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Eine nicht geringe Rolle spielen im Kirchenrecht die innerkonfessionellen Vorurteile. Man hat Erik Wolfs Kirchenrechtslehre damit ebensowenig verschont, wie die Johannes Heckels (und erst recht nicht diejenige von Hans Dombois, auf die das nächste Kapitel eingeht). Nur nüchterne Beachtung des systematischen Gesamtzusammenhangs und der verschiedenen Sprach- und Denkform versprechen einige Klarheit. Im folgenden soll die Rechtstheologie Wolfs mit derjenigen K. Barths, J. Heckels und der katholischen Seite verglichen werden.
Namentlich die Beziehung zwischen Wolf und K. Barth bot mannigfachen Anlaß zu Spekulationen. Man fand bei Erik Wolf, dem „juristischen Gewährsmann” und „kirchenrechtlichen Komplementär” K. Barths, den „aktualistischen Grundzug des modernen Calvinismus”, ja sogar „theokratische Tendenzen” wieder, die dazu berechtigten, alles als „unlutherisch” abzutun; unter dem ökumenischen „Etikett” finde sich „in Wahrheit eine reformierte Kirchenrechtslehre”1. Barthianisch sei insbesondere die Amts-, Gottesdienst-, Kirchen-2, Kirchenrechtslehre3, auch die Dialektik sei von Barth übernommen4; jedenfalls sei Wolf ganz der reformierten Richtung zuzurechnen5.
1) Grundmann ThLZ 1962 334; Dombois KuD 1957
67, RdG 425; K. Wortelker 113.
2) Grundmann ebd. 339, Dombois RdG 423 f., P. Landau
ZKG 1962 347.
3) Grundmann ebd. 339 „Aufriß der reformierten
Kirchenverfassung”.
4) Grundmann ebd. 332, 334 mit Hinweis auf K. Barths
Ges. Vorträge I 172 (zit. bei W. Pannenberg RGG II 171). Freilich
hat sich Grundmann später revidiert.
5) Vgl. die Parallelisierung mit J. Ellul noch bei
Grundmann AÖR 1959 12 ff., 24-34; richtig L. Raiser ZevKR 1951
182 „zwischen beiden Lagern” und wohl auch H. Müller-Zetzsche 40,
53 m. A. 18.
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Dabei sind die Unterschiede wenigstens zum K. Barth vor der „Menschlichkeit Gottes” (1956) durchaus auffällig, wie schon ein kurzer Überblick über die tragenden Annahmen Wolfs ergibt. Die Basis der gesamten Rechtstheologie Wolfs ist das „Kreuz” aus Christokratie und Bruderschaft. Beide „Arme” können nicht voneinander getrennt werden: Die Christokratie ist bruderschaftlich, und die Bruderschaft ist christokratisch. Sie sind beide iuris divini.
Ganz anders Barth: Für ihn steht die Christokratie beherrschend im Vordergrund. Sie allein ist göttliches Recht. Die „Horizontale” der „Bruderschaft” ist nur das „sekundäre Subjekt”6.
Woher kommt diese — grundlegende — Differenz? Sie entsteht aus der unterschiedlichen Christologie. Barth hat anfänglich Christus ganz von der „Göttlichkeit Gottes” her verstanden und damit seiner humanitas (lutherisch: dem „ersten Glaubensartikel” und damit dem Schöpfungsrecht7) zu wenig Platz eingeräumt. Für Wolf dagegen hat Christus nur wieder ans Licht gebracht, was im Dunkel der Sünde verlorengegangen zu sein schien. Somit ist die strenge Christozentrik Barths (und erst recht J. Elluls) abgelehnt, der Schöpfung ihr relatives (nämlich auf Christus bezogenes) Recht gegeben. Den zweifachen Ausgangspunkt bilden überall8 Christologie und Anthropologie, die in der christlichen Existenz verbunden sind.
Daraus folgt alles übrige. Es fehlen die gefährlichen Entsprechungen9 von „Christengemeinde und Bürgergemeinde” (wenn auch nicht die beiden Vokabeln). Die Christokratie in der Welt ist „verborgen” und wird nur in der Verkündigung offenbar. Ein christologisches
6) OdG 8, 63; OdG 12 übernimmt zunächst den
Gedanken der Dialektik von Christokratie und Bruderschaft,
schränkt aber letztere ein: sie sei nur „nachträglich und in
untergeordnetem Sinn” auszusagen (dazu OdL 14 m. A. 23). Der
Unterschied liegt nicht im „nachträglich” (denn auch bei Wolf
begründet die Christokratie „vertikal” die Bruderschaft), sondern
im „untergeordnet”: die Horizontale der Mitmenschlichkeit tritt
bei Barth zurück. Wolf dagegen vermag — zu Recht — nicht zwischen
Christokratie und Bruderschaft zu trennen, denn Christus ist
unser Bruder geworden. Teilweise anders dann Barth 1956 27, aber
ohne die rechtlichen Folgen zu ziehen (während die Kirche als
„Ort christokratischer Bruderschaft” — wo ist die Vertikale? —
die Sichtbarkeit der Menschenfreundlichkeit Gottes ist und
deshalb „konstitutive Bedeutung” hat, ebd. 19, 27).
7) Es gehört zu den oben erwähnten Vorurteilen, daß
Barth die Schöpfung ganz unterschlagen und alles von Christus
deduziert habe!
8) Außer bei der biblischen Weisung, s.o. 326.
9) J. Fuchs 1955 78.
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Naturrecht wird bejaht, wieder im Gegensatz zu Barth; die Rechtsphilosophie kommt zu ihrem Recht. Die institutionelle Seite der Kirche wird — wohl dank der juristischen Sicht — nicht abgewertet wie bei Barth, sondern sogar zu einem Pol der Fundamentaldialektik von Ereignis und Institution erhoben; der anthropologische Aspekt der Kirche erhält seinen gebührenden Platz (während er bei Barth einseitig als Sündhaftigkeit in den Blick kommt)10. Was schließlich die Dialektik selbst betrifft, so dürfte oben der Nachweis geführt sein, daß ihre Herkunft weit eher bei E. Grisebach, S. Kierkegaard und G. Radbruch zu finden ist als bei K. Barth (obwohl der Einfluß der „dialektischen” Theologie keineswegs geleugnet werden soll!)11.
Damit darf als Ergebnis festgehalten werden: Die Rechtstheologie Erik Wolfs kann nicht simplifizierend als „barthianisch” bezeichnet werden, weder im negativen noch im positiven Sinne. Sie ist sui generis. In christozentrischer Grundhaltung ist sie trotz vieler Berührungspunkte mit K. Barth offen für die lutherischen Anliegen.
Eine grundsätzliche katholische Kritik an dieser Rechtslehre müßte an den Erik Wolf und Karl Barth gemeinsamen Begriff der Christokratie anknüpfen. Das Wenige, was der anteilnehmende Beobachter „vom anderen Ufer” anzumerken hat, hat H. Urs von Balthasar in seiner sorgfältigen Analyse der Denkform K. Barths unter der (musikalischen) Metapher der „christologischen Engführung” zusammengefaßt. Er versteht darunter einen gewissen contemptus philosophiae mit der Folge, daß Barth gewagte christologische Analogien zuhilfe nehmen muß, wo schon die Natur hätte reden können und sollen12.
10) S.o. 336 m. A. 1; H.U. v. Balthasar 1962
257 f.; auch noch 1956 ist die Mitmenschlichkeit bei Barth vor
allem geistliches Ereignis, 1956 10, 20, 25. — Nur in einem Punkt
scheint Wolf „barthianischer als Barth”: er kennt terminologisch
nur das bekennende, nicht auch das „liturgische” Recht. Doch das
ist anscheinend die Folge einer sprachlichen Aversion; sachlich
besteht kaum ein Unterschied, vgl. OdG 7, 40 f., 57.
11) Gegen den „komplementären Begriff der Analogie”
hat ja bekanntlich Barth (vgl. 1956 9) inzwischen nichts mehr
einzuwenden.
12) H.U. v. Balthasar 1962 254 ff. — die katholische
Kritik an Barth stimmt also hier mit der lutherischen
überein.
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Nun ist aber gerade dies der erwähnte Hauptpunkt, in dem sich Wolf von Barth unterscheidet, da er den ersten Glaubensartikel zu seinem Recht kommen läßt. Wolf, dem großen Naturrechtslehrer und Rechtsphilosophen, sollte also dieser Vorwurf nicht gemacht werden, selbst wenn er für Barth zutrifft. Doch für die Rechtslehre Wolfs ist gleichwohl der Einwand erhoben worden, Wolf habe allzu kurzschlüssig das Recht nicht nur noetisch, sondern auch ontologisch auf der biblischen Weisung begründet13. Das ist mit anderen Worten das gleiche wie die „Engführung”; denn der Einwurf will fragen, ob die biblische Weisung das (in der Schöpfung gestiftete) Recht nur wieder („noetisch”) kenntlich mache oder ob es in Christus erst („ontologisch”) begründet werde.
Diese überaus schwierige Kontroversfrage zwischen katholischer und evangelischer Rechtsbegründung ist aber für Wolfs „logozentrische” Rechtsbegründung gegenstandslos. Denn der Logos hat das Recht mitgeschaffen und in Christus wieder ans Licht gebracht, so daß wieder eine Ontologie des Rechts möglich wird14.
Es muß auch zur Diskussion gestellt werden, ob eine Alternative zwischen noetischer und ontologischer Bedeutung Christi für das Recht nicht allzu selbstverständlich eine „metaphysische” Denkweise voraussetzt, die jedoch dem Denken von der Konkretheit christlicher Existenz her fremd ist15.
Selbst wenn nun Wolf kein „Barthianer” wäre — wie steht es mit seiner und Heckels (und mit Vorbehalt auch Grundmanns) Rechtslehre?
13) Vgl. A. Auer FS Messner 111 ff.
14) S.o. 2917 4043 421 ff.
— J.Fuchs 1955 78 f. hat darüber hinaus gefragt, ob nicht selbst
eine Anknüpfung des Rechts an die Schöpfungsebenbildlichkeit
sinnlos werde, wenn die Sünde gerade die Ebenbildlichkeit
zerstöre. Es müßte demnach für Wolf zwischen Schöpfung und
Christus (abgesehen vom AT) kein Recht gegeben haben! Sollte Wolf
das nicht bemerkt haben?! Allein Fuchs unterlegt Wolf die
(neulutherische) pessimistische Anthropologie zu Unrecht
(„Ebenbildlichkeit” heißt bei Fuchs die metaphysische Natur, bei
Wolf die heilsgeschichtliche Urstandsnatur und „entsprechend”
auch die gefallene Natur, s. o. 299 f. 305 ff.). Gegen die Wende
zur christokratischen Bruderschaft würde Fuchs wohl wenig
Einwände haben.
15) Doch findet sie sich (als ontisch-ethisch) auch
bei Ernst Wolf RuI 16; sie wurde in die Rechtsdiskussion auf der
zweiten (ökumenischen) Konferenz in Treysa eingeführt (ebd.
14).
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Gilt wenigstens insoweit der Schlachtruf: Hie reformiert — hie lutherisch?
Ein Vergleich begegnet nicht wenigen Schwierigkeiten. Heckel: der lutherische Historiker, der das mittelalterliche Weltbild Luthers mit aller Akribie aufgezeichnet hat; Wolf: ein grande umanista16 und moderner Rechtsphilosoph, wie sein Lehrer Radbruch mit dichterischer Ader begabt, unierter Konfession — wie sollte da bei den Verschiedenheiten des Weltbildes, der Sprache, des Denkens die Rechtstheologie beider anders als zu einer Disharmonie zusammenklingen? Hier die Zweireichelehre, ein augustinisch-scholastischer Rechtsbegriff, skotistisch-lutherisch-personhaftes Denken; dort die erhabene Christokratie, der Bruderschaft dialektisch verbunden, die Überwindung sogar des modernen normativen Rechtsbegriffs, ein Denken existentialer Dialektik. Verschiedenheit über Verschiedenheit!
Aber beschränken wir uns auf die Rechtstheologie! Nun ändert sich das Bild — doch nur, wenn man gerade auf die Verschiedenheit des Weltbildes und der Blickrichtung achtet.
Das Rechtfertigungswiderfahrnis Luthers stellt den Menschen in die Mitte. Je nach der Antwort auf den göttlichen Anruf in Christus spaltet sich die Menschheit in die beiden Reiche und ruft die göttliche Reaktion der beiden Regimente hervor. Damit wird die Theologie weithin zur (theologischen) Anthropologie und diese zur Rechtslehre.
Bei Wolf dagegen ist man zunächst verwundert, wie wenig Aussagen über Urständ, Erbsünde usf. zu finden sind. Die reformatorische Anthropologie wird (in der spezifischen Aussageform Wolfs, aber ohne wesentlichen Unterschied zur gemäßigten Erbsündelehre Heckels)17 zwar angeführt, aber eher vorausgesetzt als thematisch entwickelt. Das läßt erkennen, daß anderes wichtiger erscheint: Es ist die alles überstrahlende maiestas Domini, die im Königtum Christi offenbart wird. Ihr gegenüber wird alles Nur-Menschliche relativiert. — Selbst die Glaubensantwort des Menschen kann nicht mehr Grundlage des
16) Goffredo Quadri RIFD 1959 466 in seiner
Rezension von 1NRL.
17) S.o. 28 ff. 299.
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Weltbildes sein. Christus solus regnat18. Sein Königtum und Herrschertum ist der Ausgangspunkt der Theologie und damit des Rechts. Die Christokratie wird Vor-Bild der Weltverantwortung der Christenheit.
Damit soll nicht gesagt sein, daß es all das bei Heckel nicht gäbe — im Gegenteil! Auch dort findet sich das Königtum Christi, wird „christozentrisch” gedacht und der Dienst des Christen an und in der Welt betont, sogar so sehr, daß man im kirchenrechtlichen Ergebnis — nur noch geringe (von „katholischem” Standpunkt aus: geringste) Differenzen zu Wolf findet, so daß man gar Heckel als Kryptokalvinisten verdächtigte (womit man ihm sehr unrecht tat). Aber all das steht an ganz anderer „Stelle im System”; scheinbar gleichlautende Aussagen erhalten völlig verschiedenen „Stellenwert”, und völlig verschiedener Wortlaut verdeckt gleiche „Substanz”, wie gerade das reformierte horrendum, die Zweireichelehre, sogleich zeigen wird.
Zunächst aber scheint das Resultat ganz anders zu lauten, wenn man Christokratie und Zweireichelehre nebeneinanderstellt.
Bei Wolf wird nicht unterschieden, was für die Zwei Reiche grundlegend ist: Civis Christi und civis diaboli sind gleichermaßen „Nächster”, „Person”, wenn auch der Christ vielleicht „mehr” als der Nichtchrist. Diese Grundannahme reißt dennoch keine unüberbrückbare Kluft zwischen den beiden Rechtsbegründungen auf, wenn man die verschiedene theologische Blickrichtung der Autoren berücksichtigt. Bei Heckel folgt die Grenze zwischen dem Reich Christi und dem des Teufels daraus, wie die Entscheidung für oder gegen Gott ausgefallen ist (ex post, vergleiche den endzeitlichen Maßstab des canon fidei!). Für Wolf ergibt sich die Personalität des Menschen daraus, daß der Mensch kraft göttlichen Anrufes in den Stand gesetzt ist, sich („künftig”) für oder gegen Gott zu entscheiden (ex ante). Wolf hat deswegen auch die Zweireichelehre nicht abgelehnt, obwohl sie nicht im Mittelpunkt seines Interesses steht. Ihm ist der Nichtchrist — wie gesagt — nicht in erster
18) Nur um der Klarheit willen wird hier einen Moment lang von dem starken anthropologischen Interesse abgesehen, das Wolf mit Heckel gemeinsam ist und Wolf zum ergänzenden „existentialen” Ansatz, und noch vor Barth zur Hervorhebung der Menschlichkeit Gottes, geführt hat.
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Linie civis diaboli, sondern „Nächster”, Mitmensch, an den der Anruf Gottes ergeht und der insofern unter der Herrschaft Christi steht19.
Eine scheinbare Nebensächlichkeit führt zu tieferem Verstehen. Bei Heckel herrscht Christus secundum humanitatem, „als Mensch”; von seiner Herrschaft „als Gott” ist also — zunächst — nicht die Rede (!); das hat zur Folge, daß Christus nur in seiner Gemeinde „herrscht”. Bei Wolf herrscht Christus als Gott und als Mensch mit der Folge, daß die künftige Herrschaft Christi jetzt schon hereinwirkt und so Christus auch über die Nichtchristen „herrscht”, — was wiederum Heckel auch kennt (!) (wenn dies auch meist übersehen wird), aber eben infolge seines andersartigen anthropologischen Ausgangspunktes nicht zur Grundlage der Zweireichelehre gemacht hat20.
Aber was heißt dann „Herrschaft” Christi über die Welt? Ist der relative Eigenstand der Welt gewahrt? Ja und nein. Was Herrschaft Christi heißt, ist am Kreuze abzulesen; dort ist der rex mundi authentisch interpretiert. Sein Dienst an der Welt geschieht im Verborgenen; nur in der Verkündigung wird seine Herrschaft sichtbar, indem er die Welt vor die Glaubensfrage stellt21.
Dem kann Heckel nur zustimmen; die Lehre von den beiden Regimenten Gottes läßt sich nach ihm auch christozentrisch interpretieren; das „weltliche Regiment” ist gleich dem regnum Christi in der Brechung durch die Sünde des Weltreichs22. Die Regimentenlehre Heckels ist das lutherische Äquivalent zur Christokratie Wolfs.
Auch die politia christiana, die Wolf bejaht und Heckel ablehnt, bezeichnet keinen Unterschied in der Sache, sondern ist für Wolf nur die Chiffre für die Verwirklichung der immanenten natürlichen (!) Ordnung im Staat unter Mithilfe der Christen23.
Damit besteht der einzige theologische Unterschied zwischen Wolf und Heckel im Ausgangspunkt. Wolf denkt christozentrisch, Heckel theozentrisch. Wolf geht von der Christologie aus und gewinnt durch die Berücksichtigung des ersten Glaubensartikels und der analogia fidei
19) Eine entsprechende Haltung findet sich etwa
in Thomas von Aquins Ekklesiologie STh III q 8 a 1 ff.: Die
Kirche i.w.S. umfaßt dort alle Menschen, insofern sie alle von
Gott gerufen und potentielle Glieder des Leibes Christi sind.
20) Vgl. für Heckel 39 f. 26 48 f. 19, 29 51 5 zum
logischen Vorrang der Christologie, bes. Exkurs I 49 unter 13 b;
für Wolf OdK 67 und richtig zu Heckel RdN 40 A. 8.
21) Oben 292 f.
22) S.o. 515.
23) 168 ff. 31041.
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die Anthropologie hinzu; Heckel geht vom Anspruch Gottes und von der antwortenden Glaubensentscheidung des Menschen aus, denkt also (mittelalterlich-)heilsgeschichtlich und darin anthropologisch; so erhält er die Reichslehre im Grundsinn und holt durch die Regimentenlehre die universale Christusherrschaft gleichsam nach. Heckel vermag dadurch die Realität der Sünde und ihre verheerenden Folgen für das Recht ungleich deutlicher zu machen als Wolf, während dieser die Königsherrschaft Christi und die brüderliche und missionarische Verantwortlichkeit aller Menschen füreinander in klarerem Lichte zeigen kann, und damit auch das Weltengagement des Christen — was aber gerade Heckel als genuines Anliegen Luthers erwiesen hat24.
Alles übrige sind Unterschiede des Sprachstils, der Denkform, der Philosophie — somit einander ergänzend und korrigierend, wie es sich unter Christen geziemt.
Unterscheidet sich der gemäßigt christozentrische Entwurf Wolfs noch von der Auffassung der politischen Verantwortung des Christen, wie sie J. Heckel aus der lex charitatis spiritualis ableitet? Im Grundsätzlichen besteht keine notwendige Divergenz; bei Heckel wie bei Wolf dient der Christ ex lege charitatis in der Welt und verkündigt ihr die Liebe Christi25.
Doch sind die oberflächlichen Verschiedenheiten auffällig genug. Wolf kennt nicht die spiritualistische Trennung von Innen und Außen; dadurch tritt das soziale Engagement deutlicher hervor. Dies wird durch die christokratische Konzeption noch verstärkt: Christi Herrschaft wendet sich „verbindlich” an alle, die Antwort des Menschen ist vergleichsweise unwichtig. Anders Heckel: ihm ist Recht nur, was auch anerkannt wird und deshalb tatsächlich gilt. Das verweist auf einen unterschiedlichen Rechtsbegriff.
Die „Geltung” der biblischen Weisung Wolfs steht mit der „Geltung” der lex charitatis Heckels zunächst in glattem Widerspruch: Die biblische Weisung „gilt”, wenn auch nur abgeschwächt, im Reich der Ungläubigen; die lex charitatis dagegen „gilt” hier nicht. Aber der Widerspruch besteht nur scheinbar. Vielmehr wird die gleiche theologische
24) 88 ff.
25) S.o. 308 f.; typische Mißverständnisse: oben
30836.
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Aussage („universaler Anspruch Gottes” bzw. „verborgene Herrschaft Christi”) mit gegensätzlichen Rechtsbegriffen ausgesagt; kein Wunder, wenn das sprachliche Ergebnis differiert. Von der christokratischen Sicht Wolfs her, „von oben” gilt unverbrüchlich, was Gott in Christus sagt, (zunächst) unabhängig von der Antwort des Menschen. Es „gilt”, weil Gott so will26. — Anders Heckel, von der Sicht der Zwei Reiche her. Weil sie von der Antwort des Menschen auf den göttlichen Ruf bestimmt sind, ist auch der Rechtsbegriff, der aus der Reichslehre folgt, ein anderer; er ist von der Antwort („Anerkennung”) her gesehen. Es „gilt” nur, was „anerkannt” ist. Die lex charitatis ist zwar „Gottes heimliche Ordnung” im Reich zur Linken, „gilt” also im Sinne Wolfs, nicht aber im Sinne Heckels27.
Der (analog-)gleiche Sachverhalt wird also aus entgegengesetzter Sichtweise beschrieben. Diese Verschiedenheit der (theologischen) Perspektive bedingt (unter anderem natürlich) die scheinbare Unvereinbarkeit der (rechtsphilosophischen) Aussagen. Jede Rechtstheologie impliziert eine Rechtsphilosophie. Die einzige sachliche Differenz ist negativ: Die corruptio iuris durch den Unglauben steht bei Wolf (entsprechend seiner Ausrichtung auf das allein wesentliche Recht Gottes) nicht im Mittelpunkt wie bei Heckel, wenn sie auch keineswegs geleugnet wird28, was man ebenfalls nicht übersehen darf.
Vorzüglich paßt damit zusammen, daß das ius divinum für Wolf („biblische Weisung”) wie für Heckel (lex Christi) die viva vox Evangelii ist29.
Zum Kirchenrecht sind nur wenige Beobachtungen nachzutragen. Nach dem Bisherigen verwundert es nicht mehr, daß eine „christokratische”
26) Charakteristisch Bibel 288, RO 327: der
Missionsbefehl Christi „gilt” für (d.h. richtet sich an)
alle.
27) „Geltung” bedeutet also bei Heckel und Wolf je
verschiedenes. — Zur lex spiritualis als totalem
Anspruch Gottes auf alle Menschen s.o. 94 ff. Darum ist die
lex spir. latens Heckels und sein usus spir.
legis (110) formal gleich dem tertius usus legis
Wolfs (32414) — entgegen allem äußeren Anschein! Denn
b. W. bzw. lex spir. sind sie dem Christen nur, soweit
darin das Wort Gottes laut wird (Wolf spricht hier von der
analogia fidei, vgl. 294 f. 304 ff.).
28) Vgl. RbW 31: ohne b. W. geht der eigentliche Sinn
der Rechtsordnung verloren; DO 54: ohne die b. W. wird die Welt
dämonisiert; RbW 56: zutage kommen dann „nur die Wünsche unseres
Herzens und die Eitelkeit unserer Vernunft”.
29) Oben 2954. Heckel: ebd. und 79
ff.
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Amtslehre fehlt30, daß Wolf einerseits nur eine Scheinkirchengliedschaft des ungläubigen Getauften annimmt, andererseits diese für Heckel zentrale Wertung für das Kirchenrecht Wolfs an den Rand tritt31. Auch die Parallele von Heckels usus spiritualis iuris zur Kirchenrechtslehre Wolfs war schon aufgefallen: Das Kirchenrecht ist bei Wolf nur actu bekennendes Recht, wie umgekehrt die biblische Weisung nur im Glauben als geistliche Weisung erkannt, sonst nur als „natürliches” Recht verkannt wird32.
Aber hat nicht Wolf das Verhältnis Kirche-Staat rechtlich anders bestimmt als Heckel? Unterliegt nicht nach Wolf die Kirche auch weltlichem Recht33, ist sie nicht andererseits in ihrer Rechtsgestalt vorbildlich für die Welt? Doch Heckel kennt im Kampf der beiden Reiche diese geistliche Dynamik ebenfalls, obwohl er, wie ohne weiteres zuzugestehen ist, sie nicht bis in den Bereich des Verhältnisses von Kirche und Staat verlängert hat. Schließlich, und damit löst sich auch die letzte Schwierigkeit, unterliegt die Kirche nach Wolf nur aus einem geistlichen Rechtstitel dem weltlichen Recht (nämlich dem Staatskirchenrecht), wie schon bei Heckel kraft der lex charitatis: nämlich aus dem theologischen Grund der Welthaftigkeit der geistlich-weltlichen Kirche.
Ein grundsätzlicher Unterschied zu Heckel besteht nur in der stärkeren Bejahung der socialitas des Menschen. Bei Heckel verkündigt nur der einzelne im usus spiritualis legis den Rechtswillen Gottes für die Welt; bei Wolf34 wendet sich darüber hinaus auch die Kirche als ganze im „bekennenden” und „beispielgebenden” Recht an die Gemeinschaften der Welt und verkündigt ihnen (auch) mittels ihrer Sozialgestalt das anbrechende Reich Gottes. Entsprechend beansprucht auch die Ordnung der Kirche bei Wolf anders als bei Heckel Beachtung im weltlichen Bereich, nicht als „Norm”, wohl aber als Rechts-Botschaft Christi35.
30) Oben 278 „herrschaftliches” Amt, was nach
1945 aufgegeben wird.
31) 144 ff. 374 f.
32) OdK 463 f. A. 7, 466 A. 6 unter Bezug auf Heckel
SA Lex 313 ff. (dazu oben 18910), Ernst Wolf ZevKR
1955 247, Grundmann LWB 57 f., 65 ff., ZevKR 1959/60 48. Damit
entfällt wohl die Kritik an Wolf ThLZ 1962 338; ob der
Rechtsbegriff Grundmanns differiert, kann nicht (mehr)
entschieden werden. Zum bekennenden Recht Heckels vgl. Init. 66
A. 272, KuK 264. Die Parallele wäre noch eindeutiger, wenn Heckel
den „Ort” des usus spiritualis aufgezeigt hätte: den
personhaften Bezug zum Haupt Christus im Gottesdienst.
33) Abgesehen jetzt vom „weltlich”-geistlichen Recht
der Kirche selbst!
34) Ebenso bei Grundmann.
35) Oben 39122.
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Doch ist es für einen Außenstehenden schwer, hier — wieder abgesehen von der stärkeren socialitas Wolfs — noch eine tiefere Divergenz in der Sache zu finden. Denn die lex spiritualis (mitsamt ihrer leiblichen Schauseite, dem Kirchenrecht) ist auch bei Heckel das wahre Recht (was naturgemäß vom Kirchenrecht nur unter gebührendem Vorbehalt, nämlich nur in analogia fidei, gesagt werden kann). Die lex fidei steht darum in absoluter (die lex ecclesiastica in relativer) Rangüberlegenheit über dem weltlichen Recht. Das göttliche (und menschliche) Kirchenrecht ist also — ontologisch! — „vorbildlich” und „paradigmatisch”, auch wenn der civis mundi davon nichts bemerkt. Was will auch das regnum Christi mit seiner Predigt von Gesetz und Evangelium an die Welt anderes, als daß die Welt sich der lex spiritualis unterwerfe und so gerechtfertigt36 (und damit ipso facto Kirche und kirchenrechtlich verfaßt) werde.
Man muß also S. Grundmann zustimmen, wenn er behauptet, daß dieser Unterschied zwischen Heckel und Wolf vorwiegend im rechtsphilosophischen und nicht im theologischen Bereich beheimatet sei37.
Überall treffen wir bei Wolf und Heckel trotz völlig verschiedener theologischer und rechtlicher Begründungen auf konvergierende oder sogar gleiche Ergebnisse: in Anthropologie, Christologie und Kirchenrechtslehre38. Wie ist das möglich?
Ohne daß die Differenz der theologischen Grundannahmen auch nur im geringsten verkleinert werden soll, scheint gleichwohl der wesentliche Unterschied zwischen Wolf und Heckel nicht in der Theologie selbst zu liegen, sondern in der je andersartigen Gotteserfahrung („Frömmigkeit”) und in der Divergenz der philosophischen Voraussetzungen, im jeweiligen Verstehenshorizont oder, wie hier verkürzend gesagt wurde, in der „Denkform”.
36) 77 f. 1778.
37) ÖAfKR 1965 306. — Damit ist die Systemdifferenz
auf das christozentrische Interesse Wolfs einerseits, das
anthropologische Heckels andererseits reduziert. Im
rechtstheologisch-praktischen Ergebnis wirkt sie sich kaum
aus.
38) Grundmann ÖAfKR 1965 292, 306: Die
Berührungspunkte sind zahlreich, die Verwandtschaft ihrer
Gedanken ist eng; die lutherische und die reformierte Konfession
stehen sich kirchenrechtlich näher, als die Dogmatik vermuten
ließe!
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Heckel denkt ganz selbstverständlich „personhaft” — was etwas ganz anderes ist als die „dialektische” Sehweise Wolfs, und was noch einmal etwas ganz anderes ist als der moderne personalistische Aktualismus (den Wolf freilich aus seiner Rechtstheologie erst nach und nach eliminiert hat). Heckel zeichnet das großartige universale Weltbild Luthers, das aus personhaften Treuebezügen aufgebaut ist und in dem das anthropologische Interesse der Rechtfertigung den ersten Platz einnimmt. Die Statik einer allzu metaphysisch ausgerichteten Spätscholastik ist überall noch erlittene und überwundene Gegenwart im „heilsgeschichtlich”-spirituellen Denken Luthers.
Im praktischen Ergebnis verwandt, radikal unterschieden jedoch in der Begründung, ist die „existentielle” Haltung Wolfs. Das universale Weltbild des Mittelalters ist längst zerbrochen (mag auch die Zweireichelehre als Theologoumenon durchaus noch bejaht werden). Der Idealismus und seine Überwindung sind erfahrene Wirklichkeit. Die ungesicherte „geschichtlich”-paradoxe Existenz sucht in einer säkularisierten Welt festen Boden mit Hilfe einer weltengagierten Rechtstheologie, die vom Leitbild des verborgen in der Welt herrschenden Christus bestimmt ist. Von ihr aus sind der personale Bezug und seine ontologische Struktur erst wieder neu zu begründen. Die Denkmittel dieser Rechtstheologie sind Dialektik und Analogie.
Wird damit nicht mit neuer Dringlichkeit die Frage nach den non-theological factors der Kirchentrennung gestellt — diesmal von der Seite der Rechtstheologie? Ist nicht ein vertieftes Bedenken der konfessionellen Gegensätze verlangt, das die Theologie nicht mehr vom Menschen ablöst — und damit von seinen Denkstrukturen, seiner Philosophie und Soziologie?