionen in sich aufzunehmen.
Gesucht sind also diejenigen rechtlichen Denkformen, die für ein künftiges theologisches Gespräch zwischen der lateinischen, den evangelischen und den orthodoxen Kirchen notwendig sind.
Die gegenwärtige Lage ist gekennzeichnet durch die Diagnose „zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus”4. Altes5 und neues Rechtsdenken sollen zu einer neuen Form existentiellen Rechts verknüpft werden. Dazu bedarf es der Überwindung des verfehlten Dualismus’ von Natur und Geist ebenso wie des ganz anders gearteten von Ontologie und Ethik, von Sein und Sollen6, Form und Inhalt. Man darf den konkreten geschichtlichen Sachfragen nicht mehr mit abstrakten Begriffen in zeitlose Idealität ausweichen, sondern muß wieder von den existenzbegründenden Lebensformen ausgehen. Der existentialistische Rückzug auf eine bloße Entscheidungsdialektik reicht nicht aus; seine Basis ist zu schmal. Neue Formen des Denkens und der Aussage müssen vielmehr erst gefunden werden7.
In nuce also die Kritik aller Hauptrichtungen gegenwärtiger Rechtsphilosophie! Natürlich ist Dombois nicht so vermessen, daß er glaubt, die endgültige Lösung gefunden zu haben. Gleichwohl scheint hier ein Neuansatz erreicht zu sein, dessen Tragweite noch nicht abgeschätzt werden kann.
3) RdG 36: „Es bedarf . . . einer Revision des
Rechtsbegriffes”!
4) MuS 12, RdG 164 (der Titel des von Do. öfters
zitierten Buches von Klaus Ritter); vgl. auch A. Kaufmann 1965
478.
5) NRE 28. Gemeint sind scholastisches Naturrecht und
autonomes Vernunftrecht, aber auch der Rechtspositivismus (NRE
28, MuS 12, 125).
6) MuS 12, 15, 125, ZevKR 1956 46, 56 u.ö. — in
deutlicher Frontstellung gegen Kants Trennung von Sein und Sollen
(„Methodendualismus”), aber auch gegen die
Philosophievergessenheit evangelischer Theologen.
7) Meth. 342, SS 4 (zum Staatsproblem), 11 (vgl. auch
PG 11), NRE 57, MuS 151, 154, RdG 37, 63, 185 f., 874 (gegen das
ius divinum).
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Der erste anthropologische Grundbegriff ist der „Bezug” oder die „Relation”1. Seine theologische Wurzel liegt offen zutage. Es ist die trinitarisch-christologisch begründete (analog-)relationale Struktur des Menschen.
Die Bezogenheit auf Gott, Mitmensch und Sache ist die menschliche „Grundverfaßtheit”, von der sich alles Übrige ableitet. Darum steht sie hier voran. Der Mensch kann konkret nur im Bezug existieren. Zur Entstehung, Erhaltung und Erfüllung seines Lebens bedarf er des „konstituierenden Gegenübers”. Darum kann Dombois prägnant behaupten: „Der Inbegriff der . . . Bezüge konstituiert den Menschen.” Diese Tatsache ist zuletzt begründet im Bund Gottes mit dem Menschen (er ist die Relation par excellence!) und in Christus klar erkennbar2.
Dombois unterscheidet zwischen Grundrelationen3 und anderen, die hier zunächst nicht weiter interessieren sollen4. Entsprechend dem Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe ergeben sich zwei fundamentale Relationen: der Bezug zu Gott und der zum Menschen5.
Bei genauerem Zusehen ist der mitmenschliche Bezug zweifach, nämlich zum Nächsten und zur Frau. „Eva ist der Prototyp des Nächsten.” Dazu kommt der Sachbezug (oder „Sachherrschaft”), der als „ein in die Außenwelt verlängerter personaler Lebensraum” verstanden wird. So erhält Dombois drei bzw. vier Grundrelationen6.
1) Relation, Beziehung, Bezug, gleichgesetzt in
MuS 147, RdG 37; gelegentlich auch „Korrelation” für
gegenseitigen Bezug (MuS 163 u.ö.).
2) EltR 99, MuS 150.
3) MuS 147, 162. In ihnen lebt der Mensch
notwendigerweise, NRE 29 ff.; sie begründen deshalb seine
konkrete Existenz, MuS 127.
4) Z.B. zwischen Mensch und Strafe (in MuS 162 bei den
Grundrelationen), Kirchenrecht und Liturgie, RdG 51; Amt,
Gottesdienst und Kirche, RdG 553 ff.; u.v.a.
5) Hochland 1953/54 355, MuS 126; ebenso H.D. Wendland
(s.u. 49712). In NRE 29-31 bezeichnet „Personalität”
die erste, „Zweiseitigkeit” die zweite Relation (unten 493). —
Auch die Teilhabe an Christus ist eine Relation, ebenso die
Gnade. Sie ist „In-Gnade-stehen-bei-jemand”, was sich (analog)
fortsetzt im gottesdienstlichen Handeln der Gemeinde, NRE 43, MuS
126, RdG 37, 631 f.
6) NRE 29, 38, FamR 78, 137, NR 204, RdG 908 (dazu MuR
98 ff.); RGG V 824 f. erweitert um den Arbeitsbezug. Zur
Definition des Sachbezuges vgl. MuS 34, ➝
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Sie stehen nicht isoliert voneinander im Raum, sondern sind miteinander verbunden als die Existentialien der menschlichen Existenz. Wie es sich mit ihrer Rangfolge verhält, zeigt aber erst die Institutionentheorie7.
Die Bezüge sind inhaltlich genau beschreibbar, wenn auch — als komplexe Lebensvorgänge — nicht explizit zu definieren. Bei genauerer Analyse ergibt sich ein im einzelnen verwickeltes „Gefüge” von Relationen und gegenseitigen Abhängigkeiten, wie Dombois für das Kirchen-, Straf- und Eheschließungsrecht besonders eindringlich gezeigt hat8.
Für dieses Gefüge verwendet er den Begriff der „Struktur”9. Diesem Thema soll noch eine eigene Betrachtung gewidmet werden.
Der zunächst statische Begriff der Relation ist bei Dombois zugleich als ein dynamisches Geschehen zu verstehen. Der Bezug ist ein „Vorgang” und als solcher die Einheit von Dynamik und Statik, von Akt und Sein. Er ist also „geschichtlich”, was hier und im folgenden so viel heißen soll wie „geschehentlich”; damit aber geschichtlichen Wandlungen unterworfen.
Da Geschichtlichkeit zugleich Verantwortlichkeit meint, ist die menschliche Relationalität sowohl „ontiscbe Gegebenheit . . . als auch ethische Aufgabe”. Die Geschichtlichkeit der menschlichen Bezüge bedeutet andererseits deren Veränderlichkeit. Man muß sich hüten, die „durchhaltenden” Momente zu überschätzen. Gleich bleiben nur die Grundprobleme der menschlichen Existenz; die Lösungen variieren10.
➝ 87, 137. Ausführlicher hat Do. die Bezüge im
Kirchenrecht (in der Lehre von den gottesdienstlichen Rollen; von
den Kommunikationsformen des Repräsentanten, Boten usf.), den
Nächstenbezug vor allem in seinen Untersuchungen zum Straf- und
„Nächstenrecht”, den Geschlechtsbezug in den Arbeiten der
Eherechtskommission, den Sachbezug in „Mensch und Sache”
entfaltet.
7) RuI 72, EltR 99.
8) MuS, RdG; zur impliziten Definition s.u. 544 ff.;
zur Struktur der Relation MuS 61 ff., 142 („Relationsschemata”),
EltR 99, RdG 931.
9) MuS 87.
10) SS 5, MuS 74, 98, 149, 162, RGG V 824. Dazu R.
Bultmann 1964 161 f.; zur Relation als Vorgang und Geschichte
s.u. 517 f. 521 ff. mit Exkurs XI.
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Weil der Mensch konkret nur in Bezügen lebt, sind die Relationen von der Existenz unablösbar. Sie sind Existenzbezüge. Der Mensch steht in der Polarität „zwischen” Individuum und Gemeinschaft. Man muß sogar sagen, daß die konkrete Existenz durch die Relationen erst begründet wird und nicht umgekehrt11.
Dieses Verständnis der Existenz als einer nur im Bezug vorhandenen ist somit gegen den autonomen Existentialismus abgegrenzt. Daß die sittlich „autarke” Person Kants ohne den verpflichtenden Bezug nach außen ebenfalls und mit Schärfe abgelehnt wird12, läßt sich leicht einsehen.
Jede konkrete Beziehung begründet Gemeinschaft. Die Relationen sind Gemeinschaftsbezüge. Relationalität und Gemeinschaftsbezogenheit sind darum fast synonym. Im Spannungsgegensatz und existentiellen Zusammenhang von Individuum und Gemeinschaft verläuft das menschliche Leben13.
Wie weit ist also Dombois auch hier vom „Existentialismus” entfernt, trotz seiner ständigen Rede von der Existenz! Der letzte Grund dafür liegt wieder in der Theologie: Die konkrete Ermöglichung der Relationalität des Menschen liegt in der „vorauslaufenden Vergemeinschaftung”, deren ihn Gott gewürdigt hat, indem er mit ihm den Bund schloß14.
Die Anwendung dieser Gedanken auf die christliche Gemeinde und ihren Gottesdienst liegt nahe: Im gottesdienstlichen Vorgang, im Umgang der Glieder des Leibes Christi miteinander, bilden sich die
11) MuS 64, 127, 149 f. (Existenz durch
Relationen „determiniert”), 151, 154 („Relationscharakter” der
Existenz), RGG V 824 f., RdG 908. Dahinter steht der Ausgang von
der Relation, nicht der Essenz oder dem „Ding an sich”.
12) NRE 63, MuS 150 f., RdG 276 f. A. 21; dazu unten
A. 16. Ohne Kant ausdrücklich zu nennen, wird auch die
Entgegensetzung von Autonomie und Heteronomie abgelehnt (RdG 257)
— sachlich mit P. Tillich (I 175 ff.) eins, der sie in der
„Theonomie” aufhebt.
13) NRE 59, FamR 137, MuS 105 f., RdG 736 — das
Beziehungsziel ist also ganz im alten Sinn der
relatio in die Definition aufgenommen.
14) NR 202, FamR 139 u.ö. Bund Gottes als Quelle der
menschlichen Grundbezüge.
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Relationen heraus und führen zum Recht der Kirche als einer Bezugsverfassung15.
Die Relationalität des Menschen bezeichnet also die in den drei Grundbezügen zu Gott, Mensch und Sache verfaßte („strukturierte”), in geschichtlicher Verantwortung existierende Person.
Fast hat es den Anschein, als ob die Betonung der Relationen und der Ausgang von ihnen purer (Marburger) Neukantianismus sei: das „Ding an sich” ist wegen des erkenntnistheoretischen Pessimismus unerkennbar; deshalb hält man sich an die Bezüge als das allein Greifbare.
Doch der Schein trügt16. Es besteht ein dreifacher Unterschied. Die Relationen sind nicht nur erkenntnisimmanent17. Ferner ist die Absicht, die zur Betonung der Relation führt, dem Neukantianismus geradezu entgegengesetzt: das seit Kant autonome Subjekt soll gerade aus seiner Autonomie erlöst werden. Vor allem aber schreitet Dombois von einem rein formalen und funktionalen Relationismus fort zu inhaltlich bestimmten Aussagen über die Struktur des Erkenntnisobjektes, die obendrein eine entfaltete theologische Anthropologie voraussetzen18.
16) RdG 37 Gott-Mensch, Mensch-Gott,
Mensch-Mensch. Damit ist die anthropologische Wurzel des
„liturgischen Rechts” freigelegt, das, von diesem Ansatz her, von
K. Barths liturgischem Recht abweichen muß.
16) Zwar: „Die Existenz an sich, sozusagen ein
subjektives ,Ding an sich’, ist . . . nicht objektivierbar,
deshalb auch rechtlich nicht darstellbar”, MuS 150. Aber hier
kommen erkenntnistheoretische Einflüsse der modernen Physik zur
Geltung, s.u. 537 ff. Auf Kant ist Do. ganz allgemein schlecht zu
sprechen, vgl. KuD 1957 65 f., Kathol. 301, EltR 90 und die RdG
1061 angegebenen Stellen; er sei nur der Gerichtsvollzieher der
Scholastik und ein protestantischer Häretiker. — Aber das kann
nur ein Indiz sein.
17) So im allgemeinen die Marburger Schule. Dazu vgl.
die Ablehnung des Idealismus durch Do. als Häresie (EltR 97 f.
u.ö.), die K. Barth endlich überwunden habe (KuD 1957 68, RdG 874
f.).
18) MuS 152 f., RdG 196 „keine gestaltlose
Spiritualität, sondern . . . eine vielfältig beschreibbare Fülle
(von) Bezüge(n)” (dazu MuS 106, 155). — Übrigens finden sich in
diesem so unscholastischen Relationsbegriff alle vier Elemente
der Schuldefinition: relatio ipsa, subjectum (die
menschliche Existenz: es gibt keine Relation ohne
Relationssubjekt, OU 34 u.ö.), terminus (das
konstitutive [nämlich notwendig dazugehörende] Gegenüber”);
fundamentum relationis ist zuletzt die trinitarische
Struktur, erhellt in Christus.
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Existenz besteht aus Relation, kraft Beziehung1. Deshalb ist nach der Relation von der Existenz zu handeln.
Was Dombois unter „Existenz” versteht, zeigt am ehesten ein Vergleich mit dem Existenzverständnis des Existentialismus.
Hier soll zur größeren Deutlichkeit nur seine Kritik am Existentialismus der Existenztheologie zu Wort kommen2. Am Anfang steht radikale Ablehnung3. Die Äußerungen ab „Recht der Gnade” sind wesentlich differenzierter. Sie lassen sich dahin zusammenfassen, daß die Existenztheologie den notwendigen Zusammenhang der christlichen Existenz mit Raum (personale Relation) und Zeit (Geschichte) übersehe.
Nach Dombois darf nicht das Existenzverständnis des isolierten Einzelnen der Ausgangspunkt sein4, da die „Existenz” nur in Bezügen lebt. Damit ist der „existentialistischen” Position im Ansatz widersprochen. Sie sieht nicht, daß es Existenz nur in konkreten Vorgängen und Rollen (Relationen) gibt, die „geschehen”, also geschichtlich sind — die Existenztheologie hat ein falsches Geschichtsverständnis und einen falschen, weil
1) Oben 486.
2) Do.s Kritik richtet sich vor allem gegen den
Existentialismus Heideggerscher Prägung (RdG 801, FS Smend II 290
f.), mit dem er nicht allzu vertraut zu sein scheint (vgl. RdG
812 A. 21a), und zwar weniger gegen dessen rechtsontologische
Fortentwicklung durch Wolf (ebd.) als gegen die von Do. so
genannte „existentia-listische Theologie” (GRE 42, RdG 148, 152,
367, 799, 801, 2EE 1963 319; FS Smend II Überschrift
„historisch-kritische Theologie” — was nicht unbedingt das
gleiche ist!), nämlich gegen R. Bultmann und seine Schule
(hiervon wieder besonders E. Käsemann, aber auch E. Fuchs). Do.
betont indes auch ihre Verdienste in ausführlichen
Stellungnahmen, neben RdG bes. in FS Smend II. Do. verwendet
übrigens existentiell, existenziell, existential, existenzial
ohne Unterschied. Auch der Unterschied existentiell-existential
(vgl. etwa K.E. Logstrup RGG II 825 f., aber auch K. Rahner LThK
III 1301; bei P. Tillich etwa gleich
existentiell-existentialistisch, II 32 f.), der in der
Existenztheologie so wichtig ist, wird nicht gemacht. Ebenso
verfährt diese Darstellung.
3) GRE 42 (1946): „Existenzphilosophie und (!)
Existenztheologie, die . . . jedes echte geschichtliche Handeln
radikal . . . verneinen.”
4) RdG 46, 78 f. als Frage an K. Barth. — Das bedeutet
übrigens der von Do. gelegentlich erhobene Vorwurf des
Anthropozentrismus (z.B. RdG 49, 410) gegen die dialektische
Theologie; RdG 523 gegen Luther (weil dieser die Heilssorge für
den einzelnen zu sehr in den Mittelpunkt rücke).
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irrelationalen aktualistischen Begriff von der Person. Sie ist in ihrer Beschränkung auf je meine Präsenz ungeschichtlich und damit ungeeignet, die personale Kontinuität des Geistes in der Geschichte darstellen und bewahren zu können5. Durch drastische Reduktion des neutestamentlichen Kerygmas fallen schließlich Person (Christi und des Gläubigen) und Kerygma in eins zusammen im punctum mathematicum der „Entscheidung”. Die Entscheidung deckt sich mit ihrem Gegenstand. Die Zuspitzung auf den je und je präsenten Anspruch an mich macht blind für die Gemeinschaftsdimension. Der falsche Existenzbegriff läßt die Existenztheologie — bei allen Verdiensten gerade E. Käsemanns — ausgerechnet die Existentialität des Rechts verkennen6.
Worin besteht nun diese Existentialität nach Dombois? Wie so oft erfährt man die Meinung des streitbaren Gelehrten am besten dadurch, daß man seine Kritik ins Positive wendet: Existenz ist dann weder das isolierte Individuum, das aus dem „Man” zu sich selber zu kommen trachtet, noch (und erst recht nicht) die von Gott und Mitmensch abstrahierte Wesensnatur, sondern der ganze, „elementare” Mensch7 als konkrete Einheit von essentia und existentia, in seiner Bezogenheit und Geschichtlichkeit. — Das gleiche zeigt sich bei der Analyse im einzelnen.
Während das philosophische Existenzverständnis der Gegenwart in der Hauptsache vortheologisch ist und deshalb den Fall voraussetzt, geht Dombois mit Karl Barth (und übrigens auch Erik Wolf) von der in
5) Dazu MuS 74, RdG 154, 367 f., 456, 772, 867,
FS Smend II 298; gerade um die Kontinuität und Apostolizität der
Kirche geht es Do., RdG 800; Raum und Zeit als Konstitutiva der
Kirche OU 100.
6) RdG 152, 799, 801, FS Smend II 298; RdG 368:
„Aktualismus der Verkündigung und der Formalismus der
existentiellen Entscheidung” (ob man von Formalismus sprechen
sollte, wenn Entscheidung und ihr Gegenstand zusammenfallen? M.E.
kann man es sich mit R. Bultmann nicht so leicht machen; vgl. die
eindringenden Untersuchungen von A. Kolping KuM V 11-28 und G.
Hasenhüttl 1963). Zur Kritik der existentialistischen
Entscheidung vgl. FS Smend II passim, zur Entscheidung
(iurisdictio) als kategorialem Rechtsbegriff u. 712 ff.
Zum „virulenten existenziellen Liberalismus” R. Bultmanns (eine
fortentwickelte Invektive P. Tillichs, die wohl die fehlende
Gemeinschaftsdimension meint) vgl. RdG 75, 148, 153, FS Smend II
290 und das Zitat RdG 150, wo sich E. Käsemann gerade gegen den
Liberalismus abgrenzt.
7) RdG 465.
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Christus erhellten und verwandelten relationalen Existenz aus8. Das kann nach der oben entwickelten theologischen Anthropologie gar nicht anders sein, wird die Existenz doch — wieder mit Karl Barth — durch die doppelte Relation zu Gott und Mensch begründet, und zwar nicht so, daß der Mensch „von unten” zu Gott in Beziehung tritt, sondern daß er erst „von oben” durch Gottes Anruf begründet wird9. So ist christliche (und damit wahre) Existenz geistliche Existenz, Existenz vor Gott, persona coram Deo kraft Teilhabe am geschichtlich vermittelten und im Geist personal repräsentierten Christus. Alles Existentielle in diesem Sinn enthält damit ein pneumatisches Element. Es ist die eschatologische Existenz in der dialektischen Spannung von Noch-nicht und Schon-jetzt10.
Die weltliche Existenz dagegen, die „Zwischenexistenz” vor ihrer Erlösung, lebt in der dauernden Gefahr, sich selbst zu verfehlen, indem sie die Getrenntheit vom Du verabsolutiert — oder überspringt und damit die notwendig relational und institutionell verfaßte Wirklichkeit zu verlassen sucht. Darin liegt die Problematik des Strafrechts und der politischen Existenz. Allenfalls kann weltliche Existenz sich zu „mutiger Skepsis” aufschwingen11.
Die „Zwischenexistenz” des Menschen — ein von Dombois gern gebrauchter Ausdruck — hebt noch einmal die Relationalität menschlichen Existierens von einer ganz anderen Seite hervor. Sie meint die Erfahrung, daß der Mensch nur innerhalb bestimmter Grenzen existieren kann, aus denen er nicht ungestraft auszubrechen vermag. Das ist der „Grenzcharakter” der Existenz. „Grenzwerte” sind hier die Bezüge,
8) GRE 19, RdG 94, 211; vgl. die Titel
„Naturrecht und christliche Existenz” (NRE), „Politische und
christliche Existenz” (MuR 98-147); für Wolf vgl. oben 298 ff.,
K. Barth KD III/l 207: „Die Existenz im Gegenüber . . . ist
zuerst für Gott konstitutiv; sie ist es dann auch für den von
Gott geschaffenen Menschen . . . So schafft er den Menschen zu
seinem Partner.”
9) NRE 29, 38, 60, GRE 19, 54, RdG 80 und die
katholische und lutherische Lehre der creatio
continua.
10) MuS 125 ff., RdG 49, 110, 186, 309, 323, 819, 924;
pneumatisches Element ÖR 1958 14 (der Institution);
eschatologische Existenz RdG 264 ff., oben 480.
11) NRE 63, ZevKR 1956 50, MuS 15, 94, 151, dazu
allgemein MuR, MuS. Vgl. die Deutung der „Existenz” bei L.
Ziegler 325 f. als Sündenfall.
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also der Raum des Rechts. Die Zwischenexistenz wird so zur Bezeichnung der dialektischen Grundverfaßtheit des Menschen in der notvollen Getrenntheit in der Bezogenheit von Ich und Du. „Existenzverfehlung” also ist das Wesen des Verbrechens und ebenso der Sünde12. Wieder wird die Anthropologie zur Rechtslehre!
Doch die christliche Existenz ist befreit zur eschatologischen Gemeinschaftlichkeit. „Die . . . Existenz des Christen . . . hat ihren Grund und ihren Horizont in der Existenz der Gemeinde”, denn, wie D.Bonhoeffer sagt, Christus existiert geschichtlich als Gemeinde. Darum ist die Kirche der geistlichen Existenz vorgegeben. Existenz „coram Deo” ist kirchliche Existenz13.
Doch darf man die logische Vorordnung der Kirche nicht mißverstehen; Kirche ist kein abstrakter Begriff! Für Dombois existiert sie als konkrete Gemeinschaft gottesdienstlicher Gemeinde, im Geschehen von Wort und Sakrament als der Grundrelation der Kirche; („entsprechend”) leben die Christen untereinander in „konstitutiver Interdependenz”,
12) MuS 36, 76, 94, 120, 150 ff.
Zwischenexistenz kommt in zweimal zwei Bedeutungen vor:
1. heilsgeschichtlich: a) als Ausdruck für die Existenz jedes
Menschen zwischen Fall und Erlösung — so hier; b) als spezifische
Existenz des Christen in der eschatologischen Spannung zwischen
„Schon-Kind” und „Noch-nicht-Erbe” (RdG 103 f.); 2. relational:
a) als Existenz im mitmenschlichen Bezug; b) i.w.S. als Existenz
in Person- und Sachbezügen überhaupt (s.o. 486 f.). Die
Bedeutungen können sich vermischen, z.B. MuS 98: die menschliche
(Zwischen-)Existenz ist vielschichtig und widersprüchlich. — E.
Kinder 1960 37 überträgt die Zwischenexistenz auf die
eschatologische Existenz der Kirche. Zu den Grenzwerten s.u. 543
f. Darum lautet die „implizite Definition” der
„Zwischenexistenz”: der Mensch ist „mit dem Mitmenschen immer
zugleich identisch wie nichtidentisch”, MuS 161. Auch die
„Grenzsituation” (der von Do. bejahten absoluten, d.h.
Todesstrafe) taucht auf (MuS 96, 163 These 20, FS Smend II 294),
freilich wie man sieht, nicht im Jaspers’schen Sinne. Der Deutung
des Verbrechens als Existenzverfehlung (NRE 32, ZevKR 1956 50,
MuS 15, 94, 151) stimmen zu T. Rendtorff 1959 78 ff., 81 f.,
Ernst Wolf II 203. Vgl. zur „Existenzschuld” H. Harsch 1965. —
Ein weiterer Aspekt der „Zwischenexistenz” kann erst zur
Geschichte gezeigt werden (unten 518).
13) RdG 145; NRE 38, 96, ÖR 1958 16, RdG 25,
81,186,771,924. Die Abwendung von der Einzelexistenz tritt zwar
erst in RdG deutlich hervor (RdG 46, 78 f.), ist aber schon
vorher in der Relationenlehre (s. o. 486) begründet. Denn die
menschliche Existenz ist sozial, „korrelativ” (MuS 15), hat eine
Gemeinschafts„dimension”, RdG 581.
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weil sie ja der Geist Christi zu einem Leib verbunden hat, und stehen füreinander stellvertretend ein14.
Diese Sicht der christlichen Existenz ist weder Gemeinschaftsromantik noch verkappter Kollektivismus; vielmehr spricht sich hier die geistliche Erfahrung der Gemeinde aus, die in der Feier der Geheimnisse des Glaubens in Eucharistie und Wortgottesdienst gewonnen wird und die die neuartige brüderliche Zuwendung der Teilnehmer zueinander zur Folge hat. Aus diesem Zusammenhang darf Dombois’ Existenzverständnis nicht gelöst werden15.
Die gemeinschaftsbezogene Existenz des Christen, das ist nach dem bisher Gesagten klar, umfaßt das ganze Sein und Tun. Existentielles Handeln am Menschen, wie es vorzüglich im Raum der Kirche geschieht, aber auch in jeder anderen personalen Institution, erfaßt den ganzen Menschen, verwandelt, ja konstituiert ihn erst zu seiner Ganzheit. Existieren ist also nicht nur statisch, sondern dynamisch; es ist veränderndes, verantwortendes, damit aber auch vom Irrtum gefährdetes und somit „geschichtliches” Handeln. Es ist wieder „Vorgang” in Raum und Zeit — nicht in der Punktualität der Entscheidung, sondern im steten Rückbezug auf den stiftenden Anfang und im beständigen Ausstrecken auf das jetzt schon zukommende künftige Heil16.
Vielleicht darf man also zusammenfassen: Die Existenz des Menschen ist sein gemeinschaftsbezogenes, Vergangenheit und Zukunft gegenwärtig verantwortendes Leben, das in der gottesdienstlichen Gemeinde zu seiner Eigentlichkeit kommt.
14) GRE 143, RdG 51, 67, 667, 1053; zur
Stellvertretung s.u. 704 ff.
15) NRE 43, RdG 80, 264, 581, 742; MuS 57 f.:
Gemeinschaft und Einzelner können nicht ineinander aufgelöst
werden. Grundmann ThLZ 1963 810 hat zu Recht auf den Zusammenhang
dieser Kirchenrechtslehre mit Berneuchen und der Ev.
Michaelsbruderschaft hingewiesen.
16) NRE 57, SS 11, 22, OU 96, RdG 628; Sache 256 zum
Rückbezug auf den „Mythos” (und unten Exk. XVIII 669 f. zur
existentialen Interpretation); MuR 115 zur „Zielgerichtetheit der
Existenz”.
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Im Personbegriff Dombois’ verbinden sich die Aussagen über Relation und Existenz. Doch ist auch hier eine Entwicklung festzustellen.
„Persönlichkeit ist die Substanz der Welt”, ist letzter, unableitbarer Wert, denn das Personsein Gottes bestimmt den Menschen dazu, Persönlichkeit zu werden. Ebenso ergibt die Zweiseitigkeit des Verhältnisses Gott-Mensch die Zweiseitigkeit des mitmenschlichen Bezuges. Beide zusammen, Persönlichkeit und Zweiseitigkeit, sind aber nur zwei Seiten der einen Existenz. Ungenau könnte man sagen: Person im „ontologischen” und Person im „dialogischen” Gebrauch des Wortes sind vor „Recht der Gnade” dialektisch verbunden1.
In „Recht der Gnade” tritt terminologisch die Zweiseitigkeit nicht mehr gesondert hervor. Ein gewandelter Personbegriff nimmt ihre Stelle ein. Doch verdient diese Episode in zweifacher Hinsicht besonderes Interesse. Sie zeigt den starken Einfluß K. Barths in dieser Zeit; vor allem hat Dombois hieran ein Nächstenrecht geknüpft, das in vielem als eine Vorwegnahme der — späteren — Gedanken Erik Wolfs in „Recht des Nächsten” erscheint2.
Dombois’ Personbegriff ist „relational, existentiell, gemeinschaftsbezogen” und konkret3. Damit wird viererlei abgelehnt: das autonome Subjekt Kants, die theologische Funktionalisierung der Person, allgemein die Trennung von Person und Sache, und, mit letzterem zusammen, das einseitig aktualistische Personverständnis. Dies ist wieder im Theologischen vorentschieden.
1) NRE, GRE 19, 54; „dialogisch” usw. nach G.
Gloege KuD 1955 23 ff. (40 f.), doch nur unter Vorbehalt: die
personalen Bezüge sind nicht nur Zweierverhältnisse, s.u. zu A.
6.
2) S.u. 564.
3) RdG 736, 751, 822, 894.
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Persona significat relationem. Dieser Satz aus der Trinitätslehre des Aquinaten4 könnte als Überschrift über dem Personverständnis Hans Dombois’ stehen, wenn es gestattet ist, die historische Besonderheit dieser Worte außer acht zu lassen. Die Relationalität der göttlichen Personen begründet die (abbildlich-analoge) Relationalität des menschlichen Personseins; ebenso verhält es sich mit der „Existentialität” dieser Relationen. Die Begründung dieser Entsprechung wird aber nicht Thomas, sondern dem Barthschen Bundesgedanken entnommen. Weil Gott den (Alten und Neuen) Bund mit dem Menschen geschlossen und dadurch den Gottesbezug gestiftet hat, ist der eigentliche Bezug der Gottesbezug, und die Personalität zwischenmenschlicher Bezüge ist nur eine „Entsprechung”. Oder anders: Die „Person im strikten Sinne” ist die persona coram Deo5.
Nun muß man die Geschichtlichkeit hinzunehmen. Auch sie ist „von oben” begründet. Gott bezeugt sich nicht „in abstrakter Personalität”, sondern wird durch seine Heilstaten in der Geschichte als Person identifiziert. Diese Geschichte setzt Gott mit seinem Volk fort, zuerst im Mittler Christus, dann in „Christus als Gemeinde existierend”, konkret also im Gottesdienst. Die durch Christus bzw. die Kirche grundgelegte mitmenschliche Vermitteltheit des Gottesbezugs zeigt, daß es „Personalität” nicht nur im Zweierverhältnis gibt. Das mittlerische Dreierverhältnis ist sogar charakteristisch für das Christentum6. „Gott
4) STh I q 29 a 4. — Das folgende ist (soweit
keine Belege angegeben sind) der Versuch, die bei Do. nur
teilweise durchgeführte theologische Begründung der Personalität
aus seinen Ansätzen systematisch zu ergänzen.
5) NRE 43, MuS 127, RdG 90, 97 f., 310, 323 f. Damit
ergibt sich in der Personlehre das gleiche Ergebnis wie bei der
Relationenlehre (analogia relationis zur Trinität). Die
Frage, ob man Person in gleicher Weise von Gott und Mensch
aussagen kann (vgl. M. Schmaus KD I 331, HthG II 697, Thomas STh
I q 13 a 5, q 29 a 4 ad 4, P. Tillich I 283 f.), ist bei Do. nur
implizit (i.S. der analogia relationis) beantwortet. Zum
katholischen Personalismus RdG 217 f. (er lasse das ermöglichende
Gottesverhältnis außer acht) — vgl. dagegen A. Guggenberger HthG
II 305 („die dreipersönliche Urwirklichkeit . . . Herkunft und
Halt allen Personseins”), R. Guardini 1951 514 (Gott besitzt die
Vollkommenheit der Person) und allgemein H. Mühlen 1963, 1964. —
Die „Person im strikten (und im analogen) Sinne” Do.s greift die
frühere Unterscheidung von Persönlichkeit und Zweiseitigkeit
auf.
6) OU 51, RdG 95,106, 110, 337; für den weltl. Bereich
MuR 116; schließlich unten 702 ff. zur
repraesentatio.
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handelt nicht direkt!” Der Gottesbezug wird (mittelbar) im Nächstenbezug realisiert. Die Rechtsinterpretation des Gottesdienst,,Vorgangs” wird für diese These noch einiges beizutragen haben.
Von diesem theologischen „Vorverständnis” her wendet sich Dombois vor allem gegen den individualistischen „autonomen” Personbegriff der Neuzeit (c), der nicht nur Person von Person, sondern auch Person und Sache trennt (d).
Diese „absolute” „Vollperson” bedarf des Du nicht. Sie ist autark und souverän und usurpiert damit die Autonomie Gottes. Dombois stellt eine solche Wandlung zum autonomen Subjekt schon in seiner „Achsenzeit” des 11./12. Jahrhunderts fest. Sie hat umfassende Folgen. In „dialektischer Gemeinsamkeit” beruhen alle drei Konfessionen des Westens auf diesem „exklusiven” Subjektbegriff. Diesen gilt es zu überwinden7.
Zur Widerlegung geht Dombois dabei von der anthropologischen Grundtatsache aus, daß jeder Mensch auf den anderen angewiesen ist; negativ ausgedrückt: man kann gerade in den entscheidenden existentiellen Situationen nicht an sich selber handeln.
Man kann sich selbst nicht beurteilen und deshalb auch nicht verurteilen, trotz des Gewissens (daher Richter und Buße); aber auch nicht begnadigen; der Arzt kann nicht sich selbst kurieren, der Gläubige nicht sich selbst taufen; man kann keinen Bund mit sich selbst schließen usw. Auch seine Kinder aus sich selbst zu zeugen, ist noch niemandem eingefallen. Kurz: Gerade in den dialogischen Ursituationen bedarf der
7) MuS 50, RdG 163, 443, 454 ff., 460, 556, 739. Der absolute Ordo gipfelt im autonomen Papst, der ab dem 12. Jh. des Konsenses der Ekklesia nicht mehr bedarf (RdG 827, 930); die lutherische Gegenbewegung postuliert das Papsttum jedes Gläubigen (RdG 930 i. V. m. 263), die reformierte Lösung ist die Gemeinschaft der hauptlosen Erwählten (RdG 930). — Freilich ließ sich gegen diese Typisierung einwenden, daß die z.T. mächtigen geschichtlichen Gegenbewegungen nicht berücksichtigt sind; doch ist es gerade die Eigenart der „morphologischen” Betrachtung, nur die durchhaltenden Kräfte herauszustellen, in der Überzeugung, daß die stete aber schwache Kraft über die starke aber kurzdauernde in der Geschichte den Sieg davonträgt (vgl. W. Elert I 3 u. u. Exkurs X 519 f.).
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Mensch des konstituierenden (!) Gegenübers, um ganz er selbst sein zu können. Seine Personalität liegt begründet in der Ergänzungsbedürftigkeit, wie sich ganz besonders deutlich in der Ehe zeigt. Erst die Realisierung der Bezüge in der „Kommunikation” bringt den auf Bezug angelegten, gleichsam bruchstückhaften Menschen zu sich selber. Man soll nicht sein eigenes Gegenüber sein wollen! Das aber ist der Fehler des Personalismus, der die ursprüngliche Gemeinschaftlichkeit des Menschen vergißt. „Personalität ist nur in der Relationalität”8.
Wie die Beispiele zeigen, haben die personalen Bezüge die strukturelle Eigenheit der „Unumkehrbarkeit”. Da die Strukturen zugleich ontologisch vorgegeben wie ethisch aufgegeben sind, können sie in der geschichtlichen Wirklichkeit verlorengehen, was wegen ihrer Existentialität eine dauernde Bedrohung des Menschen ist.
Wo die Bezüge im Handeln zwischen Menschen realisiert werden, erhalten die beteiligten Personen einen spezifischen „Stellenwert” innerhalb der Relationen; sie haben eine unvertauschbare „Rolle”. Sobald nämlich ein Mensch mit einem anderen in „Beziehung” tritt, übernimmt er „für” diesen eine „Funktion” — „als” Arzt, „als” Richter oder Priester. Die „Funktion-für-jemand” ist aber nichts anderes als die „Rolle”. Dabei gibt es zwei Arten von Rollen, je nach der jeweiligen Beziehung: solche zwischen Gleichen (z.B. Mann-Frau) oder zwischen Ungleichen (z.B. Vater-Kind)9. In jedem Falle kann die Person des Rolleninhabers in dieser „existentiellen Lage” von keinem Inhaber einer anderen Rolle vertreten werden. Denn er ist zum „Jemand jemandes” geworden
8) RdG 868; 90, 743 f., 894, MuS 150;
juristisch kommt dies etwa im grundsätzlichen Verbot des
„axiomatischen” In-sich-Geschäfts zum Ausdruck (FS Karrer 401,
RdG 245 u.ö.; BGB § 181). Beispiele: Richter: RdG 244, 742 ff.
(die Selbstverurteilung genügt also nicht, ebd.); Gnade: Priest.
67 f., RdG 244; Arzt: RdG 744; Taufe: Priest. 65 f. = RdG 238
(der implizierte Gehorsamsakt bedarf eines personalen
Gegenübers); Bund: Priest. 68, RdG 245; Zeugung: RdG 245, 628;
Ehe: RdG 628 (Do. versagt sich aber jede Ehemystik!, vgl. RdG
630); allg.: Berichtskizze 253, Priest. 70, RdG 245, 831.
Gleichwohl ist Do. nicht der Auffassung, daß Person erst vom
Gegenüber her entstehe. Entsprechend dem existentiellen Ausgang
ist hier von der persona in actu die Rede. — Schließlich
zum Rechtsbegriff der Kommunikation s.u. 588; zur
personal-relational-gemeinschaftsbezogenen Buße des Christen vgl.
RdG 736. Die Beziehentlichkeit der Person wird auch
erkenntnistheoretisch begründet (s.u. 542 f.).
9) NRE 59 f. — Diese Unterscheidung ist für die
Rechtslehre grundlegend: aus ihr werden sich später (unter
Veränderungen) die beiden Rechtskreise ergeben!
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(M. Weber) und damit existentiell erst „Person” in ihrer Vollgestalt. Die Person existiert also geschichtlich nicht anders als in Rollen und Funktionen10.
Wo also Person und Funktion voneinander getrennt und einander gegenübergestellt werden, wie dies namentlich in der evangelischen Theologie häufig geschieht11, hat man die relational-gemeinschaftliche Personhaftigkeit des Menschen verkannt und ein falsches (und unbiblisches) Menschenbild zugrundegelegt. Die Bezüge verharren nicht in einer formalen „Mutualität” ohne Inhalt. Wer den Menschen nur von seinen „Funktionen” in der Gesellschaft her sieht, macht ihn zum auswechselbaren Teil, dessen Personsein nichts mit seinem Handeln zu tun hat, und beraubt ihn der geschichtlichen Verantwortlichkeit. Um so schlimmer, wenn unkritisch diese Inhumanität auf das kirchliche Leben (Amtslehre!) übertragen wird, aus dem theologischen Motiv, doch ja frei vom „Gesetz" sein zu wollen12!
Der Primat der Einmaligkeit dieser Person von der Beliebigkeit irgendeines Funktionsträgers ist eine der tragenden Annahmen Dombois'. Sie ermöglicht seine personal-relationale Institutions-, Kirchen-und Rechtslehre.
10) Zum „Jemand jemandes” RdG 468, 901 (M.
Weber); zur (nicht soziologischen, sondern personalen) „Rolle”
Do.s RdG 260 ff., 385 ff., 428 f., 779, 838, 868 OU 51, MuS 149,
in einer gewissen Nähe zur existentiellen „Lage” (OU 51) auch
Erik Wolfs (s.o. 4153) und zum Als-Sein W. Maihofers
(z.B. 1963 165 ff. — dazu J. Thyssen 328 ff.); „Rolle” in
phänomenologischer Sicht: L. Phillips 1963, in soziologischer: R.
Dahrendorf 1964. — Zur Rollenverteilung bei der Ordination RdG
556, der Buße RdG 739, 742 ff.; zur Unumkehrbarkeit s.o. 496.
Vertretung bzw. „Repräsentation” (u. 701 ff.) gibt es nur
innerhalb der gleichen Rolle, freilich nur innerhalb bestimmter
Grenzen („Grenzwerte”, RdG 574).
11) RdG 506 f., dazu CrE 34, 66 f. (z.B. bei J.
Heubach; OU 67, RdG 560-565) — wobei Funktion für Do. immer
zugleich die Auswechselbarkeit meint (unten 553 f.).
12) OU 34, 66, RdG 175 (= Priest. 77), 252
f., 561 f., 914. Die Konsequenzen für das Amt in der Kirche
liegen auf der Hand: es darf weder „römisch” objektiviert noch
„protestantisch" funktionalisiert werden, RdG 567.
(„Entsprechendes” bedeutet übrigens der ständige Topos „zwischen
opus operatum und Schwärmertum”, z.B. MuS 96, 150). Wenn
jeder priesterlich handeln will, so ist das für Do. ebenso
absurd, wie wenn jeder Arzt oder Richter sein wollte. — Diese
Position berührt sich eng mit der sozialtheologischen Kritik an
der funktionalen Gesellschaft durch H.D. Wendland (KuD 1956 293
ff., 297), der ebenfalls die „Urrelationen” Gott-MenschMitmensch
aus dem doppelten Liebesgebot zur Korrektur heranzieht.
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Der theologisch bestimmte Personbegriff erlaubt es, eine weitere anthropologische Häresie zu entlarven. Es ist die Trennung von Person und Sache, die nicht weniger gefährlich ist als die Autonomie der Person. Bezog sich diese Irrlehre auf den Nächstenbezug, so nun jene auf den Sachbezug13.
Die phänomenologische Analyse des personalen Verhaltens (nicht der abstrakten „Person”!) erweist die Untrennbarkeit von Person und Sache. Personales Handeln trägt immer, wo es verantwortlich vollzogen wird, den Charakter der Entscheidung. Wer etwa heiraten will, wählt einen Partner aus und schließt mit ihm die Ehe. Dieser Tatbestand hat zwei Seiten. Die eine „personale” ist der schöpferisch-spontane und darum unableitbare Akt der Entscheidung für diesen Menschen. Niemand kann prinzipiell voraussagen, wie die Wahl ausfallen wird. Die andere, „sachhafte” ist der Inhalt dieser Entscheidung und ihr Ziel, die Ehe. Das alles wird später noch genauer entfaltet werden14. Man könnte, ohne den Sinn des von Dombois Gemeinten zu verfälschen, von der Totalität des personalen Aktes sprechen, der alle Seinsschichten umfaßt.
13) Zu beachten ist, daß „Person und Sache” bei
Do. ein doppeltes bedeutet (arg. Sache, MuS 87, 137): einerseits
die Relation Mensch — außermenschliche Welt, andererseits den
Sachgehalt von (i.w.S.) personalen „Sach”verhalten.
14) MuS 96 f., RdG 283, 883 f., 886 („Kontingenz” des
personalen Akts), 891, 918. Zur Entscheidung als Rechtsakt s.u.
712 ff. Das bedeuten die häufig wiederkehrenden Formeln von
„Koinzidenz von Personalität und Sachgehalt” (RdG 38, 166) bzw.
von „aktualer Entscheidung” und „durchhaltender Sachbindung” (RdG
197, 838) bzw. „durchhaltendem Sinngehalt” (RdG 884; ähnlich RdG
886). Näheres gehört zur „Geschichtlichkeit” (s.u. 517 ff.). Den
für „Person und Sache” so wichtigen Grundsatz: „In allem Handeln
ist der Handelnde immer mit darin" (RdG 244) findet Do. durch die
moderne Erkenntnistheorie bestätigt (s.u. 542 f.). Vgl. aber auch
J.H. Newmans „persönliches Erkennen” (HthG II 302)! — Damit
entfällt 1. der sog. „aktualistische” Personbegriff des
theologischen Personalismus, der Gott und Mensch radikal trennt
(OU 49, RdG 196 f., 217 f. mit G. Gloege KuD 1955 23-41); 2. der
rechtsphilosophische Personalismus F. Wieackers (MuS 148),
schließlich 3. der dialogische Personalismus M. Bubers und F.
Ebners (ES 105 ff.). Dazu Do. RdG 303: „Der Fehler wird von der
Inkonsequenz gereinigt und zum Grundsatz erhoben”! Die
Ausführungen Do.s zu Person und Sache richten sich überhaupt
gegen den Personalismus der „Worttheologie” und sollen seine
rechtstheologische Unhaltbarkeit dartun. — Zur katholischen
Kritik an diesem Personalismus vgl. den mit Do. in Ansatz und
Durchführung weithin parallelen Personalismus A. Guggenbergers
HthG II 299 ff.; ferner E. Kinder 1954, id. ELKZ 1955 218 ff.,
234 ff., H. Asmussen ebd. 110 „ebenso unecht ist der Gegensatz
zwischen Sache und Person”.
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„Personale” Unableitbarkeit und „sachhafte” Struktur sind also die beiden Elemente desselben Tatbestandes; in der Begrifflichkeit Hans Dombois’ —: Person und Sache sind „komplementär”. Das bedeutet, daß Person und Sache nicht voneinander getrennt werden dürfen; auch nicht dadurch, daß das Ineinander in ein kausales Folgeverhältnis aufgelöst wird, als ob eines aus dem anderen abgeleitet werden könnte. Es besagt des weiteren, daß keine Seite unterschlagen werden darf; vielmehr muß dieses gefährdete dialektische Spannungsverhältnis stets existentiell „durchgehalten” werden15.
Wozu das alles, wird da mancher sagen . . . Aber für Dombois ist Komplementarität von Person und Sache entscheidend. Denn ohne sie gibt es keine legitimen „sachhaften” Strukturen und keine Institutionalität, in der Kirche keine Sakramente und keine geschichtliche Kontinuität des Geistes — also auch kein Recht, weder in der Kirche noch in der Welt.
Halten wir also fest: Person meint bei Dombois die existentielle Verwiesenbeit des Menschen auf das Du, die wegen der Geschichtlichkeit dieser Beziehung immer zugleich eine „sachhafte” Struktur einer gewissen Dauerhaftigkeit aufweist.
Neben Relation, Existenz und Person ist Struktur der von Dombois meistgebrauchte anthropologische Grundbegriff. Weil er zugleich ein fundamentaler Rechtsbegriff ist, soll er näher erörtert werden.
Auf den ersten Blick ist er so weit gefaßt, daß er mit dem Gesamt der Wirklichkeit zusammenzufallen scheint1. Darum ist es zunächst
15) SS 78, OU 49, RdG 38, 166, 565 ff., 885
(„wechselbezügliches Verhältnis”), 791, 822 (für den
Traditionsvorgang), 839 (Verschränkung). Für Do. gilt als
wichtiges Indiz, daß auch das vorrationale Denken zwischen Person
und Sache nicht unterscheidet, RdG 165.
1) Es gibt Strukturen der politischen (MuR 99, 115)
und der christlichen Existenz (NRE Titel); der Staatslehre (SS
Titel; des Staates: MuR 99), der Kirche (RdG 894), der
Institutionen überhaupt (MuR 99 f.); alle Lebensformen (MuR 100;
RdG Sozialstrukturen) weisen Strukturen auf; aber auch einzelne
Rechtsgebiete, wie das ➝
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nicht möglich, einen einheitlichen Begriff der Struktur herauszudestillieren. Gleichwohl können bei näherem Zusehen drei Aspekte dieses Begriffs erkannt werden.
Er hat eine ontologische, eine ethische und eine noetische Seite. In ontologischer Hinsicht sind die Strukturen nichts anderes als die „inneren Wesensgesetzlichkeiten”, die in einem Gegenstand oder Vorgang beschlossen sind. Dombois nennt diese Gesetzmäßigkeiten auch die „durchhaltenden” Grundelemente, die kategorial und grundsätzlich gelten2.
Die „Geltung” verweist auf das ethische Moment: die Strukturen sind nicht nur gegeben, sondern auch aufgegeben; sie sind nicht nur Gesetzmäßigkeiten, sondern auch die „Haupt-“ und „Grundprobleme”, die der Existenz zur Bewältigung vorgegeben sind. Sie sind die „geistigen Möglichkeiten” und die zu bedenkenden Fragen, die in der Geschichte gelöst werden müssen3.
Wegen der Einheit der Existenz sind die ontologischen und ethischen Strukturen zugleich Denkstrukturen. Das ist das noetische Element des Strukturbegriffs4.
➝ Eheschließungsrecht (Ehe 99, FamR 120) oder das
Kirchenrecht (RdG 171 Rechtsstruktur der Gnade, 866 des
liturgischen und bekennenden Rechts), sind strukturiert; vor
allem sind es Bezüge (RdG 90, 97), Vorgänge (MuS 74, RdG 771,
868), Vollzüge (RdG 122 Rechtsstruktur religiöser Akte: des
Bekenntnisses 677, der Schlüsselgewalt 752, des Gottesdienstes OU
91 und Berichtskizze 251 f.), Prozesse (MuS 74), etwa der
Rechtsentstehung (ZevKR 1956 33), oder priesterliches (RdG 628),
sakramentales (Rechtsstruktur der Taufe RdG 296, des Abendmahls
374, der Sukzession 771; auch 628), allgemeiner: personales
Handeln (RdG 283), die eine erkennbare Struktur haben,
schließlich sogar geschichtliche Epochen (MuR 109), Ideologien
(MuR 109 Säkularismus, OU 123 Bürgertum) und Denkformen (MuS 97
A. 25 u.ö., dazu unten A. 15).
2) GRE 100 f. innere Wesens-, RdG 282 f. immanente
Strukturgesetzlichkeit (so auch E. Schlink KuD 1957 251 in „Die
Struktur der dogmatischen Aussage . . .”); OU 91 Grundelemente;
OU 46, KuD 1957 71, RdG 833 kategoriale Struktur; RdG 914.
3) SS 5 Grundprobleme, RdG 32 Problemlast
immanent-phänomenaler Strukturen, Ehe 99 (Titel), ZevKR 1956 32
(Titel), RdG 654 (Hauptprobleme der Ehe), MuS 97, RdG 283
„Problembereich”; z.B. das Verhältnis Amt-Gemeinde (OU 91); GRE
100 geistige Möglichkeiten.
4) S.u. 505 ff.
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„Struktur” drückt bei Dombois meist eine Verbindung mehrerer Glieder zu einer höheren Einheit aus. Sie bildet darum ein „mehrschichtiges Gefüge” aus einzelnen „Strukturelementen”, die in je eigentümlicher Weise miteinander verknüpft und darum sachnotwendig verbunden sind. (Meist handelt es sich dabei um Doppelstrukturen, die „gegenläufig” oder sogar doppelt gegenläufig sein können5.) Dabei geht es — nun wieder das ethische Moment — darum, das „legitime” Gefüge zu finden, also die rechte Verbindung der Strukturelemente herauszustellen. Denn es ist entscheidend, daß in der geschichtlichen Gestaltung kein Strukturmoment unterschlagen oder vertauscht wird6. Die Struktur wirkt dadurch normativ!
Schließlich ist zu beachten, daß die Struktur bei Dombois — im Gegensatz zum gewöhnlichen Sprachgebrauch — ein Korrelatbegriff ist. Ontologisch stehen sich Struktur und geschichtliche Form gegenüber. In ethischer Hinsicht entsprechen den Grundproblemen die verschiedenen historischen Lösungen, in noetischer den Denkstrukturen die sie ausfüllenden Inhalte7.
5) NRE 18, FamR 125, 137, ZevKR 1956 33, MuS
74, 87, RdG 283, 931. In diese Richtung weist auch die
„dualistische” Struktur (z.B. des alten Kirchenrechts: OU 57,
74), die häufig auch „doppelschichtig” heißt (vgl. 537 ff. zum
Begriff der Komplementarität). „Gegenläufig” enthält ein
dynamisches Element (vgl. MuS 65: „dynamische gegenläufige
Tendenzen”). Die Statik wird ausgedrückt durch z.B. „doppelpolig”
(etwa MuS 57).
6) RdG 689, 894; OU 91 „Grundmaße”. Ehe 108
strukturwidrige Einseitigkeit, 109 Strukturzerfall, 106
eingleisige Strukturlosigkeit (zur Eheschließungsform). Deshalb
analysiert Do. immer wieder, welche Strukturelemente die
(politische und christliche) Existenz aufweist, wie sie
untereinander zusammenhängen und wieviel davon verwirklicht ist.
Darin besteht der Haupteinwand gegen K. Barth: Er verharre bei
seinem liturgischen Kirchenrecht trotz aller Prinzipienstrenge in
„strukturloser Jeweiligkeit” und verfehle damit (wie auch E.
Brunner) gerade das, was echte Geschichtlichkeit ausmache, OU 91,
RdG 46. (Der Vorwurf geht dahin, daß K. Barth nicht die
vorgegebenen Strukturen [z.B. der Korrelation Amt-Gemeinde] zu
konkreten geschichtlichen Gestaltungen verbunden habe.) Daher
nehme sich Barth selbst die Möglichkeit, an konkreten
Kirchenrechtsformen begründete Kritik zu üben (ebd.).
7) Die „Probleme und Begriffe, die Struktur jeder
Theologie und Geschichtsphilosophie ist also genau die gleiche”,
GRE 16; jedoch: sind „die Denkformen und Probleme gleich, so sind
die Inhalte, die Prinzipien um so verschiedener”, GRE 17 (Prinzip
bedeutet hier das bestimmende geschichtliche principium,
konkret die jeweilige ➝
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Damit hat es den Anschein, als ob der Strukturbegriff ganz im Formalen verbliebe. Der Eindruck verstärkt sich, wenn in vielen Variationen immer wieder gesagt wird, daß Theologie und Recht, ja sogar Gottes Anspruch und weltliche Herrschaft „gleicher” Struktur seien8.
Doch so einfach liegen die Dinge nicht. Erstens ist die Struktur (ontologisch) „die notwendige Form personalen Handelns”, wobei die Betonung auf dem Wort „notwendig” liegt. Die notwendige Form ist also nichts anderes als wieder die innere Gesetzmäßigkeit des Vorgangs, deren Nachvollzug für seine Legitimität entscheidend ist. Struktur und Form sind hier identisch. In dieser „formalen” Hinsicht sind also Theologie und Recht, weltliche Macht und göttlicher Anspruch „gleicher” Struktur. Die „formale Parallelität” besteht darin, daß Gott und Welt in Anspruch nehmen, aussondern, rechtlich zuordnen und so fort — das Nähere wird beim Rechtsbegriff zu sagen sein.
Hier ist die Struktur in Wirklichkeit gar nicht rein formal. Denn der trinitarische Gott ist in Christus in die menschlichen Strukturen eingegangen. Dadurch kommt diese „Strukturanalogie” von göttlichem und menschlichem Handeln zustande9. „Struktur” ist also, halten wir es fest, kein reiner Formalbegriff!
➝ höhere Gewalt, unter der sich der Mensch begreift, vgl.
ebd. 10 f., 17). Ähnlich RdG 880 über Struktur, Form und
Gegenstand der Rechtsentscheidung; Struktur der Entscheidung und
die sie beherrschenden Kriterien: RdG 771. Dazu KuD 1957 71:
gleiche Gesamtstruktur, verschiedener Gehalt (anders RdG 458:
Gehalt und Struktur gleichsinnig). Ferner RdG 654: „Durchhaltende
Elemente (im Rechtsvorgang der Eheschließung) . . . sind nicht
Lösungen oder Formen, sondern Relationen und Probleme . . .,
dadurch . . ., daß es . . . zwei Partner sind”.
8) Theologie und Recht: NR 202 f., OU 46; geistliches
und weltliches Recht: RdG 880; theologisches und juristisches
Denken: RdG 689; Gottes Herrschaft und weltliche Macht: PG 16,
Hochland 1953/54 347, MuR 103, 115, KuD 1957 71, RdG 878,
926.
9) RdG 283, 689, 901. Deshalb kann die Struktur (z.B.
der Institution) zum „Bild” der Gnade werden; vgl. RdG 195 7./8.
(Struktur = Bildfähigkeit!) — eine Übertragung der
imago- auf die Institutionenlehre, parallel zu ähnlichen
Versuchen in der kath. Sakramentstheologie und bei G. van der
Leeuw PhdR 510 ff. Zur Analogie unten 515 m. A. 49.
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Zweitens ist die (geformte) Form das Ergebnis der Verwirklichung der Struktur(probleme) in der Geschichte. Form ist hier gleich „Gestalt”. Die konkreten Lösungen der strukturellen Grundprobleme des Menschen sind die „Formen", Gestaltungen in der Geschichte. Hier tritt die Form der Struktur gegenüber. Form heißt nicht mehr Gesetzmäßigkeit, sondern „Gestalt”10.
Fügt man Struktur und geschichtlich resultierende Form zusammen, so ergeben sich spezifische „Strukturformen”11, also „typische” Verwirklichungen bestimmter Strukturprobleme in der Geschichte, die miteinander verglichen und wegen der mehr oder weniger vollständigen Realisierung der vorgegebenen Strukturelemente — und darauf kommt es Dombois an — bewertet und kritisiert werden können. Aber das setzt voraus, daß man weiß, „was” die Struktur und ihre Elemente sind. Das führt zurück zur Relation.
Nun ist es notwendig, eine Abgrenzung vorzunehmen. Nicht alle Gesetzmäßigkeiten können hier interessieren. Man muß die „Grundstrukturen” des menschlichen Daseins bedenken, dann gewinnt man
10) SS 5, OU 90 f., 123 (soziologisches
Formverständnis) = RdG 940; RdG 654; „Gestalt” (bzw. „Form”
Berichtskizze 252) ist verantwortliche Realisierung der
Strukturelemente bzw. Problemstellungen, vgl. SS 5, OU 90 f. Der
Gestaltbegriff braucht hier nicht weiter vertieft zu werden (vgl.
o. Exk. VIII 399 f.); er mündet im Institutionsbegriff. (Es sei
nicht verschwiegen, daß auch die „geformte Form" selbst wieder
eine Struktur besitzt, indem sie nämlich entstanden ist aus dem
Zusammenwirken der Strukturelemente „freies Handeln” und
„vorgegebene Institutionalität”, FamR 137.) — Damit kann Do.
„formbildende Strukturelemente” (etwa das polare Gegenüber
Amt-Gemeinde) im Vorgang des Gottesdienstes aufweisen,
Berichtskizze 252. Do. ist darum so schwer zu verstehen, weil er
„Form” dreifach gebraucht: 1. Form = modus, Art
und Weise (in der Polemik gegen die Trennung von Form und Inhalt,
RdG 152, 368 gegen Käsemann, obwohl er selber gelegentlich
trennt, z.B. RdG 880); vgl. auch RdG 56 gegen die „Verwechslung
von Struktur und Anwendungsmodus”. — 2. Form = forma =
Wesensgesetzlichkeit = Struktur. - 3. Form = geprägte Form =
Gestalt = Korrelat zu Struktur (OU 123, Berichtskizze 252, RdG
152, 654,911 f.).
11) NRE 58, RdG 689, gemeint sind vor allem
Rechtsinstitute.
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auch die Einsicht in das Wesen der Struktur. Die „wesentlichen Strukturen”, auf die es vor allem ankommt, sind nichts anderes als die schon genannten Grundrelationen. Aus der Relation folgt also die Struktur, aus der Relationalität des Menschen die Strukturiertheit seiner geschichtlich-sozialen Existenz12. Die Struktur ist die „normative” Dimension der Relation.
Um das zu erkennen, hat man wieder vom anthropologischen Grundphänomen auszugehen, nämlich der Verwiesenheit auf das Du. Personales Handeln bewegt sich notwendig in den Beziehungen zu Gott, Mensch und Sache. Diese Grundproblematik ist jedem Menschen vorgegeben und zur Lösung in je neuer geschichtlicher Gestalt aufgegeben. Die Strukturen finden sich also in jeder geschichtlichen Gestaltung (Institution), ja in jedem einzelnen personalen Handeln. Immer geht es um die Realisierung der gleichen Grundbezüge und Grundprobleme, immer handelt es sich um die gleichen Strukturen.
Da die Relationen stets mindestens zwei Beteiligte voraussetzen, wird verständlich, warum die Strukturen aus mehreren Elementen zusammengesetzt sind. Außerdem bilden die Relationen selbst, wie schon ausgeführt, ein verwickeltes Gefüge. Daraus formt sich schließlich das Bild einer in Strukturen verfaßten institutionellen Wirklichkeit13.
Die Einsicht in die Relationalität der Strukturen eröffnet die Möglichkeit, den Einheitspunkt des ontologischen, ethischen und noetischen Aspekts der Struktur anzugeben. Es ist die menschliche Existenz. Die Strukturen sind „Existenzstrukturen” — wie oben die Bezüge „Existenzbezüge”.
12) SS 5 (Grundformen), NRE 59, GRE 16 ff., RdG
278, darum also Sozialstrukturen, RdG 898 und ES. Die Zuordnung
von Struktur und Relation erklärt, weshalb beide vom Sündenfall
unberührt bleiben (vgl. MuR 115, RdG 654, 878), für menschliche
Willkür unverfügbar sind (FamR 137) und so das bewahrende Element
post lapsum darstellen (MuR 115).
13) FamR 137, MuS 87 und oben 484 f., ferner die
Analyse der „Drittbezüge” RdG 90 ff. Es besteht also die logische
Reihe Relation — Struktur — Gestalt (= Institution) — Struktur. —
Ähnlich stellt Erik Wolf an einer Stelle die im wesentlichen
gleichbleibenden „Grundprobleme” und die „historisch
veränderlichen Rechtsinstitutionen” gegenüber (Treysa
59).
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Werden nämlich die Bezüge nicht realisiert, dann wird die menschliche Struktur nicht verwirklicht. Die Beachtung der existentiellen Strukturen wahrt die humanitas des Menschen! Für den Christen folgt daraus, daß er auch die „existentiellen Grundformen" des geistlichen Handelns zu beachten hat14.
Wegen der Einheit von Sein und Denken in der konkreten relationalen Existenz sind die Strukturen zugleich Denkstrukturen15. Das Denken in mehrgliedrigen Strukturen aus Bezügen erlaubt es, den Menschen nicht mehr als fensterlose Monade in schrankenloser Autonomie zu betrachten. Es eröffnet die Sicht in die Zusammenhänge zwischen Gott, Mensch und Welt und überwindet so das „Trennungsdenken” von Scholastik und Neuzeit. Es drängt zu neuer Integration in die Gemeinschaftlichkeit 16.
14) MuR 99 f., 115, MuS 36 anthropologische
Grundstrukturen; Struktur als Aufgabe: RdG 771, 983 und oben 501
f.7. In der vorrationalen und der rechtlichen
Struktureinsicht liegt die existentielle Bedeutung des Mythos
(Sache 256) und des „Gnadenrechts” (RdG 80, 833, 839). Die
Bezeichnung „Existenz”strukturen verneint nicht das ontologische
Element; aber erst die Struktureinsicht führt zum
Wesensverständnis (RdG 628 zum Priestertum). Doch ist das nicht
das scholastische „Wesen”, sondern das phänomenologische, s.u.
511 f. m. A. 34 f.
15) MuS 142, RdG 80. Vgl. den häufigen und scheinbar
unmotivierten Wechsel von Struktur, Denkstruktur,
Denkform z. B. in MuR 99 ff., 115 ff., MuS 20. Ferner ist die
Strukturgleichheit von weltlicher und göttlicher Herrschaft eine
solche der Denkelemente (GRE 16 ff., KuD 1957 71) bzw.
Denkstrukturen (MuS 99); „gleichbleibende Problematik” ist eine
durchhaltende Denkstruktur (MuS 97 A. 25, NR 199). Die richtig
entwickelte ist eine „logische Struktur” (s.u. 508 21)
usf. Genauer: es gibt Denkstrukturen der Dinge und Denkstrukturen
des Denkens (des charismatischen: NRE 13, 32; normativen:
Hochland 1953/54 346; kausalen: MuS 87; des Naturrechtsdenkens:
NRE 14 f., 33 f., 53 f.; von Aussagen: RdG 265, 276 A. 18).
Letztere werden von ersteren her kritisiert (z. B. RdG 276 A. 18,
983), wohl wegen ihrer größeren Wandelbarkeit (insofern sie einer
historischen Entwicklung zugehören und nicht kategorial gelten,
vgl. MuS 142; Berichtskizze 252: das Denken in Relationen ist mit
früheren Denkstrukturen eng verwandt; RdG 838 f.: die
unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Denkstrukturen), vor
allem aber, weil es Do. um das wirklichkeitsgemäße Denken geht.
Die Einheit von Denk- und Sachstrukturen ist zuletzt in Christus
verbürgt, RdG 839 und oben 502.
16) MuR 110, OU 50, 123, MuS 87, RdG 283, und wieder
898 „soziale” Strukturen. Darum lehnt Do. den „vereinzelnden”
Nominalismus ab, z. B. MuS 34. Hier liegt eine der Wurzeln des
„ökumenischen” Ansatzes.
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Bisher ist gezeigt worden, was Dombois unter Strukturen versteht: Sie sind die „normative” Seite der existentiellen Relationen. Aber auf welche Weise findet er sie? Den gewünschten Aufschluß gibt, wenn auch nur in Umrissen, der Aufbau seiner Aufsätze; dieser gestattet zugleich einen Blick auf seine rechtstheologische und -philosophische Methode.
Ein Weg freilich ist für ihn versperrt. Es geht nicht an, von den trinitarischen Bezügen „von oben nach unten” die menschlichen Strukturen analogisierend „abzuleiten”. Auch das „entsprechende” idealistische Verfahren ist verwehrt, Allgemeinbegriffe oder Ideen zu postulieren und davon zu deduzieren. Vielmehr — hier meldet sich weniger die Frontstellung gegen K. Barth als der „Realismus” des praktischen Juristen — muß man von der „vorfindlichen Wirklichkeit” ausgehen, wie sie sich dem durch die Rechts- und Geistesgeschichte geschärften Auge darbietet, und sie mit allen zugänglichen Mitteln „beschreiben”17.
Aber was soll dann noch die theologische Begründung der Strukturen in Gott und Christus? Sie behält kognitive Funktion, weil sie dem Glaubenden die Richtigkeit oder Unrichtigkeit des induktiv Gefundenen dartut.
In drei Schritten: Analyse, Deutung und Rückkontrolle gewinnt Dombois Einblick in die Strukturen der Wirklichkeit und macht sie für seine Rechtstheologie fruchtbar.
In einem ersten Schritt ist das darzustellende Phänomen beschreibend zu analysieren, und zwar möglichst umfassend: die Erkenntnismittel der Theologie, Jurisprudenz, Soziologie und Geschichtswissenschaft sind heranzuziehen. Nicht nur abstrakte Ideen, auch isolierte
17) MuR 99 ff., RdG 771 f. (gegen NRE 43 „ableiten”); SS 3 „die Arbeit eines Praktikers”; gegen die Deduktion RdG 541 (wegen des personal-kontingenten Elementes in der Geschichte, RdG 793, 795). Do. bezeichnet seine Methode selbst (nicht ganz zutreffend) als induktiv, RdG 795; vgl. L. Landgrebe EKL III 179 „nicht Deduktion, sondern Deskription”.
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Fakten besagen nichts: Der Lebensvorgang bietet das Material, im Großen also die Geschichte, insbesondere die Rechtsgeschichte. Denn die Fakten sind nur als Geschehen greifbar18.
In einem zweiten Schritt werden aus den geschichtlichen „Erscheinungen” die stets wiederkehrenden Probleme destilliert, die den verschiedenen Gestaltungen zugrundeliegen, kurz: die Strukturen. Dabei handelt es sich um einen Interpretationsvorgang. Die Strukturen „zeigen sich”, „erweisen sich” mit „Evidenz” und müssen „verstanden werden” aus „Einsicht” in die Wirklichkeit; sie ergeben ein Gefüge von Sinnzusammenhängen, das „typisch” und sogar „kategorial” ist19.
Das darin liegende Erkenntnisproblem wird nicht eigens behandelt. Es wird vorausgesetzt, daß man Strukturen erkennen kann20. Man darf nur kein Phänomen außer acht lassen: „In lückenlos ineinandergreifender
18) NRE 13, 32, 59, Gnade 151 f., RdG 771 f.
Do. geht nicht darauf ein, daß die Auswahl der Fakten unter einem
bestimmten Gesichtspunkt schon ein Vorverständnis dessen
voraussetzt, was dargestellt werden soll, ein Kriterium, anhand
dessen ausgewählt wird (der „hermeneutische
Zirkel”). Immerhin verdient Erwähnung, daß Do.
einen m.E. beachtlichen Entwurf einer „dialogischen” Hermeneutik
vorgelegt hat. In ZThK 1963 122-131 wird die juristische Methode
des (Zivil-)Urteilsaufbaus mit seinen verschiedenen Stadien
(Trennung von Sach- und Rechtsfragen; Darlegung des Sachverhalts,
dieser wieder unterschieden nach bewiesenen und unbewiesenen,
erheblichen und unerheblichen Tatsachen, Herausschälen des zur
Entscheidung stehenden Anspruchs; usf.) auf die „streitigen
Parteien” der Kontroverstheologie übertragen, leider, wie so oft,
fast verdeckt durch Polemik, die für das Ergebnis unerheblich ist
(z.B. „Der Jurist spricht nicht von Hermeneutik” — ebd. 124 — ob
das wirklich zutrifft? Vgl. K. Engischs nun schon klassische
„Einführung in das juristische Denken” 31964 mit ihren
sechs Seiten Literatur zur Rechtshermeneutik S. 200-205 A. 57,
206 A. 72, ferner besonders E. Betti I/II 1955/1957 [deutsch
1967], A. Heuss FS E. Betti I 151-172).
19) MuR 99, KuD 1957 71, Berichtskizze 252, FS Karrer
400, RdG 628, 771; vgl. FS Karrer 400: Die Erklärung „sehr
vielfältiger Erscheinungen aus einem zentralen Gesichtspunkt . .
. begründet eine evidente Sinneinheit zwischen scheinbar höchst
widersprüchlichen Erscheinungen der Kirchengeschichte”. Dazu G.
van der Leeuw PhdR 770: „Einzeichnung eines Grundrisses in das
chaotische Liniengewirre der sogenannten Wirklichkeit. Dieser
Grundriß heißt Struktur. Die Struktur ist ein Zusammenhang, . . .
ein organisches Ganzes, das sich wieder nur als Ganzes verstehen
läßt . . . Die Struktur ist sinnvoll gegliederte Wirklichkeit . .
., Sinnzusammenhang . . . Einen solchen
(Verständnis-)Zusammenhang . . . nennen wir: Typus.”
20) Darin liegt nicht ohne weiteres eine optimistische
Beurteilung der menschlichen Erkenntnisfähigkeit, weil es sich um
existentielles, d.h. hier aber um Erkennen von Christus her
handelt. (Der Hinweis auf das „phänomenologische” Erkennen würde
nicht genügen, weil Do. Erkenntnisrealist ist.)
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Entwicklung” (scil. der Darstellung) können so System und Sache in eins gebracht werden. Dieses Vorgehen nennt Dombois häufig „morphologische Betrachtung”21.
Bemerkenswerterweise taucht die Struktur also erst im zweiten Schritt auf, nämlich im Erkenntnisvorgang!
Im dritten Schritt werden die Ergebnisse der Strukturanalyse verifiziert22 durch Rückkontrolle an den wechselnden geschichtlichen Gestaltungen und deren Interpretation durch andere Autoren. So ergibt sich aus dem „Verstehen” der Strukturen einmal die Kritik an anderen Lösungen und Theorien, zum anderen die Diagnose und Therapie der vorfindlichen Wirklichkeit23.
Das „strukturelle Denken” ist die Methode Dombois’24, natürlich unter dem Vorbehalt der Theologie.
Der Strukturbegriff ist Mode geworden. Gleichwohl ist er bei kritischem Gebrauch nicht von der Hand zu weisen. Bedeutende Vertreter der Philosophie, Psychologie und Pädagogik, der Literaturwissenschaft, Volks- und Betriebswirtschaft haben ihn benützt, freilich mit je anderem
21) SS 3; mit G. van der Leeuw sagt Do., die
Darstellung müsse „logische Struktur” aufweisen (RdG 596, 665),
d. h. folgerichtig, in sich widerspruchsfrei sein. Man denkt
unwillkürlich an die thomistische Definition der Wahrheit als
adaequatio rei et intellectus (STh I q 16 a 1, a 2 arg.
2, De verit. q 1 a 1); dennoch handelt es sich bei Do. eher um
ein phänomenologisches Postulat (s.u. 511 ff.). Zur Morphologie
vgl. Exkurs X 519 f.
22) Z.B. OU 113 ff. oder MuR 99 f., RdG passim.
23) MuR 128 ff., 143 ff.; Do. wird dabei durchaus
konkret in seinen Vorschlägen (a. M. Ernst Wolf ZevKR 1963/64 76,
94 f.), wenn diese auch recht unbequem sind und unter der Fülle
der Kritik an anderen Möglichkeiten nur schlecht zur Geltung
kommen. Überhaupt nimmt die Kritik bei Do. den größten Raum ein
und läuft bei aller Verschiedenheit im einzelnen fast immer
darauf hinaus, daß historisch Bedingtes verabsolutiert werde,
oder, was das gleiche bedeutet, daß nicht alle Strukturen
berücksichtigt worden seien, weil der falsche denkerische Ansatz
(und das ist immer eine falsche Theologie!) das nicht zuließ. Die
Hauptangriffspunkte sind der „scholastische Idealismus und (sein)
Gegenbild, der Nominalismus” (NRE 4 f.), aber auch die „Häresie”
des deutschen Idealismus (EltR 97 f.); für die Gegenwart
insbesondere K. Barth (dazu s.o. 5016; namentlich sein
Aktualismus) und die „Existentialtheologie” (s.o. 488 f.).
24) Vgl. SS 4 und wieder Exkurs X 519 f. zur
Morphologie.
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Inhalt25. An sich stammt die Betonung der Struktur von W. Dilthey und dem phänomenologischen Ansatz; Nicolai Hartmann verband Struktur und Relation, ebenso verfuhr die Logistik R. Carnaps; die moderne Geschichtswissenschaft überwand die Entgegensetzung von typischer Struktur und individueller Historie; M. Heidegger zeigte die existentielle Bedeutung26; in der Kanonistik27 erfahren „Strukturen” immer größere Beachtung. Wie steht Dombois dazu?
Am nächsten steht Dombois noch der „Herleitung der Rechtsstruktur aus anthropologischen Grundkategorien” durch H. Ryffel, von dem sich Dombois jedoch durch die Ablehnung der „Werte” abgrenzt. Mit H. Coing und ähnlich mit E. Fechner verbindet ihn das Anliegen, „die Erkenntnisse der modernen Soziologie über die Strukturgesetzlichkeit sozialer Erscheinungen” zu berücksichtigen; mit J. v. Kempski und U. Klug verknüpft er Struktur und Relation. Im übrigen wird die (Rechts-)„Struktur des Seins” vielfältig erörtert, sei es mit dem begrenzten Ziel, die „Natur der Sache” zu erhellen (zu nennen sind hier z.B. H. Schambeck sowie H. Welzels „sachlogische Strukturen”), sei es grundsätzlicher, um die „ontologische Struktur des Rechts” überhaupt zu klären, wie dies in so eindrücklicher Weise A. Kaufmann unternimmt28.
Von allen diesen Ansätzen unterscheidet sich Dombois durch die radikale theologische Reduktion der Strukturen des Rechts auf die anthropologischen Grundbezüge und durch die Deutung der Strukturen mit Hilfe seiner Erkenntnistheorie (Komplementarität, Nichtobjektivierbarkeit und implizite Definition). Es fällt sogar schwer, auch nur irgendeine Beeinflussung durch die genannten juristischen Autoren festzustellen. Vielmehr „beschränkt” sich Dombois auf die soziologische, theologische, geschichtswissenschaftliche und phänomenologische Bedeutung
25) Nachweise zu W. Dilthey, Th. Litt, E.
Spranger, M. Wagenschein, C. Heselhaus, H. Friedrich u.a.: H.
Schroer FS Schlink 29 f.; zu (Gestalt-)Psychologie und
Strukturalismus (C. Levi-Strauss) vgl. G. Lanteri-Laura NF
1968.
26) Vgl. Sein und Zeit 180 ff. u.ö., dazu A. Villani
383 ff.
27) Vgl. die ständige Parallelisierung von
(Kirchen-)Recht und Struktur in der postkonziliaren Literatur
(„Reform der kirchlichen Strukturen”). Beispiel für
nichtrechtliche „Grundstrukturen”: HPast I, II 1/2
passim.
28) H. Ryffel 1956 494 ff. (499), H. Coing WdF 16 108
ff. (114); E. Fechner ebd. 257 ff. (266 ff.), id. RPhil 265 ff.;
J. v. Kempski z. B. 1961; U. Klug 84 f.; H. Welzel z.B. WdF 16
322 ff. (334); auch Erik Wolf vgl. oben 348 f.4; H.
Schambeck WdF 22 164 ff. (168); A. Kaufmann ebd. 470 ff.
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der „Struktur”. Einige charakteristische Merkmale dieser Strukturbegriffe sollen darum die Eigenart und auch den juristischen Beitrag des Strukturbegriffs von Hans Dombois verdeutlichen helfen.
Der soziologische Strukturbegriff ist mit dem von Dombois gleich in der Betonung der Realität, Konkretheit und Transsubjektivität der Strukturen; auch die Hervorhebung der Zusammenhänge ist beiden gemeinsam. Doch der Unterschied ist offensichtlich. Die soziologischen Strukturen sind abhängig von der Gesellschaft, also wandelbar, während es wenigstens die „Grundstrukturen” Dombois’ nicht sind, da sie auf dem theologischen Fundament der trinitarischen Relationen aufruhen. Vor allem aber stützt sich die Soziologie auf die Sozialstruktur als eine umfassende Größe, nämlich die Gesamtstruktur einer Gesellschaft, während bei Dombois „alles” seine Strukturen hat. Auch „Denkstrukturen” sind der allgemeinen Soziologie fremd29.
„Strukturen” sind der evangelischen (systematischen) Theologie ebenfalls nicht unbekannt. Der Begriff findet sich häufiger bei K. Barth, E. Kinder, O. Haendler, H. Ott, am bedeutsamsten jedoch bei E. Schlink30. Dombois steht auch hier mit K. Barth in Verbindung. Sie kommen sich insofern nahe, als die „Struktur der christlichen Existenz” Barths eine christologische Anthropologie voraussetzt, die relationale Humanstruktur den Fall überdauert und „Struktur” bei beiden Autoren ein Korrelatbegriff ist31. Aber Dombois kennt nicht nur ein Korrelat, sondern auch andere, und vor allem hütet er sich als Jurist vor
29) Do. verweist selbst auf die soziologischen
Strukturen und ihre Wandlungen in der Geschichte: MuS 106, 109,
162 (7.), OU 123, RdG 832, 909 ff., 913, 940, ferner die
„Struktur” der Mitwirkung des Standesbeamten, Ehe 99, bes.
wichtig: EStL 798. Freilich wird die Soziologie gescholten, weil
sie „gestaltlos” sei (MuR 114), andererseits gelobt wegen ihres
„Formverständnisses” (OU 123) . . . Übrigens kennt die Soziologie
auch „Teilstrukturen”, z.B. einer Gruppe (R. König 285).
30) Vgl. die Analysen H. Schroers FS Schlink 38-44,
vor allem E. Schlinks wichtige Abhandlung KuD 1957. Sachliche
Übereinstimmung mit Do. besteht im Anliegen: Beide sind davon
überzeugt, daß das ökumenische Gespräch durch Kritik der zunächst
unreflektiert vorausgesetzten Denkstrukturen entscheidende
Fortschritte machen könnte. Ähnlich J. Hessen 1962 84 ff., 164
f.
31) K. Barth KD IV/3 2. Hälfte 638, 641; das Korrelat
lautet bei Do. z. B. „beherrschendes Prinzip” (GRE 17), bei K.
Barth ebenso (KD ebd. 638), beide wohl voneinander unabhängig
(Do.: 1946 — K. Barth: 1959).
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der Parallelisierung von Struktur und Ordnung32. Eine Differenz besteht auch in der Verbindung von geschichtlichem Denken und Struktur.
Seit man die einseitig individualisierende Betrachtung der Geschichte (Dilthey, Ranke) verlassen hat, gewinnt auch dort das Strukturproblem eine beträchtliche Bedeutung. Es dient dazu, das Typische in den geschichtlichen Abläufen zu erkennen, ohne das Individuelle zu übersehen — also eine der „geschichtlichen Struktur” Dombois’ verwandte Fragestellung. Dombois freilich verbindet die Geschichtlichkeit der Struktur mit der des Menschen — aber auch das hat z.B. schon E. Seeberg getan. Sogar der für Dombois so charakteristische Begriff des mehraktig struierten „Vorgangs” hat seinen Vorläufer in den „Verlaufstypen” (Th. Schieder) des großen Historikers J. Burckhardt33. Neu und eigenständig ist dagegen die theologisch-anthropologische Reduktion der Strukturen auf die Relationalität und die Einführung juristischer Gesichtspunkte.
Viel engere Beziehungen bestehen zur Phänomenologie. Dombois weist selbst darauf hin. Einige wurden schon erwähnt, so die Verknüpfung von Struktur und Relation, der eigentümliche Begriff von Cytologie (bei gleichzeitiger Ablehnung von „Metaphysik”, „Idealismus” und „Wesen” einer Sache). Auch der eigentümliche Wechsel von Denk-und Sachstrukturen deutet auf diesen Hintergrund34.
32) Vgl. OU 52, RdG 1012 gegen KD III/2 440,
502 ff.
33) Th. Schieder 183 f.; L. Vajda ZE 1964 177, 179
(weist darauf hin, daß J. Burckhardt die mehrgliedrige „Struktur”
eines Sinnzusammenhangs mit ihrer typischen zeitlichen
Aufeinanderfolge begründet). — Dazu K.D. Erdmann AKultG 1950/51
242: „Typenbildung ist ein in der historischen Begriffswelt
notwendiger Erkenntnisvorgang.” Ähnlich Th. Schieder 172 ff. Zur
„strukturgeschichtlichen” Methode in der Geschichtswissenschaft
vgl. W. Conze und das Vorwort von W. Lammers WdF 21. Der Streit
um die „ideographische” gegen die „nomothetische" Methode kreiste
ja im Grunde um das Strukturproblem, L. Vajda ebd. 175 f. Ferner
schon E. Seeberg 1924 117 ff., 122 ff. Zum analogen Problem in
der Ethnologie vgl. die bei L. Vajda ebd. Genannten sowie L.
Lantéri-Laura NF 1968 207 f.
34) NRE 14, NR 200, 204, OU 123, RdG 931 u.ö.;
Ontologie und Ethik als „formale Denkstrukturen” MuS 20;
Strukturverstehen führt zu Wesenserkenntnis, SS 3, OU 76, RdG
628, 896, und zu einer (formalen i. S. Husserls, nicht
scholastischen: Strafe 167, RdG 587) Ontologie (RdG 873). Dazu H.
Conrad-Martius in: A. Reinach 1951 6, G. van der Leeuw PhdR 774,
und den phänomenologischen ➝
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Besonders stark ist der Einfluß der sogenannten phänomenologischen Methode, obwohl das nicht sogleich auffällt. Gerade das dem Juristen leicht als „mysteriös" erscheinende „Verstehen” der Strukturen, ihre Evidenz, von der Dombois spricht, weist auf sie. Darüber hinaus ist die dreistufige Methode Dombois’ ein getreues Abbild der phänomenologischen Methode35. Dem ersten Schritt entspricht die phänomenologische „Deskription”36, dem zweiten die doppelte „Reduktion”. Dem dritten Schritt entspricht die „immerwährende Korrektur” der Ergebnisse
➝ Schlachtruf: „Zu den Sachen selbst!” Die Berechtigung,
die Realien der Geschichte stärker zu betonen, findet Do.
bestätigt von M. Weber (RdG 186, 230 A. 12), aber auch von K.
Marx (RdG 185). Hier wäre noch Fichte zu nennen, aber auch die
Betonung der „Realfaktoren” durch M. Scheler 19 ff.
35) Zur phänomenologischen Methode
vgl. einführend J. Frese LThK VIII 432-435. Den Vorgang des
Verstehens schildert in unübertroffener Klarheit G. van der Leeuw
PhdR 768-777. Do. scheint von G. van der Leeuws Einfluß nicht
unberührt zu sein (übrigens auch sonst: Vertrag, RdG 229 A. 8;
Geben und Nehmen als Rechtsvorgänge, 193 f.; Macht, NRE 40, 58
f., OU 49; Opfer, NRE 57, RdG 224; Bund, MuR 124 f., RdG
328 u.ö.; Sakrament, 462 ff.; Ehe, 674 A. 18; Taufe, 138; der
spiritualistische Augustinus, 435 — ohne daß Do. nun als sein
Gefolgsmann anzusehen wäre): Zunächst sieht man davon ab, ob das
„sich (dem Betrachter) Zeigende” „tatsächlich” vorhanden ist
unabhängig vom erkennenden Bewußtsein; das ist die sog.
„noetische Reduktion” (dazu näher bei Do.s Erkenntnislehre, die
zu diesem Punkt von der Physik her zu einem verwandten Ergebnis
kommt [„Nichtobjektivierbarkeit”]. Jedenfalls ist nun klar,
weshalb bei Do. zwischen Sach- und Denkstrukturen schwer zu
trennen ist [vgl. zu dieser Frage G. van der Leeuw PhdR 770 f.],
denn davon wird in der Phänomenologie gerade abgesehen). Dann
wird das Phänomen von allen Seiten umkreist und betrachtet, bis
die bleibenden Strukturen „erscheinen” und das Zufällige
zurücktritt („eidetische Reduktion” auf das εἶδος, das „Wesen”).
Deshalb sagt Do. ganz folgerichtig, daß die Strukturbetrachtung
zum (scil. phänomenologischen) Wesensverständnis führe (RdG 628;
vgl. GRE 53 die letzte Reduktion der Rechtsidee). Sehr viel
poetischer charakterisiert Do. seine Methode SS 3 mit den
faszinierenden Worten R. Sohms FS Wach 57 (Hervorhebungen und
Kürzungen vom Verf.): „Das Wesen des behandelten Gegenstandes ist
zum Gesetz seiner künstlerischen Gestaltung geworden. Die
Idee, die der Stoff selber in sich trägt, ist
befreit und in die Herrschaft über die
Gesamtdarstellung eingesetzt, so daß in allen Einzelheiten . . .
das Licht des Geistes sich widerspiegelt, der das
Ganze geschaffen hat.” (Do. distanziert sich zwar von
der „ideal-begrifflichen” Ausdrucksweise Sohms [SS 4]. Ob das
aber genügt? Denn man kann vor den Hintergründen Sohmschen
Denkens erschrecken, weil die Terminologie fatal an einen
gnostischen Erlösungsmythos erinnert: Der „Geist”, „der das Ganze
geschaffen hat” [!], wird [nach dem Sündenfall in die
(schmutzige) materia] aus dem „Stoff” „befreit und in
die Herrschaft” „eingesetzt” . . ., nämlich durch menschliches
Erkennen [γνῶσις].)
36) Die hierzu geforderte ἐποχή, Abstinenz von allen
traditionellen Meinungen und Ansichten, paßt aufs beste zu Do.s
kritischem Geist.
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in „Konfrontation mit dem Tatsachenmaterial”, die G. van der Leeuw verlangt37.
Freilich ist die phänomenologische Methode bei Dombois der Theologie untergeordnet und entsprechend seiner juristischen, ökumenisch-praktischen Zielsetzung abgewandelt. Sie ist ihm Mittel zum Zweck, nämlich zur Korrektur der Kirchenrechtswirklichkeit. Der Einfluß der Religionssoziologie38 und der Geschichtstheologie macht sich bemerkbar, insofern die Strukturen nicht nur idealtypisch und damit zeitlos und ewig gültig sind39, sondern stets „auf der Grundlage einer eigentümlichen vorauslaufenden Vergemeinschaftung” entstehen 40. Sie sind auch nicht bloße Denkstrukturen, wie (zumeist) in der Phänomenologie 41; Dombois zieht den „realistischeren” soziologischen Begriff vor42.
Dombois kritisiert die (Religions-)Phänomenologie ausdrücklich; sie lasse tiefere Einsicht in die Geschichtlichkeit vermissen. Auch von der zünftigen Rechtsphänomenologie distanziert er sich43.
37) PhdR 776 f. Hier weicht der
Religionsphänomenologe (und Do.) von dem „Phänomenologen an sich”
(so H. Conrad-Martius ebd. 7) A. Reinach ab, außerdem in der
religionsphänomenologischen Sicht des Rechts: „Das Recht ist von
der Phänomenologie der Religion nicht abzulösen”, MuS 138 mit G.
van der Leeuw PhdR 12; NRE 12 ff., OU 49; grundsätzlich
zustimmend T. Rendtorff 1959 78.
38) So bezeichnet Do. gelegentlich auch die
Religionsphänomenologie van der Leeuws (NRE 55 f.), wohl um ihre
„realistischere” Sicht hervorzuheben, aber das ist ein
Mißverständnis (G. van der Leeuw PhdR 771 f.: „. . . die Struktur
. . . braucht in der Wirklichkeit nicht vorzukommen”, 774).
39) G. van der Leeuw ebd. mit Hinweisen auf E.
Spranger und L. Binswanger; H. Conrad-Martius ebd. 7, A. Reinach
1913 4, 133.
40) S.u. 588.
41) So die Linie Husserl-Dilthey (wenn auch nicht
durchgängig).
42) S.o. 51029.
43) RdG 464 f. (1., 6.), dazu unten 522 f. zu Struktur
und Geschichte. Damit sind zunächst A. Reinach und G. Husserl
gemeint, ferner der Neuhegelianer G. Dulckeit (GRE 145 m. A., RdG
80). Do. kritisiert an A. Reinach (nicht ohne ihn mißzuverstehen
[NR 202, RdG 168, 305 f.]: Reinach kennt nicht nur die eine
rechtliche Urkategorie des „Versprechens” [so NR 202, RdG 168,
305 f.; richtig dagegen W. Heinemann StL VI 247 f.] und kann das
auch gar nicht, da die Phänomenologie nicht von einer, sondern
von vielen „Wesenheiten” ausgeht [A. Reinach ebd. 11 ff.,
77]) eine ganze Reihe von Punkten, die sich sachlich auf
die „idealistische" Richtung der Phänomenologie überhaupt
beziehen: 1. Er versuche, wesentliche (Rechts-)Aussagen durch
ihre bloße logische Widerspruchsfreiheit zu finden (NR 202). Das
sei nur ein schlechtes Naturrecht (RdG 305 f. — das geht in die
Linie der neuerdings aufgeworfenen Frage, wieweit es sich bei
dieser Phänomenologie nicht um bloße Wortanalysen handle). 2.
Vorausgesetzt sei der autonome Mensch ohne Relationalität und
Sozialität ➝
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Überhaupt ist die phänomenologische Sicht nur eine von drei Blickrichtungen44. Gleichwohl ist es Dombois’ Verdienst, die phänomenologisch soziologische Strukturbetrachtung in die Rechtstheologie eingeführt zu haben. Auch die Verbindung der soziologischen Sicht mit der phänomenologischen Methode ist ein wichtiger Beitrag des Kirchenrechts zu der Aufgabe, die E. Fechner einer künftigen Rechtsphilosophie gestellt hat: an Phänomenologie und Soziologie anknüpfend die das Recht gestaltenden Kräfte möglichst vollständig zu erfassen. Daß das die Kräfte eines einzelnen weit übersteigt, betont Dombois selbst45.
Es bleiben drei Fragen offen, die die Einführung eines „gereinigten” phänomenologisch-soziologischen Strukturbegriffes in die anthropologische Rechtsbegründung aufgibt.
Erstens: Welche Strukturen sind „durchhaltend” und welche nicht46? Wenn geantwortet wird: nur die Grundstrukturen, also die Bezogenheit auf Gott-Mensch-Sache47, wird dann nicht der Strukturbegriff hoffnungslos formal? Der Hinweis auf die Geschichtlichkeit der Strukturen bezeichnet nur das Problem, löst es aber nicht. Die Gleichsetzung der durchhaltenden Strukturen mit den menschlichen Grundproblemen verschiebt es nur auf ein anderes Gleis: Oft wandeln sich die Problemstellungen stärker als die historischen Lösungen48; gerade daraus entstehen viele institutionelle Konflikte.
Zweitens bleibt bei den Grundproblemen ungelöst, weshalb sie gerade diese oder jene historische Gestalt annehmen — das große Problem jedes „geschichtlichen” Denkens.
➝ (RdG 305 f.), das Gemeinschaftsverhältnis sei
ausgeklammert und zu einer bloßen Qualität der (isolierten)
Existenz erniedrigt (RdG 168). 3. Das verrate ungeschichtliches
Denken, denn das isolierte Phänomen gebe es nicht: Es erhalte
seinen Sinn und „Stellenwert” erst im Zusammenhang der Geschichte
(NR 202, RdG 305 f.).
44) NRE 55-59, RdG 80; Exkurs X 519 f.
45) RdG 14 f.; E. Fechner WdF 16 257-280 (275).
46) Do. formuliert selbst das Problem erstmals 1967:
„Wenn hier im Ernst von Geschichtlichkeit die Rede sein soll,
kann diese gewiß nicht nur als eine accessorische Variabilität
der Gehalte im Verhältnis zu invariablen formalen Strukturen
verstanden werden” (NRO 91) — freilich ohne es bisher zu
lösen.
47) Oder anderwärts: die Grundbedürfnisse
(58840).
48) Dazu bieten die Völkerkunde und die
Religionssoziologie eine überwältigende Fülle von
Material.
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Drittens: Was bedeutet es, wenn verschiedene Vorgänge usw. gleiche Strukturen haben? Heißt „gleich” nicht besser „analog”? Dombois selbst scheint dieser Meinung immer mehr zuzuneigen49. Worin besteht dann diese Analogie? Was ist gleich, was nicht? Wird nicht der Strukturbegriff selbst fragwürdig, wenn er das Analogieproblem verdeckt?
Die Beantwortung dieser Fragen setzt eine ausgebildete Theologie der Geschichte voraus, die unter Beiziehung des rechtsgeschichtlichen Materials zu zeigen vermag, was in der Geschichte dauert und was nicht. Sie hätte das Anliegen des Naturrechts mit der allgemeinen Geschichtlichkeit zu verbinden.
Eine solche Theologie der Geschichte gibt es noch nicht, trotz wichtiger Ansätze50, nicht zuletzt bei H. Dombois selbst, wie nun zu schildern
49) NR 202 Struktur „wesentlich gleich”; MuR
115 „übereinstimmende” Struktur; KuD 1957 71 gleiche Struktur
und/oder nur formale Parallelität; ZevKR 1956 50, 56 analoge
Betrachtungsweise bzw. RdG 891 u.ö. analoge Struktur. An sich
kann wegen der Untrennbarkeit von Form und Inhalt göttliches und
menschliches Handeln nur analoge Struktur haben (vgl. auch RdG
865: geistliches und staatliches Rechtshandeln sind
„unvergleichbar”!). Der Unterschied zur Analogie K. Barths
besteht darin, daß die Analogie nicht zur Gewinnung „neuer”
Aussagen dient, sondern nur zur Erhellung vorhandener.
50) Außer bei Do. bei so verschiedenen Theologen wie
H.U. v. Balthasar, H. Berkhof, O. Cullmann, J. Moltmann, W.
Pannenberg, H. R. Schlette. Eine mögliche
Lösung — die sich explizit nicht findet — würde sich aus
dem Gesamtzusammenhang des Geschichtsdenkens Do.s ergeben: Die
Heilsgeschichte bietet dem Glaubenden in Christus zusammengefaßt
die — sonst verborgene — Sinneinheit der Geschichte (denn
Christus ist das Vorwegereignis ihres Endes), d.h. ihre
„Grundstruktur”, wenn auch unvollkommen, entsprechend dem Stand
der geschichtlich bedingten und fortschreitenden
Glaubenserkenntnis. (Daß dieser Fortschritt nicht „linear” sein
kann, ist selbstverständlich.) Dieses Grundgerüst ist also zwar
„durchhaltend”, aber geschichtlich. Was sich im Wandel der
Geschichte an Teilstrukturen jeweils in den Vordergrund spielt,
sind Teilaspekte der universalen Christozentrik der Geschichte.
Die Geschichte ist die Explikation des Christusereignisses. Von
ihm erhalten die Strukturen ihren „Stellenwert”
(Deutungszusammenhang!), erhellen aber ihrerseits das
Christusmysterium, damit die Grundstruktur der Geschichte. Da die
Geschichte noch nicht zu Ende ist, kann nicht vorhergesagt
werden, welche (Teil-)Strukturen noch neu auftauchen werden, da
das Christusereignis als die Fülle der Zeit nur durch die
Totalität der Geschichte bis zum Ende der Tage eingeholt, d.h.
vollständig interpretiert wird. — Dieses (keineswegs
„weltimmanente”, gegen J.R. Geiselmann HthG II 249 f.)
Verständnis der „Offenbarung als Geschichte” ist von der
Pannenberg-Gruppe (W. Pannenberg, Rolf und Trutz Rendtorff, U.
Wilckens) systematisch begründet (vgl. W. Pannenberg 1963) und
von H.R. Schlette mit „Epiphanie als Geschichte” (Schlette 1966)
entfaltet worden. Do. kann jedoch nicht ohne weiteres zu dieser
theologischen Richtung gezählt werden, denn das Analogie- und
Strukturdenken ist zumindest Pannenberg fremd (vgl. ThLZ 1953 17
ff., FS Schlink 96 ff., ZEE 1963 1 ff.).
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sein wird. Erst die Verbindung von Struktur und Geschichte wird den Versuch einer Definition des Strukturbegriffs Dombois’ erlauben.
Bisher konnte noch nicht abschließend gesagt werden, was „eigentlich” die Strukturen der Wirklichkeit sind. Der Grund dafür liegt in ihrem Geschehenscharakter, oder anders in ihrer Geschichtlichkeit.
Gerade hier hat Dombois eine besonders deutliche Entwicklung durchgemacht (unten a). Sie führt zur Unterscheidung zwischen Geschichtlichkeit des Menschen (b) — sie wird die endgültige Eingrenzung des Strukturbegriffs erlauben — und der „großen Geschichte”, dem Geschichtsbild (c). Eine abschließende Bemerkung versucht eine vorläufige Einordnung dieser anthropologischen Geschichtstheologie.
Zunächst stehen geschichtsphilosophische1 Überlegungen im Vordergrund (1946-1956). Mit Hilfe fremder und eigener Geschichtsdeutungen2 versucht Dombois, die Ursachen der Katastrophe Deutschlands zu erfassen und einen Ausweg aus den Alternativen der Vergangenheit zu finden. „Quer” dazu steht aber schon von Anfang an die heilsgeschichtliche Sicht. Sie wird erst nach und nach mit der Profangeschichte theologisch verbunden3. Da bei Einzelnachprüfungen4 nicht mehr zutrifft, was als geschichtsphilosophische Typisierung noch durchaus zu vertreten war, ist immer größere Skepsis gegen die geschichtsphilosophische Betrachtungsweise zu beobachten. Sie tritt darum immer mehr zurück, wenn sie auch nie ganz aufgegeben wird, und wird durch
1) Genauer sind es geistes- und
religionsgeschichtliche Typisierungen in Verbindung mit
Geschichtsphilosophie. Sie sind „säkularisierte Theologie” (GRE
9, vgl. MuS 129 f., 154).
2) Daneben stehen soziologische und
religionsphänomenologische Betrachtungen. Hier wird nur der
Geschichtsaspekt herausgeschält.
3) Das bedeutet zugleich eine Abwendung von der
Barthschen Geschichtsinterpretation.
4) Z.B. wird Calvin zunächst mit M. Weber als
Frührationalist gesehen, später mehr zu Luther gerückt.
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Periodisierungen der Theologie-, Rechts- und Liturgiegeschichte ersetzt. Auch diese will Dombois jedoch nicht überbewertet wissen.
Bedeutsamer und von der geschichtsphilosophischen Sehweise durchaus abtrennbar ist Dombois’ Betonung der Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz und damit des Rechts5. Sie tritt immer mehr in den Vordergrund und soll auch hier die erste Stelle einnehmen (unten b). Erst in zweiter Linie steht das Geschichtsbild Dombois' (c), während die spezielle Rechtsgeschichte erst später dargestellt werden soll.
Geschichte ist nicht bloße Faktizität, auch nicht bloße Idee, sondern reales Geschehen6 zwischen Menschen (Exkurs X). Darum hat sie teil an der relationalen und personalen Struktur (b 1, 3, 4) menschlicher Existenz (b 2). Sie ist damit Prozeß, „Vorgang” (Exkurs XI).
Jedes „Handeln” von Menschen spielt sich im Räume der Grundbezüge ab. Es ist beziehentliches Geschehen. Weil dieses Geschehen in Raum und Zeit verläuft, gewinnt die Relation die Dimension der Geschichtlichkeit hinzu: sie „verläuft” von einer Person zur andern oder zur Sache, ist also gerichtet mit Ausgangspunkt und Ziel. Da der Mensch ohne die Verwirklichung seiner Grundbezüge nicht „existiert", erhält die Relationalität des Menschen eine Dynamik hin zu ihrer geschichtlichen Verwirklichung. Beziehungslosigkeit ist Geschichtslosigkeit. Geschichtliches Handeln aber führt notwendig zu konkreten Gestaltungen,
5) S.u. 661. Vorweg sei darauf hingewiesen, daß
„Geschichtlichkeit” bei Do. in einem von der
existentialtheologischen Sicht völlig abweichenden Sinn gebraucht
wird (vgl. Do.s Kritik der Existenztheologie, oben 488 f.);
Geschichte, Geschichtlichkeit, Zeit sind bei Do. nicht deutlich
voneinander geschiedene Begriffe, sondern allesamt Aspekte der
Zeitlichkeit des Menschen, die hier nur zur besseren Gliederung
unterschieden werden.
6) MuS 74, 98, RdG 96, 847. - Aber anders als R.
Bultmann nach M. Heidegger unterscheidet Do. nicht zwischen
bloß-historischer Faktizität und „geschichtlicher”, d.h.
Entscheidungsbedeutsamkeit (vgl. ZevKR 1956 34, RdG 154, 792 f.
„zeitlose Entscheidungssituation”; der „Weg-zu” ist für Bultmann
unwesentlich). Der Begriff der Geschichte ist hier also anders
als in der Existentialphilosophie und -theologie, aber auch
anders als bei K. Barth (Exkurs XII 534 f.).
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„Institutionen” also in dem hier gebrauchten neuen Sinn7. Die Relationalität der Geschichte meint also ihre dynamische Progression von einem „Pol” zum andern.
Damit ist auch schon der durchgehende Realitätscharakter der Geschichte sichtbar geworden, oder anders ihre Existentialität. Bloß Gedachtes, Ideen, Wünsche sind in der Geschichte nicht in einem letzten Sinne „wirklich”, existentiell. Nur das Handeln (Tun oder Leiden) ist wirkliches Geschehen, „Geschichte”. Geschichte ist „erfüllte Zeit, in der etwas Wirkliches geschieht”, sagt Dombois von der Heilsgeschichte —womit zugleich der innere Grund dieses Realismus zutage tritt. Existentialität der Geschichte besagt also erstens ihren Wirklichkeitscharakter8.
Zweitens ist an den „Grenzcharakter” menschlicher Existenz zu erinnern. Die „Zwischenexistenz” ist auch die gültige Beschreibung der Geschichtlichkeit des Menschen. Der Mensch ist nicht nur verwiesen in die Grenzen der Bezüge, er ist ebenso verflochten in Raum und Zeit. Die Existenz kann sich nur im Rahmen der jeweiligen geschichtlichen Gegebenheiten und Zielsetzungen bewegen. Sie hat Anfang, Verlauf und Ziel. Sie ist unausweichlich in einen vorgegebenen Horizont hineingebunden. Nur der christlichen Existenz eröffnet sich der heilsgeschichtliche Zusammenhang; sie transzendiert so die Geschichte.
Damit ist aber auch für den Christen die Irrtumsmöglichkeit nicht aufgehoben; sein geschichtliches Handeln bleibt darum der ständigen Bedrohung ausgesetzt, die Existenz zu verfehlen.
Drittens und endlich bedeutet die Existentialität die Gemeinschaftsbezogenheit und -gebundenheit geschichtlichen Handelns. Geschichtsmächtiges
7) GRE 8, MuR 115, MuS 94, 164 These 24, RdG
283, 388, 947, ferner 848, wo „Relativität” (d.h. wohl
Relationalität) und Geschichtlichkeit synonym sind. Handeln ist
hier nicht „aktivistisch”, sondern im weiteren Sinne zu
verstehen: Es ist jedes verantwortliche Tun, Unterlassen und
Erleiden, OU 52, MuS 94, vgl. die Bedeutung des Leidens Christi
MuS 127, und des Opfers überhaupt z.B. NRE 61. Zur Institution
s.u. 573 ff.
8) ZevKR 1956 34, RdG 824. Zum Realitätscharakter des
geschichtlichen Handelns vgl. SS 45; RdG 210: Geschichtslosigkeit
verfehlt die Wirklichkeit. Die andere Seite der geschichtlichen
Existenz, ihre Gemeinschaftlichkeit, äußert sich vor allem in der
Geschichtlichkeit der Institutionen (s.u. 584 f.) und in der
Beachtung der Institutionengeschichte (vgl. zur „Morphologie” den
anschließenden Exkurs X).
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Handeln ist gemeinschaftliches Handeln — in der Politik, wie erst recht in der Kirche, — ein Kirchen-Rechtsgrundsatz Dombois’9.
Da das geschichtliche Handeln „realer” ist als bloße
Ideen, stellt Dombois häufig Ideen- und Realgeschichte einander
gegenüber und betont letztere10. „Nicht, was gemeint
wird, sondern was geschieht, ist entscheidend!” Denn nicht alles,
was gedacht wird, gelangt zur geschichtlichen
Wirksamkeit11.
1. Unter Ideengeschichte sind zu verstehen
philosophische Vorstellungen, theologische Reflexionen, Lehre,
auch Aussageformen, kurz alles
„Denken-über-etwas”12.
2. Realgeschichte ist dagegen die Geschichte der Sachen
selber: der Institutionen, insbesondere des Rechts als
verbindlicher Lebensformen, im Kirchenrecht also der Liturgie und
des Gottesdienstes. Die Realgeschichte soll aber die den
Lebensformen zugrundeliegenden geistesgeschichtlichen
Entwicklungen mit berücksichtigen13.
In diesem Sinn will Dombois die Rechtsgeschichte betrachtet
wissen als in konkrete Formen ausgeprägte Geistesgeschichte.
Ideen- und Realgeschichte dürfen also nicht verwechselt werden.
Sie decken sich nicht. Die Ideengeschichte geht der
Realgeschichte zeitlich voraus oder folgt ihr nach oder beharrt
oder wird überhaupt nicht wirksam14.
9) NRE 59, MuR 103, 115 f., MuS 94, 110, 127,
OU 30 f., 96, RdG 742. Gegen einseitige Zielgerichtetheit: GRE
106, oben 479, unten 5517.
10) Zunächst fast ausschließlich, Sache 250; vgl. E.
Troeltsch „Christentum ist Praktik!” (bei W. Elert I 5); dann
ausgewogener i.S. ihrer Wechselbezüglichkeit (FS Smend II 298
f.).
11) Sache 250, 255, RdG 898, 955.
12) Sache 250, OU 45, Kathol. 162, RdG 471 A. 21
(„Idealgeschichte”!), 821, 874, FS Smend II 298.
13) Sache 250, MuS 161 (2.), OU 45, KuD 1957 64,
Kathol. 162, RdG 471 A. 21, 999, FS Smend II 298.
14) Sache 250, MuS 161 (2.), OU 45, KuD 1957 64, RdG
283, 471 A. 21, 821, 898, 999, RGG V 822. Das ist Do.s
Grundvorwurf gegen die Luther-Interpretation Heckels, daß
diese Rechtstheologie Luthers nicht geschichtlich
wirksam geworden sei (RdG 955 ff., 985). Aber das sagt nur etwas
über die Vergangenheit, nichts über ihre geradezu „aufregende
Aktualität”! Was hindert, daß sie heute, vielleicht in modernerem
Gewände, „wirksam” wird? Ist das überhaupt ein möglicher Einwand
gegen eine Idee, daß sie nicht ausgeführt wurde? Do. widerlegt
Do.: unten 53258 (zu Kathol. 176).
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3. Gelegentlich aber wird der ideen- und
realgeschichtlichen Seh weise als dritte die Morphologie
beigesellt. An sich bedeutet Morphologie allgemein die „Lehre von
der Gestalt”. Obwohl das bei Dombois mitschwingt, bestimmt er
selbst Morphologie als „Gestaltgesetzlichkeit”. In diesem Sinne
ist Morphologie von Struktur nur wenig
unterschieden15. Dieser — soziologische16 —
Sprachgebrauch ist jedoch selten.
Vielmehr verbindet Dombois die Morphologie meist mit der
strukturellen Sicht der Geschichte und deutet sie als
„Formgeschichte”, als Ergänzung (und Zwischenstück) zur geistes-
und realgeschichtlichen Betrachtung17.
„Form”-geschichte ist hier etwa gleich „Institutionengeschichte”!
Assoziationen zur neutestamentlichen „formgeschichtlichen”
Exegese wären durchaus fehl am Platze18.
Die Morphologie leistet zweierlei. Sie findet unter verschiedenen
Phänomenen gleiche und ähnliche Strukturen (und zeigt damit
äußerlich nicht sichtbare Zusammengehörigkeiten)19,
umgekehrt erweist sie angeblich Unveränderliches als historisch
bedingt und wandelbar und durchbricht damit allzu
selbstverständliche Bindungen an unreflektierte
Traditionen20.
Diese Methode verknüpft soziologische und phänomenologische
Elemente, Strukturdenken und Geschichtlichkeit. „Diese
methodische Anlage im Auge zu behalten, ist der Leser
gebeten”21.
15) Kathol. 175 f., MuS 34 morphologische
(statt Struktur-)Merkmale; vgl. NRE 4 f.
16) In der älteren Soziologie sind Morphologie und
Sozialstruktur bedeutungsgleich; R. König FiLex 10 257 ff.
dagegen ordnet erstere unter.
17) Ihr Verhältnis zur Rechtsgeschichte wird nicht
recht klar, vgl. EltR 90, RdG 45, 283, 454, 541. Die Nähe zur
Rechtsgeschichte und vor allem die theologisch-anthropologische
Basis unterscheiden Do.s Gebrauch von der „Geschichtsmorphologie”
O. Spenglers in: Der Untergang des Abendlandes I 6 ff., 33 ff.,
91 ff. u.ö. (den Do. kennt, vgl. NRE 51, und ablehnt wegen seiner
romantischen Geschichtskonstruktionen). Zur Entstehung und
Bedeutung der Morphologie vgl. FS Ehrenfels passim, bes. 65 ff.
mit Hinweis auf E. Rosenstock-Huessy; zur verwandten „Gestalt”
s.o. Exkurs VIII 399 f.
18) Trotz RdG 283 oben — die Auslegung dieser Stelle
bedarf in der Tat einiger exegetischer Künste . . .; KuD 1957 64,
MuS 48, Berichtskizze 251, RdG 45, 80, 283, 448, 892. Statt
dessen auch „Strukturformen” NRE 58, RdG 283, 689, „Form” nämlich
in dem oben 50310 angeführten Sinn!
19) ZevKR 1956 49 f., 56, MuS 87, 97, RdG 12, 458 ff.
(morphologischer Vergleich der fünf Nebensakramente führt zum
sacramentum Spiritus sancti), 839, 892.
20) RdG 12,368, 891. Wichtigste Anwendung:
morphologische Betrachtung erweist das angeblich kategoriale
normative Recht als Spätform, RdG 885-892. Zur morphologischen
Typenbildung s.o. 4957 nach W. Elert I 3.
21) NRE 4 f., RdG 80 (Zitat), 891 f.
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Das personale Moment in der Geschichte bedeutet für Dombois ein doppeltes: Verantwortlichkeit des menschlichen Handelns und seine Strukturiertheit.
Zum ersten: Personales Handeln ist verantwortliches, d.h. bewußtes und gewolltes Handeln. Denn nur so wird die menschliche Existenz im Gegenüber zum Du „wirklich”. Geschichte bildet sich darum im verantwortlichen Tun des Menschen. Geschichte ist nicht ohne den Menschen.
Selbst wo er sich dazu entscheidet, auf Handeln zu verzichten, ist auch das ein geschichtlich wirksames Tun22. Denn jede personale Entscheidung fügt der Geschichte schöpferisch und unableitbar ein Neues hinzu, das noch nie da war und mit dem Moment des Entstehens irreversibel ist. Der Mensch hat nicht die Macht Gottes, etwas Existierendes ungeschehen zu machen. Er kann sich auch nicht durch den Hinweis auf die Verfehlbarkeit und Vorläufigkeit alles Geschichtlichen von seiner falschen Entscheidung exkulpieren, auch im Glauben nicht. Er kann sie nur durch eine neue Entscheidung „nach vorn” überbieten23.
Zugleich ist der Untrennbarkeit von Person und Person, wie der von Person und Sache zu gedenken. Jedes personale Handeln in der Geschichte betrifft unweigerlich Dritte. Wie gesagt, ist das im politischen und kirchlichen Raum besonders deutlich, gilt aber allgemein. Das ist die Kehrseite der anthropologischen Grundgegebenheit, daß man in den dialogischen Ursituationen auf die Mithilfe des andern verwiesen ist. Darin liegt die anthropologische Voraussetzung für die Stellvertretung. Außerdem enthält jede personale Entscheidung ein sachliches Element, nämlich das, worüber und wozu entschieden wird. Person und Sache sind demnach auch in der Geschichte komplementär24.
Was aber, zum zweiten, die Struktur geschichtlichen Handelns
22) Vgl. Stefan Zweigs Erzählung „Das Auge des
großen Bruders”!
23) Vgl. ZevKR 1956 34, OU 38, 92, MuS 94, 98 („Die
Geschichtlichkeit . . . menschlichen Handelns konstituiert den
Menschen als Person”), Kathol. 176, Strafe 168, RdG 95, 210, 238,
242, 244, 414, 824, 985. Dazu W. Pannenberg KuD 1958 278 A. 35:
„Ein ,irreduzibles Novum’ (Nicolai Hartmann) dürfte . . . in
jedem konkreten Geschehen auftreten.” Ähnlich K. Rahner FS Wolf
69 ff. — Personalität und Geschichte sind komplementär:
„Objektiver Idealismus ist Geschichte (Sinnhaftigkeit) ohne
Personalität . . . subjektiver Idealismus ist Personalität ohne
Geschichte” MuS 123 f.; MuR 124, MuS 163 (19.), Kathol. 304, EltR
97 f.
24) OU 52 und oben 498 f.; MuR 115 f. (politisches
Handeln als Stellvertretung) und oben 495 f.; Christus bedient
sich im stellvertretenden (sakramentalen) Handeln dieser
Dimension der Geschichte.
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anlangt, so ist dieses Thema für Dombois so wichtig, daß ihm der folgende Unterabschnitt zu widmen ist. Denn nun wird zum erstenmal die Doppelstruktur der Institution und des Rechts deutlicher sichtbar.
Wo immer der Mensch verantwortlich in der Geschichte handelt, tritt eine eigentümliche soziologische Struktur auf. Sie begegnete schon einmal, nämlich bei der Darstellung der Komplementarität von Person und Sache anhand der Ehe25. Dieses Beispiel ist auch in anderer Hinsicht bemerkenswert: Es gliedert sich bei genauem Zusehen in zwei Teile, nämlich die Wahl des Partners und den Akt der Eheschließung; oder abstrakt formuliert: Der zweiaktige „Vorgang” besteht aus einer „ausscheidenden Wahl” und einer „einfügenden Zuordnung” in einen neuen Zusammenhang. Dombois geht weiter. Er hält dafür, daß diese „Doppelstruktur” „die notwendige Form jedes personalen Handelns” ist. Wo verantwortlich gehandelt wird, dort vollzieht sich stets Auswahl aus mehreren Möglichkeiten, dort wird aber zugleich das Erwählte im Rahmen der geschichtlichen Gegebenheiten gestaltet26.
Außer den beiden Akten dieses Vorgangs muß man noch das Zeitmoment beachten: Normalerweise „folgt” der zweite Akt erst nach gewissem Abstand auf den ersten. Außerdem kann man die Reihenfolge, wie man an der Ehe leicht ersieht, nicht umkehren. Man kann verallgemeinern: Die Struktur personalen Handelns in der Geschichte ist unumkehrbar27.
Jetzt erst kann die Definition der Struktur nachgeholt werden, nachdem ihre Geschichtlichkeit klar geworden ist:
Struktur ist also bei Dombois die reale Sinneinheit, die aus der typischen und unumkehrbaren zeitlichen Aufeinanderfolge einzelner (meist zweier) Elemente geschichtlichen und personalen Handelns erkannt wird28.
25) Oben 498 f.
26) MuR 99 ff., RdG 283, 367 f., 868. Für die in Buße
und Strafe sich vollziehende (Auswahl und) Einordnung vgl. MuS 75
f., 162 These 13; Ehe: RdG 654; Institutionen überhaupt: RdG 914.
— Doppelaktig: EltR 85, 93, Berichtskizze 251, 253; mehraktig:
MuS 74, Gnade 152 f., RdG 367 f., 575, 657, 669 (3.) u.ö.;
„einaktiges Geschehen ist geschichtslos”, Berichtskizze 253.
27) SS 45, ZevKR 1956 33 f., MuS 142, KuD 1957 61; MuS
98 (Ehe), RdG 414 (Taufe und sakramentales Handeln überhaupt),
563 (Ordination), 657, 847, 893.
28) Damit sind alle fünf nach H. Schroer (FS Schlink
24 ff.) für den Strukturbegriff konstitutiven Elemente
(Erkennbarkeit, Einheit, Sinn, Realität, Abwehr von ➝
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Zugleich kann bestimmt werden, was „Geschichte” meint: Geschichte ist relationales, und darum reales und strukturiertes Geschehen zwischen Personen.
Daraus ergibt sich ein bestimmtes „Bild” auch der „großen” Geschichte: Auch sie ist „Prozeß”, oder, wie Dombois gerne statt dessen sagt, „Vorgang”29.
Nun sollen die formalen Bestandteile des für Dombois so
zentralen anthropologischen und Rechtsbegriffs des „Vorgangs”
zusammengestellt werden.
Im Begriff des Vorgangs30 liegen mehrere Elemente.
„Vorgang” ist nicht leerer Ablauf ohne Kontur, bloßer „Zustand”
oder auch nur isolierter Akt, sondern eine personale,
strukturierte Sinneinheit von leibhaftiger
Konkretheit31. Jeder personale Vorgang spielt sich
innerhalb der vorgegebenen Bezüge ab. Da die personalen Bezüge
(meist) zweipolig sind, ist auch der personale Vorgang
„gegenläufig”; er geht in zwei „Richtungen” zugleich, ist
entgegengesetzt gerichteter Vorgang. Zur „räumlichen”
relationalen Dimension kommt die geschichtliche: Jeder Vorgang
geht von einem Punkt aus und bewegt sich unter Zeitablauf auf
einen anderen zu. Er ist geschichtliche, unumkehrbare zwei- oder
mehraktige Bewegung zwischen zwei Punkten32. Im
Vorgang ist der Ablauf des Geschehens mit seinem Ziel bzw.
Ergebnis zusammengefaßt. Das führt zur Doppelheit von Vorgang
(i.e.S.) und Zustand
➝ Relativismus und Monismus) bei Do. vorhanden, dazu das
(bei Schroer fehlende) Moment der Geschichtlichkeit, so daß die
auch von H. Küng Qd 17 5 hervorgehobene Unabgeschlossenheit der
Strukturen in der geschichtlichen Vorläufigkeit des Erkennens bei
Do. wiederkehrt (s.u. 530 ff.). — Übrigens bezeichnet auch H.
Diem III 168 f., 315 ff. die Verkündigung und (damit) die Kirche
als Vorgang (Abgrenzung zu Do.: ebd. 120 f.).
29) RdG 110, 367 f., 449, 465, 868 u.ö.; Prozeß: s.u.
524 ff.
30) Der Begriff des Vorgangs dürfte von der
Integrationslehre R. Smends herstammen (HSW V 299 ff.). Er
bezeichnet dort den „dialektischen” Prozeß der
„Wertverwirklichung” im Staat. Auch in CrE 15 kommt er (unter dem
Einfluß Do.s?) vor: Der Glaube ist weder Akt noch
habitus, sondern „Vorgang”. Zum (Vorgang als)
physikalischen Zeitbegriff vgl. auch V. Berning 1964 20 f. und
unten 540.
31) KuD 1957 73, OU 52 f., RdG 110, 367, 448, 465
(4.), 868.
32) MuS 74, 87, KuD 1957 61, FS Karrer 401,
Berichtskizze 253. Zur Relation als Vorgang auch MuS 142.
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bzw. Status, die man nicht voneinander ableiten kann. Sie
bilden eine — wohl ebenfalls komplementäre —
(Sinn-)Einheit33.
Mit diesem Verständnis der Geschichte als komplementärer Einheit
von Akt und Zustand wird ihre dynamische und ihre statische Seite
berücksichtigt. Zugleich soll das Form-Inhalt-Schema und der
Dualismus von Sein und Sollen bzw. Sein und Akt34
überwunden werden. Damit gewinnt der Begriff des Vorgangs
erkenntnistheoretische35, methodische36,
vor allem aber institutionale und rechtliche Bedeutung.
Dieser anthropologisch und zugleich theologisch begründete Ansatz der Geschichtlichkeit setzt ein bestimmtes Geschichtsbild voraus, das anhangweise in seinen Umrissen nachgezeichnet werden soll, da es der überall gegenwärtige Hintergrund und die verborgene Triebfeder dieser Rechtstheologie ist.
Entsprechend dem doppelten Ansatz besteht auch das Geschichtsbild aus zwei Aspekten: Heilsgeschichte und Profangeschichte (c 1, c 3), die im geschichtlichen Handeln der Kirche zusammentreffen (c 2).
Geschichte ist eigentlich und wesentlich Heilsgeschichte. Die Profangeschichte ist in ihr enthalten: „Geschichte ist eine Funktion der Heilsgeschichte”, diese „begründet (sogar erst) die Möglichkeit innerweltlicher Geschichtlichkeit”; die Heilsgeschichte ist der verborgene Sinn der Geschichte. Damit ist der heilsgeschichtliche Horizont aller Aussagen über die Geschichte sichtbar.
33) RdG 428 A. 26, 448, 905 ff.; vgl. auch 110.
Der weitere und engere Sinn von „Vorgang” (= ± Zustand) findet
sich oft nebeneinander, z.B. RdG 448 f.
34) Meth. 342, MuS 154, RdG 465. Das ist zu beachten,
wo Do. nur die Dynamik hervorhebt (z.B. RdG 50). Damit wird die
von D. Bonhoeffer für die Theologie (und von CrE 15 für den
Glauben) geforderte Akt-Sein-Einheit für das Kirchenrecht
angestrebt (Berichtskizze 253) und später auch auf die
Institutionen übertragen, RdG 921 f., unten 583 ff.
35) RdG 772 „Was aus dem Vorgang nicht erhoben werden
kann, kann auch nicht durch die deduktive Auslegung eines
Prinzips . . . gewonnen werden”. Zur Ablehnung der Deduktion s.o.
506, s.u. 555.
36) RdG 808 „Sowie man konkret fragt, für wen welche
Handlung was bedeutet, beginnen die Dinge sich zu
klären”.
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Es muß aber die Heilsgeschichte als Ganzes betrachtet werden. Sie ist die Geschichte Gottes mit dem Menschen. In ihr wird sichtbar, was Gott vom Menschen hält. Sie enthüllt, was der Mensch im Wesen ist. Das ist das Fundament aller Lehren vom Menschen und seinem Recht37.
In einem Rechtsbild kann man sagen: Die Heilsgeschichte ist der Prozeß Gottes mit der Welt, der seinen Anfang im Alten Testament nimmt, im Verfahren gegen Jesus den Höhepunkt erreicht, im Jüngsten Gericht zum Abschluß kommt38. So sind darin alle drei Glaubensartikel verbunden: Schöpfung, Inkarnation und Eschatologie39.
Gott hat in die Schöpfung ein Ziel gelegt. Das kann der Mensch nicht zerstören. Die Schöpfergüte Gottes gewährt die Verläßlichkeit dessen,
37) NRE 59-61, OU 50 (9.), MuS 93, 125, 127,
RdG 465. — Auf die Problematik der Unterscheidung von Heils- und
Profangeschichte geht Do. nicht ein. Die sechs Phasen der
Heilsgeschichte, in denen die „Institutionen” vorkommen (FuK 29,
RuI 63): Urständ, Fall, Gesetz, Christus, Zeit der Kirche,
Endzeit.
38) So mit Th. Preiss u.a.; zuerst juristisch NRE 30,
theologisch MuS 110 f., rechtsphilosophisch MuS 31. Ferner OU 51,
96, RdG 117, 154, 286, 355 A. 16, 426 A. 14, also nicht von Hegel
her. Es fehlt das Moment der notwendigen Entwicklung
(vgl. NRE 25). Außerdem steht der Rechtsprozeß im Vordergrund.
Deshalb auch unterscheidet Do. nicht zwischen Zeit als Geschichte
und als Prozeß (vgl. G. van der Leeuw PhdR 650). Sehr schön
kommen Nähe und Unterschied zu Hegel in dem kleinen Aufsatz
„Geschichte als Prozeß” (Sonntagsbl. 1953,
Reminiszenz in OU 96 a. A.) zum Ausdruck, dessen Inhalt es
verdient, kurz wiedergegeben zu werden: Die Geschichte ist der
Prozeß zwischen dem Kläger „Revolution” und dem Beklagten
„Restauration”. In erster Instanz siegt mit Elan die Revolution.
Doch das Urteil wird nicht rechtskräftig. Es wird von der
Restauration angefochten. Die Prozeßrollen kehren sich um. Aus
dem früheren Kläger wird nun der Berufungsbeklagte. Man hat die
Revolution satt; die Restauration erlangt überraschend leicht ein
Berufungsurteil zu ihren Gunsten. Das ist aber nicht einfachhin
die Antithese zur These des Klägers; Hegel hat weder
erkenntnistheoretisch recht, noch kehrt die Geschichte je ganz zu
ihrem Ausgangspunkt zurück, noch folgt etwa jetzt, wie man
erwarten könnte, endgültig das (Revisions-)Urteil der Geschichte
als Synthese — man schließt vielmehr notgedrungen eines Tages
einen Vergleich. Die Prozeßkosten sind zu hoch geworden . . . —
Gegen R. Bultmanns Prozeßbegriff wendet Do. ein, daß er den
mehraktigen Rechts-Prozeßvorgang auf den Höhepunkt, das Urteil
bzw. die „Entscheidung”, reduziere und diese Entscheidung mit
ihrem Gegenstand (Christus) ineins fallen lasse (RdG 154,
ausgeführt in FS Smend II 292 ff.). Von der ganzen Struktur sieht
man nur die Entscheidung, und das „Geschehen selbst, die Rollen
und Tätigkeiten in ihm (treten) zurück” — also eine „ganz andere
Geschichtlichkeit” (RdG 367 f.).
39) Der Trinitätsgedanke dagegen wird bei den Phasen
der Geschichte (mit-)verwendet, oben 467 f.
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was aus der Vergangenheit „her-kommt”, aller Sünde zum Trotz. Deshalb gibt es Schöpfungscharisma und Tradition in und unter allem Verfall10.
Die Eschatologie weist auf die Transzendenz der Geschichte hin, ihre Offenheit für das Handeln Gottes am Menschen. Gott führt die Geschichte auf ihr Ziel hin, nämlich die Rückholung und Versöhnung der abgefallenen Welt. Deshalb ist die Geschichte („entsprechend”) auch innerweltlich zielgerichtet und offen für das verantwortliche Handeln des Menschen. Andererseits ist sie ihm unverfügbar, denn die Geschichte kann weder in den einzelnen Phasen noch als ganze innerweltlich vollendet werden41.
Neben dem futurischen Aspekt steht der präsentische. Es geht darum, auch heilsgeschichtlich die Möglichkeit gegenwärtigen Handelns zu begründen; im Raum der eschatologischen Gemeinschaft, der Kirche, gibt es keine vergangene Vergangenheit, sondern nur im Geist gegenwärtige Vergangenheit; darum ist auch die Zukunft jetzt schon lebendig im Darauf-zugehen. Das geschieht primär durch gemeinsames Handeln im „sakramentalen Raum” (K. Barth) in Christus42.
Damit verbinden sich Schöpfung und Eschatologie in der Christologie: Christus ist die gründende Mitte der (Heils- und Profan-)Geschichte. Die Fleischwerdung des Wortes erweist, daß Göttliches und Menschliches in der Geschichte untrennbar und dennoch unvermischt sind, vergleichbar etwa den zwei Brennpunkten einer Ellipse. Daraus folgt, daß das Geschichtlich-Zufällige einmaligen Rang erhält: „Inkarnation zeigt sich nur im Geschichtlich-Besonderen.”
40) NRE 32, MuR 103, RdG 380, dazu die
Prädestination (oben 478 21) und die durch die Sünde
unzerstörbaren Relationen (473 f.) und darum auch unzerstörten
Strukturen (Grundprobleme), MuR 115, RdG 878; K. Barth KD III/2
46, 84, dazu H.U. v. Balthasar 1962 126 ff.
41) MuR 103 f., 115, 141 f., OU 136, MuS 93, 124 f.,
127. Da daraus folgt, daß die Geschichte innerweltlich nicht als
Ganzes erkannt und gedeutet werden kann, ist jede
immanentistische Geschichtsphilosophie abzulehnen: man kann sich
nicht zum Herrn der Geschichte machen (MuS 129 f.).
42) Zur proleptischen Eschatologie oben 480; RdG 214
ff., 311, 434 A. 73; K. Barth KD I/2 253 u.ö.
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Diese „proleptische” Sicht der Heilsgeschichte bedingt ein starkes Interesse an der Kirchengeschichte als dem Bericht von der Erfahrung der Kirche mit dem in ihr wirkenden Heiligen Geist. In ihr sind Gottes- und fehlsame Menschengeschichte komplementär verbunden. Aus demselben Grunde ist der Kirche „jetzt schon” aufgegeben, die Einheit des Geistes geschichtlich darzustellen43.
Da Christus die Mitte der Geschichte ist, da ferner Christus geschichtlich „als Gemeinde existiert” (D. Bonhoeffer), wird durch ihn das „innerweltliche” Handeln der Kirche geistlich bedeutsam44. In ihrem Handeln treffen Heilsgeschichte und Geschichte zusammen. Darum weist es die geschichtliche Struktur jedes personalen Handelns auf, ist also aus „Vorgängen” gefügt; zugleich ist es ganz und allein Gottes Handeln. Es ist im Wesen geschichtlich vermittelte Selbsthingabe Gottes in Christus. Darin sind stiftende Vergangenheit und Zukunft des Geistes komplementär zur Heilsgegenwart verbunden45. Das geistliche Handeln der Kirche ist allein Gottes Handeln. „Gott (bzw. Christus) ist Objekt und Subjekt des geistlichen Handelns”46. Das Geheimnis der Geschichte erlangt so seine letzte Tiefe.
Der Ausgang vom geistlichen Handeln und nicht von „der Kirche” hat große Konsequenzen für das Kirchenrecht: Es ruht nicht auf einem abstrakten Kirchenbegriff, sondern auf dem geschichtlichen Handeln (Gottes in) der Kirche, nämlich auf der „Doppelheit von Verkündigung und Sakramentenspendung”, von Wort und Sakrament, von bekennendem und liturgischem Recht47.
Wie in der Mitte der Heilsgeschichte Christus steht, so nun „entsprechend” in der Mitte der Profangeschichte der Mensch und seine
43) GRE 118 f., NRE 33, 61, OU 122 f., MuS 110
f., 125, RdG 79 f., 110, 210, 1053.
44) MuS 127, RdG 244. Heilsgeschichte und Handeln der
Kirche sind nicht identisch!, RdG 388.
45) OU 38. Darum ist geistliches Handeln zugleich
erinnernd („anamnestisch”) und antizipierend, RdG 110.
46) RdG 244, 817, 977. Diesen Zentralsatz sollte man
beachten, wenn man Do. „Liturgizismus” vorwirft.
47) Vgl. RdG 244, 454, 866.
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Geschichtlichkeit. Die „große” Geschichte ist darum für Dombois ebenfalls ein „Vorgang” im großen, ein „Prozeß” von einem Anfang über die Gegenwart zum Ziel der Geschichte.
Wie oben der Begriff des „Vorgangs” zeigte, hat dieser einen rückwärtsgewandten und einen vorwärtsdrängenden Aspekt. Er gestattet die complexio oppositorum: die Betonung der Tradition und (fast) ebenso des „Fortschritts” (unten 3 a, b) — freilich nicht im Sinne irgendeiner „Fortschrittsromantik”, sondern als Fortschreiten, procedere, ohne jede Wertung48. Auch hier wird die Spannung von Tradition und Fortschritt durch den Menschen zusammengehalten: Die Geschichte ist Entfaltung der anfänglich unentfalteten „Struktur” des Menschseins (3 c), dergestalt, daß erst das Ende der Geschichte die Totalität des Menschen ausgeschöpft haben wird49. Ganz von selbst ergibt sich aus diesem universalistischen Geschichtsbild das Bedürfnis, die Geschichte in verschiedene Stadien der Verwirklichung des Menschen zu gliedern (3 d). Doch ist zu beobachten, daß sich Dombois mehr und mehr dieser Versuchung entzogen hat.
48) Das ist schon im Begriff „geschichtlich”
selbst angelegt: es kann sowohl das Unableitbar-Kontingente im
Gegensatz zum zeitlos-kategorial Geltenden bezeichnen (z.B. OU
46, dazu RdG 793), als auch umgekehrt das „durchhaltende Moment”
im Gegensatz zur aktualen Entscheidung bedeuten (NRE 61, EltR 97
f.); das widerspricht sich (trotz einer gewissen
Unausgeglichenheit) nicht. Denn geschichtlich-kontingente
Entscheidung und geschichtlich-gegebene Tradition sind eins im
geschichtlichen Handeln (RdG 811 A. 8, 985, ferner OU 129 = RdG
947), das ist im „Vorgang” bzw. „Prozeß”. Diese Verbindung beider
ist rational nicht einsichtig (GRE 108 unauflösliche Antinomie,
OU 136 unverfügbares Geheimnis, EltR 97 f. Widersprüchlichkeit)
und kann überhaupt nur im Glauben zusammengehalten werden (OU 46,
136, EltR 97 f.). Denn auch im Heilsgeschehen gibt es den
geschichtlichen Heilszusammenhang und dessen
ereignishafte Durchbrechung, beides aber ist zusammengehalten im
Geist Christi (OU 136 für die Kirche, RdG 289; vgl. unten
„Institution und Ereignis” 607 f.). — Geschichte ist Fortgang,
„Weg” (SS 45, RdG 847), zusammen gesetzt aus „Vorgängen” (OU 30,
RdG 110, 367 f., 449, 465, 868 usf. Mit diesem Begriff unternimmt
es Do., verantwortliches Handeln mit den daraus resultierenden
geschichtlichen Strukturen in eins zu sehen; vgl. RdG 868), und
deshalb „Prozeß” als der Vorgang schlechthin (s. o. 524 ff.), der
in stets neuen und doch nicht zufälligen Gestaltungen sich
manifestiert, die selbst wieder geschichtlichem Wandel
unterliegen (MuR 103, 115, MuS 162 These 11 u.ö.).
49) SS 19, dazu die Geschichtsbetrachtungen NRE 7 ff.,
12 ff., 23 ff., 59 ff., bes. 60 f. Das steht nicht im Widerspruch
dazu, daß in Christus der wahre Mensch „schon da” ist; denn erst
am Ende der Tage wird die Geschichtlichkeit menschlichen
Erkennens dieses Ereignis „eingeholt” haben. — Zur Untrennbarkeit
von Mensch und Geschichte schon E. Seeberg 1924 122 ff.
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Zu jedem geschichtlichen Ereignis gehört der Weg, der zu ihm hinführt. Wird er unterschlagen, so wird das Traditionsgut vergeudet. Jeder radikale Bruch mit der Vergangenheit muß darum vermieden werden. Darum achtet Dombois so sehr auf die Kontinuität50, darum auch hebt er so sehr die Gegenwartsbedeutung des Rechtes der alten Kirche hervor.
Selbst entartete Formen können nicht einfach „abgelegt” werden, da mit ihnen stets und zugleich ein zu bewahrender Inhalt verlorengeht. Es ist sogar unmöglich, aus einer Tradition auszubrechen, weil man immer nur im Horizont des Tradierten beginnen kann 51.
Gleichwohl gibt es kein goldenes Zeitalter in der Vergangenheit. Die Sehnsucht danach würde nur die Chancen der Gegenwart für die Zukunft verfehlen, denn die Gegenwart enthält die Vergangenheit und bestimmt verantwortlich die Zukunft. Es geht um das rechte „Verhältnis zu denen, die vor uns, die mit uns und die nach uns sind”. Jeder romantisierende Rückgriff auf vergangene Formen, auch solche der Urkirche, ist darum verwehrt. Das Geschehen in der Geschichte ist also ein Vorwärtsschreiten, eine Folge von Schritten, ein procedere in mehreren Akten. Es gibt in der Geschichte immer nur ein Vorwärts, kein Zurück. Was einmal geschehen ist, ist unwiderruflich und kann durch keine Macht wieder aus der Welt geschafft werden52. Nur dem Wagnis der
50) Kathol. 307, RdG 283, 1013; zur
lebenserhaltenden (anthropologischen) Funktion der Traditionen
und Institutionen s.u. 571 ff. 594 ff. — Vgl. OU 135 f., RdG 811
A. 8: „Das Verhältnis zwischen der Aktualität der Handlung und
der Kontinuität des Geistes in der Gemeinschaft der Kirche — das
Problem der Geschichtlichkeit”; Zeit als „metaphysisches
Kontinuum” (von Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) RdG 380.
51) RdG 794, 889. Vgl. RdG 985: „Überall hat man (in
der evangelischen Kirchenrechtsgeschichte) mit der zu Recht
bekämpften Verabsolutierung (einer Sache) die Sache selbst
schwinden . . . lassen: . . . Daß das Concil irren kann, ist kein
Grund, kein Concil zu halten. . . . Weil die priesterliche
Absolution nicht über das eschatologische Urteil Gottes verfügt .
. ., hat man allmählich aufgehört zu beichten. Weil die personale
Sukzession des Amtes nicht exklusiv an das Bischofsamt
geknüpft werden kann, hat man . . . den Episkopat . . . samt der
Lehre von der Ordination überhaupt verfallen lassen.”
52) SS 45, ZevKR 1956 33 f. (Ehe), MuS 142 (Strafe),
MuS 87, 98, 157, KuD 1957 61, RGG V 824 f. (Rechtskraft eines
Urteils!), RdG 92, 210, 453, 866 f., 893, ferner oben
52538 52848 (zu R. Bultmann). Gleichwohl
wird jede Zwangsläufigkeit des ➝
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Entscheidung ist es vorbehalten, die Traditionsinhalte kritisch aufnehmend neue Gestaltungen zu wagen, damit der Tradition eine neue Richtung zu geben und sie so „nach vorn” zu verlassen. Dieses Wagnis der Gestaltung ist das unableitbar Neue, das die Geschichte vorantreibt53. Die Losung kann also weder „Rückwärtsromantik noch Fortschrittsromantik” heißen. In „progressiver Geschichtlichkeit” gestaltet der Mensch die Geschichte54.
Diese Dialektik von Traditionsaufnahme und Gestaltung, oder anders, von ausscheidender Wahl und einfügender Zuordnung, ist die Struktur der Geschichte. Mit jedem geschichtlichen Handeln geht durch Ausscheidung Traditionsgut verloren und wird neues geschaffen55.
Wieder ist die existentielle Einheit von ontologischem und ethischem Aspekt der Strukturen zu beachten: Da nur im vorgegebenen Raum der Beziehungen gehandelt werden kann, gewinnen die durch dieses Handeln entstandenen „Gestaltungen” den Charakter der Verbindlichkeit, weil und insofern sie die Strukturen des Menschseins realisieren. Als Verwirklichung der menschlichen Relationalität sind sie insoweit der Willkür entzogen. Sie sind kontingent (durch freie Entscheidung
➝ Geschichtsablaufs abgelehnt, z.B. GRE 145, OU 135 f.
(was angesichts einiger sprachlicher Hegelianismen z.B. NRE 25,
GRE 108 f., aber auch gegen Sohms Geschichtsauffassung zu
beachten ist, s.u. Exkurs XVII 666). Das ist in der Inkarnation
begründet (s.u. Exkurs XII 534 f. zum Vergleich mit K.
Barth).
53) ZevKR 1956 34 (Ehescheidung trotz
Unwiderruflichkeit der Eheschließung!), OU 136, RdG 730, 793,
889, 911. Vgl. RdG 730 A. 25: „Tradition heißt . . . nicht die
Anhäufung und Bewahrung immer steigender Erkenntnisschätze . . .
vielmehr Übernahme der Erkenntnis, daß unsere Erkenntnis ex
nunc begrenzter ist als sie sein könnte und sein soll,
Tradition heißt, unsere Lösungen von heute im Zusammenhang der
Lösungen von ehedem zu sehen, selbst wenn wir jene nicht mehr
übernehmen können.” Zur Tradition gehört notwendig die Kritik. —
Das ist zugleich das ökumenische Programm Do.s! Vgl. dazu Y.
Congar FS Karrer 429: „Wir haben den Weg, der von der
Einheitskirche („um einen Ausdruck von H. Dombois zu gebrauchen”,
ebd. 411) zur Spaltung führte, in umgekehrter Richtung zu gehen —
in umgekehrtem Sinne, doch nicht zurück zur Vergangenheit,
vielmehr in einer Entwicklung vorwärts . . . in Treue zu den
Quellen, in denen uns alles geschenkt ist” . . .
54) MuS 157, RdG 154, 210, 657 (ebenso übrigens H.D.
Wendland für die Soziallehre KuD 1956 298 „weder vorwärts noch
rückwärts gewandter Utopismus . . .”); immer wieder gegen
„Traditionalismus”, z.B. RdG 698. Die Ablehnung der „Romantik”
spielt eine große Rolle, z.B. SS 19, MuS 87, RdG 210, unten 666
ff. zum altkirchlichen Recht.
55) NRE 61, MuS 162 (7.), RdG 730 A. 25.
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entstanden) und verpflichtend zugleich. Diese Verbindlichkeit ist aber beschränkt. Nur die Strukturen selbst, also die Grundrelationen und damit die Grundprobleme, gelten kategorial und sind das „durchhaltende” Element in der Geschichte. Die verschiedenen Lösungen dagegen, die diese Probleme erfahren, sind variabel und unterliegen darum der freien „Gestaltung”56.
Da aber nie die Totalität des Menschen verwirklicht wird (also die Strukturen in ihrer Gesamtheit) — denn dann wäre das Ende der Geschichte erreicht —, sondern immer nur Teilstrukturen57, bleibt stets ein Spielraum verantwortlicher Entscheidung. Ständig treten andere Strukturelemente in den Vordergrund, wieder andere treten zurück, fortwährend fügen sie sich zu neuen Konstellationen zusammen.
Wer also wirklich verantwortlich in der Geschichte handeln will, für den ist Tradition nicht Ballast, sondern Aufforderung, Gabe und Aufgabe zugleich; er wird bemüht sein, möglichst viele der Problemlösungen der Vergangenheit sich zu vergegenwärtigen; nicht um die absolut richtige Gestaltung zu finden (die gibt es nicht), erst recht nicht, um Strukturverwirklichungen der Vergangenheit zu wiederholen!, sondern um wenigstens diejenigen Strukturen der Menschen neu zu realisieren, die in der bisherigen Geschichte sichtbar geworden sind. Denn die
56) Zum Vorstehenden allgemein oben 499 ff. und
SS 5, OU 46, MuS 97, RdG 44 f., 654, 833, 914, 1025. Zur
„Gestalt” s.o. 50310. Freilich kennt Do. auch den
Wandel der (soziologischen: MuS 162 [7.]; Denk-: oben
50515) Strukturen! — Strukturen sind darum auch
rechtlich unabänderbar, RdG 833. Theologische Begründung OU 91;
vgl. RdG 999 („unveränderlicher Grundbestand”), 1012
(„unverzichtbare Grundlinien”); zur (theologischen) „Kategorie”
zuletzt G. Gloege ThLZ 1964 161 ff. — „Kontingent” heißt für Do.
immer zugleich „historisch-zufällig”; vgl. FamR 132 („historisch”
gegen „strukturell”), KuD 1957 61, OU 45 f., RdG 548 f., 999 f.;
und noch einmal SS 5: diese Schrift „wirbt . . . um Verständnis
dafür, daß Verfassungsprobleme nur nach der einen Seite
geschichtlich-freier Gestaltung unterliegen, daß es aber auf der
anderen Seite echte Grundformen und Grundprobleme gibt, deren
Verkennung sich straft”. Darum kann man nicht „hinter” die
Grundentscheidungen der Apostelzeit zurück, s.u. 666 ff. 729.
57) Do. zieht diese Konsequenz (der stets nur
möglichen Teilrealisation) nur einschlußweise (wohl wegen der
Spannung zur phänomenologischen Sicht, die übergeschichtliche
Einsichten behauptet, vgl. NRE 61 die zeitlosen Grundkategorien
der „Humanwissenschaften” decken sich mit den Phasen der
Geschichte); vgl. OU 136 zur grundsätzlichen Unabgeschlossenheit
der Geschichte, RdG 541, 730 A. 25 des Denkens
(„Interpretationshorizont”) und der Erkenntnis, ferner zu den
Grenzen historischen Erkennens die Kritik des Historismus bei J.
Messner 1960 660 unter Berufung auf W. Dilthey, G. Simmel, H.
Rickert, M. Weber, Th. Litt, E. Troeltsch, F. Meinecke.
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Geschichte lehrt, daß jede Teilrealisierung, die hinter dem geschichtlich Möglichen zurückbleibt, schlimme Folgen hat58.
Zugleich wird der Mensch für das aus der Zukunft Zukommende offen sein, da sie die noch unbekannten Strukturen enthält, die bisher noch nicht in Erscheinung getreten sind.
Nun ist noch des noetischen Moments an der Struktur zu gedenken. Wenn die Geschichte Strukturgesetzlichkeiten aufweist, dann liegt es nahe, im Denken die Geschichte in verschiedene Phasen (Sinnabschnitte) zu gliedern. Jede Phase ist dann die Beschreibung eines Zeitabschnitts, in dem eine bestimmte Strukturkonstellation geschichtlich verwirklicht wurde, wie vor allem die Rechtsgeschichte zeigt59.
Freilich kann jede Gliederung der Geschichte nur vorläufig und gefährdet sein, nicht nur weil dies das allgemeine Schicksal menschlichen Handelns ist, sondern weil jede vollständige Gliederung ein Wissen um die Vollständigkeit der menschlichen Strukturen voraussetzt.
Darum gibt Dombois, der anfänglich zur Deutung der Geschichte ab dem 12. Jahrhundert als Verfallsgeschichte neigt, diese Tendenz fortschreitend fast völlig auf60.
58) SS 19, MuR 124 „Strukturzerstörungen”, RdG
698; 687: Teilrealisierung von Strukturen ruft Strukturwandel
hervor; wiederum SS 19: Es ist eine „Lebensfrage, daß diese
Abfolge (relative Lösungen) nicht den Verlust der Ergebnisse der
früheren Stufen bedeutet. Die geschichtliche Kontinuität
vermeidet allein einen solchen gefährlichen Identitätsverlust”.
Die Bedeutung einer Handlung zeigt sich oft erst in der
geschichtlichen Bewährungsprobe nach Jahrhunderten (Kathol. 176).
Unter dem Vergrößerungsmaßstab der Geschichte wird erkannt, was
im Keim in der Handlung enthalten war. Die Geschichte ist der
Prüfstein geschichtlichen Handelns und seiner ideellen
Hintergründe („Rückrechnung”, RdG 79 f.). Vgl. GRE 17: „Jeder
Fehler in den Voraussetzungen muß sich in tausendfacher
Vervielfältigung im Endergebnis des praktischen Handelns
auswirken.” GRE 149: „Nie ist eine Kirchenrechtstheorie so
schnell durch die Kirchenrechtsgeschichte widerlegt worden wie
(die G. Holsteins) durch den Kirchenkampf.” Man muß darum
Vereinseitigungen durch den Blick auf das Ganze (welches?)
korrigieren.
59) Vgl. bes. Exk. X (519), XVI (662 f.) und NRE 61.
Do. schließt daraus, daß man aus der Einsicht in den
Sinnzusammenhang einer theoretischen Aussage ihren historischen
Standort bestimmen kann (Beispiele: Priest. 78 f. = RdG 254,
983). Von da aus betrachtet er sogar die Konfessionen als
(anfänglich sogar: notwendige, GRE 99 ff. gegen RdG 395)
„Vereinseitigungen” der geistlichen Wahrheit und zugleich als
entstanden aus „notvollen Entscheidungen des Gewissens”, GRE 108,
174, Kathol. 176, RdG 395, 777.
60) Noch in NRE 61 glaubt Do. aus der Theologie die
vollständige Strukturentafel der (Rechts-) Geschichte erkennen zu
können. Also müßte es möglich sein, die ➝
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Für Dombois ist die Geschichtlichkeit der Inbegriff seiner Rechtsanthropologie. In ihr ist alles übrige zusammengefaßt. Sie verhilft ihm als dem bisher einzigen Rechtswissenschaftler61 zu einer theologischen Rechtsbegründung, die die Geschichtlichkeit des Menschen berücksichtigt - und dies, obwohl (oder weil) Dombois in den konkreten Lösungen kirchenrechtlicher Probleme die Bedeutung der Tradition erkennt, wie ebenfalls kein anderer.
Gleichwohl ist seine „Anthropologie der Geschichte” bisher keineswegs abgeschlossen. Phänomenologische Wesenseinsicht in überzeitliche Strukturen und theologische Erkenntnis der notwendigen Geschichtlichkeit aller Strukturen streiten um den Vorrang. Auch das Verhältnis von Geschichte und Historie auf der einen, Geschichte und Heilsgeschichte auf der anderen Seite ist durchaus noch einer Präzisierung zugänglich. Das hängt damit zusammen, daß Dombois bisher zwar sehr klar gesagt hat, daß er mit der „Geschichtlichkeit” der Existentialtheologie nichts gemein haben will (im anschließenden Exkurs wird auch deutlich werden, daß ihn vieles von der Geschichtsauffassung K. Barths unterscheidet), daß er aber seine eigene Theologie der Geschichte noch nicht ausführlicher entfaltet hat.
Vielleicht aber kann man wenigstens so viel behaupten: Diese juristische Geschichtstheologie bewegt sich auf einer mittleren Linie zwischen der Position K. Barths einerseits und derjenigen W. Pannenbergs andererseits. Sie achtet die Menschengeschichte nicht so gering in ihrer theologischen Valenz wie Barth, verleiht ihr aber auch nicht diese beherrschende Stellung im Heilsgeschehen wie W. Pannenberg und R. Rendtorff 62.
➝ noch ausstehenden Phasen (und damit das Ende der
Geschichte!) zu bestimmen! Doch ist diese Spekulation heute
fallengelassen (arg. RdG 730 A. 25), zu Recht, denn auch die
Glaubenserkenntnis der abgeschlossenen Offenbarung ist
unabgeschlossen. Hierzu unten 657 ff. und Exkurs XVIII 670 f.
128.
61) Auf theologischer Seite sind hier besonders zu
nennen W. Pannenberg 1962 67-76, 2EE 1963, 1966 198 f., 240 f.,
264, K. Rahner FS Wolf 62 ff., W. Dantine ZEE 1962 — mit je
anderem Begriff von Geschichtlichkeit!
62) Ob die Entwicklung auf die Rezeption
Pannenbergscher Gedanken zielt, wofür einiges spricht, muß offen
bleiben. Dem kommt auf katholischer Seite die Überzeugung nahe,
daß Heilswahrheiten im Heilsgeschehen mitgeteilt werden
(M. Schmaus, G. Söhngen, H.R. Schlette). Weitere Berührungspunkte
ergeben sich zu H.D. Wendland und O. Cullmann.
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„Barthianisch” klingt es, wenn Profangeschichte und
Christusgeschehen bei Dombois wie Horizontale und Vertikale
zueinander stehen63. Doch bedingt die abweichende
Interpretation der Inkarnation durch Dombois auch eine andere
Sicht der Geschichtlichkeit, trotz formal ähnlicher Aussagen.
Barth sieht Gott in Christus als den souveränen Herrn der
Menschengeschichte64. Diese hat keinen Eigenwert mehr.
Der Glanz Gottes droht die armselige Menschengeschichte zu
verdecken. Das läßt die Bedeutung geschichtlich gewachsener
Formen gering veranschlagen und geschichtliche Zusammenhänge
zurücktreten. Barths bekannte Urteile in politischen Tagesfragen
werden nicht zufällig auch darauf zurückgeführt65.
Anders dagegen Dombois: Seine lutherische Hochschätzung des
Leiblich-Konkreten läßt ihn zur zweipoligen Ellipse als Bild für
die Christologie des Chalcedonense greifen: ihr einer Pol
bezeichnet die göttliche, der andere die menschliche Natur
Christi. Kein Pol darf dem anderen zu nahe kommen. Sonst
entstehen am Ende die ineinanderliegenden „konzentrischen Kreise”
Barths, die Dombois leidenschaftlich ablehnt66. Denn
das von Barth geforderte liturgische Kirchenrecht ist an der
Wurzel bedroht, wenn das menschliche Tun keinen relativen
Eigenstand in einer christologisch gedeuteten Geschichtlichkeit
hat.
Den gleichen Unterschied zu Barth ergeben die Aussagen zum
Zeitbegriff. Alle drei Zeiten sind eins in der Gnade, deshalb
darf keine mißachtet werden. Zwar ist wie bei K. Barth Gottes
Zeit die erfüllte Zeit, und die Menschenzeit verlorene Zeit, aber
im Einbruch Gottes in die Zeit wird bei Dombois die Menschenzeit
geheiligt im chalcedonensischen Miteinander: Gottes erfüllte Zeit
ist in unserer „verlorenen Zeit der Kalender und Uhren”.
Vielleicht kann
63) GRE 103 u.ö.: Das Göttliche bricht in die
geschichtliche Welt ein; GRE 106: Das ist das Problem der
Inkarnation, an dem sich die Konfessionen scheiden. NRE 33, RdG
210: „Die Rechtfertigung (des Rechts) durch den Glauben fällt
gleichsam vertikal in den horizontalen Fluß der Geschichte.” Vgl.
die berühmte Formulierung K. Barths vom „senkrecht herabfahrenden
weltlosen Wort Gottes”, dazu ironisch Barth selbst 1956 7.
64) Vgl. KD II/1 88; zum Verhältnis von Geschichte und
Trinität vgl. C. Bäumler 1959 39 f. Wieweit bei Barth das
Anliegen wirksam ist, die ältere Baseler Theologie einer
„Religion als Geschichte” abzulehnen (vgl. W. Birnbaum 1963 197),
kann hier auf sich beruhen.
65) OU 91 und Grundmann FS Arnold 53 A. 83; vgl. RdG
46, 49: Zwischen Erwählung und Eschatologie fehlt die konkrete
geschichtliche Vermittlung.
66) Vgl. GRE 106, NR 203, MuR 141 ff., OU 114 ff.,
119, 122 f., RdG 1029 ff.
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man sogar sagen: Geschichte ist Zerfallsgeschichte und
Heilsgeschichte, wie der Christ simul peccator et iustus
ist67.
Damit ist das geistliche Geschehen nicht mehr ausschließlich
„Ereignis”, wie bei K. Barth, sondern ebensosehr — oder noch mehr
— „Institution”68.
67) Vgl. NRE 32 ff., ZevKR 1956 34, MuR 146,
MuS 110, RdG 210, 866 f.; K. Barth KD I/2 64, 73.
68) K. Barth OdG 5, 39-42, 1956 25; Do. MuS 74, 98,
RdG 96, 847 und unten 597 ff. zur geistlichen Institution. Ferner
gegen das nur-lineare (GRE 105 f., FS Karrer 400, RdG 790, FS
Smend II 298), funktionale (FS Karrer 400) oder das
aktualistische Zeitverständnis (ZevKR 1956 34, RdG 789; Zeit als
„metaphysisches Kontinuum” RdG 110, 380).