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Dialektik ist das große Zauberwort!, dialektische Denk- und Sprachformen bestimmen den brillanten Stil, Dialektik beeinflußt auch die Sachaussagen. Gleichwohl wird sie kaum reflektiert; denn sie ist Wesensausdruck der ausgleichenden und dennoch sehr kritischen Persönlichkeit Erik Wolfs. Überall sucht und findet er „die Einheit in und trotz der Unterschiedenheit”. Das ist auch zugleich die allgemeinste Umschreibung seiner Denkform, die überall zugrunde liegt, wo nichts Näheres gesagt wird.
Die Dynamik des ökumenischen Denkens erlaubt es Wolf nicht, einen bestimmten Kirchen- oder Rechtsbegriff zu definieren und damit zu verabsolutieren; stets muß Raum bleiben für die ergänzende Aussage „der anderen”. Die Aussageform dieses offenen Denkens ist die „offene Dialektik” (und ihre Verwirklichung die Existenz)1.
Freilich gibt es Einflüsse von außen; aber Wolf hat sie alle zu einer nur ihm eigenen Form eingeschmolzen. Vielleicht darf man sogar behaupten, die Dialektik sei unter seinen Händen zu einem Kunstwerk geworden, das hohen ästhetischen Genuß bereitet.
Zunächst ist ihre rechtsphilosophische Herkunft kurz zu umreißen (1), darauf sind ihre rechtstheologischen Strukturen darzustellen (2) und schließlich deren philosophische Folgen aufzuzeigen (3).
Der Ansatz zur Ausbildung der Dialektik liegt bei Grisebachs personalistischer Realdialektik, der Ich-Du-Auseinandersetzung. Das Recht
1) PuS 190, 195, PR 131.
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ist „Grenze” der „Relation” von Ich und Du in der Gemeinschaft2. Der Heidelberger Neukantianismus trägt den Gedanken der „Strukturverschlingung” (Lask) bei: Die Gegensätze zwischen Ich und Du (Grisebach), von Wert und Wirklichkeit (Rickert) sind in der Kulturwirklichkeit (des Rechts) ineinander verknüpft, nicht dualistisch getrennt. Der ethische Relativismus Radbruchs zeigt die Vielfalt möglicher und sinnvoller Ansätze. Sie sind zwar logisch zu unterscheiden, aber existentiell zu verbinden. Die Synthese ist existentielle Aufgabe der Person (Grisebach, später auch Kierkegaard); immer muß man „das Einigende bewahren und das Trennende vermeiden”3.
Dabei bleibt es auch, als die ethische Existenz Grisebachs durch die Ontologie Heideggers erweitert und die Bedeutung der Dialektik für die Ökumene erkannt wird („das Einigende betonen”).
Bisher wird das Wort Dialektik selbst kaum gebraucht — ein Zeichen, wie sehr diese Art zu denken Wolf im Blut liegt. Da auf einmal wird der Name Hegels genannt: Dialektik sei „das offenbare Wesen der Dinge oder die Natur der Sachen selbst, wie uns Hegel gelehrt hat”.
Doch die theoretische Begründung gibt nicht Hegel, sondern Heidegger: Dialektik folge aus der Geschichtlichkeit des Seins, mithin auch des Rechts; Geschichtlichkeit sei hier nicht Variabilität, sondern die zeithafte Offenbarkeit für die Existenz4. Vereinfacht: Die dialektische Wahrheit ist kein fixes Datum, sondern die je einmalige geschichtliche Aufgabe einer Generation. Wahrheit ist nur offenbar als Erlebnis und Verpflichtung — eine existentiale Überspitzung der Dialektik, die später wieder korrigiert wird5.
Jedenfalls zieht Wolf den Schluß, daß keine Zeit die „ganze” Wahrheit besitzt, sondern daß nur eine „dialektische” Zusammenschau von Traditionsgut und neuen Einsichten der „Mehrschichtigkeit” des Lebens
2) ARWP 1926/27 413, 419 f.; vgl. Schuldlehre
74 (3.).
3) Reichseinheitsflagge 6, ähnlich OdK 678 f., 720
ff.
4) DRWiss 1939 179; vgl.ReG (5) 251 f. „wachsendes
Verständnis für Hegels dialektisches Denken”.
5) Der — nun theologisch begründete — Wertgedanke
dient als Korrektiv: die Synthese ist nur möglich, wo der Wert
der Gerechtigkeit inhaltlich gefüllt und existentiell gelebt
wird, DRWiss 1939 177-181.
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gerecht wird. „Alle bisherigen Gesichtspunkte” sollen jeweils berücksichtigt werden, nicht nur in sachlicher, sondern auch in methodischer Hinsicht. Da jeder Zugang zur Wahrheit seine Chance, aber auch seine Grenzen und Fehlerquellen hat, kann nur die „dialektische” Verbindung aller Aspekte der Wirklichkeit nahekommen. Es ist angezeigt, das Relative (die individuelle Wirklichkeitserfahrung) nicht zu verabsolutieren und das Absolute (den „objektiven” Geist!) nicht zu relativieren. Einzelne „Aspekte” stehen einander nicht ausschließend gegenüber, auch nicht bloß ergänzend nebeneinander; sie sind einander „nicht neben-oder über-, sondern eingeordnet”, da sie jeweils schwerpunktverschiedene Aussagen über das Ganze enthalten. Von Wolf selbst gilt, was er mit Worten H.H. Dietzes von J. Oldendorp sagt: „Er liebte es eben, von zwei sich bietenden Möglichkeiten nicht die eine zu wählen und die andere zu mißachten, sondern beide zu sehen und in eins zu fassen, als eine in sich gegliederte Vielheit.” Auch wo sie als wirkliche Antithesen einander gegenübertreten, sind sie doch nur zusammengehörige Momente der lebendigen Existenz. In jeder Einzelerkenntnis ist das Ganze erfahren, in jeder Teilaussage das Ganze benannt. „Mit der Erkenntnis . . . des einen Begriffs ist ja der andere schon mit gegeben, und damit auch schon die Synthese.” Die Synthese wiederum wird verstanden nicht als „Aufhebung”, sondern als dialogische Koexistenz der Spannungen6.
Das darf auch auf Wolfs spätere Äußerungen angewendet werden. Erscheint bei ihm eine Ansicht abgelehnt, so nicht in jeder Hinsicht; wird eine andere bejaht, dann off nur unter einem bestimmten Aspekt — ohne daß dies noch eigens gesagt zu werden brauchte7.
So sind alle scheinbar einander widersprechenden Aussagen „in der Unterschiedenheit verbunden”: Überall ist in der Verschiedenheit die Einheit und in der Einheit die Verschiedenheit zu beachten. Man darf nicht kurzschlüssig die Synthese suchen, sondern muß jeden Aspekt zu
6) Dazu ReG (5) 252, DRWiss 1939 176-181, 1940
87 f., ZAkDR 1936 360, ZStW 1936 156 ff., 1938 202 ff., Stifter
125; ZStW 1936 154 „statt dessen wird eine neue Phänomenologie
des objektiven Geistes teilweise im Anschluß an Hegel gesucht,
die sich zur Metaphysik des absoluten Seins schlechthin ausweiten
möchte”; so sind etwa in methodischer Hinsicht synthetisches
(„ganzheitliches”) und analytisches Denken systematisch zu
verbinden; ein sachliches Beispiel aus dem Straf recht: Es ist
notwendig, „den Täter als ,Täter einer Tat’ und die Tat als ,Tat
eines Täters’ zu begreifen", DRWiss ebd.
7) Ein Beispiel dafür ist OdK 17 ff. zur
rechtstheologischen Methode.
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Worte kommen lassen und zwar in seiner vollen Tragweite. Deshalb kann auch jeder Gesichtspunkt die ihm gemäße Methode verlangen. Der Methodenpluralismus hat hier seine rechtsphilosophische Wurzel. Nun versteht man die für den Sprachstil Wolfs so bezeichnenden Reihen: nicht auseinanderreißen — nicht harmonisieren; nicht trennen — nicht mythische Schau; nicht ausschließen — nicht verwischen; sondern einander ergänzen und verbinden, als „Hilfsmittel”, „Aspekte”, aspetti, „Gesichtspunkte”, „Akzentuierungen”; also „keine konträren oder kontradiktorischen, sondern dialektische Gegensätze”8.
Ist das noch eine Dialektik im Sinne Hegels oder nicht vielmehr im Sinne Wolfs? Die hegelianisch verstandene Dialektik ist der treibende Faktor im Geschichtsprozeß, die innere Dynamik der These bringt notwendig die Antithese und diese die Synthese als höhere Einheit hervor. Was ist davon bei Wolf zu finden? Nicht der unumkehrbare Geschichtsprozeß, nicht das zeitliche Aufeinander der Thesen, auch nicht die Rechtfertigung einer Tatsache aus dem Geschichtszusammenhang. Es will auch nicht zu Hegel passen, wenn drei, vier oder mehr (meist negativ formulierte) Aspekte zu einer mehrgliedrigen Dialektik verbunden werden. An hegelianischen Elementen wäre, abgesehen von der Terminologie, nur zu nennen das Ineinander der Antithesen — also nicht einmal „These und Antithese”, sondern „Denken in Antithesen”9! Es ist im Grunde, entgegen Hegel, eine durchaus statische Dialektik, die von überall her Anregungen in sich aufgenommen hat, nicht zuletzt von G. Radbruch, was die Rechtsphilosophie, und von S. Kierkegaard, was nun im weiteren die Rechtstheologie betrifft.
Die Dialektik steht nach 1945 unter dem Vorbehalt der Rechtstheologie: Die philosophische Sprachform der Dialektik ist von der Theologie begründet, begrenzt und bestimmt.
8) Vgl. Täter 33, DRWiss 1939 177-181, GrundO
177 f., GR II 19, GRD 161.
9) Radbr. RPhil. 34.
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Wichtig scheint es auch zu bemerken, daß Wolf die dialektische Methode längst kennt und handhabt, ehe er die „dialektische Theologie” K. Barths und E. Brunners kennenlernt, und daß er auch dann noch nichts einfach übernimmt, sondern seinen eigenen Ansatz selbständig in Auseinandersetzung mit Heidegger und Hegel fortbildet. Der Ertrag der bisherigen rechtsphilosophischen Bemühung geht in die rechtstheologische Dialektik ein.
Die theologische Begründung der Dialektik liegt im existentiellen simul von Gnade und Natur im (Kierkegaardschen) Paradox der christlichen Existenz, die selbst wieder dialektisch bestimmt ist als christokratisch und bruderschaftlich.
Dieser Sachverhalt verbietet eindeutig definierte Aussagen. Wer versuchte, die Gnade begrifflich einzufangen, wäre „unrealistisch” und also „unwahr”, da er die stets anwesende Dynamik des Geistes übersähe und sie als statisch und berechenbar vortäuschte. „Entsprechend” würde eine undialektische Definition der Kirche diese als irreformabel erstarren lassen und die existentielle Spannungseinheit von „geistlich” und „weltlich” in einen gespaltenen Kirchenbegriff zerlegen, was auch das rechte Kirchenrecht zerstören würde. Was für die Kirche gilt, trifft auch auf die kirchlichen Institutionen zu; sie sind gleichfalls nur dialektisch zu erfassen, auch rechtlich: so das Verhältnis von Amt und Gemeinde, Gemeinde und Kirche, ja Kirche und Staat10.
Daraus resultiert ein mehrfach dialektischer Rechtsbegriff. Zunächst besteht die schon bekannte paradoxe Dialektik von göttlichem und menschlichem Recht. Sodann wird die Dialektik im ius divinum der biblischen Weisung vorgefunden. Denn deren dreifache (legitimierende, limitierende und teleologische) Funktion enthält selbst eine Dialektik; das Gottesrecht weist menschliches Recht zwischen polaren Grenzen. Die Dialektik des menschlichen Rechts selbst hat Wolf vorwiegend negativ entfaltet11.
10) ReG (5) 250, 252, EKD 83, RbW 73 f., RgK
260, RdN 19, OdK 6, 23, 723, PuS 190, NRL 5 und oben 299 ff. 328
f. 34418 353 ff.
11) S.o. 401 f.
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Die vornehmste theologische Einschränkung der Dialektik zeigt sich darin, daß undialektische Rede- und Denkformen für rechtstheologische Sachverhalte ausscheiden müssen, weil auch die Sprache überall das Geheimnis des Rechtshandelns Gottes zu wahren hat12.
Die andere Begrenzung der Dialektik liegt in ihr selbst: Die Grenze der Dialektik ist die Analogie. Auch diese Limitierung ist theologisch begründet in der Entsprechung von Christokratie und Bruderschaft. Diese „entsprechende” Struktur ist bei allen Aussagen über die Dialektik des Rechts zu beachten.
Ungeeignet ist also erstens jede „Identifizierung” der Pole — sei es, daß man beide gleichsetzt oder den einen vom anderen ableitet —; sie vernichtet die Beziehung zwischen ihnen. Ungeeignet ist aber auch jede „Kontradiktion”; sie spaltet auf und setzt feindlich gegeneinander, was innerlich verbunden ist. Abzulehnen ist auch die „Harmonisierung”; sie leugnet die Polarität, verschleift die Gegensätze und verharmlost die notwendige Auseinandersetzung. Abzulehnen ist ebenso jede „Neutralisierung" der Pole; sie bagatellisiert ihre Eigenart und Eigenständigkeit. Auch die „Isolierung" der Gegensätze ist „unwahr"; sie verkennt ihre Zusammenhänge und Überschneidungen (overlapping relations) und verhindert zugleich ihre Beziehung13.
Diese apophatische Dialektik ist die eigentliche Denkform Wolfs. Sie durchzieht mit steigender Intensität und auch Virtuosität das ganze Schaffen. Sie erinnert an die Redeweise der negativen (nicht nur der dialektischen!) Theologie, die stets viel genauer sagen konnte, was Gott nicht ist, als was er ist. Sie ist eine theologische und humanistische Grundhaltung, die die Achtung vor dem fremden Standpunkt mit der Wahrung des eigenen verbindet, nicht unähnlich derjenigen des großen Radbruch, von dem Wolf einmal sagt, er habe die Maxime befolgt, „kein Rechtsideal sei als das beste beweisbar, aber auch keines völlig
12) Dagegen sagt Wolf nicht, wo die Dialektik
als solche unanwendbar wird, also wo undialektisch geredet werden
muß. Es bleibt immer bei der Dialektik.
13) Vgl. PuS 195, OdK 6 (geistliches und weltliches
Recht), 22 (Methodenpluralismus in kirchenrechtlicher, AÖR 1958
489 f., NAR 148 in rechtsphilosophischer Hinsicht), 566 ff.
(Amt-Gemeinde), 569 (Gemeinde-Kirche), 119 f. (Kirche-Nation),
499 (Zweireichelehre), 123, 133 ff., DO 53 ff. (Kirche-Staat);
ferner Die Friedenswarte 1948 192, GrundO 149 f., RGG II 1330,
III 1506 ff., DO 53 f., NRL 9, 194.
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widerlegbar; deshalb sei die eigene Rechtsüberzeugung ebenso streng zu befolgen, wie die jedes anderen Menschen streng zu achten”. „Sie bedingte seine Haltung der Offenheit für alle, der dauernden Bereitschaft, auf andere zu hören und sie gelten zu lassen”, die „nicht so leicht eine Sache völlig ablehnen konnte” (Goethe)14.
Auch die Ziele der Dialektik sind rechtstheologisch vorgegeben. Es sind die Christokratie und die Bruderschaft, oder anders, die ökumenische Kirche mit ihren „bündisch geeinten Vorstufen”, schließlich das Reich Gottes. Sie sind die materiale Einheit in der Unterschiedenheit, das „Wesen” der Polaritäten, die „Synthese” der Dialektik15.
Die rechtstheologische Zielsetzung entscheidet auch über die Art der anzuwendenden Dialektik. Mit souveräner Sicherheit greift der Meister der Rechtsphilosophie diejenige Form der Dialektik heraus, die dem jeweiligen theologischen Gegenstand angemessen ist. Oft ist sie auch nicht mehr als eine Formulierungshilfe, geeignet, einen schwierigen Gegenstand in prägnanter Diktion und kunstvoll gegliedertem Aufbau zu umreißen. Wo im strengen Sinne Dialektik gehandhabt wird, gilt das Strukturprinzip von vertikaler Christokratie und horizontaler Bruderschaft, die beide wieder „dialektisch” vereint sind in der analogia fidei.
Abgesehen von der rein immanenten Dialektik als bloßem modus loquendi16 ergeben sich also folgende Arten:
Der Christokratie entspricht die „vertikale Dialektik”. Sie ist überall anzutreffen, wo der Anruf des Königtums Christi auf den sündigen Menschen trifft, um ihn aus den Mächten dieser Welt herauszulösen. Sie gilt, wo die christliche Existenz und ihr Recht zu beschreiben sind.
14) Die Friedenswarte 1948 192, Badische
Zeitung 1950, Radbr. 487 ff., Schönke 23 f.; auch der Gedanke an
Lessing liegt nicht fern, vgl. Radbr. RPhil. 104.
15) S.o. 328 f., OdK 6, 78 f., 722 (für die EKD).
16) Aber auch sie läßt sich als Analogiebildung zur
Glaubensdialektik verstehen.
17) Jaspers prägte den treffenden Ausdruck
„zerbrechende Dialektik”. — („Paradox” i.w.S. [?], dagegen GR II
250 ff., 386, NRL 25 f., 194, hier mit B. Cardozo). Beispiele:
bekennendes Recht, Kirchenrecht überhaupt; Kirche und Staat
(?).
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Gnade und Sünde treffen hier zusammen; Wolf nennt deshalb diese Dialektik „tragisch” oder (nach Kierkegaard) meist die Dialektik des „Paradox”17.
Der Bruderschaft gehört die „horizontale Dialektik” zu eigen. Wolf gibt ihr keine besondere Bezeichnung. Sie ist dadurch gekennzeichnet, daß sie zwar theologisch begründet ist, aber in der Horizontale der Mitmenschlichkeit verbleibt18.
Vertikale und horizontale Dialektik „entsprechen” einander, sind einander „ähnlich”, aber in ihrer Unähnlichkeit. Die Ähnlichkeit besteht in der formalen Struktur der Aussagen („nicht identifizieren, nicht harmonisieren” usf.), die Unähnlichkeit im Rangunterschied der Gegensätze und in der Entfernung der auszusagenden Pole voneinander. Bei der vertikalen Dialektik treffen Gott und Welt zusammen, bei der horizontalen dagegen Welt und Welt, sei es begnadete oder nicht begnadete Welt. Bei der vertikalen Paradoxie handelt es sich notwendig um nur zwei Pole; die horizontale Dialektik dagegen ist eine reale „Antithetik” von mehreren Aspekten, deren Synthese gesucht wird19. Bei der vertikalen Dialektik begründet, begrenzt und erhellt die Gnade die Welt „von oben nach unten” in prinzipiell unumkehrbarer Reihe. Bei der horizontalen wird Wirklichkeit beschrieben durch Näherung von zwei oder mehr Seiten in grundsätzlich gleichgültiger Folge. Diese Entsprechung ist glaubensbegründet, also eine analogia fidei; denn Christokratie begründet Bruderschaft (und darin die Mitmenschlichkeit); Bruderschaft verweist auf Christokratie und bestätigt die Schöpfung. Die vertikale Paradoxie genießt folglich den Vorrang; horizontale Dialektik ist von der vertikalen begründet, begrenzt und angeleitet.
Damit zeigt das Gesamtbild der Dialektik nun doch den eigentümlichen „Prozeß” von oben — nach unten — nach oben. Aber auch das ist keine Anleihe bei Hegel, sondern ist vermittelt durch die Geschichtstheologie,
18) „Versöhnende Dialektik”; z.B. bei
Amt-Gemeinde, Gemeinde-Kirche.
19) Vgl. FG v. Frank 522, 528 „Diese Synthesis der
sechsfachen (!) Antithetik” bildet eine „reale Dialektik”, Radbr.
499 u. ö. zur Radbruchschen „Trialektik”, RGG V 853 übernommen
als trialektische Relation; schließlich GRD 41 „Trilemma”, GR II
363 „Trialismus”.
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die Wolf mit der „dialektischen Theologie” gemeinsam hat, und die ihrerseits neben neuplatonischen Zügen auch das allgemeine Geschichtsbild des (Augustinismus und) Idealismus teilt: Ausgang von Gott — Zerdehnung in die Zeit — Rückkehr (Heimholung) zu Gott20.
Es dürfte auch klar geworden sein, daß diese Dialektik nicht im Dienst eines metaphysischen oder ontologischen Agnostizismus oder Relativismus steht, sondern theologisch begründeter „Sprachleib” des Absoluten ist21.
Der theologischen Dialektik „entspricht” die philosophische in analogia fidei. Das Licht der Theologie erhellt die Ontologie. Diese Erkenntnis bestimmt die Rechtslehre Wolfs in zunehmendem Maße (seit etwa 1958). Dadurch gewinnt auch der Begriff der Dialektik einen veränderten Inhalt. Unter demselben Wort vollzieht sich die Wandlung von der Dialektik zur Analogie. Hier soll nur die systematische Seite hervorgehoben werden.
Die Wirklichkeit ist in sich polar aufgebaut. Darin „spiegelt” sich die theologische Polarität von Gnade und Natur. Aber die Polarität des Seienden ist philosophisch eigenständig begründet. Die (zwei oder mehr) Pole sind wirkliche Antithesen, die sich notwendig antinomisch gegenüberstehen. Dadurch entsteht eine fruchtbare Spannung zwischen den Polen, die zur Entfaltung drängt. Sie resultiert aus der Lebendigkeit und Spontaneität existentieller Sachverhalte, aus dem Zusammentreffen menschlicher Freiheit und Bedingtheit mit göttlicher Freiheit22.
Weil der „Ort” der Pole nicht ein für alle Mal feststeht, sondern sich aus der jeweiligen „Problemkonstellation” ergibt, ist das Verhältnis
20) Dazu vgl. oben 367, ferner H.U. v.
Balthasar 1963!
21) Vgl. GR II 19, und NAR 149 mit Berufung auf
Kierkegaard — eine letzte Differenz zu G. Radbruch!
22) Stifter 125, EKD 83, RdN 19, 43 A. 19, RGG II
1330, OdK 13, 21, 119, 590, NRL 9. Zum folgenden auch die oben
43010 angegebenen Stellen.
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der Pole zwar an sich statisch gedacht, aber geschichtlicher Dynamik unterworfen. Die Variabilität besteht einmal darin, daß die Pole selbst nicht Fixpunkte sind, sondern den Charakter von „Tangenten” haben, die das historisch sich wandelnde Phänomen eingrenzen. Außerdem stehen die Pole nicht beziehungslos nebeneinander, sondern sind wegen ihrer lebendigen Spannung in fortwährender Veränderung und Auseinandersetzung begriffen, die die Möglichkeit sowohl des Konflikts wie des Ausgleichs in sich bergen. Ein bekanntes Beispiel sind die historischen Konstellationen zwischen (abzulehnender) Identifikation und (ebenso zu verwerfender) feindlicher Zertrennung von Kirche und Staat23.
Wodurch aber bleibt — jetzt in philosophischer Sicht — die Einheit des dialektisch beschriebenen Gegenstandes erhalten? Sie liegt in der Relation (Entsprechung und Wechselbeziehung) der Pole, die auf ihrer inneren (aber nur theologisch ganz einzusehenden) „Wesenszusammengehörigkeit” beruht. Die Dialektik Wolfs ist eine „Dialektik der Beziehung” zwischen dynamisch verbundenen Gegensätzen (analogia relationis).
Vielleicht ist es richtig, auf einen (Rickertschen) Gedanken zurückzugreifen, den sich Wolf 1928 zu eigen machte: Jeder Erkenntnisgegenstand steht nicht isoliert im Raum, sondern kann logisch nur gedacht werden im Gegenüber zu einem andern; er ist erkennbar nur in seinen Bezügen, diese wiederum sind begrenzt (das ist nun eine Verallgemeinerung der Grisebachschen „Grenze des Du”) durch das Gegenüber des andern24. Die Pole als Grenze, die Relation als Begrenztes — das ist die ontologische Struktur der Dialektik.
Die Relation der Pole zueinander kann näher umschrieben werden25. Sie besteht zunächst in der wechselseitigen Einwirkung der
23) Vgl. RGG II 1329, DO 54 f., OdK 22, NRL 194
f. unter dem formalen Gesichtspunkt; zur Dialektik von Staat und
Kirche s.u. 440.
24) ARWP 1926/27 411 ff., Schuldlehre 74 (3.); von
Beziehung innerhalb der Dialektik wird (unter dem Einfluß der
frühen dialektischen Theologie?) dann nicht mehr gesprochen. Erst
mit der wachsenden Bejahung der Analogie wird auch die Relation
wieder gesehen, vgl. OdK 566 f. und schließlich RuL 496.
25) Dazu vgl. ThuR 34, GR II 478, RGG II 1329 f., III
1508 (e), RdN 19, DO 58, OdK 7, 67, 462, 466, 566 f., 569, PuS
190, NRL 92.
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dynamisch-„gegenläufigen”, „in sich gegen wendigen” Pole aufeinander; sie fordern einander, sind aufeinander verwiesen. „Beide ergänzen sich, beide begrenzen sich, eines versteht sich mit dem andern und durch das andere, keines nur von sich aus und gegen das andere". Die Benennung der Pole bezweckt „keine Definitionen, die trennen, sondern Aspekte, die verbinden; sie sind dialektisch, nicht systematisch zu verstehen”26. Sie sind auch nicht eine Sammlung falscher Alternativen, sondern Grenzsetzungen, die die prinzipiell begrifflich unerschöpfliche existentielle Wirklichkeit nicht vergewaltigen und dennoch hinreichend genau beschreibbar machen. Damit vermag ein „offenes System” errichtet zu werden, das die geschichtliche Variationsbreite möglicher und legitimer Problemlösungen umfaßt und dennoch eindeutige Grenzen steckt.
Man muß überdies berücksichtigen, daß Dialektik Einheit „in” der Unterschiedenheit heißt: Die Pole der Dialektik müssen also auch als ein Ineinander verschiedener Aspekte gedacht werden: nicht nur „nicht das — aber auch nicht jenes” ist richtig, sondern ebenso „sowohl das — als auch jenes”. Nur so ist es möglich, die Wahrheit der Aspekte zu verbinden, ohne in ihre Irrtümer zu verfallen.
In der Rechtstheologie geht Wolf einen Schritt weiter: die „Beziehungseinheit” weist positive „Strukturen” auf, die die Pole verbinden. Sie sind zugleich Rechtsstrukturen, z.B. die Vertikale und Horizontale der Christokratie und Bruderschaft.
Nichts verbietet, darin auch eine ontologische Gesetzmäßigkeit zu sehen27: Überall, wo eine Dialektik besteht, gibt es auch positiv beschreibbare Strukturen (Dilthey). Die Anwendung auf die Rechtsontologie liegt nahe. Wenn das Mittlere zwischen den Polen der Dialektik die „Entsprechung” ist, dann ist „das Mittlere” (τὸ μέσον) der Dialektik des Rechts das „Entsprechende” und „Zukommende”, das Recht-Maß (τὸ δίκαιον)28.
26) So OdK 67; ähnlich 497 f., Die
Friedenswarte 1948 192 u.ö.
27) Angedeutet NRL 194 f.
28) Vgl. DO 53, RGG V 849 f. (c); GR I 44, 56, III/l
313 ff. u.v.a. δίκη = „Zukommen”; ARSP 1960 95, NRL 199 zur
Forderung einer Rechtsontologie der Grundstrukturen sozialen
Daseins; RGG V 853 Gerechtigkeit als Relation und Funktion, NRL
195 f. Naturrecht als „Seinsentsprechung”.
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Wenn aber eine positiv angebbare strukturelle Relation zwischen den Polen der Dialektik besteht, dann müssen die Pole einander „ähnlich” sein. Sonst kann keine Beziehung sie verbinden. Die Relation ist eine gegenseitige „Entsprechung”, eine Analogie. Diese analogia relationis trägt ein doppeltes Gesicht. Sie ist von oben begründet, also eine analogia fidei. Sie ist aber auch das ontologische Äquivalent („Abbild”) der Glaubensanalogie, deshalb einerseits (rechts-)philosophisch beschreibbar; andererseits weist sie auf ihren Ursprung zurück, der zugleich ihr Ziel ist. Das ist aber nichts anderes als die recht verstandene analogia entis. Sie ist also, um es kurz zu sagen, analogia entis in analogia fidei — so der schon berühmt gewordene Titel des Aufsatzes von G. Söhngen in der Festschrift für K. Barth. In der „absteigenden” analogia fidei wird die analogia relationis als „aufsteigende” analogia entis im Sein sichtbar29! Damit geht Wolf sachlich über Karl Barth hinaus — eine Konsequenz der rechtstheologischen Methode.
Das ist ein äußerst bedeutsamer Beitrag eines Juristen zum theologischen Gespräch der Gegenwart. Denn diese Dialektik bildet eine legitime Brücke zur „katholischen Denkform”.
Eine philosophische Abgrenzung muß dieses Ergebnis vor einem möglichen Mißverständnis schützen. Diese Dialektik führt nicht zur Analogie, wenn man sie formal oder metaphysisch mißversteht. Das lehnt Wolf ab. Er versucht die realen „Gegensätze . . . als notwendige Auseinandersetzung (und) Entfaltung ihres dialektischen Grundsinnes” zu verstehen und so die Spannungseinheit sozialer Existenz im Denken nachzuvollziehen und sich im Dasein zu orientieren. Die reale Einheit der gedachten Dialektik ist die gemeinschaftliche Existenz, die der theologischen Existenz in der Gemeinde „entspricht”. In der Existenz trifft die unberechenbare Freiheit mit der Verantwortlichkeit des Mitseins dialektisch zusammen. Damit überschreitet die Dialektik die bloße
29) GR IV,1 281: „dialektische, in der Sache selbst liegende Seins-Entsprechung”; in vorbildlicher Klarheit wird diese Analogie durchgeführt: „Wahre (absolute) ,Transzendenz’ geschieht einzig durch den vertikalen Einbruch der Offenbarungsgnade und die dadurch bewirkte Ausrichtung horizontaler Daseinsordnung unter den Menschen im ,transzendierenden’ Aufbruch auf die Vertikale” (2NRL 158, 3NRL 198); das Gottesverhältnis wirkt das Nächstenverhältnis als seine Entsprechung (RuL 479 f.); rechtsphilosophisch: NRL 195; zur zugrundeliegenden Sprachtheologie s.o. 294 f. 384 f.
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Erkenntnis, ist nicht länger nur mehr eine Form des Denkens und der Aussage, sondern wird zur ethischen, zuletzt christlichen Aufgabe. Dem Christen ist es auferlegt, exemplarisch für seine Brüder die dialektischen Spannungen des Daseins auch im Recht vor dem Zerfall zu bewahren und im denkenden und tätigen Nachvollzug zum vorläufigen Ausgleich zu bringen. Das ist die „Existentialdialektik” des Christen30.
Ein weiteres Ergebnis: Der Weg geht nicht „von der Dialektik zur Analogie”, sondern „innerhalb der Dialektik zur Analogie”31. Der Einbau der Analogie in die Dialektik verändert die Dialektik. Die (Rechts-)Ontologie in der (Rechts-)Theologie wird immer wichtiger. Das wird bestätigt durch die Entwicklung des Analogiegedankens.
Zunächst teilt Wolf die Abneigung der dialektischen
Theologie gegen die „katholische” Seinsanalogie, wenn er auch
nicht so weit geht wie K. Barth, der in ihr bekanntlich die
Erfindung des Antichrists vermutete, wegen der allein es
unmöglich sei, katholisch zu werden32.
Anfangs (1948) versteht Wolf unter analogia entis eine —
abzulehnende — Analogie (Entsprechung) zwischen menschlichem und
göttlichem Sein: Das Sein „von unten nach oben” in Stufen
aufgebaut zu einer Pyramide, deren oberste Spitze gleichsam Gott
ist. Trotz der Erbsünde bleibe eine participatio der
menschlichen an der göttlichen Vernunft, so daß man von
zeitlichem und ewigem Recht, menschlicher und göttlicher
Gerechtigkeit gleichsinnig spreche33. Das ist aber
keine analoge, sondern eine univoke Aussage!
Die Ablehnung der so verstandenen Analogie beruht auf einem
Mißverständnis des „katholischen” Denkansatzes. Analogie ist dort
eine metaphysische, bei Wolf aber, wie in der dialektischen
Theologie, eine existentielle Kategorie. Existentiell gedacht
enthielte die analogia entis die
Ungeheuerlichkeit,
30) Vgl. wieder 34418 zur Ablehnung
begrifflich-definitorischen Denkens; zur Dialektik als
Erkenntnisproblem, Orientierung und ethische Aufgabe ReG
(5) 252, EKD 83, GR II 478, RdN 19, RGG III 1508 (e), OdK 6, 29,
78, 566 f., PuS 190, 206, NAR 148 f., NRL XIII, 5, 194; zur
Existentialdialektik OdK 28, 116, 148, 566 f. und Dombois RdG
700, vor allem aber Kierkegaard (dazu H. Diem 1950), von dem sich
Wolf jedoch vor allem durch die Betonung der Analogie in
der Dialektik unterscheidet.
31) So H.U. v. Balthasar 1962 116 ff. u.ö. zu der
parallelen Entwicklung bei K. Barth.
32) KD I/1 VIII.
33) RbW 28, 39, 91, Bibel 291.
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es vermöchte der Mensch der Sünde aus Eigenem den
(wiederum nicht metaphysisch gedachten, sondern in Christus
geoffenbarten) personalen Gott zu erreichen.
Dann entdeckt Wolf, wie beschrieben, in der Dialektik die
Analogie. Bekanntlich ist ja auch bei Barth diese Entwicklung zu
beobachten. Und zwar ist es — wie ebenfalls bei Barth — keine
Wende von der Dialektik zur Analogie, sondern eine komplementäre
Ergänzung der Dialektik durch die Analogie. Das kommt in
klassischer Klarheit in dem Wolfschen Topos von der „Einheit in
der Unterschiedenheit” zum Ausdruck, was doch nichts anderes ist
als die „Analogie in der Dialektik”. Diese Analogie geschieht
aber „von oben nach unten”: Menschliche Ordnung „entspricht”
göttlicher Ordnung. Die Entsprechung ist nur im Glauben sichtbar
und ist darum Glaubensanalogie (oder besser christologische
Analogie); sie kann nicht vom (scil. gefallenen!) Menschen
ausgehen34.
Unter dem Einfluß von H.U. v. Balthasar und G. Söhngen tastet
sich Wolf noch einen Schritt weiter: „Die Dialektik der
Entsprechung (von göttlichem und menschlichem Sein) läßt es zu,
sie sowohl (!) von Gott zum Menschen hin, als auch vom Menschen
zu Gott hin zu denken.” Also ein wahlweises Nebeneinander von
analogia fidei und analogia entis, als zwei
legitime Wege, von denen der eine von der reformatorischen, der
andere von der katholischen Dogmatik beschritten würde? Das
scheint zunächst die Meinung Wolfs gewesen zu sein35.
Aber diese Unklarheit liegt mehr im Begriff als in der Sache;
denn wer den Gedankengang Wolfs nach vollzieht, der stößt immer
wieder auf das „von oben — nach unten — nach oben”36,
d.h. auf die Glaubens analogie, die die Seinsanalogie begründet
(analogia entis in analogia fidei).
Genau hier ist der Punkt, wo sich — von entgegengesetzten Seiten
herkommend — K. Barth und seine katholischen Freunde getroffen
haben, so daß in dieser grundlegenden Frage der „Sprachform des
Dialogs” keine Differenz mehr zu bestehen
scheint37.
34) Zeugnisse 84, RdN 17, StLex V 966, OdK 357,
GRD 183; zur Analogie in der Dialektik s.o. 305 m. A. 25.
35) OdK 50 f., DO 58, RuL 487, RdN 50 A. 13 „,per
analogiam entis’ oder (!!) ,per analogiam fidei’
sive ,relationis’”; eindeutig als analogia
fidei dann in GuN 644.
36) S.o. 303 ff.; schönes Beispiel oben 423 f.
37) S.u. 444 f. Ein auch in der katholischen
Geschichtstheologie ungelöstes Problem ist das innere Verhältnis
der an sich ungeschichtlichen Kategorie der Analogie zur
Geschichtlichkeit.
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Die bewundernswürdige Geschlossenheit und Folgerichtigkeit des Wolfschen Systems der Dialektik ist nicht auf den ersten Blick erkennbar, da die Dialektik nicht theoretisch entfaltet, sondern in zahllosen Einzelaussagen praktisch gehandhabt wird. Zudem fehlt — außer zur Unterart der Paradoxie — eine systematisch-theologische und rechtsphilosophische Grundlegung. Auch die einzelnen Arten der Dialektik werden kaum voneinander abgehoben. Es wird auch nicht gesagt, wo die Grenzen der Dialektik liegen, wo sie also unanwendbar wird38.
So kann es nicht ausbleiben, daß die Dialektik gelegentlich dort nicht durchgeführt wird, wo man sie erwartet39, oder daß sie dort hervortritt, wo sie nicht das letzte Wort zur Sache zu sein scheint (so zum „dialektischen” Verhältnis von Kirche und Staat oder von Kirche und Reich Gottes)40, oder Wesensverschiedenes auf den gleichen dialektischen Nenner bringt (so ist „dialektisch” einerseits die christokratische Bruderschaft, andererseits aber ebenso das Verhältnis des Christen zur Welt)41, oder schließlich das Feuerwerk „dialektischer” Negationen keine wirklichen Antithesen mehr erkennen läßt.
Dadurch wird zwar das imponierende Gesamtbild nicht wesentlich beeinträchtigt; aber es erhebt sich die grundsätzliche Frage, ob die theologisch bedingte Entscheidung für die (dem Geheimnis angemessene) dialektische Denkform nicht auch eine rechtsphilosophische Vorentscheidung enthält, deren immanente Sachlogik mit bedacht werden muß. Enthält nicht auch das theologische Prinzip, keiner Philosophie verpflichtet sein zu wollen42, eine philosophische Vorentscheidung? Kann man in der Rechtstheologie durch das Bekenntnis zur Dialektik der Entscheidung zugunsten einer bestimmten Rechtsphilosophie entgehen43? Zuletzt: Gibt es Theologie ohne Philosophie?, Gottes Wort
38) Eine Ausnahme findet sich innerhalb der
Rechtsontologie: RGG V 849.
39) S.o. Exkurs IX 439 zu A. 35, u.a.
40) Wolf weist selbst darauf hin, daß diese Dialektik
in Wirklichkeit ein Bild-Abbild-Verhältnis, rechtstheologisch ein
Repräsentationsverhältnis ist (OdK 152 ff.); das gleiche dürfte
für die „Grund”dialektik von Christokratie und Bruderschaft sowie
von Heilsgeschichte und Geschichte gelten.
41) Z.B. RGG II 1329 f.
42) OdK VI (Vorwort).
43) Zwar hat, wie geschildert, Wolf eine eigene
Rechtsphilosophie entwickelt; sie ist aber ohne (notwendige!)
Verbindung mit der Rechtstheologie konzipiert und
durchgeführt.
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anders als im menschlichen Wort und damit auch im philosophischen Wort?
Vom Ansatz Wolfs her scheint die Antwort klar: Es gilt, unter dem Primat der (Rechts-)Theologie in analogia fidei eine (Rechts-)Philosophie zu entwickeln, die in analogia entis die geschichtlichen Strukturen der Wirklichkeit „bekennend” und „vorbildlich” beschreibt. Aber hat Wolf nicht wiederum recht, wenn er davon ausgeht, daß das theologisch Unaussagbare auf ein „entsprechend” philosophisch Unaussagbares hinweist, auch und gerade für das Recht? Ist menschliche Freiheit-im-Recht anders als eben dialektisch formulierbar, in einer Dialektik, die einen Pluralismus irreduzibler (Rechts-)Philosophien umfaßt44? Die Fragen sollen hier nicht entschieden, sondern nur aufgeworfen werden. Denn sie berühren Grundprobleme ökumenischer Diskussion; sie sind auch auf katholischer Seite noch nicht genügend bedacht45.
44) Der Ansatz dazu ist die oben beschriebene
„Ordnung der Liebe” — allein sie ist für Wolf pure
Rechtstheologie. Die scheinbare Unterentwicklung der
Rechtsphilosophie Wolfs gegenüber der Rechtstheologie ist eine
prinzipielle Folge seines dialektischen Ansatzes.
45) Wohl erstmals in einem kirchlichen Dokument
erscheint die dialektische Sprachform in Gaudium et spes 4; 8 als
Ausdruck der Realdialektik einer Welt „zwischen Hoffnung und
Bedrängnis”.