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Der innere Aufbau der Kirchenlehre bei Wolf ist nicht ganz einfach, zumindest für einen Leser, der gewohnt ist, sich in einer anderen (undialektischen) Denkstruktur zu bewegen.
Aber ein genaues Verständnis der Kirchenlehre ist unumgänglich; denn die Kirche ist der eigentliche Ursprung menschlichen Rechts, noch vor jedem anderen Sozialgebilde. Wie Wolf zu Beginn seines Hauptwerkes ausgeführt hat, ist „Kirchenrecht beispielgebend . . . für jede Form menschlicher Rechtsordnung”1.
Die Mitte der Kirche ist Christus und der sündig-erlöste Mensch. Schon hier beginnt die Dialektik der Kirche.
Zunächst ist Christus das alles beherrschende Bild Gottes unter den Menschen, von dem aus alle (Vaterschaft und) Bruderschaft ihren Namen hat. Man erkennt die vertikal-horizontale Fundamentalstruktur der Christokratie und der Bruderschaft (unten 1).
Andererseits hat sich Gott in Christus in die Alltäglichkeit menschlicher Existenz entäußert; Christokratie und Bruderschaft werden realisiert unter den Bedingungen dieses Äons, von Menschen, die existentiell simul peccatores et iusti sind. Das ist das Paradox der Kirche (unten 2), das dennoch nicht die Einheit der Kirche zerstört (unten 3). Christologie und Anthropologie verbinden sich also zu der Wolf eigentümlichen „existentiellen” Gestalt der Ekklesiologie.
Es gibt ein alles beherrschendes Ordnungsprinzip des Handelns Gottes mit den Menschen. Es liegt allen Aussagen zugrunde, die über dieses Handeln gemacht werden können. Es findet sich wieder in der Kirche
1) OdK 4 f., zustimmend G. May ThRv 1961 194.
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und ihrer Ordnungsgestalt bis in die Einzelheiten der Kirchenverfassung. Deshalb ist es zugleich die Grundstruktur des Kirchenrechts und „entsprechend” des Rechts überhaupt. Aus dem Handeln Gottes ist diese Grundstruktur abzuleiten. In Christus ist sie geoffenbart, durch die Schrift und ihre Weisung bezeugt. Deshalb ist sie gottesrechtlicher Dignität und trägt ökumenischen, d.h. hier: alle Kirchen verpflichtenden Charakter2.
Diese gottgestiftete Struktur der Kirche ist formal und material zugleich. Der größeren Klarheit halber soll das logisch unterschieden, aber nicht sachlich getrennt werden. Was also bisher vorwiegend unter dem Aspekt der biblischen Weisung behandelt wurde, erscheint nun als ekklesiologische Struktur.
Die Verbindung von Vertikale und Horizontale ist die einzigartige Formalstruktur der Kirche — einzigartig, weil sie kein politisches oder soziologisches Prinzip ist, sondern unmittelbar aus der Offenbarung folgt3. Gleichwohl ist es ein formales Prinzip, das materialer Ausfüllung bedarf4.
Ein Vergleich dieser Struktur mit derjenigen der Christologie und Anthropologie erweist ihre formale Identität5.
Der Ausgangspunkt ist auch hier Gott in seiner absoluten Transzendenz. Seine Offenbarungsgnade bricht „vertikal”, „von oben nach unten” in die menschliche Geschichte ein. Die Vertikale bezeichnet also das Handeln Gottes in der Kirche.
Die Horizontale stellt die mitmenschlichen Beziehungen in der Kirche dar. Der Einbruch der Vertikalen zeigt ihre Vorläufigkeit auf und
2) RgK 261; enger OdK 66 zur christokratischen
Bruderschaft: alle reformatorischen Kirchen; ablehnend P. Landau
ZKG 1962 347: alle reformierten Kirchen; wie Wolf dagegen
Grundmann („glückliche Formulierung”!) AÖR 1959 26, 47, RGG III
1323 ff.; darüber hinaus hat Wolf ein auch für die katholische
Ekklesiologie gültiges Strukturprinzip formuliert (gegen OdK 68
f.); vgl. R. Schnackenburg 1962 179 f.
3) ZevKR 1951 307 f., RgK 258 f.
4) Dies zeigt RichtR 25, wo dieselbe Struktur (von
oben — von unten) durchaus auf staatlich-völkische Gemeinschaften
angewendet wird.
5) S.o. 290 ff. 303 ff.
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befreit sie zugleich aus ihrer Scheinhaftigkeit zu ihrem wahren Wesen. Aus bloßer Mitmenschlichkeit wird Nächstenschaft. Die Vertikale begründet, begrenzt und weist die „rechte” Horizontale.
Rechte Nächstenschaft ist aber nur möglich, wo sie über sich hinausweist, sich transzendiert. Das geschieht im Glauben als Antwort auf den Anruf des Wortes Gottes. Der Kreis schließt sich. Auf die Vertikale (von oben nach unten) folgte die Horizontale, auf diese (von unten nach oben) folgt nun wiederum die Vertikale.
Schnittpunkt und Ermöglichung von Vertikale und Horizontale ist Christus. In ihm ist der („vertikale”) Anruf Gottes an den Menschen ergangen; in ihm („Horizontale”) ist so Gott dem Menschen zum Bruder geworden. Mit Augustin, Tolstoi und Calvin (sowie mit K. Barth und der ganzen christlichen Tradition, wie wir anfügen dürfen) sagt Wolf, durch Christus erscheine Gott im Nächsten. Christus ist Vertikale und Horizontale zugleich, wahrer Gott und wahrer Mensch. Daher kommt auch die Legitimation von Christus her („von oben nach unten nach oben”), den Aufbruch zur Transzendenz zu wagen6.
Die beiden Strukturmerkmale stehen also in einem dialektischen Gegensatz, sind aber in der Person Christi zu einer Spannungseinheit verbunden. Mit anderen Worten: die Vertikale (des Gotteshandelns) begründet in Christus gnadenhaft die Horizontale wahrer Nächstenschaft und führt sie zurück zu Gott. Gotteshandeln fordert und ermöglicht Menschenhandeln; dieses verweist auf jenes; eines ergänzt das andere7.
Die Betrachtung der formalen Struktur wäre unvollständig, wenn nicht auf das doppelte Moment der Analogie hingewiesen würde.
Die Horizontale „entspricht” der Vertikalen: Gott stiftet seiner Ordnung entsprechende Mitmenschlichkeit, so geordnete Nächstenschaft entspricht ihrem stiftenden Ursprung. Aber nur der Glaube erkennt die verborgene Ähnlichkeit. Diese „Kreuzesstruktur” setzt sich anolog fort in den verschiedenen Ebenen menschlichen Seins im Recht, angefangen von der Kirche im ganzen über ihre Teilstrukturen bis hin zum weltlichen Recht.
6) RdN 16, 49 A. 1,3,24, OdK 67 f., NRL 198; K.
Barth KD IV/1 173, IV/2 498.
7) Paraphrase zu OdK 685 f.
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An sich stammt die vertikal-horizontale Betrachtungsweise der Kirche aus der Unterscheidung G. Holsteins zwischen dem herrschaftlichen und dem genossenschaftlichen Element der Kirche8. Bei ihm war das Herrschaftliche das Strukturprinzip der Geistkirche, das Genossenschaftliche das der Rechtskirche, wobei diese Terminologie dem Genossenschaftsrecht Gierkes entnommen war9.
Es wurde bereits geschildert, wie sich Wolf schon im Jahre 1936 im Grundsätzlichen von Holsteins Unterscheidung abwandte10, obwohl diese über Sohms Kirchenrechtsleugnung hinausführte und ohne Zweifel die Kirchenrechtswirklichkeit im großen und ganzen zutreffend wiedergab.
Doch bleibt sie dort erhalten, wo sie der größeren Verständlichkeit dient, und wird dann fast zu einer formal-soziologischen Rechtskategorie11.
Wo Wolf aber seine eigene Auffassung darlegt, wird die Holsteinsche Zweiteilung als unbefriedigend, ja steril abgelehnt. Sie ist nur eine positive Umkehrung der Lehren Sohms12, die dessen Kluft zwischen Gnade und Recht nicht beseitigen kann. Außerdem zeigt genauere Einsicht, daß Holsteins Theorie politische Vorstellungen seiner Zeit widerspiegelte. Aber jede noch so sublime Entlehnung politischer Ordnung gefährdet die kirchliche Eigenständigkeit und ist deshalb von Übel. Das ist übrigens nicht nur die Meinung Erik Wolfs, sondern aller hier behandelten Autoren13.
Was ist der tiefere Grund der Ablehnung? Ist doch die vertikal-horizontale Formalstruktur der Kirche bei Wolf sachlich und historisch mit dem herrschaftlich-genossenschaftlichen Prinzip Holsteins verwandt! Der Unterschied liegt erstens in der dialektischen Denkform, die Unterschiedenes zusammenzudenken vermag, zweitens in der Ablehnung aller „weltlichen” Entlehnungen.
Holstein hatte das herrschaftliche und das genossenschaftliche Element getrennten Bereichen zugeordnet (Geist- bzw. Rechtskirche) und damit deren Dialektik (Einheit in der Unterschiedenheit) übersehen. Vertikal und horizontal bestimmt ist aber jedes Tun der Kirche, auch ihr Recht.
8) Vgl. RgK 259, ThLZ 1953 38, OdK 160 A. 4;
dazu G. Holstein 1928 227 f.
9) OdK 494.
10) S.o. 277 ff.
11) Z.B. Gutachten 194, ZevKR 1951 307 f., OdK 408;
zur petrinischen und paulinischen Urgemeinde: ThLZ 1953 38,
aufgegeben RgK 259, OdK 160 ff.
12) R. Sohm kannte nur weltliches Recht und mußte
darum seine Unvereinbarkeit mit dem geistlichen Wesen der Kirche
postulieren; G. Holstein versucht demgegenüber die
Verträglichkeit ebendieses (trotz aller Unterschiede immer noch
weltlichen) Rechts mit der Kirche nachzuweisen; keiner spricht
vom geistlichen Recht.
13) ReG 260, RbW 74, RgK 259, RGG II 1332, OdK 66 ff.,
158, 494; Heckel Init. 82, Grundmann z. B. FS Arnold 52 ff.,
Dombois RdG 9, 26 f.
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Bei der Betrachtung des formalen Grundprinzips der Kirche mußten schon materiale Aussagen gemacht werden: Die Vertikale ist das Handeln Gottes, die Horizontale die Beziehung zwischen Menschen. Das ist aber nichts anderes als Christokratie (Vertikale) und Bruderschaft (Horizontale). Sie bilden die materiale Grundstruktur nicht nur der Anthropologie, wie oben gezeigt wurde, sondern auch der Kirche14 und folglich ihres Rechtes15.
Die Rang- und Reihenfolge kann nicht zweifelhaft sein: Das Herrschaftsrecht Gottes in Christus begründet, begrenzt und weist menschliches Handeln. „Vertikale” Christokratie kommt vor „horizontaler” Bruderschaft16.
Was die so verstandene Christokratie für die Kirchenverfassung bedeutet, zeigt erst die kirchenrechtliche Betrachtung; vor allem jedoch begründet die Christokratie die rechtliche Eigenständigkeit der Kirche.
Kirche ist die Gemeinde derjenigen, die an die gegenwärtige und zukünftige Herrschaft Christi über die Welt glauben. Christus der Herr ist das Haupt der Kirche. „Einer ist euer Meister.” Er ist ihr jetzt schon in seinem Leiden gegenwärtiger König. Er erwählt und beruft Menschen zu seinem lebendigen Volk, angefangen (mit dem alttestamentlichen Gottesvolk17 und) mit der Gemeinde der Jünger bis ans Ende der Tage. Daraus erwächst eine unvergleichliche Ordnung. Sie ist sui generis, unableitbar und unvergleichbar mit jeder politischen Ordnung.
Die Ordnung der Christokratie ist der innere Grund der Eigenständigkeit der Kirche18.
14) RgK 258 f., OdK 66 ff.; man kann also nicht
zwischen der Kirche als christokratischer Bruderschaft und ihrer
Verfassung als bruderschaftlicher Christokratie unterscheiden (so
G. Dickel ARG 1964 111 wohl entsprechend G. Holstein?).
15) Auch die materiale Doppelstruktur ist bei Wolf
sachlich von Anfang an da, wenn auch ihre Zuordnung und
Begründung erst später geklärt wird; vgl. ReG 260, KuR 360, RidK
763 und unten A. 16.
16) In RbW wird zunächst die Bruderschaft ausgesagt,
in RgK 261 stehen Bruderschaft und Christokratie gleichrangig
nebeneinander, in RdN 16 ff., 49 A. 4, RGG II 1331, OdK 68 geht
schließlich die Christokratie logisch und sachlich vor. Das ist
aber mehr eine terminologische Klärung, denn die Sache, der
begründende Vorrang der Christokratie, ist für Wolf stets klar
gewesen.
17) Zur alttestamentlichen „Kirche” vgl. OdK 154.
18) ReG 260, RgK 259, RdN 16 ff., OdK 67, 153 A. 6,
155.
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Aus der Vertikale der Christokratie erwächst die Horizontale der Bruderschaft in der Kirche19. Denn wenn Christus „der” Nächste ist, der uns im Mitmenschen erscheint und diesen uns zum Bruder macht, dann ist Bruderschaft mitgestiftet in der Christokratie. Christi Ruf macht den Erwählten zum Bruder und damit zum Glied der Kirche. „Einer ist euer Herr — ihr aber seid Brüder.” Keines kann ohne das andere bestehen.
Damit ist ein universal gültiges Strukturprinzip der Kirche gewonnen, das die Christokratie ergänzt. Es begründet die Gleichheit aller Dienste und Aufgaben im Gottesvolk, denn „nur einer ist der Herr”. Freilich ergibt sich daraus nicht ungegliederte Unordnung, sondern auf Freiwilligkeit beruhende „Gleichordnung und Unterordnung, Freiheit und Gehorsam, Rechte und Pflichten”, entsprechend der Verschiedenheit der Gaben.
Das Ziel des Bruderschaftsprinzips ist die von Wolf (und Grundmann gleichermaßen) angestrebte Aktivierung der Gemeinden, die „Kerngemeinde” als Ergebnis selbstverantwortlicher Mitarbeit der einzelnen Gemeindeglieder.
Die Horizontale der Bruderliebe zielt aber auch über die Grenzen der Gemeinde hinaus auf die Verantwortung für die anderen Kirchen und die Welt.
Damit ist die Ordnung der Bruderschaft der innere Grund des Dienstcharakters der Kirche.
Die beiden Strukturprinzipien in der Kirche stehen nicht unverbunden nebeneinander. Sie verhalten sich wie Vertikale und Horizontale, die sich schneiden in Christus. Sie sind in anderer Annäherung dialektische Momente, einander fordernd und ergänzend, aber in unumkehrbarer Reihenfolge von der Christokratie zur Bruderschaft, durch Analogie miteinander verbunden.
19) Zur Bruderschaft vgl. KuR 360, GrundO 151, RbW 89 f., RgK 259, RGG II 1332, RdN 16 ff., 48 A. 19, 49 A. 1, OdK 67 f., 441, OdL 10 f., PuS 191. Wolf greift damit die Anregungen der beiden ersten Weltkirchenkonferenzen von Amsterdam und Evanston zur „verantwortlichen Gesellschaft” (J.H. Oldham) auf. Zu „Kirche und Brüderlichkeit” in kath. Sicht vgl. z.B. B. Langemeyer ThGl 1965, J. Ratzinger Der Seelsorger 1958.
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Hervorgehoben sei noch die auch sprachlich — seit 1952 — durchgeführte Kreuzesform: bruderschaftliche Christokratie und christokratische Bruderschaft. Dieser Chiasmus ist kein Spiel mit Worten, auch kein Pleonasmus20. Vielmehr ist er die genauere Formulierung der dialektisch-analogen Struktur der Kirche. Die Christokratie ist bruderschaftlich, weil Christus in seiner Herrschaft in die brüderliche Nähe aller Menschen gekommen ist und sie zu untrennbarer Bruderschaft in der Kirche verbindet. Diese Bruderschaft ist christokratisch, weil sie durch Christi Herrschaft begründet und gestiftet ist. Christi Herrschaft fordert und ermöglicht menschliche Bruderschaft, menschliche Bruderschaft vollendet Christi Herrschaft21.
Nun ist noch die christokratisch-bruderschaftliche Konzeption der Kirche an Hand einiger verwandter Begriffe22 abzugrenzen und zu erläutern.
Reich Gottes und Kirche stehen in engem Bezug. Weder „katholische”23 Identifizierung noch „evangelische” Zertrennung von Kirche und Reich Gottes treffen zu. Erst recht ist das Gottesreich kein „innerliches” Geschehen; es ist nicht überweltlich und nicht innerweltlich, denn die βασιλεία τοῦ θεοῦ ist nahe herbeigekommen, sie steht mitten unter uns, sie ist in, wenn auch nicht von dieser Welt. Sie bricht an und „ist” doch noch nicht. Deshalb „ist” die Kirche das Gottesreich und „ist” es doch noch nicht; denn sie ist durch die Paradoxie christlicher Existenz von ihm getrennt.
20) Anders noch RgK 261.
21) RbW 90, RgK 258 f., 261, RdN 17, OdK 67 f. Es ist
klar, daß es sich wieder um die Wolf eigentümliche Form der
Dialektik handelt, die hier Sprachgestalt gewonnen hat; ebenso
liegt zutage, daß Bruderschaft Christi und Bruderschaft der
Christen nicht gleichsinnig ist, sondern analog, und zwar
glaubensanalog, weil menschliche Bruderschaft nur kraft Glaubens
als christliche, von Christus her begründete eingesehen und
verwirklicht wird.
22) Das Reich (regnum) Christi ist (wo es
nicht als terminus technicus der Zweireichelehre
verwendet wird) gleich dem Reich Gottes. Es verwirklicht sich
abbildlich in der Kirche, ist insofern nicht von, aber in dieser
Welt (OdK 157, 355 ff., 459, 520, DO 54). Der Leib Christi
dagegen ist das Volk Gottes (s. u. 334 ff. i. V. m. 359). Zu
congregatio, Stiftung und Anstalt s.u. 362.
23) OdK 50, 154; dagegen mit Recht G. May ThRv 1961
197.
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Das Gottesreich ist die anhebende Gottesherrschaft, die Christus verkündet hat; also das regimen oder Reich Christi, das im Alten Testament seinen Anfang nahm, in Wort und Tat Christi da ist und am Ende der Tage offenbar werden wird. Vergangener, gegenwärtiger und vor allem zukünftiger Aspekt der Christokratie kommen im Gottesreich zur Darstellung24.
Das Gottesvolk ist vom Reich Gottes zu unterscheiden, mit der Kirche aber gleichzusetzen. Denn es ist einmal das Reichsvolk des Gottesreiches, oder anders: die christokratische Bruderschaft; König und Volk stehen sich insoweit gegenüber25. Zum anderen „repräsentiert” das Gottesvolk das Reich Gottes, ist sein „Abbild”; hier verbirgt sich das Ineinander von Christokratie und Bruderschaft.
Dabei ist „Volk” nicht ein „völkischer” Begriff, auch nicht der „kirchen”-politische des vorigen Jahrhunderts; sondern mit Calvin die alt- und neutestamentliche Bundesgemeinde, die Gott aus den Völkern erwählt und erlöst hat; also alle sancti im biblischen Sinn, wobei es auf ihre Sündhaftigkeit nicht ankommt, sondern allein auf das Handeln Gottes26.
Der Begriff „Gemeinde” ist fast ein Kompendium der Kirchenlehre. Er bezeichnet je nach Zusammenhang Verschiedenes. Im Vordergrund steht ein „dialektischer” Gemeindebegriff.
24) ReG 265, RbW 92, OdK 152-155, GuN 644 f.;
ebd. als neuer Äon. Zu Recht tritt der „räumliche” Aspekt des
„Reichs” Gottes zurück.
25) Die Wahrung des (fast polaren) Gegenüber von
Christus und Kirche ist ein wichtiges Anliegen jeder
reformatorischen Ekklesiologie gegenüber der „katholischen” Sicht
der Kirche als „Verlängerung” der Inkarnation. Wolfs dialektische
Analogie von Gottesreich und Kirche überwindet auch diese falsche
Antithese.
26) OdK ebd. und 29, RbW 43, 73, zu Calvin vgl. Calv.
19, zur Überwindung des „Völkischen” RidK 138, der
„kirchenpolitischen” Übernahme „demokratischer” Vorstellungen
z.B. OdK 119, und allgemein zu Kirchenvolk-Volkskirche OdK 116
ff. Es ist dabei nicht so sehr auf das zukünftige Urteil Gottes
am Ende der Tage abgestellt, denn dieses deckt sich kraft der
praescientia Dei notwendig mit seiner Erwählung. Die
spezifisch heilsgeschichtliche Sicht des gegenwärtig durch die
Geschichte wandernden sichtbaren Gottesvolkes tritt allerdings
zurück, entsprechend dem von Barth geprägten
Geschichtsverständnis Wolfs.
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„Die” Gemeinde ist die dialektische Einheit der theologischen „Gemeinde” mit den soziologisch-vorfindlichen „Gemeinden”.
Die „theologische” Gemeinde ist die „Gemeinde Christi”, identisch mit dem Volk Gottes als dem Kreis der Erwählten; sie ist die Darstellung des Reiches Gottes auf Erden, ist also im Wesen „,schon da’ und doch ,noch nicht’ da”27.
Weniger prägnant, doch im gleichen Sinne, hebt „Gemeinde” die „geistliche” Seite der Kirche hervor28. Sie ist durchaus rechtlich verfaßt, nämlich in der Kreuzesform der Christokratie und Bruderschaft29.
Sie tritt in verschiedener Gestalt auf („Verkündigungsgemeinde”, „Ereignisgemeinde”, „Gemeinde der Zwei oder Drei”)30. Besonders wichtig ist die Konzeption der Kerngemeinde, die im Kirchenkampf von der dialektischen Theologie übernommen wurde und der auch Wolf zuneigt31.
Die „Gemeinden” (im [kirchen-]soziologischen Sinn), unter den verschiedensten Formen existierend, zudem weithin theologisch denaturiert, sind nur insoweit wahre Gemeinde, als die Gemeinde Christi in Gottesdienst und Bekenntnis verantwortlich in ihnen lebt32.
Diese doppelte Gestalt der Gemeinde ist Ausdruck der dialektischen Existenz der Kirche: zwar nicht von, wohl aber in der Welt.
Die Anwendung dieser Dialektik auf das Verhältnis von Einzelgemeinde und Gesamtkirche (ecclesia particularis und ecclesia universalis) ergibt: Die Kirche ist zwar historisch aus Einzelgemeinden entstanden; aber weder ist allein die Einzelgemeinde noch die Gesamtkirche „die” Kirche. Vielmehr sind die vielen Gemeinden sowohl je für sich einzigartige „repraesentatio christokratischer Bruderschaft” als auch verbunden
27) RbW 58, OdK 408, 569, 586 ff.; RbW 92, OdK
153-156.
28) Vgl. die Stellen, wo Kirche und Gemeinde scheinbar
in eins gesetzt werden, z.B. RidK 763, 825, KuR 354, RbW 71.
29) KuR 361, RgK 257 f., ThLZ 1953 39, RGG II
1329.
30) KuR 356, OdK 29, 163 A. 4, 502, 589 ff.; zur
Hausgemeinde vgl. OdK 584, 591 A. 3; ebenso (!) Grundmann ThLZ
1962 340.
31) RidK 825, OdK 406 ff., 589 ff.; unten 382 ff.
32) RbW 78 f., OdK 408 f., 585. Der Gegensatz von
Glaubensgemeinde und organisierter Kirche ist also falsch; auch
sie sind dialektisch eins, RGG II 1329 f., OdK 591 A. 3 gegen NdK
1072, 1077.
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zum einen Leib Christi. Die Einzelgemeinde ist „Kirche” also nur in Verbindung mit der Gesamtkirche; die Gesamtkirche ist „Gemeinde Christi” nur auf der Grundlage lebendiger und verantwortlicher Einzelgemeinden. Es gilt auch hier das dialektische Prinzip der Einheit in der Unterschiedenheit33.
Ungern nur gebraucht Wolf „Gemeinde” als Komplementbegriff zum Amt; denn die Spaltung der Gemeinde in das herrschaftliche Amt und die genossenschaftliche Gemeinde ist i.S. ihrer dialektischen Einheit überwunden34.
Bisher wurde die Kirche rein christologisch betrachtet; sogar die Bruderschaft war aus der Christokratie abgeleitet und darum christokratische Bruderschaft. Reicht das aus, um die irdische Wirklichkeit der Kirche zu beschreiben? Wolf verneint diese Frage. Man muß die Anthropologie hinzunehmen. Erst Christologie und Anthropologie ergeben das ganze Bild1.
Welche Anthropologie? Es ist die paradoxe Anthropologie des homo simul peccator et iustus, die nur in der christlichen Existenz einen Sinn erhält. Christologie und existentielle Anthropologie zusammen ergeben das Paradox der geistlich-weltlichen Kirche.
33) Damit ist sowohl das einseitige
„Gemeindeprinzip” (i.e.S., z.B. W. Hildebrandts) als auch das
„Kirchenprinzip” (z.B. P. Althaus') abgelehnt. ThLZ 1953 38 f.,
RGG II 1330 ff., OdK 69 f., 163, 170, 569, OdL 7, 12. Mit dieser
Gemeindeauffassung will Wolf sowohl der individualistischen wie
der spiritualistischen Entartung wehren, die „Pastorenkirche”
durch eine Aktivierung der „Laien” aus ihrer Erstarrung lösen
(ein gemeinsames Anliegen der hier behandelten Autoren!, vgl. RbW
71, RgK 259; Heckel oben 88 ff.; Grundmann ThLZ 1962 338 A. 60
m.w. Belegen; Dombois RdG 382 u.ö.) und sie zum beispielhaften
sozialen Engagement in der Welt befähigen, RbW 78 f.; stärker
noch Zwingli, Zwingli 179, 187, und Calvin, Reich 76 ff.
34) KuR 361, RGG II 1330, OdK 564 ff. gegen ReG 260,
RidK 762 f.
1) Der doppelte ekklesiologische Ansatz ist überaus
wichtig zur Einordnung. Er bedeutet u.a., daß Wolf nicht nur vom
2. Glaubensartikel ausgeht.
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Die Kirche ist in der Welt, aber sie ist nicht von dieser Welt. Das will sagen: die christokratisch-bruderschaftliche Kirche lebt unter den Bedingungen dieser „natürlich-vernünftig-geschichtlichen Welt”. Zugleich aber ist sie im Kern anders als die Welt2.
Auch die anderen hier behandelten Autoren würden bis dahin nicht widersprechen3. Aber nun sagt Wolf, scheinbar im schroffen Gegensatz zu Heckel: Die Kirche ist „geistlich” und „weltlich” zugleich4.
Aber was heißt geistlich, was weltlich? Gehört die Kirche auch zum Weltreich unter dem Fürsten dieser Welt?
„Geistlich” ist sie, sofern sie Ort der Begegnung mit Gott ist und deshalb Heilscharakter trägt; geistlich ist sie weiterhin, soweit in ihr die Gottesherrschaft jetzt schon repräsentiert wird, sie also gegenwärtige Christokratie ist; geistlich ist sie schließlich, insofern sie auf die kommende Gottesherrschaft am Ende der Zeiten verweist, also in ihrer jenseitigen Bestimmung. Die Kirche kommt vom Handeln Gottes her und führt zu ihm hin. Diese Transzendenz ist sowohl ihrem Sein wie ihrem Sollen eigen; sie trägt ihre ganze Existenz5.
„Weltlich” (oder, wie Wolf bemerkenswerterweise oft sagt, „zeitlich”) ist die Kirche, weil sie unter den geschichtlichen Bedingungen dieser Welt existiert, weil sie also (auch) menschlich-„natürlich” ist. „Natürlich” meint, entsprechend dem existentiellen Ansatz Wolfs, die (tatsächlich) sündige Natur des Menschen, die auch beim Erlösten nur anfanghaft überwunden wird und sich der Kirche mitteilt. Damit wird in der Kirche die Spannung von Gnade und Sünde vorgefunden6.
2) ReG 263 (noch im Anschluß an G. Holstein);
RGG III 1506, OdK V, 5 f., 159, 501.
3) Vgl. Heckel KuK 271, Grundmann FiLex 3 184; Dombois
sagt das nicht ausdrücklich, zählt aber die Kirche zur
geistlichen, nicht zur weltlichen Institution.
4) ReG 263, ReG (5) 254 f., OdK 140 — wobei zu
beachten ist, daß „geistlich-weltlich” 1934 noch unter Einfluß
Holsteins, also anders gefaßt ist als 1961.
5) RbW 37, OdK V, 5 f., 52, 140, 154 f. und oben 333
ff. Zu extra ecclesiam nulla salus vgl. die zutreffende
Deutung OdK 52, 64; für Luther siehe Heckel Lex 119 m. A. 953 f.
Vgl. schon M.A. Langensee 1717 46 f.: haud difficulter a
nobis conceditur . . . enim ecclesia proprie sie dicta
intelligatur, quae coniunctione vere credentium cum Christo . . .
absoluitur, adeoque oculis mortalium, quamdiu in hocce orbe
versantur, conspici nequit. Der Unterschied von Innen und
Außen hat bei Wolf mit geistlich und weltlich nichts zu tun
(Inneres kann weltlich, Äußeres geistlich sein, RbW 36, 76, RO
327, OdK 499): Außen und Innen sind untrennbar (ReG 259 f., OdK
747), wie an Wort und Sakrament erkannt wird (Akad.).
6) ReG 263, RbW 37, DO 53 f., 58, OdK V, 5 f., 8,
21,140, 590.
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Überblickt man, weshalb die Kirche geistlich und weltlich, in, aber nicht von der Welt ist, so sind es im wesentlichen zwei Begründungen. Die erste ist (i.e.S.) theologisch: Geistlich ist das Reich Gottes, das in die Welt eindringt. Die zweite ist (i.e.S.) anthropologisch-existentiell: Auch der Erlöste ist immer noch faktisch sündig. Kirche ist der Ort, wo beides zusammentrifft.
Man kann einwenden, daß hier zwei völlig verschiedene Begriffe von „weltlich” durcheinandergeworfen seien7, so verschieden wie die zwei Reiche; die Weltlichkeit des Erwählten sei doch eine ganz andere als die des Ungläubigen. Darin liegt ein gut Teil Wahrheit; der Kampf des kommenden und „dieses” Äons scheint in der Tat zu wenig zum Ausdruck zu kommen. Darf man vorschlagen, zwischen „welthafter” Kirche und „weltlicher” Welt zu unterscheiden?
Aber man muß auch zugeben, daß Wolf einen Blickpunkt gewählt hat (den der Christokratie und einer existentiellen Anthropologie), von dem aus gerade dieser Unterschied (fast) verschwindet. Und wenn der Blickpunkt legitim ist (man vergleiche unter diesem Aspekt Augustin und Origenes!), dann ist es auch das Ergebnis solcher Sicht — wenn man sie nicht verabsolutiert. Aber Erik Wolf wäre der letzte, gegen den ein solcher Vorwurf erhoben werden könnte.
So waltet nun im Seinsgrund der Kirche eine paradoxe und dynamische Dialektik von anbrechender Gottesherrschafl und sündiger Menschlichkeit. Die Kirche repräsentiert die βασιλεία und ist soziologische Realität. Die ecclesia militans wird dadurch zu einer einzigartigen paradoxen Verbindung von Göttlichem und menschlich-Sündigem, eine societas sui generis. Sie ist Gemeinschaft der Heiligen, aber in Gestalt einer Gesellschaft gewöhnlicher Menschen.
Die Paradoxie der geistlich-weltlichen Kirche ist der einzige legitime Gegensatz in der Kirche. Alle anderen sind nur scheinbar. Damit ist eine wichtige Vorentscheidung für das Kirchenrecht gefällt: Es ist Ordnung des Paradox der Kirche. Aber ist damit die Einheit der Kirche gewahrt?
7) Vgl. zum weltlichen Charakter der Kirche und dem geistlichen des Staates OdK 140 (geistlich heißt hier: der Christokratie unterliegend!); ähnlich EStL 833 (weltliches Recht = einschließlich ius mere ecclesiasticum).
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Ein dialektischer Dreischritt kennzeichnet Wolfs Bild von der Kirche — ein Dreischritt unhegelianischer Art.
Der erste Schritt war charakterisiert durch die theologisch-christologische Fundamentalstruktur der Kirche als Christokratie und Bruderschaft; ihm folgte als zweiter das anthropologische Paradox der Kirche. Das drohende Auseinanderfallen verhütet der dritte. Die eschatologische Einheit von bruderschaftlicher Christokratie und anthropologischem Paradox wird verwirklicht in der „ökumenischen Kirche” (unten a) als Aufgabe „christlicher Existenz” (b). Zweigliedrig ist also auch die Einheit der Kirche. Darauf wird sich gründen ein Kirchenrecht „auf ökumenischer Basis” „als Funktion christlicher Existenz”.
Unter dem Begriff der ökumenischen Kirche soll zusammengefaßt werden, was Wolf zur ökumenizität der Kirche vorträgt. Er definiert sie selbst: „Die ökumenische Kirche ist die Gemeinschaft aller Menschen, die Jesus Christus, wie er in der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testamentes bezeugt ist, als göttlichen Erlöser von der Macht der Sünde bekennen und als ihren Herrn anerkennen.” Das sind die Anfangsworte der Verfassung des ökumenischen Rates der Kirchen. Wolf hat damit Widerspruch gefunden; diese ökumenische Kirche sei eine Fiktion; andere verstanden diesen Ökumenismus gar als „platten Idealismus”1.
Beide Urteile bedürfen der Revision. Denn obige Definition sagt weniger und mehr als Wolf selbst sagen will.
Die „ökumenische Kirche” Wolfs kann umschrieben werden als die im Ursprung eine, in der Gegenwart zerspaltene, in der endgültigen Zukunft geeinte Kirche. „Ökumenisch” ist hier ontologisch (im Sein der Kirche begründet) und ethisch (als Aufgabe gestellt), dialektisch (als Einheit in der Unterschiedenheit) und theologisch (auf das eschatologische Ziel gerichtet) verstanden; vom rechtlichen Aspekt wird noch im Kirchenrecht zu handeln sein.
1) OdK 24; Verf.ÖkRdK I S. 1; G. May ThRv 1961 195, Dombois RdG 60.
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Die Einheit der Kirche ist ihr von Anbeginn durch Christus eingestiftet. Daher ist die Einheit unverlierbarer Wesenszug der Kirche. Ihre Ökumenizität ist Offenbarungstatbestand. Sie ist damit zugleich Verheißung an alle, die der Erlösung (Erwählung) teilhaftig geworden sind.
Ihre theologische Begründung liegt in der Einheit Gottes, in der einen Herrschaft Christi, in der Einheit des Heiligen Geistes; eine ist die Erlösung, eine Taufe zu einem Leib, ein Wort.
Die Gabe der Einheit ist zugleich Aufgabe. Für alle, die auf Seinen Namen getauft sind, hat der Herr gebetet, ut omnes unum sint. Das entbindet sie nicht davon, „in der Zerstreuung die ökumenische Einigung anzustreben”. Nicht nur die Verheißung, sondern auch die Aufgabe der Einheit begleitet die Christenheit vom Ursprung her durch die Zeiten. Die Weisung der Schrift gebietet die Einheit nach innen den Enthusiasten und Häretikern, nach außen den Juden und Heiden.
Die konkrete Ordnungsgestalt des verpflichtenden Anfangs ökumenischer Einheit ist die Jüngergemeinde mit ihrer dialektischen Entfaltung, den verschiedenen Gemeindetypen der Urkirche. Ihre Grundstruktur ist die der bruderschaftlichen Christokratie und der christokratischen Bruderschaft2.
In der Gegenwart finden sich die Christen in der konfessionellen Zersplitterung vor. Auch jetzt noch gibt es die ökumenische Kirche; doch ist ihre Spur schwerer zu erkennen.
Wolf huldigt nicht der branch-theory, die alle Konfessionen Äste und Zweige an dem einen Baum Christi sein läßt. Dieser allzu bequeme Ausweg mißachtet sowohl die biblische Weisung zur Einheit wie die Frage nach der Wahrheit. Die Trennung der Kirchen ist ein Zeichen der Unordnung, die Spaltung ein Ärgernis, das auch nicht durch das Paradox der Kirche zu rechtfertigen ist3.
Es geht auch nicht an, die Gegensätze zu harmonisieren. Die Gefahren eines vorschnellen „Ökumenismus” sind bekannt: Man neigt zu
2) RgK 261, OdK 8 f., 21, 25, 27, 66, 151, PuS
190 f.
3) OdK 8 f., 21. Wolf geht es vor allem um die
Spaltungen der abendländischen Kirche; die Ostkirchen sind nicht
vergessen (OdK 32-36), aber auch nicht eigens in die Betrachtung
einbezogen.
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billigen „Unionen”, die sich nicht bewähren, nimmt enthusiastisch Kommendes vorweg und vergißt die Wirklichkeit.
Ökumenisch ist auch nicht, eine „Summe” aller divergierenden Glaubenssätze zu finden oder einen „ökumenischen” Rest nach Abzug aller Differenzen zu destillieren4.
Von alledem hält Wolf nicht viel. Die Einheit der Kirche ist tiefer begründet. Sie ruht in der anfänglichen ökumenizität der Kirche, die ihr unverlierbar eingestiftet ist. Sie kann deshalb nicht völlig verlorengehen. Sie wird auch jetzt noch erkannt an den vestigia und notae ecclesiae, die zugleich Merkmale der ökumenischen Kirche sind.
Hier ist zu unterscheiden zwischen der „großen” Ökumene, die alle Kirchen umfaßt, und den Teil Verwirklichungen: dem ökumenischen Rat der Kirchen, der katholischen Kirche, den Ostkirchen, den Kirchen der Reformation usf. Allen gemeinsam ist der Glaube an Jesus Christus, die Taufe, die Predigt, das Abendmahl, die Schrift; es divergieren nur die Interpretationen. Die Kirchen der Reformation weisen darüber hinaus die Anerkennung der Christokratie und Bruderschaft und des dreifachen sola gratia, sola fide, sola scriptura auf; auch die bekannte Definition der Confessio Augustana Art. VII ecclesia est congregatio sanctorum in qua recte docetur Evangelium et recte administrantur sacramenta zählt zu ihrem gemeinsamen Gut. Die reformierten Kirchen gehen noch weiter: Sie bejahen die von Gott eingesetzte Kirchenordnung und die Anerkennung der Christokratie auch über die Welt als Kennzeichen wahrer Kirche5.
Heute ist die Einheit der Kirche nicht erreichter Bestand; mehr denn je ist sie verpflichtende Aufgabe. Die vorhandene Gemeinsamkeit ist nur Anfang; es gilt die strenge Verpflichtung, der inneren Einheit auch die äußere folgen zu lassen, die allseits anerkannte Christokratie auch zur Rechtsgestalt zu bringen. Damit wird der Rechtsbereich betreten. Es besteht nicht nur die Glaubens-, sondern auch die Rechtspflicht zur Einigung im Rahmen des jeweils geschichtlich Möglichen.
Wie hat man sich das vorzustellen? Vor allem heißt es, das Trennende nicht zu betonen, sondern das Einigende zu stärken. Es geht also zunächst um eine Änderung der Gesinnung. Die Kirche soll sich wieder als „Einigungs-Gemeinschaft” verstehen. Die Gesinnung führt zum
4) EKD 85, GrundO 149 f., OdK 21 ff.
5) RbW 67, 69, 82, RgK 256, OdK V f., 66, 75, 77, 498
f., 725.
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Tun, auch und gerade zu rechtlichem Tun. Sogar der Kompromiß ist geboten, wo er Ausdruck christokratischer Bruderschaft ist. Über das Zwischenstadium gemeinsamen Bekennens muß man zur Synthese eines künftigen gemeinsamen Bekenntnisses gelangen6. Dabei soll der gemeinsame Ursprung verpflichtendes Leitbild sein, getreu der Konzeption der biblischen Weisung.
Es existiert also jetzt schon eine dialektische „Einheit trotz Verschiedenheit” zwischen der katholischen und der evangelischen Kirche, und eine „Einheit in der Verschiedenheit” innerhalb der evangelischen Kirchen; diese dialektische und christozentrische Einheit muß wegen der Stiftung Christi als anfanghaft, aber dennoch real vorhanden bezeichnet werden7.
Fast zu sehr ist der Gegenwartsaspekt der ökumenischen Kirche zur Geltung gekommen; denn mit konstitutiv für sie ist das zukünftiges-chatologische Element, ihr teleologisches Verständnis. Wolf hat es (mißverständlich) als „johanneisch” bezeichnet. Aber es handelt sich nicht um eine utopische „joachitische Spekulation”8. Ob es wirklich einen johanneischen Gemeindetypus in der Urkirche gegeben hat, mag dahinstehen; wichtiger ist das Gemeinte: Die johanneische ist die ökumenische Kirche, insofern in ihr im Anfang verborgen, zwischen den Zeiten ereignishaft wachsend und erst am Ende voll in Erscheinung tretend die volle geistliche Einheit im Entstehen ist. Es gibt keinen endgültigen innerweltlichen Ausgleich. Sie ist die Vereinigung der in der Zeit konvergierenden Ansätze ökumenischer Ordnung im Überzeitlichen, also der Zielpunkt der Kirche9.
Damit kommt man zu dem überraschenden Ergebnis: Die ökumenische
6) E. Schlink hat gezeigt, daß dieser Weg
dogmatisch möglich und praktisch sinnvoll ist!, vgl. Schlink KuD
1957. Wolf denkt dabei wohl an eine nach Art eines geistlichen
Bundes verfaßte Kirche (s.u. 379 f.41); auch das
Vorbild der konsensunierten badischen Landeskirche und vor allem
die Erfahrungen in der Bekennenden Kirche und bei der Schaffung
der Verfassung der EKD (bei der Wolf mitgewirkt hat, A. Erler
ThLZ 1950 357) mögen mitspielen.
7) EKD 85, GrundO 149 f., RgK 261, OdK VI, 9 f., 21,
25, 75, 714, 721, 747.
8) Anders Dombois RdG 59. Dazu u. 467 f.7.
— „Johanneische Kirche” stammt übrigens (mit ähnlichem Sinn) von
J.H. Wichern (F.A. Mahling NKZ 1915 571 ff.).
9) Damit rückt die zukünftig-ökumenische Kirche bis
zur Identität an das Reich Gottes (s.o. 333 f.); darum ist sie
hier eingeordnet und nicht mit Wolf als Telos der Urkirche (OdK
164 f.).
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Kirche ist nichts anderes als das anbrechende Reich Gottes, oder anders: der „Leib Christi” unter seinem Haupt Christus, oder wieder anders: die „unsichtbare Kirche” der Erwählten10. Das Aufregende daran ist, daß auf dieser überzeitlichen Basis der ökumenischen Kirche das ökumenische Kirchenrecht Wolfs steht! — eine nicht nur formale Parallele zum geistlichen Recht Heckels, das auf der eschatologischen ecclesia spiritualis11 beruht.
Der anthropologische Aspekt der Einheit der Kirche ist die „christliche Existenz”. In ihr treffen alle Paradoxien der Kirche zusammen und sind zur Bewältigung aufgegeben.
Man ist verwundert, wenn man diesen Begriff im Zusammenhang mit der Kirche liest. Aber „Kirche” und christliche Existenz sind sogar in bestimmter Hinsicht das gleiche.
Kein anderer Begriff ist so sehr geeignet, das von Wolf Gemeinte wiederzugeben. Denn die „Existenz” ist nicht eindeutig und abstrakt, sondern komplex und konkret gefaßt. Sie begreift in sich nicht nur die Spannung, ja den Konflikt von weltlich und geistlich, sondern auch die immanenten Gegensätze von Individuum und Gemeinschaft12, von existentia und essentia, Sein und Sollen; Existenz vermag ihr eigenes In-Ordnung-Sein in sich zu enthalten13, damit sogar das sich bildende Recht. Sie ist nicht nur „Natur”, sondern auch „Gnade”14. Sie umfaßt die Immanenz der Geschichte und die Transzendenz des Heils, denn christliche Existenz ist der geschichtliche Ort der Erscheinung des zukünftigen Reiches Gottes15.
10) Dazu RgK 261, OdK 22 ff., 164, 747; vgl.
oben 333 ff., unten 358 f.
11) Wolf nennt die ökumenische Kirche gelegentlich die
ecclesia universalis, OdK 9.
12) Vgl. die Verbindungen „gemeinschaftliche”,
„soziale”, „gemeindliche”, „kirchliche Existenz”; dazu oben 281
ff.
13) Aber nicht stets und notwendigerweise! Die
existentialistische Version der „normativen Kraft des Faktischen”
wird ausdrücklich abgelehnt, RdN 14 (4.).
14) „Natur und Gnade, die beiden Existentialien
christlicher Existenz”, oben 300.
15) RbW 64, OdK 14, 22, 29. Wenn man sich der
rechtsphilosophischen und -theologischen Entwicklung entsinnt,
erkennt man einige Anknüpfungen. Die „ethische Existenz”
Grisebachs hieß den Menschen, in den dialogisch-dialektischen
Gegensätzen der Gemeinschaft verantwortlich zu leben; die
Lask-Rickertsche Kulturphilosophie lehrte die
Strukturverschlingung von Sein und Sollen; der
sozial-existentielle Realismus der 30er Jahre verkündete noch
einmal die ganz in der Gemeinschaft verankerte ➝
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Die Mitte dieser Existenz aber ist Christus. Er deckt die „unaufhebbare Antinomie des Daseins, die offenkundige Paradoxie christlicher Existenz” auf, in der der Konflikt von Christusherrschaft und sündigem In-der-Welt-Sein zum Austrag kommt. Erst in Christus wird das dialektische Paradox in seiner ganzen Tragweite erkannt — und überwunden.
Die „christliche Existenz als Kirche” umfaßt alle Paradoxien gläubiger Existenz. Sie ist die Koexistenz von Sünde und Erlösung und von Kirche und Welt, die durch die Entäußerung unseres Herrn ermöglicht und getragen wird, damit wenigstens so viel an Ordnung geschieht, wie in der gefallenen Schöpfung möglich ist, damit vor allem der Welt die frohe Botschaft verkündigt werden und die verborgene Christokratie zur Offenbarkeit gelangen kann16.
Zugleich birgt die existentielle Kirche die Dialektik von Christokratie und Bruderschaft als gelebte Wirklichkeit, noch vor jeder Lehre darüber. Sie beginnt historisch mit der Jüngergemeinde, setzt sich fort überall, wo die Gemeinde der „Zwei oder Drei” zusammenkommt, aber darüber hinaus nicht nur im „Ereignis des Geistes”, sondern ebenso in der Institution der Kirche. Das alles ist christliche Existenz. Und wenn man nach ihrer Herzmitte fragt, so ist es der im Wort verborgene gegenwärtige Christus, oder anders: der Gottesdienst, die Verkündigung und die Mission17. Dieser ihr Einheitspunkt („Seinsgrund”) ist nicht rationalisierbar, sowenig die Gnade überhaupt definiert werden kann18; gleichwohl ist er im Glauben erfahrbar.
➝ Person. Immer deutlicher zeichnete sich auch die
Ablehnung jedes einseitig aktualistischen und natürlich des
individualistischen „Existentialismus” ab (s.o. 263 ff. 316 [a
2]; ThLZ 1957 66 f., RdN 14, OdK 19, PuS 189 f.). Die
theologischen Wurzeln der „christlichen Existenz” liegen nicht
nur in K. Barths berühmtem Vortrag 1933 über die „Theologische
Existenz heute”, sondern ebensosehr in der „religiösen Existenz”
Kierkegaards, vor allem aber in der Rechtstheologie der
„gläubigen Existenz” 1936/37.
16) RbW 64, OdK 12, 17 A. 1, 21 f., 29, 153, 353.
17) OdK 23, 28 f., 499, 590, 601. Zur Gemeinde der
Zwei oder Drei s.o. 335 m. A. 30. Ernst Wolf formuliert das
„christokratische” Anliegen „christlicher Existenz”: Sie legt
Zeugnis ab für die Herrlichkeit des anbrechenden Reiches Gottes
(II 211); er zitiert dazu aus der Apologie (einer lutherischen
Bekenntnisschrift): per haec opera triumphat Christus
adversus diabolum (ebd. 215, BS Apol. IV 189 ff.).
18) Nichtdefinierbarkeit der Gnade: OdK 6 f.;
der Kirche: OdK 67; jedes geistigen Sachverhalts, auch des
Rechts: RichtR 6, ReG (5) 246, RuL 500, PuS 195; der Existenz:
OdL 17 A. 32 nach Kierkegaard. Zwei Momente also: die
Undefinierbarkeit der Gnade und „entsprechend” der Existenz —
ähnlich übrigens Radbruch, aber wegen der Vielfalt möglicher
Aspekte (Radbr. 490, s.u. 429).
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Deshalb weitet sich die paradoxe Existentialdialektik zur analogia fidei. Christliche Existenz verwirklicht das „von oben” her anbrechende Reich Gottes als „entsprechende” (unähnlich-ähnliche) geschichtliche Kirche „zwischen den Zeiten”. Das Reich Gottes prägt als ökumenische Kirche die lebendige Verfassung der Kirche, die darum in dieser Welt vorbildlich ist, weil sie „zu möglicher Transzendenz strukturell geöffnet” ist und somit „von unten nach oben” zurückverweist auf die Nähe und Größe Gottes19.
Vielleicht darf der Ertrag dieser Kirchenlehre so zusammengefaßt werden: Kirche ist der existentielle Ort von Christologie und (theologischer) Anthropologie, die geschichtlich-analoge Repräsentation des Reiches Gottes in der Paradoxie christlicher Existenz.
Die Ordnung dieser christlichen Existenz ist das Kirchenrecht. Das ist das letzte Kapitel der Rechtstheologie Erik Wolfs.
19) OdK 1 A. 3, 5 f., 16 f., 21, 29, 154 f.; zur ecclesia militans OdK 7, 499; zur Glaubensanalogie vgl. oben 305 m. A. 26.