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Die Grundlage der Rechtstheologie Erik Wolfs ist das Wort Gottes in seiner Rechtsform, der „biblischen Weisung”1. Systematische und positive Gesichtspunkte sind in ihr vereint. Ihre Entstehung (unten 1) führt noch einmal zurück zur Rechtsphilosophie, deren Ungenügen negative Voraussetzung der biblischen Weisung ist. Ihre zentrale positive Voraussetzung ist die universale Königsherrschaft Christi, die auf dem Hintergrund eines bestimmten Gottesbildes zu verstehen ist (2). Das führt zu einem christozentrischen und personalistischen Schriftverständnis (3), dessen Grundthese die der Einheit beider Testamente ist, und zu einer ebenso christozentrischen Anthropologie der „bruderschaftlichen Christokratie” und der „christokratischen Bruderschaft” (4). Jetzt erst können im engeren Sinn juristische Themen erörtert werden, nämlich die dreifache Funktion der biblischen Weisung als Grund, Grenze und Ziel des menschlichen Rechts (5), die Bestimmung ihrer Rechtsnatur (6), ihr Geltungsbereich („Geschichtlichkeit”, 7) und ihr Inhalt (8). Die Erörterung gewisser offener Fragen (9) soll einige wenige kritische Beobachtungen beisteuern, vor allem aber die große ökumenische Bedeutung dieser Rechtstheologie durch einen kurzen Hinweis auf den methodischen Fortschritt gegenüber der bisherigen Rechtstheologie hervorheben.
1) Im folgenden „b. W.”; später auch Biblische Weisung, vgl. nebeneinander OdK 460 f., 466, 469. Daneben gibt es noch apostolische (RbW 11, Beispiele Bibel 288, OdK 166), Vorsteher- (OdK ebd.), Geistweisung (OdK 165) und Weisungen z.B. des 1. Klemensbriefes (OdK 195), der Grundordnung der EKD (GrundO 181), des „Kirchenrechts der christlichen Frühzeit” (ZevKR 1951 307). Weisung erscheint gelegentlich (z.B. ZevKR ebd.) i.e.S. als positive Zielweisung im Gegensatz zur negativen Grenzsetzung (s.u. 312 f.), wovon aber im weiteren der Klarheit halber abgesehen wird.
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Nach und nach wird die biblische Weisung zum wichtigsten Begriff der theologischen Begründung des Rechts.
Das ist meist eine einzelne Bibelstelle (sei es des Alten, sei es des Neuen Testamentes), die auf ihren Rechtsgehalt geprüft wird. Daraus ergeben sich dann göttliche „Weisungen” für das menschliche Recht. Sie begründen und begrenzen jede Rechtsordnung.
Wie kommt der subtile, in allen Tiefen und Untiefen der Rechtsphilosophie aufs gründlichste erfahrene Jurist zu diesem aufs erste etwas einfach anmutenden Verfahren? Man muß verschiedene Ursachen auseinanderhalten.
Das Anliegen „hinter” der biblischen Weisung besteht darin, gegenüber der Vielfalt möglicher Rechtsphilosophien einen festen und unbezweifelbaren Grund zu finden2; denn kein immanenter rechtsphilosophischer Ansatz hatte sich gegenüber dem Ansturm des Nationalsozialismus als widerstandsfähig erwiesen. Auch die Pseudo-Theologie der Schöpfungsordnungen hatte keinen Halt geboten und war selbst im Strudel des Dritten Reiches untergegangen3. Ohne eine unangreifbare
2) RbW 11 ff., 18 f., RO 317; vgl. RbW 27: „Die
Entscheidung für ein materiales Rechtsideal ruft sogleich den
Widerspruch eines anderen hervor und stellt damit das Problem der
Gerechtigkeit nur auf einer neuen, höheren Ebene dar . . .
Selbstrechtfertigung des Rechts ist unmöglich,
Fremdrechtfertigung führt zur Konkurrenz nur relativ gültiger
Werte. Folglich kann das absolute Wesen der Gerechtigkeit . . .
nicht immanent bestimmt werden; es ist transzendent.” Daraus
folgt: „Kein Stück kirchlicher Ordnung darf an philosophische
Systeme oder (!) politische Ideologien angelehnt sein, jedes muß
b. W. folgen” (Basler Kirchenbote 1961).
3) Kritik der Schöpfungsordnungen: RO 323 f., Calv.
18, OdK V, 477 („kosmologisch-theosophisch”) (!), OdL 11 A. 10.
Damit werden nicht „Ordnungen” überhaupt abgelehnt!, vgl. GrundO
151, RbW 28 ff., 54, 91 f. (christologische Schöpfungsordnungen!)
und unten 397 ff. — Auch Heckel teilt die Abneigung, Lex 42 (mit
F. Lau), gegen jede einseitige Schöpfungsordnungstheologie; vgl.
auch die angedeutete Distanzierung Lex 101 A. 771. Nur mit
Vorbehalt spricht Heckel von Erhaltung (z.B. WS 73). Ihr
gegenüber unbefangen Grundmann LWB 34, 45, FiLex 3 183 f., 187
(Staat als Schöpfungs- und Erhaltungsordnung). Daß sich Wolf, wie
viele andere, von den Schöpfungsordnungen abwandte, ist nicht
verwunderlich, eher, daß es schon 1936 geschah. Zu sehr waren sie
allenthalben als theologische Legitimierung für die Billigung
nationalsozialistischer Grundsätze mißbraucht worden, nicht nur
➝
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rechtstheologische Fundierung blieb jede Rechtslehre im letzten unverbindlich. Wo sollte sie aber gefunden werden als in der Schrift? Was wäre ein besseres und breiteres Fundament für das so dringend notwendige ökumenische Gespräch, auch im Raum des Rechts? Wie vermöchte sonst ein sicherer Grund gewonnen werden für das Zeugnis gegenüber der Welt — auch und wieder mit dem Werkzeug des Rechts?
Dennoch ist die biblische Weisung nicht in allem ein völliger Neuansatz. In veränderter Gestalt kehren früher vertretene Gedanken wieder. Sie sind aber zu wesentlichen Bestandteilen der biblischen Weisung geworden.
Das gilt vor allem für einige rechtstheoretische Grundannahmen. So galten das Evangelium und die Schöpfungsordnung (und die damit konvergierende „Sittlichkeit”, andernorts die „Rechtsidee”, „naturrechtliche Korrektiven”) als Gesinnungsordnung mit grundlegender und grenzsetzender Funktion für das menschliche Recht4; ebenso nun die biblische Weisung.
Auch die Ablehnung eines körperschaftlich-normativen, vom Zwang bestimmten Rechtsbegriffs geht in die biblische Weisung ein5.
Sogar ein „freirechtlicher” Gedanke6 und das deutschrechtliche
➝ von den Deutschen Christen. Das war nicht zufällig so
gekommen. Da die Schöpfungsordnungen meist weniger biblisch oder
sonstwie theologisch, wohl aber politisch tiefer begründet waren,
blieben sie offen für beliebige ideologische
Fehlinterpretationen. Sie waren weithin zur theologischen
Verbrämung der vor Gott autonomen Eigengesetzlichkeit der „Welt”
geworden, in Analogie zum neulutherischen Verständnis des vom
„Evangelium” absolut geschiedenen „Gesetzes”. (Gleichwohl findet
man nicht nur in älterer Literatur [katholischer wie
evangelischer!] immer noch die Schöpfungsordnungen als ein
„protestantisches Naturrecht” vorgeführt. Doch übersieht man
dabei die zumeist vorhandenen fundamental verschiedenen
theologischen und philosophischen Prämissen. Es bedarf schon
eines genaueren Zusehens, wenn man die wirklichen Gemeinsamkeiten
und Unterschiede aufzeigen will.)
4) ReG 256; zur Sittlichkeit s.o. 272, zur Rechtsidee
als Richtmaß der Rechtswissenschaft ASW 1926 535, zum Naturrecht
als Korrektiv des Gesetzgebers ARWP 1932 513, zum Evangelium oben
276.
5) Aus diesem Grunde nämlich könne das katholische ius
divinum und das kanonische Recht nicht in Konjunktion zur b. W.
treten (unten 320 f.). Ob ersteres damit
zutreffend erfaßt sind, ist eine andere, von Wolf leider nicht
untersuchte Frage.
6) Wolfs Stellung zur Freirechtschule überhaupt: ihre
Methode ist in der Praxis selbstverständlich, ihre theoretische
Begründung aber völlig unzulänglich, vgl. ZAkDR 1936 360.
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„Weistum”7 dürften in die biblische Weisung mit eingeflossen sein: das juristische Gesetz ist nicht des Richters Fessel, sondern „Leitlinie” zur richtigen Entscheidung im Einzelfall — wie auch die biblische Weisung.
Was die Herkunft des Wortes „Weisung” anlangt, so dürfte es aus der Züricher Bibel stammen, die das hebräische Wort Tora (das atl. „Gesetz”) mit Weisung übersetzt8. Übrigens faßt auch die von Wolf anfänglich hoch geschätzte Konkordienformel (eine lutherische Bekenntnisschrift im Geiste Melanchthons) die Hl. Schrift als „Regel”, „Richtschnur”, „Probierstein” aller theologischen Lehren auf; ähnliches findet sich bei Calvin9, — all das sind Synonyme der biblischen Weisung bei Wolf.
Bei Wolf erscheint das Wort „Weisung” zum erstenmal in einem Vortrag 1933: die Weisung der Schrift (hier: das Zinsgroschengleichnis) gibt die Gewißheit über den in einer bestimmten geschichtlichen Situation einzuschlagenden Weg10. Ab 1936 ist das Wort der Schrift Quelle der Verbindlichkeit kirchlicher Ordnung11. Ab 1942 ist die Lehre von der biblischen Weisung des Rechts in ihren Grundzügen fertig. Ihre systematische Darstellung findet sie in den drei Vorträgen über „Rechtsgedanke und biblische Weisung” (1948).
Später folgen nur noch einige Ergänzungen. Die wichtigste Hinzufügung (nicht Änderung) kommt bereits im folgenden Jahr: Die christozentrische Sicht der Schrift setzt sich endgültig durch (Zur Frage nach der Autorität der Bibel . . . 1949); sie wird in „Zur Rechtsgestalt der Kirche” (1952) durch die christozentrische Auffassung der Kirche vervollständigt („christokratische Bruderschaft — bruderschaftliche Christokratie”). Im „Recht des Nächsten” (1958) wird die biblische Weisung als Nächstenrecht der christokratischen Bruderschaft entfaltet und vertieft.
7) GR I 75 ff., auch GRD 14 ff., vgl. Heckel!;
RuG 324 A. 2.
8) Vgl. R. Rendtorff RGG VI 950 f. Auch M. Buber
übersetzt so, nicht dagegen die Lutherbibel (wohl aber Luther
sonst!, vgl. Heckel ebd.). Da Wolf seine Jugend in der Schweiz
verbrachte, ist er natürlich mit der Züricher Bibel aufgewachsen.
— Für den (unjuristischen) katholisch-exegetischen Gebrauch vgl.
z.B. J. Blank Concilium 1967 357 ff.
9) Vgl. Calv. 22.
10) WuT 1934 22.
11) KuR 358, RidK 447. Vgl. oben 281 ff.
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Damit scheint der vorläufige Abschluß der Entwicklung erreicht zu sein. Die „Ordnung der Kirche” (1961) setzt die biblische Weisung schon voraus; auch die „Ordnung der Liebe” (1963) und die folgenden Veröffentlichungen wenden sie nur an, gebrauchen sie als vertrautes und bewährtes Werkzeug in der Hand des Meisters.
Die Hoheit Gottes steht am Anfang des Rechts. Gottes Herrschaftsrecht begründet und begrenzt Menschenrecht. Kein Wunder, daß die philosophische Suche nach der immanenten Gerechtigkeit scheitert. Nur die absolute Gerechtigkeit1 Gottes vermag durch die Wirrungen menschlichen Schein-Rechts zu führen.
Ein theologischer Gerechtigkeitsbegriff also steht an der Spitze der Begründung des Rechts: die Gerechtigkeit, die rechtfertigt und richtet, die man die iustitia salutifera genannt hat2. Eine Zweiheit zeichnet sie aus: Gottes Gerechtigkeit ist Gericht und Gnade; oder genauer (in der dialektischen Redeweise): Gnadengericht und richtende Gnade3. Denn Gottes Gerechtigkeit entfaltet sich als Liebe.
Die absolute Gerechtigkeit ist dem Menschen verborgen; sie ist wie Gott selbst „absolut anders” und drückt Gottes Souveränität aus4.
Die verborgene Gottesgerechtigkeit ist aber offenbart worden. Offenbarung ist Selbstaussage. Die einzige un-mittelbare Selbstaussage Gottes ist das „Wort”. Hier allein ist Gott zu finden. Das Wort ist Christus. Er ist das einzige Ebenbild und damit die Offenbartheit Gottes; in ihm ist der Geist Gottes, oder anders, die absolute Liebe und Gerechtigkeit offenbar geworden. „Wer mich sieht, sieht den Vater.” Der Heilige
1) Es sind also zwei Gerechtigkeitsbegriffe
auseinanderzuhalten, RO 317, DO 50.
2) S.u. 617.
3) Vgl. RbW 33 f., BW 774 ff., RdN 17, 51 A. 18, 21,
DO 52, OdL 10.
4) RbW 27, 34 f., RO 326, Fragw. 25 f.; zur dreifachen
Gerechtigkeit Gottes RbW 34 f., RO 326.
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Geist ist es, der das Verstehen des Offenbarten im Menschen bewirkt. Wenn also von Gott die Rede ist, so stets vom trinitarischen Gott, der sich in Christus offenbart hat5.
Christus bringt eine dreifache Gerechtigkeit Gottes zur Erscheinung: Er erfüllt das alttestamentliche Gesetz und rechtfertigt damit den Sünder; so bewährt er Gottes Gerechtigkeit. Er ist imago Dei, menschliches Ebenbild des Vaters in seiner Einzigartigkeit; denn er ist ohne Sünde. Er ist König über die Welt und weist ihr so Gottes Gerechtigkeit.
Seine Weisung stellt aber die Gottesgerechtigkeit nur dar, stellt sie wieder her. Nicht setzt er an die Stelle des alten ein (gleichsinniges) neues „Gesetz”. Christus non est legislator, sed verus legis interpres6.
Es ist ein sehr erhabenes Christusbild, das hier gezeichnet ist. Es ist bestimmt von der Erfahrung der Hoheit Gottes; darum tritt die Inkarnation weniger in Erscheinung als der majestätische Offenbarer des Johannesprologs oder die verwandte Konzeption der „kosmologischen Christologie” (H. Conzelmann) des Epheser-, Kolosser- und Hebräerbriefs7.
5) RbW 33, 91, 93, RO 318 f., GR I 214, Urspr.
30, BW 774, OdK 466, NRL 79 f.
6) RbW 35 f., 90 f., Bibel 289 mit Luther (dazu oben
94) und Calvin. Gleichwohl ist die b. W. „Offenbarungsrecht”,
EStL 1832 f. Damit ist das Problem für Wolf keineswegs
erschöpft!, denn Christus ist „Geber direktiver Weisungen”, OdK
466 f. A. 8, ist also, weil die b. W. Rechtsqualität hat (unten
318 f.), nur nicht legislator normativen Rechts, wohl
aber legislator des biblischen Weisungs-Rechts (RbW 35
f., 90 f.); oder genauer: Christus ist die b. W., „Christus . . .
ist das Grundgesetz”! (OdK 466 A. 7, K. Barth OdG 53).
7) Vgl. Joh 1.3; Eph 1.20 ff., Kol 1.16 f., Hebr 1.2,
dazu R. Bultmann Joh 5 ff. u.ö.; H. Schlier Eph. 86 ff., H.
Conzelmann NTD 8 135-139 und zuletzt H.J. Gabathuler; vgl. auch
Ernst Wolf II 207 f. mit Hinweis auf die orthodox-ökumenische
Fragestellung. Zur anglikanischen Christozentrik siehe G.K.A.
Bell. Aus der Niederländisch-Reformierten Kirche vgl. W. A.
Visser ’t Hooft. In der katholischen Rechtstheologie ist die
christozentrische Sicht, wenn man von Augustin absieht (vgl. K.
Demmer), nicht sonderlich geschätzt, da man in ihr fälschlich
eine Gefahr für das Naturrecht sieht; anders dagegen die
katholische Moraltheologie (dazu B. Häring 1963 119) und Liturgie
(ferner die bei J. Fuchs 1955 70 f. A. 17 angegebene Literatur,
sowie Y. Congar 1966 120 m. A. 18: „Christus besitzt eine
absolute und unteilbare Herrschaft . . . als Herr über die
irdischen und die himmlischen, die sichtbaren und die
unsichtbaren Wirklichkeiten . . .” [d.h.] „daß er Haupt ist, das
Autorität besitzt, nicht nur über die Kirche, sondern . . .
letztlich über alle Dinge” . . . „aber er ist es nicht in
derselben Weise für die Kirche und für die Welt”). — Vielleicht
kann man die Formen christologischer, aber nicht
„christomonistischer” Rechtsbegründung als die
„logozentrische” Begründung des Rechts
zusammenfassen.
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Doch sogleich muß man hinzunehmen, daß Christus der wahre Mensch, der neue Adam ist, der sich in „die alltägliche (Sozial-)Gestalt des Menschen” entäußerte und nun im Verborgenen als der wahre Bruder des Menschen herrscht8.
All das, was von Christus ausgesagt wurde, ist zusammengefaßt in dem Wort „Christokratie”9. Christus erfüllte das Gesetz, ist Ebenbild des Vaters, König der Welt, der sich aber in die Knechtsgestalt des Fleisches entäußerte.
Gemeinhin gilt jedoch Christokratie als spezifisch reformierter Topos, wobei man Christokratie auf die Königsherrschaft Christi über die Welt einengt und sie mit einem deutlichen politischen Akzent versieht. Man vermutet nicht selten sogar eine Art reformierter Theokratie . . . Wie steht es damit bei dem Ökumeniker10 Wolf?
Die gott-menschliche Herrschaft Christi ist universal. Christus herrscht über seine Gemeinde wie über die Welt. Er ist Herr der Vergangenheit, denn er hat die Welt mit dem Vater erschaffen und erhält sie noch11; er hat sich für unsere Sünden hingegeben und die Rechtfertigung gebracht. Er ist Herr der Zukunft als eschatologischer König der Neuen Erde. Er ist Herr der Gegenwart als Haupt seines (mystischen) Leibes und als rex mundi.
Welcher Art ist die gegenwärtige Herrschaft Christi? In der Welt und in der Kirche ist sie „verborgen”, unsichtbar; aber die Gemeinde nimmt sie im Glauben wahr12. Die Verborgenheit dieser „Herrschaft” weist
8) Die Inkarnation erscheint nur bei der Lehre
(OdK 16 f.). Darin unterscheidet sich Wolf nicht nur von
Heckel (s.o. 469 239 f.), sondern auch von Ernst Wolf
1954 16 f. Zur altlutherischen (und auch K. Barth nicht fremden)
Lehre von der Kenose Christi (Phil 2.7 „er entäußerte sich
selbst”) OdK 16 f. A. 1 mit P. Althaus RGG III 1244-1246; vgl.
auch Dombois RdG 395 „jene kenotische Haltung des
Luthertums”!
9) RbW 90. Christokratie ist zugleich „Ebenbild” der
Gottesherrschaft, vgl. RdN 17 mit OdK 155 und die zur
Christokratie angeführten Bibelstellen (OdK 67 A. 1: Joh 14.6, 1
Tim 2.5, Apg 4.12), die alle die Absolutheit Christi betonen.
10) Vgl. die Distanzierung von A. de Quervain RbW 48
A. 51, RO 331 A. 1 einerseits, Grundmanns anerkennende Worte
(ThLZ 1962 336 f. und bes. ÖAfKR 1965 290 ff., 306) andererseits;
vgl. namentlich die Interpretation der Christusherrschaft als
Kreuzesdienst (unten zu A. 13).
11) RO 328; s.o. A. 7.
12) RbW 92, Bibel 287 ff., RO 326, 330.
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auf ihr Wesen. Sie ist Anruf der rechtfertigenden Gnade, der in Christus die Welt erreicht und sie vor die Entscheidung stellt: „für Christus und seine Herrschaft — oder gegen Christus und damit für das . . . Widerspiel des Feindes”. Was aber „Herrschaft” Christi heißt, muß am Kreuze abgelesen werden! Christliche Herrschaft ist Dienst und Brüderlichkeit. Sie ist nicht „Macht”, sondern ἐξουσία, geistliche Mächtigkeit, Dienst13!
Deshalb gilt Christi Weisung nicht unmittelbar für die politische Ordnung, sondern wendet sich an seine Gemeinde.
Denen aber, die nicht glauben, verkündigt die Gemeinde in der Predigt die Christus-„Herrschaft”, indem sie ihnen sagt, wo sie vor Gott im Un-Recht sind, und wer das Heil ist. Aber mehr kann und darf die Gemeinde nicht tun. Von jedem Zwang und Oktroi ist sie weit entfernt. Es gibt kein Reich Gottes auf dieser Welt, keinen vom Menschen vorwegzunehmenden Gottesstaat, sondern nur das jetzt schon unsichtbar quer durch alle Kirchen und Staaten anhebende eschatologische Reich Gottes. Insofern sind „alle diesseitigen Versuche der Rechtsordnung nur eine Vorordnung auf die künftige, auf das Reich Gottes hin”. Die Einsicht in die Vorläufigkeit jeder irdischen Ordnung sollte aber davor bewahren, allzu hektisch menschliches Recht verbessern zu wollen14.
In dieser Intention ist zu verstehen, wenn Wolf sagt, Christus sei Quelle und Ziel aller Gesellschaftsordnung, und: aus dem Missionsbefehl folge, daß die Weisungen Christi allen Menschen gälten, nicht nur den Christen15.
Auch die zukünftige „eschatologische”16 Herrschaft Christi ist für seine Gemeinde wie für die Welt von Bedeutung. Denn das zukünftige Königreich der Himmel ist jetzt schon da, noch unsichtbar-verborgen als Leib Christi, aber wachsend und zur Sichtbarkeit drängend, bis es offenbar werden wird am Ende der Tage.
13) Vgl. z.B. RO 327, RbW 32; das Zitat steht
RbW 64.
14) Reich 52, RbW 32, 38 f., 45 A. 38, 55, 64, Bibel
291 f., RO 327, RdN 16 f., 28, 59 A. 1/15, OdK 67; Ernst Wolf II
228 „Nur als Bekenntnissatz ist diese Formel ,Königsherrschaft
Christi’ verbindlich”! Ergänzend s.u. 308 ff. zur „politischen
Weisung”.
15) Bibel 288, RO 327 f., EStL 1031 ff.
16) Leider hat sich die Einengung der Eschatologie auf die
„letzten Dinge” im Sprachgebrauch bei Wolf erhalten (ebenso
Grundmann s.o. 22932), so daß der eschatologische
Charakter gegenwärtiger Existenz vom Wort „Eschatologie” oft
nicht mit umfaßt wird; Ausnahme z.B. OdK 154 (mit dem wichtigen,
leider nicht näher ausgeführten Hinweis auf den modernen
Zeitbegriff) und — GR I 202 zur Göttin Dike: Ihre Zeit ist „die
Endzeit, und eben deshalb ist sie auch ,immer schon’ da”.
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Von daher steht christliche Gemeinde mitsamt ihrem Recht unter der paradoxen Spannung von Schon-jetzt und Noch-nicht als repraesentatio des Künftigen und soziologische Realität der Gegenwart17.
Aus der Christokratie ergibt sich eine christozentrische Schriftauffassung. Was folgt daraus für das Verständnis biblischer Weisung?
Man hat den Vorwurf erhoben, diese biblische Weisung wiederhole nur das alte „gesetzliche” Mißverständnis der Schrift auf juristischer Ebene, oder es zeige sich hier der subtilere kalvinistische Biblizismus. Es werde diese oder jene Stelle aus dem Zusammenhang der Schrift herausgelöst und dann „bibelpositivistisch” zur Begründung des menschlichen Rechts und seiner Einrichtungen herangezogen1.
Obwohl der äußere Eindruck nicht immer geeignet ist, diesen Verdacht zu zerstreuen2, hat man doch Wolf mißverstanden. Denn man muß dieses Vorgehen im Zusammenhang mit seiner Schrifttheologie sehen.
Die Grundüberzeugung ist die von der Einheit der Schrift beider Testamente. Beide sind Wort des einen trinitarischen Gottes. Damit ist nicht nur die Einheit der Herkunft, sondern auch die Einheit der Substanz gegeben. Die Gesamtheit der Schrift ist Regel und Richtschnur, denn Gott redet durch die Schrift als ganze3.
Aber was macht die Schrift zur Einheit? Ihr Wesen ist Offenbarung, Verkündigung, „Kerygma”. Ihre Mitte ist die frohe Botschaft beider Testamente, „das Wort” Gottes in den menschlichen Wörtern der
17) S.u. 334 ff.
1) Vgl. RdN 52 A. 6 (E. Schlink), OdK 468 A. 7 (H.
Wehrhahn), ferner W. Maurer KuD 1960 206. Vgl. aber auch die
Vertiefung durch die Einführung der Jüngergemeinde in die
Begründung des Kirchenrechts (unten 366)!
2) Vgl. die Kataloge OdK 466 f. und passim, RbW 44
ff., RO 328-333, wo immer wieder ohne weitere Erläuterung auf
diese oder jene Bibelstelle verwiesen wird, über deren Auslegung
man durchaus verschiedener Ansicht sein kann.
3) Ab 1942 (Zeugnisse 82) ständig, z.B. RbW 36 A. 8,
Bibel 287, RO 318, PuS 194 f.
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Schrift, die viva vox Evangelii4 oder, mit einem platonisierenden Ausspruch K. Barths, „das Wort hinter den Wörtern”5.
„Das” Wort aber ist das Wort Gottes, gesprochen im Logos; es ist Christus. Er ist die Offenbarkeit des trinitarischen Gottes. In ihm bezeugt die Schrift Gottes Gerechtigkeit6. Er ist zugleich die existentielle Ermöglichung menschlicher Verständigung, menschlicher Ent-sprechung, menschlichen Im-Recht-Seins7.
Damit ist Christus Ausgang und Ziel der Schriftauslegung, die zur biblischen Weisung führt. Die biblische Weisung ist personale Weisung Christi8, und ausschließlich darin besteht ihre Autorität.
Wolf drückt das mit vielfältigen Wendungen aus. Biblische Weisung ist alles, was „Christum treibet”, so Luther. Oder mit Calvin: Es komme darauf an, ob und wieweit „die durch alle Völker und Zeiten hindurchgehende Gemeinde Gottes angeredet ist”9.
Biblisches Wort und biblische Weisung sind aber keineswegs identisch; nicht jede Textstelle ist schon Rechtsweisung, und nicht jede Interpretation führt zu einer solchen. Nur „das uns Angehende” ihrer gegenwärtigen Forderung gilt als Weisung, nicht der bloße Bericht oder die Mitteilung über Vergangenes. In der Sprache der modernen Theologie: Die biblische Weisung ist das biblische Kerygma für die Ordnung des Soziallebens10.
Man kann also zusammenfassen: Die biblische Weisung ist der in Christus offenbarte „Rechtswille Gottes” (J.Heckel) beider Testamente.
Diese „kerygmatische” Interpretation der biblischen Weisung verbietet jedes buchstabengetreue Nachbeten isolierter Textstellen ebenso
4) Z.B. GuN 641, ebenso Heckel Lex 58 u.ö.
5) RbW 39 f., 63, 83, Bibel 289, RO 333, RgK 261, BW
774, AÖR 1956 489 f., RdN 18, RGG III 1509, GRD 151, EStL 1032,
DO 48.
6) RbW 93, GrundO 181, RO 318.
7) RGG V 854, NAR 149 f.
8) Es scheint, daß man Wolf notwendig mißversteht,
wenn man diese personale Komponente übersieht. B. W. ist
weisendes „Wort” Christi an die „Welt”: personale Anrede
(„Anweisung”, RbW 54 nach Rom 13.2 διαταγή) einer lebendigen
Person an andere Personen, nicht fixierte, „sachhafte” Norm (vgl.
RbW 92, BW 774 f., RdN 27 f. [3.]); deshalb kann von der b. W.
gesagt werden, daß sie mahnt, fordert, gebietet, verlangt,
einschärft, verpflichtet, erinnert (RbW 46 f., 52, RO 331, BW
776), daß sie Lehrmeisterin rechter Ordnung sei (RgK 261)
usf.
9) RbW 40 ff., Bibel 291.
10) Vgl. BW 774, DO 48, OdK 53 f., 466 f.
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wie eine „symbolische” Verflüchtigung11. Alles, was die Schrift an Weisungen gibt, ist von Christus aus zu verstehen.
Daraus ergibt sich eine Reihe methodischer Folgerungen; zunächst für das Verhältnis von Altem und Neuem Testament: Das Alte Testament ist von Christus her zu begreifen, also vom Neuen Testament her zu sehen. „Der Weg geht . . . vom Neuen zum Alten und von dort zum NeuenTestament zurück”12. Das Alte Testament ist gleichsam eine Prophetie auf Christus hin, und zwar in seiner Gesamtheit; eine Ausscheidung irgendwelcher Gebote als ceremonialia oder iudicialia, wie sie Luther und Calvin (übrigens verbreiteter scholastischer Tradition folgend) versuchten, ist nicht möglich, denn kein Jota vom Gesetz darf vergehen. Insoweit es Christum weiset, ist es auch heute verbindliche biblische Weisung13.
Wolf übernimmt damit die für K. Barth so bezeichnende „christozentrische”14 Sicht des Alten Testamentes. Die ganze Bibel ist „Gesamtzeugnis Christi”15, und Christus ist Mitte der Schrift. Nur insoweit ist sie überhaupt relevant.
Negativ besagt die christozentrische Sicht der Schrift die Unverbindlichkeit jeder anderen Auslegung. Jeder Maßstab außer Christus selbst ist ein von außen an die Schrift herangetragener Maßstab. Das geht sehr weit, wenn man bedenkt, was alles unter das Verdikt fällt.
11) RbW 40, 53, RO 321.
12) RbW 91, Bibel 287, RO 325 ff., 329 ff., RGG III
1509, OdK 466, EStL 831 f.; anders (AT ➝ NT ➝ AT) noch RbW 39;
heilsgeschichtlich weiterentwickelt in PuS 199.
13) Dazu RbW 21, 39, 42, 53, Bibel 289, RO 325 ff.,
329 ff., OdK 468. Zur prophetischen Deutung des AT durch Calvin
vgl. RGG I 1594 f. — Damit ist zugleich die dialektische Einheit
von „Gesetz und Evangelium” begründet (zur Genese: RbW 14, 67,
Bibel 287 ff., ThuR 34, RO 325 ff., 329 ff., BW 774 f., OdK 72
ff., 461, 466, 497, OdL 14 f., PuS 193 ff.).
14) Dieser Ausdruck Bibel 287; Christokratie: RbW 90
u.ö.; christologisch(e Rechtsbegründung): RdN 48 A. 21; die drei
Begriffe sind also gleichsinnig.
15) RbW 36.
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Nicht nur ist damit ausgeschlossen jedes moralische Verständnis der Schrift, jede „fundamentalistische” Stellensucherei, jede historische Relativierung16, sondern auch jede konfessionelle, „kirchliche” oder „religiöse” Deutung, ja sogar jede Deutung im Sinne irgendeiner bestimmten Theologie. „Konfessionell” ist die Deutung, wenn sie nicht „unmittelbar aus der Quelle schöpft”, sondern durch ein Lehramt oder ein historisch bedingtes (scil. reformatorisches) Glaubensbekenntnis autorisiert werden muß; „religiös” ist sie — und nun hört man die Kritik der dialektischen Theologie an jeder (erbsündlichen, nicht „katholisch” verstandenen) Religiosität —, wenn sie menschlichen Auslegungskünsten vertraut („innere Stimme”, „Gewissen”)17. Denn von der Offenbarung her ist alle Religion, „die vom Menschen ausgeht”18, aufgehoben. Der gemeinsame Sinn dieser Abgrenzungen ist es, jede menschliche Eigenmächtigkeit unmöglich zu machen, unter welcher Maske sie auch auftreten mag.
In dieser Haltung ist jede einzelne Stelle der Schrift des Alten und Neuen Bundes auf ihre biblische Weisung für das Recht zu befragen, aber stets im Blick auf das Ganze, im Sinnzusammenhang der Stelle mit dem Kontext und den Parallelen. Auch das geringste Schriftwort ist ein Spiegel der göttlichen Offenbarung19.
Überall kommt es darauf an, ob die Weisung darauf abzielt, das Reich Gottes aufzuerbauen. Geschieht das, so ist es biblische Weisung, auch wenn kein Wort über Recht und Gerechtigkeit fällt; geschieht es nicht, so ist es keine biblische Weisung, mag auch noch so viel „Juristisches” anklingen.
Biblische Weisung kann also enthalten sein: im Neuen Testament in den Herrenworten, in den Gleichnissen, im Verhalten Jesu (z.B. vor
16) „Historisch, betrachtet, gelten die
altjüdischen Gesetze für den heutigen Menschen ebensowenig wie
der Kodex Hammurapi”, RO 318.
17) RbW 40 ff., Bibel 288 f., 291, RO 318-322, OdK
469. Natürlich ist nicht theologische Dogmatik überhaupt
abgelehnt, sondern nur der Subjektivismus, RbW 86, und eine
„ungläubige” Theologie, RdN 52 A. 6; „die Theologie ist eine
(säkulare) Wissenschaft, wie jede andere”, Treysa 60.
18) RbW 21; vgl. OdK 29.
19) RbW 36. — Vielleicht muß aber auch darauf
hingewiesen werden, wie sehr (im Formalen) die
Interpretationsmethode für die b. W. der Heideggerschen
Seinsauslegung gleicht, die Wolf dem Griechischen Rechtsdenken
widerfahren läßt (namentlich in GR I, z. B. 218 ff., 239
ff.).
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Gericht), ja sogar in den Geschichtserzählungen, auch in den Apostelschriften; im Alten Testament gleichermaßen in den Gesetzbüchern, in den Geschichtswerken und den Propheten20.
Die christozentrische Sicht der Schrift kehrt wieder in der christozentrischen Anthropologie. Sie ist gleichsam die Antwort auf den Ruf der biblischen Weisung.
Jede immanente Deutung des Menschen bleibt im Vorläufigen stecken. Jede Anthropologie, die vom Menschen als Menschen ausgeht, wird kritisch destruiert. Es gibt keine „natürliche” Anthropologie, denn sie vermag den Menschen nicht so zu sehen, wie Gott ihn sieht. Darum ist jedes Denken „von unten nach oben” (rechts-)theologisch illegitim1.
Wolf geht auch hier von Christus aus. Christus ist der wahre Mensch und die einzige „imago Dei”2. Die Ebenbildlichkeit wird hier (mit Luther und Augustin) in der Sündelosigkeit gesehen (unten a 1). Daraus folgt, daß in der Erbsünde (a 2) die Gottesebenbildlichkeit völlig verlorengegangen und auch beim Erlösten nur im aktualen Bezug zu Christus als stets gefährdetes Geschenk vorhanden ist (a 3). Das ist die paradoxe christliche Existenz, die Adressatin der biblischen Weisung (a 4). Sie erfährt im Glauben die Weisung (a 5) und verwirklicht sie in Freiheit (a 6).
Das ist der erste Abschnitt (a) der Anthropologie Erik Wolfs. Er ist gekennzeichnet durch eine starke Betonung der „Vertikalen” (a 7). Der zweite Abschnitt ergänzt die „Horizontale”. Dort findet auch die menschliche Gemeinschaft ihre anthropologische Begründung (unten b).
Wenn Christus der wahre Mensch ist, der in seiner Person die ursprüngliche Schöpfungsordnung wiederherstellt3, wie sieht dann der
20) RbW 40 ff., RO 322, 328 ff., GRD 151.
Zwischen Herrenworten und Apostelweisungen wird konsequenterweise
nicht unterschieden (Ausnahme 1 Kor 7.10,25): RO 328 u.ö.
1) Bibel 291.
2) RbW 91, NRL 79 f.
3) RbW 91 f.
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Urständ aus? Im Urständ war der Mensch imago Dei, d.h. ohne Sünde und ausgestattet mit der facultas transcendendi usque ad Deum4. Es war für ihn sozusagen „natürlich”, im Gottesbezug zu stehen.
„Natur” ist also zunächst das existentielle Ineinander von „Natur und Gnade”, wie es naherungsweise der augustinischen Auffassung (und derjenigen Luthers)5 entspricht.
Durch den Sündenfall wird die Gottähnlichkeit völlig zerstört, also die harmonische Einheit von Natur und Gnade. Was übrig bleibt, der „Rest” (Luther) bloßer „Geschöpflichkeit”, ist nur noch eine „schreckliche Entstellung” (Calvin). Der Mensch der Sünde kann nicht mehr aus eigener Kraft Gott nahen. Sein „metaphysischer Sinn” ist verkümmert. Er ist radikal unfähig, die „absolute Gerechtigkeit” zu erkennen oder gar zu verwirklichen.
Der zerstörte Gottesbezug stört auch den Bezug zur Schöpfung, zerstört ihn aber nicht. Die immanente Gerechtigkeit wird zwar noch gesehen; auch der Ungläubige wird der Grundzüge der Urordnung gewahr und vermag deshalb auch einen „natürlichen” Sinn biblischer Weisungen einzusehen und zu bejahen; aber eben nur trübe und ohne Sicherheit. Ihr eigentlicher Sinn, der Bezug zur absoluten Gerechtigkeit, wird nicht mehr erfahren. Diese „Natur” (und mit ihr das Recht der Menschen) ist grundlos und scheinhaft geworden, ohnmächtig und unwirklich6.
„Natur” ist jetzt rechtstheologisch die existentielle Schwäche der von ihrem Schöpfer und Erlöser getrennten Kreatur7.
So ergibt sich ein „dialektischer” Naturbegriff: das Widerspiel von Gottähnlichkeit und hinfälliger Geschöpflichkeit im selben Menschen.
Die Sündhaftigkeit ändert sich beim Christen scheinbar nicht. Wolf sieht bei ihm existentiell zunächst keinen Unterschied zum Nichtchristen.
4) RdN 46 A. 6; Calvin Calv. 24.
5) S.o. 27 ff.; ebenso B. Schüller 82 f., 87 zu Heckel
und K. Barth.
6) RbW 28 f., 31, 56, 62, 91, GR II 316, BW 778, RdN
46 A. 6, PR 147.
7) Sie entspricht am ehesten der biblischen σάρξ, hat
also nichts mit dem metaphysischen Naturbegriff zu tun. — Daneben
gibt es noch unter rechtsphilosophischem Aspekt die
„Vernunft-Natur” (Bibel 290, RdN 12) und die „Natürlichkeit” des
Schöpfungs-Kosmos (PR 148).
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Christus ist das einzige Ebenbild Gottes. Der Bekehrte bleibt „Knecht der Sünde”. Darum bedarf er der erwählenden Erlösungsgnade, um vor Gott zu bestehen: er steht in der „tragischen, nicht harmonischen Dialektik” des simul peccator et iustus. Der status integritatis kehrt erst auf der neuen Erde wieder. Aber: Die Christusbegegnung reißt den Menschen aus seiner Verfallenheit heraus. Ihre Dynamik zielt auf die Wiederherstellung der imago Dei im Menschen, die Angleichung an Christus8.
So sind „Natur und Gnade” die zwei „Existentialien” christlicher Existenz, die nicht zertrennt, aber auch nicht vermischt werden dürfen (auch nicht beim Recht!), sondern „dialektisch”, ja „paradox” zur „christlichen Existenz” verbunden sind9.
Die Rechtfertigung geschieht durch Christus. In ihm hat Gott den Menschen „als Gerichteten begnadigt”. So gibt es zwischen Gott und dem Menschen keine totale Diastase. Er hat sich durch Christus in die alltägliche Sozialgestalt des Menschen entäußert und diese dadurch für die Gnade und ihre Ordnung durchscheinend gemacht. Damit ist Christus zum Beispiel für alle geworden. Im Vorbild Christus kommt menschliche Existenz zu ihrer Eigentlichkeit10.
Weil aber Christus konkret in der Gemeinde existiert (denn sie ist sein Leib), ist christliche Existenz gemeindliche Existenz. Will also der Christ verantwortlich leben, so ist er auf die Gemeinde verwiesen11.
Doch wiederholt sich auch auf der Ebene der Gemeinschaft die Paradoxie christlicher Existenz: sie ist communio sanctorum und dennoch hinfällige Menschengemeinschaft „wie jede andere Menschengemeinschaft”12. All das wird im Kirchenrecht noch deutlicher werden.
Welche Bedeutung hat die biblische Weisung angesichts ihres so unzulänglichen Adressaten, der erst im himmlischen Jerusalem den
8) RbW 64, 91 f., Bibel 290 (1.).
9) RbW 38, 73 ff., 91 f., OdK 500, OdL 12 A. 16 neue
Kreaturschaft als „existentiale Dynamik (,Unruhe’) des
unaufhörlich wiederkehrenden, qualitativ im unendlichen Abstand
bleibenden ,Gesprächs’ Gottes mit dem Menschen”; K. Barth KD II/2
629; für Verwandtes bei Heckel s.o. 32 ff.
10) RbW 73 ff., 91 f., Bibel 290, BW 773, RdN 64 A. 6,
OdK 16 f.; zuerst WdR 226, 320 (1944).
11) Sie ist primär gottesdienstliche Gemeinde, s.u.
369 ff.
12) RbW 73 ff.
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Urstand ganz zurückgewinnen wird? Gott herrscht jetzt schon in Christus über sein Volk. Er hat es nicht ohne Weisung gelassen, damit es wenigstens vorläufig ins Recht komme. Diese weist, daß das Recht des Christen an der Paradoxie christlicher Existenz teilhat: Nie ist der Christ „im” Recht, weder gegenüber Gott noch — deswegen! — gegenüber dem Nächsten, außer in Christus. Es gibt, vom Menschen aus, nur vorläufiges und „sündiges” Recht. Es bleibt immer Ordnung des sündigen, aber zugleich erlösten Menschen. Es rechtfertigt nicht, dient aber dem Reich Gottes. Der Mensch ist existentiell unfähig zu absoluter Gerechtigkeit. Absolut gerecht ist nur das eschatologische Recht Gottes. Jetzt ist nur möglich, die von Christus gewiesene biblische Weisung zu erforschen, damit menschliches Recht wenigstens auf vorläufige Weise im Recht bleibe — auch in der Kirche13.
Wie soll eine so hinfällige Existenz wie die des Christen herausfinden, „was Christum treibet”? Wann ist die Gemeinde Gottes in der biblischen Weisung angeredet? Stand bisher zur Frage, wie der Hörer der Schrift beschaffen ist, so nun, wie er deren Weisung erfahren kann.
Auch das Verstehen biblischer Weisung kann nur ein Geschehen von Christus her sein; denn getrennt von Christus vermag der Mensch nichts, was vor Gott bestehen könnte. Der „natürliche” Mensch hat zu ihr keinen Zugang; es gibt keine „natürliche” praeparatio ad Evangelium, sondern nur die Zerstörung jeder menschlichen Weisheit.
Dieses Geschehen ist also reine Gnade. Der Heilige Geist leitet den Gerechtfertigten zum Verständnis des in Christus geoffenbarten Rechtswillens Gottes an. Die in Christus erschienene Gnade erschließt den Sinn der Gottesweisung14.
Die einzig angemessene Haltung, die der Mensch gegenüber dem Ruf Gottes aus der Schrift annehmen kann, ist die vernehmende, aufnehmende Haltung des Glaubens. Nur im Glauben15, sola fide, gibt es Verstehen der göttlichen Weisung, und nur für den Glauben kann sie deshalb Autorität sein.
13) RbW 29, 38, 55, 64, ThuR 34, BW 773,
775.
14) RbW 36, 40, 56, RO 333, 335, OdK 466. Zwischen
geschaffener und ungeschaffener Gnade wird nicht
unterschieden!
15) Oder wenigstens in der Bereitschaft, sich Gottes
Stimme zu öffnen, BW 779.
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Der Nichtglaubende aber nimmt die Weisung nicht auf und versteht sie darum nicht als Weisung, nicht als Wort Gottes; auch ihm muß ihr wahrer Sinn verkündigt werden16.
Aber was bedeutet „Glauben”? Wie kann aus bloßem „Für-wahr-halten” eine praktische Weisung folgen?! Doch Glauben heißt für Wolf viel mehr. Es umfaßt zunächst die Bereitschaft, umzukehren und sich vom Geist Gottes führen zu lassen, sich seiner Leitung anzuvertrauen; dazu die beständige Offenheit, Gottes Wort in den Worten der Schrift zu vernehmen und anzuerkennen „mit Gottesfurcht und ernstem Gebet”, wie Luther sagt, und mit gründlichem Studium der Schrift.
Darüber hinaus enthält der Glaube ein aktives Element. Denn er ist „entsprechende” (korrespondierende) Antwort auf den wirkenden Ruf Gottes, ist also selbst „wirkend”. Das zeigt sich darin, daß der Glaube sich nicht im „privaten” Glaubensakt erschöpft, sondern zur Haltung gemeinschaftlicher Existenz wird, die „tätig gehorchend und bekennend” der Welt die Weisung der Schrift verkündigt und „entsprechende" Ordnung des Rechts anstrebt.
Darum wird der Christ für die Verwirklichung innerweltlicher (!) Gerechtigkeit mitkämpfen, ex charitate, wie Wolf mit Heckel sagen kann, in Zuversicht, aber zugleich in gelassenem Wissen um die Vorläufigkeit jeder so erreichten Ordnung17.
Die Überzeugung von der sozialen Wirkmacht des gemeinschaftlich gelebten Glaubens durchzieht das ganze Verständnis der biblischen Weisung für das Recht; sie mündet im „bekennenden” und für weltliches Recht „vorbildlichen” Kirchenrecht18.
Das Vernehmen der biblischen Weisung ist zwar ein Werk des Geistes Christi, zu dem der Mensch nichts beitragen kann als den Glauben, der selbst wieder geistgewirkt ist — aber dennoch ist die Freiheit des Menschen nicht übersprungen. Die biblische Weisung ist Gesinnungsordnung.
16) RbW 56, 63, Bibel 291 f., BW 774, 779, EStL
833.
17) Zeugnisse 82, RbW 5, 40, 60, 62 f., 86, Bibel 291,
RO 322, BW 779, RdN 15, 18, 28, 62 A. 7, StLex V 968, DO 48. Nur
„Vorrang” des Glaubens vor den Werken (RdN 50 A. 12), was die
Aktivität des Christen betont.
18) Darum heißt es später, die b. W. sei das
eigentliche „Bekenntnisrecht” und „Verkündigungsrecht” (EStL
833).
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„Nach innen” oder besser: vor Gott, ist sie eine beständige Anleitung des Organs der menschlichen Freiheit, des Gewissens, zu einer Gottes Rechtswillen entsprechenden Entscheidung. Sie gibt eine überzeitliche Richtschnur zur Gewissensprüfung im Einzelfall, indem sie Ziele und Grenzen menschlicher Selbstverantwortung aufweist. Sie erspart also nicht die Entscheidung, sondern verlangt sie. Damit ist sowohl dem Subjektivismus des Hörens auf eine trügerische „innere Stimme” wie dem Aktualismus einer bloßen Situationsethik Einhalt geboten. Biblische Weisung des Rechts wirkt also nur „pädagogisch”, nicht unmittelbar auf das soziale Handeln19.
„Nach außen” entfaltet die biblische Weisung ihre Wirkung demnach nur mittelbar. Erst über die Formung des christlichen Gewissens wirkt sie als Hilfe zur rechten Ordnung des sozialen Lebens. Aus der rechten Gesinnung des Christen erwächst das richtige Verhalten, die „äußere Ordnung”20. Aus dem Innen des gelebten Glaubens ersteht das Außen des Bekenntnisses. —
Ab „Recht des Nächsten” (in Ansätzen schon vorher) wird das objektive Moment verstärkt: „Nächstenschaft ist . . . ein wechselseitiges, objektives Verhältnis, kein einseitig-subjektives Verhalten oder gar nur ,Gesinnung’”21. Außen und Innen werden nicht mehr unterschieden. Wie kommt es zu dieser Änderung?
Hier gilt es, einen Augenblick innezuhalten, um sich der Besonderheit der bisher geschilderten Anthropologie bewußt zu werden.
Sie ist dialektisch und existentiell zugleich. Sie fragt nirgends, wie es neuzeitlich-katholischem Denken naheliegt, nach dem metaphysischen Wesen des Menschen — auch dort nicht, wo die Paradoxie der christlichen Existenz hervorgehoben wird. Sie bleibt stets im konkreten Raum der aktuellen Gottesbeziehung. Dabei geht sie „dialektisch” vor.
19) ReG 256 Schöpfungsordnung als
Gesinnungsordnung; Reich 42, RbW 32, 40, 57, 87, Bibel 290 f., RO
331, 322 f., RgK 261, GRD 103, GuN 641, 660. Gegen die
Situationsethik vgl. RdN 19, 70 A. 9, GuN ebd.
20) RO 322 f., BW 777 f.
21) RdN 68 f. A. 1; vertieft in PR 151: Durch das
„Wort” der b. W. wird die Existenz selbst umgeschaffen.
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Sie sieht den Menschen von zwei Seiten: von Gott her und von der existentiellen Befindlichkeit. Letztere wird jedoch nicht immanent verkürzt, sondern im Licht der Gnade gedeutet und also ebenfalls von Gott her verstanden.
Wegen dieser dynamisch-existentiellen Sicht braucht Wolf nicht näher zu differenzieren, ob der Christ „im Wesen” Sünder ist oder nicht. Faktisch sündigt er, und darauf kommt es an. Zugleich aber ist er von der Dynamik der Gnade ergriffen. Darum hebt er sich trotz seiner existentiellen Sündhaftigkeit von der „Welt” ab22.
Wenn man den Weg dieses Denkens nachvollzieht, so nimmt man seine spezifische Struktur wahr. Wolf fragt, wie der Mensch von der Offenbarung her aussieht. Der wahre Mensch ist Christus. Von dort führt die Bewegung hinab in die Abgründe menschlicher Existenz. Nun wird man ihrer Zerspaltenheit gewahr. Es ist also ein Denken „von oben nach unten”. Jedes Denken „von unten nach oben” ist rechtstheologisch illegitim23! Es bewegt sich von Gott zum Menschen. Doch ist die Paradoxie nicht ausweglos. In Christus ist der Sünder gerechtfertigt. So lebt er in der existentiellen Dialektik von (gefallener) Natur und Gnade. Das ist der Grundzug der Anthropologie nach 1945 bis etwa 1950. Sie ist ganz von der Christokratie her bestimmt, formal also von der „Vertikalen” der paradoxen Dialektik.
Dann weitet sich der Blick. Die bisherige „vertikale” Anthropologie bleibt zwar bestehen; aber sie wird vertieft und ergänzt durch die „Horizontale”, die im Licht des Glaubens zurückverweist auf ihren ermöglichenden Ursprung: von oben nach unten nach oben.
Ab 1952 wird die Christokratie zur „bruderschaftlichen Christokratie”24. Nun wird die christliche Existenz der Menschenfreundlichkeit Gottes gewahr, die uns in Christi Erlösungstat und seiner Bruderliebe erschienen ist. Die Bruderschaft Christi wird zum Vor-Bild der mitmenschlichen Bruderschaft. Nun endlich findet die Gemeinschaftlichkeit des Menschen ihre christologische Begründung. Sie heißt darum auch „christokratische Bruderschaft”. Die bruderschaftliche Christokratie
22) Vgl. OdL 11 A. 10, PR 132 f. die Ablehnung
des Natur-Übernatur-Schemas zugunsten einer
theologisch-existentiellen Sicht.
23) S.o. 298.
24) Die ekklesiologische Grundlegung findet sich in
RgK und Urspr. (1952), die anthropologische Durchführung in RdN
(1957/58) und PR (1966).
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führt zur christokratischen Bruderschaft. Beide sind untrennbar und bedingen einander.
Das Achsenkreuz aus der Vertikalen der Gottesherrschaft in Christus und der Horizontalen der Bruderschaft in Christus ist fortan die formale und materiale Grundstruktur der Anthropologie, die darum „Theanthropologie” heißt. Sie setzt sich fort in der Vertikalen und Horizontalen der Kirche und des Kirchenrechts.
Man nennt diese Denkfigur eine Analogie, die, weil sie aus der Glaubenserkenntnis stammt, als analogia fidei zu bestimmen ist25. Der Weg führt also von der Dialektik zur Analogie, wie bei K. Barth und eher als bei K. Barth! Hier ist kein Platz für konfessionelles Triumphieren: Die Dialektik wird nicht aufgegeben; sie wird nur von der anderen Seite her komplementär ergänzt durch die Analogie, wie ebenfalls bei K. Barth, und hier sogar über Barth hinaus26.
Die ökumenische Tragweite dieses scheinbar so bedeutungslosen Vorgangs ist unabsehbar. Auf die absteigende Linie des Anfangs folgt nun die aufsteigende Linie. Der Weg geht fortan „von oben nach unten nach oben”. Die „ökumenische Denkform” ist gewonnen. Sie verbindet das reformatorische Denken „von oben” mit dem katholischen „von unten”.
Die im Glauben „von oben” erkannten Analogien werden dem Christen zum Hinweis auf die verborgene Christokratie in der Welt. Der Christ blickt um sich, und siehe, er findet jetzt im entstellten Antlitz des Mitmenschen die Spur der ursprünglich doch ganz verloren geglaubten Gottesebenbildlichkeit. Die Christologie impliziert also die Ontologie, eine Ontologie, die zurückverweist „nach oben” auf die jenseitige Abkunft des Seins: Der Mitmensch wird zum Nächsten.
Diese revidierte Anthropologie liegt allem weiteren zugrunde. Sie soll deshalb in einigen Sätzen erläutert werden.
„Ungetrübte” imago Dei bleibt zwar Christus allein, aber „entsprechend” ist es jeder Mensch (auch der Nichtchrist!). Die ursprüngliche
25) S.u. 437 ff. mit Exk. IX, zur
Theanthropologie 423 f.
26) Die Dialektik von Christokratie und Bruderschaft
enthält eine Analogie, denn die Bruderschaft Christi begründet
die Bruderschaft der Menschen, und die Bruderschaft der Menschen
ist Entsprechung zur Bruderschaft Christi, vgl. RdN 17, PR 146
ff.
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Ebenbildlichkeit ist also nicht ganz verlorengegangen27. Worin besteht diese „entsprechende” Bildhaftigkeit, die jetzt in nicht zu übersehendem Gegensatz zu früher behauptet wird?
Sie ist konstituiert durch den Anruf Gottes, der durch Christus an den Menschen ergeht, sich selbst zu transzendieren und so verantwortend zu existieren. Diese gottgeschaffene Möglichkeit zum Dialog mit Gott begründet diese Gottebenbildlichkeit des Menschen28. Gottebenbildlichkeit und Gottverantwortlichkeit sind also synonym. Sie werden zunächst nur im „vertikalen” Gottesbezug vorgefunden und drücken den Anruf- und Antwortcharakter menschlicher Existenz aus29. Weil der Ruf Gottes an jedermann ergeht, ist auch der Nichtchrist „Nächster”, der unter der Herrschaft Christi steht.
Diese „missionarische” Sicht des Menschen gilt es fortan ständig im Auge zu behalten, wenn die Eigenart dieser Rechtstheologie gesehen werden soll. Aus der universalen Christokratie folgt die „missionarische” Anthropologie, die „politische” Weisung und schließlich das „bekennende” und beispielgebende Kirchenrecht!
Gottesbegegnung ermöglicht menschliche Begegnung. „In der Hinwendung auf Gott geschieht eine Abwendung vom Ich und eine Rückwendung zum Nächsten”. Denn Gott hat, den Menschen sich zum Du machend, ihn nicht nur geschaffen, sondern ihn zu seinem Ebenbild gemacht und erlöst. Wer Gott fürderhin begegnen will, begegnet ihm im Nächsten. Der Nächste ist die „Ikone Gottes”.
So wird aus (immanenter) Mitmenschlichkeit rechtstheologische Nächstenschaft30. Vielmehr genauer: Nächstenschaft begründet und begrenzt Mitmenschlichkeit. Er gebietet die Annahme des Mitmenschen als
27) RdN 16 f., GuN 640, 644.
28) Es wäre falsch zu sagen, der Nichtchrist sei
demnach imago Dei „in potentia”, denn der Anruf Gottes
schafft Wirklichkeit (character indelebilis, RdN 47 A.
15), begründet nicht bloße Möglichkeit.
29) Hier wäre vom „Bund” zu reden, mit dem Gott aus
freier Gnade den Menschen zum — nicht gleichberechtigten —
Partner macht. Hier genügt es zu vermerken, daß Wolf ihn
rechtlich mit J. Ellul als traité d’adhesion
qualifiziert (zuletzt PuS 193, GuN 646).
30) Weil nur Gott bestimmt, wer mein Nächster ist, und
mich zu verantwortlicher Begegnung aufruft, ist Nächstenschaft
keine abstrakte Wesensbestimmung des Menschen, sondern
Existential, oder besser konkretes geistliches Ereignis.
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Nächsten31. Eine immanent-philosophische Ableitung der Bruderschaft ist nicht möglich. Erst in Christus ist Bruderschaft offenbart. Er ist die Mitmenschlichkeit Gottes und so das Gottesbild schlechthin. Wer im Neuen Bund Gott erfahren will, ist auf Christus verwiesen; wer Christus erkennen will, begegnet ihm im Nächsten.
Der „ganz andere” Gott der Herr ist in Christus des Menschen Bruder geworden. So ist Christus der „Schnittpunkt der Vertikalen des Handelns Gottes mit dem Menschen und der Horizontalen nebenmenschlicher Beziehungen”32.
Was besagt die biblische Weisung in diesem neuen Zusammenhang? Christokratie und Bruderschaft sind das doppelte Strukturprinzip der biblischen Weisung, ihr (systematisch) vorgeordnet. Denn die biblische Weisung ist das Schriftzeugnis vom Christusrecht, das die Ordnung der Christokratie und die Ordnung der Bruderschaft umfaßt. Sie ist biblisches Zeugnis vom Gottesrecht und, daraus „entsprechend” abgeleitet, vom Nächstenrecht. Deshalb gibt es inhaltlich zwiefache Weisung: für das Verhältnis zu Gott und zum Mitmenschen33.
31) Die rechtliche Konsequenz ist ein
„Nächstenrecht” als „Ordnung der Liebe”, s.u. 407 ff.
32) Urspr., BW 777, RdN 16 f., 28, 30 ff., 47 A. 15,
49 A. 1/4, 50 A. 8, 51 A. 17, DO 55, OdL 11 ff., PuS 191 ff., 201
f.; Christus als „Mitmenschlichkeit” (H. Cohen!, RdN 25/57 A. 1)
Gottes: RdN 33, PuS 194, K. Barth 1956 (wobei Wolf sachlich und
zeitlich vorgeht!); Christus der „Schnittpunkt”: RdN 49 A. 24, K.
Barth KD IV/2 326; der Nächste als „Ikone Gottes”: RdN 50 A. 8
nach Koll.15, 1 Mos 1.26 f., W. Vischer FS Barth 764, 772; zum
(beträchtlichen) Einfluß des augustinisch geprägten Personalismus
von R. Guardini (und von Kierkegaard, vgl. OdK 68) vgl. schon AÖR
1929 292, ferner RdN 46 A. 3, 47 A. 10, 50 A. 9, 54 A. 12, PuS
192 A. 12. (A. Auer FS Messner 116 ff. liest aus RdN ein reines
Liebesrecht, verkennt die Unterschiede Wolfs von Heckel; im
übrigen entsteht bei Wolf nicht aus der Nächsten- die
Gottesliebe, hat Nebenmenschlichkeit keine naturrechtliche
Priorität vor Nächstenschaft, ist Nächstenschaft nicht [auch]
soziologisch gemeint, soll Liebesrecht nicht katholisches
Naturrecht „ersetzen”; schließlich ist Erik nicht Ernst Wolf und
hat auch beim Göttinger Gespräch nicht teilgenommen, 1935 kein
Buch „Probleme des Naturrechts” geschrieben, auf das er sich
folglich auch 1937 nicht stützen konnte, usf. usf.) — eine
bestürzende Sorglosigkeit im Gespräch mit dem „anderen”
Partner.
33) RdN 16-19; in RdN wird die b. W. systematisch nur
mit dem Nächstenrecht verbunden; das im Text Ausgeführte folgt
jedoch aus der Gleichsetzung von Wort Gottes und b. W., z.B. DO
48.
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Bis hierher konnte die neue Anthropologie für Christen wie Nichtchristen gleichermaßen gelten. Denn beide sind in ihrer Ebenbildlichkeit konstituiert durch den Anruf Gottes. Worin besteht der anthropologische Unterschied? Der Christ gibt Antwort, ungeachtet seiner Sündigkeit und wird damit zum (analogen) Vor-Bild wahren Menschseins34. Er anerkennt die biblische Weisung. Gleichwohl beanspruchen Christokratie und Bruderschaft universale Gültigkeit, wie man an der „politischen Weisung” erkennen kann35.
Besonderes Interesse schenkt Wolf dem politischen Aspekt der biblischen Weisung, aber aus einem völlig unpolitischen Beweggrund. Es geht um die universale Gültigkeit des Liebesgebotes. Dieses muß auch in den Ordnungen der Welt wenigstens teilweise befolgt werden, sonst fällt die Welt den Dämonen anheim36.
Die weltumfassende und welterhaltende Verbindlichkeit biblischer Weisung ist für Wolf klare Lehre der Schrift. Denn Christi Weisung enthält auch die Grundlinien sozialer Ordnung. Gott will eine Sozialethik und Gesellschaftsordnung, die seiner Gerechtigkeit vorläufig entspricht. Ein Abglanz der jenseitigen Gerechtigkeit fällt auf den diesseitigen Staat und sein Recht. „Von unten”, vom Staat aus ist freilich nichts davon zu sehen; „von oben” aber sieht der Christ „Gottes heimliche Ordnung” (Heckel/Luther), oder — mit Wolf selbst — das Vor-Bild und Abbild des himmlischen Jerusalem als die „christliche Verfaßtheit”, die Gott selbst schon grundgelegt und in die Herzen geschrieben hat von Anbeginn37.
34) Die anthropologische Voraussetzung des
„vorbildlichen Kirchenrechts”!
35) Ab RO 328 gibt es erstens Rechtsweisungen für
Christen untereinander, zweitens für „Christen in der Welt”,
drittens für alle Menschen.
36) DO 54; RdN 32, 38 A. 15, RuL 498, entrüstet gegen
H.H. Schrey als Vertreter der (neulutherischen) Auffassung, das
politisch-soziale Handeln unterliege nicht der „Liebesnorm”,
sondern den Sachgesetzlichkeiten (theologisch-neulutherisch:
nicht dem „Evangelium”, sondern dem „Gesetz”). Wenn freilich Wolf
auch Heckel hierher rechnet (RdN 69 A. 7), so beruht das auf
einem Irrtum. Denn der Christ handelt auch in der Welt ex
charitate, sei es, daß er weltliche Ordnungen beachtet, sei
es, daß er ihnen geistlichen Widerstand entgegensetzt, sei es,
daß er Gottes Willen („Gesetz und Evangelium”) tätig und mit
Worten verkündigt.
37) Zeugnisse 82, GrundO 152, RbW 31, 37 f., 56, 87,
BW 777, StL V 968.
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Systematisch steht die (hier so genannte) politische Weisung auf dem doppelten Fundament der Christokratie und der Bruderschaft; methodisch beruht sie auf der Glaubensanalogie von Gott und Mensch, die in der Dialektik des Gottmenschen begründet ist.
Die Christokratie enthält den Herrschaftsanspruch Gottes auf alle Menschen. Deshalb „gilt” biblische Weisung ohne Unterschied für Christen und Nichtchristen (soweit sie sich nicht selbst nur an erstere wendet); sie gilt nicht nur für den einzelnen, sondern auch für Familien, Verbände, Völker, Staaten38.
Aus der Bruderschaft Gottes, seiner Mitmenschlichkeit folgt: Gott will für den Menschen ein menschliches Recht, eine vorläufige, nichtsdestoweniger gottgewollte Ordnung des Soziallebens. Denn Gottes Ruf ordnet alle Menschen und Völker einander als mögliche Nächste zu.
In Christus treffen Gottesherrschaft und Bruderschaft zusammen. In ihm offenbart sich, daß souveränes Gottesrecht und menschliches Recht einander in aller Unähnlichkeit entsprechen39.
Die Aufgabe der Christen ist es, die — verborgene — Christokratie über die Welt zur Anerkennung zu bringen. Die Öffentlichkeit soll im Sinne der Herrschaft Christi nach biblischer Weisung umgestaltet werden. Das kann nicht geschehen durch ein Verfassungsmodell eines christlichen Idealstaates, das der politischen Wirklichkeit übergestülpt würde. Es ist nicht möglich, die Gesellschaft anders „gerecht” zu machen als durch den Ruf zur Umkehr; kirchliche Bevormundung kann dies nicht erreichen. Was dem Christen bleibt, ist die Verkündigung und die brüderliche Hilfe und Zusammenarbeit aus der Verantwortung für die Gerechtigkeit40.
Das Ziel, das Wolf dabei im Auge hat, ist eine recht verstandene (nicht-mittelalterliche) politia christiana, in der die immanent-soziale Grundordnung der Schöpfung verwirklicht wird. Das ist keine sakralpolitische Einheit von „Staat und Kirche”, erst recht kein Reich Gottes auf Erden, sondern die Kirche, unterschieden vom und vorbildlich für den Staat, der selbst eine Gemeinschaft von Christen und Nichtchristen ist, die gut daran tut, ihre immanente natürliche Ordnung mit Hilfe
38) RbW 46, 49 A. 53.
39) Vgl. unter diesem Aspekt oben 305 ff.; PR 151.
40) EKD 85, RbW 32, 37 f., 57, 63, GrundO 152; ferner
oben 292 f.
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der Christen und ihrer durch die biblische Weisung geläuterten Glaubenserkenntnis zu verwirklichen41.
Auch zum Verständnis der Funktion der biblischen Weisung innerhalb der Rechtstheologie Erik Wolfs ist vom Wort Gottes auszugehen, so wie es oben verstanden wurde: als lebendiges, „personales” Wort Gottes, in der Königsherrschaft Christi offenbart und in den Wörtern der Schrift bezeugt.
Dieser Anruf Gottes in Christus — oder anders: die Christokratie — transzendiert alles menschliche Sein und damit auch jedes menschliche Recht, sei es Vernunftrecht, Naturrecht oder positives Recht1. Die Transzendenz des Gottesworts besteht in dreifacher Hinsicht. Es ist Quelle des Seins, denn Gottes Anruf gibt und erhält das Leben. Es ist Gericht über die Sünde, wo der Anruf nicht beantwortet wird; darüber hinaus „Gericht”, sofern es die Vorläufigkeit und Begrenztheit der Kreatur vor ihrem Herrn offenbart. Als drittes ist das Gotteswort Gnade2, wenn und soweit das Geschöpf sich dem göttlichen Ruf öffnet. Gott
41) Vgl. RbW 63, RdN 40 A. 8, OdK 7, 77, 153
ff., OdL 17 f.; zu Calvin: einschränkend OdK 133 f.; zu Zwingli:
Zwingli 174 f., 178 f., 184, OdK 355 ff., 460. Die
Gegenüberstellung OdK 77 A. 3 von Calvin und Heckel trifft nur
terminologisch, nicht aber sachlich zu. Zwar hat Luther nach
Heckel die politia christiana abgelehnt, Calvin sie
bejaht, aber der Begriff bedeutet je verschiedenes: Luther lehnt
nur die sakrale Einheit von religiöser und politischer
Gemeinschaft ab (s.o. 151 ff.), nicht dagegen die vom
Glaubenslicht erleuchtete und von der Bruderliebe getriebene
Mitarbeit der Christen in der Welt — so auch Calvin nach Wolf!
Der einzige Unterschied besteht in der Vorbildlichkeit
kirchlicher Ordnung für die Welt, unten 390 ff. 451 f. (Es liegt
nahe, von hier aus Brücken zu schlagen zu einem Natur-Recht
einerseits, zur Barthschen Konzeption von Christen- und
Bürgergemeinde andererseits. Beides hat Wolf ausführlich
getan.)
1) RbW 53 u.a.
2) Gnade besagt hier die Mitmenschlichkeit Gottes, der
sich dem gefährdeten Menschen in Christus zum Bruder macht, ihm
so den Weg zu sich als dem Ziel weist, ihm die Kraft dazu
verleiht — und damit zugleich sein Menschsein überhöht und
vollendet.
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setzt den Menschen ins Recht, in allen menschlichen Daseinsweisen, als Ich, als Du und als Wir3.
Weil Christi Wort in der Weisung der Schrift laut wird, hat die biblische Weisung die gleiche dreifache Funktion wie das Wort Gottes. Sie ist Quelle, Gericht und Gnade der Gesellschaftsordnung, darüber hinaus Ursprung, Grenze und Ziel jeder Ordnung, sei es die der Natur, der Kultur oder der Gesellschaft, ja selbst jedes einzelnen4. Darin kommt die Universalität der Herrschaft Christi zum Ausdruck.
In besonderem Maße gilt das für die Rechtsordnung. Auch hier unterscheidet Wolf zunächst nicht zwischen Christen und Nichtchristen. Der Ruf Gottes gilt allen. In immer neuen Wendungen macht Wolf verständlich, worum es ihm geht, nämlich „daß eine evangelisch-christliche Rechtsbegründung allein von der Weisung des Wortes Gottes her geschehen kann”5. Dahinter steht die Überzeugung, daß die Verkündigung der biblischen Weisung an die Welt auch die natürlichen Verhältnisse ordnen wird — mehr oder minder.
Die erste Funktion der biblischen Weisung für das Recht besteht darin, daß sie „gründender Grund” jeder Rechtsordnung ist, da sie deren „eigentlichen” Sinn offenbart. Von der biblischen Weisung begründetes ius humanum ist von Gott her legitimiert und autorisiert. Sie gibt dem Recht seine Rechtmäßigkeit und (letzte) Verbindlichkeit. Sie macht es überhaupt erst zum Recht6.
Hier ist es an der Zeit, an das Anliegen der biblischen Weisung zu erinnern: Sie sollte die Rechtstheologie angesichts des Vielerlei möglicher philosophischer Rechtsbegründungen auf das Felsenfundament des Wortes Gottes stellen. Keine Rechtsphilosophie kann darum das Gebäude der Rechtstheologie (und später des Kirchenrechts) tragen7.
3) BW 774, RdN 20; vgl. RbW 49, Radbr. 499.
4) Bibel 288, RO 323, 327 f., ZevKR 1951 307, RGG III
1509, DO 58, PuS 194, EStL 832.
5) RbW 5 (Vorwort).
6) GrundO 181, RbW 37, Bibel 290 (3.), RO 319, 327,
RdN 20, 28, 52 A. 3, RGG III 1509, OdK 77; vgl. auch KuR 358,
RidK 447.
7) S.o. 287 f.
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Die zweite Funktion der biblischen Weisung ist negativ: Sie ist Grenze des Rechtes. Das ist nicht (nur) dahin zu verstehen, daß widersprechendes Recht rechtswidrig sei8. Darum geht es nicht in erster Linie. Sie ist vor allem eine Warnung, sich voreilig vor Gott und Menschen im Recht zu wähnen; sie verbietet, sich selbst ins Recht zu setzen, verwehrt es, über den Nächsten rechtsprechend, rechtsetzend oder rechtsübend zu verfügen, bewährt sich also zunächst als Grenze der Selbstverantwortung des Menschen. Erst mittelbar begrenzt und korrigiert sie das Recht selbst. Sie richtet es, indem sie seine Vorläufigkeit aufdeckt und so seinen Verfall verhütet. Die biblische Weisung ist „richtendes Maß” des Rechts, sein „Grenzstein”9.
Noch in einer dritten Hinsicht ist das Recht „gebunden”, und sie ist vielleicht die wichtigste. Biblische Weisung ist nicht nur Grund und Grenze des Rechts, sondern gibt ihm die Ziele, nach denen es sich auszurichten hat.
Sie weist dem Gottes Wort vernehmenden Menschen die Richtung des Rechts, gibt ihm unverrückbare Leitgedanken und Leitbilder an die Hand, damit er sicher erkenne, was er „natürlich” nur umrißhaft sehen könnte (kognitive Funktion), und damit er ebenso sicher das Rechte tue (praktische Funktion). Auf diese Weise soll die „Entsprechung” der menschlichen Sozialordnung zur göttlichen Gerechtigkeit herbeigeführt werden. Diese Entsprechung ist immer nur eine Näherung innerhalb der absoluten Distanz von Gott und Menschen. Gott gibt in Christi Rechts-Weisung die „Richtschnur, . . . an der entlang tastend wir der Erfüllung seines Willens näherkommen können”. Biblische Weisung gibt immer nur Ziele, Richtungen („Richtungsnorm”!)10; sie will die Entscheidung im Einzelfall nicht präjudizieren. Biblische Weisung ist Wegweiser, nicht Fahrplan.
8) In RGG IV 1533 unterscheidet Wolf:
bekenntnis- (d.h. weisungs-)widriges Kirchen-Recht ist
materiell und formell rechtswidrig, sowohl nach den reformierten
wie den lutherischen (CA XXVIII, Art. Smalc.) Bekenntnisschriften
(und auch nach katholischer Lehre, denn lex non est nisi
bona, vgl. z.B. Thomas STh II/2 q 60 a 5 ad 1, q 66 a 7; G.
May 41 f.).
9) RbW 46, 53, 55, Bibel 290 f., RO 322 f., BW 773,
776, RdN 16, 20, RGG III 1509.
10) Vgl. GRD 118.
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Aber die Weisungen sind Direktiven, die wirklich anleiten können: Sie sind viel mehr als eine „Rahmengesetzgebung”, wie sie das Staatsrecht kennt. Sie bilden zusammen einen Grundriß, der das allgemeine Liebesgebot konkretisiert11 und so geeignet ist, die in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung und für jeden einzelnen zu entscheidenden komplizierten Rechtsfragen in eine dem Willen Gottes, oder, was dasselbe ist, in eine der biblischen Anthropologie entsprechende Richtung zu lenken. Weil sie insoweit bestimmt genug sind, verpflichten sie auch. Sie sind „normativ” für das menschliche Recht12.
Für den Christen kommt eine vierte Funktion hinzu. Sie ist, entsprechend dem sozialtheologischen Ansatz Wolfs, nur wenig ausgeführt. Die Weisung trägt für den, der glaubt, den Charakter der Verheißung: „Ohne mich könnt ihr nichts tun; mit mir könnt ihr alles tun”. Wer aus dem Wort lebt, wird das Gebot Gottes erfüllen, nicht aus eigener, wohl aber aus der Kraft Christi. Denn biblische Weisung ist wirkendes Wort Gottes13.
Die dreifache (vierfache) Funktion der biblischen Weisung gilt erst recht für die kirchliche Ordnung14. Denn das Wort Gottes ist in einem bestimmten Sinne die eigentliche Verfassung der Kirche, nach der als Grundlage, Grenze und Ziel sich jedes menschliche Kirchenrecht auszurichten
11) Vgl. Reich 42 und unten zu A. 18; ähnlich
Ernst Wolf II 200.
12) RbW 48, 53, 62, Bibel 291, RO 323, 331, Calv. 22,
BW 774, 777, RdN 17, 19, RGG III 1509, OdK 77, 159.
13) Vgl. RbW 49 = RO 332 zum 5. Gebot und DO 57 f.
Diese vierte Funktion ist trotz der fast beiläufigen Stellung bei
Wolf von großer systematischer und rechtsökumenischer Bedeutung.
Denn damit ist das auch von Heckel (oben 78 f.: „ankündigende”
lex charitatis) und Dombois (unten 621 ff. 633 ff.:
Recht der Gnade) bejahte Gnadenrecht (unten 412 f.) in der
Schrift verankert, wenn auch die Folgerungen für den
Rechtsbegriff nur zum Teil gezogen sind. Die vierte Funktion ist
zu wenig hervorgehoben, wenn man bedenkt, daß die wirkende Kraft
des Wortes, d. h. der b. W., erst die anderen drei Funktionen
ermöglicht. Dabei hätte gerade Wolf die „wirkende”, gewährende
Gewalt der Weisung verdeutlichen können, da er von Anfang an
Sollen und Sein im Recht dialektisch verbindet (s. o. 261 f. 271)
und die fügend-verfügende Gewalt des Rechts aufs ausführlichste
geschildert hat (in GR I ff., z. B. II 316, 319).
14) Dazu RbW 93, RGG III 1509, OdK 24, 76, 159, 462;
vgl. schon KuR 358, RidK 447. Ähnlich J.A. Fassbender 41 ff. für
ius div. positivum et naturale.
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hat. Weisungscharakter tragen auch die Ordnungsgrundsätze der frühen Gemeinden.
Ein Beispiel soll diese Funktion erläutern. Das 5. (6.) Gebot15 lautet: Du sollst nicht töten. Alles menschliche Recht, das mit dem Leben zu tun hat, wird von dieser Weisung begründet und autorisiert. Sie richtet sich also nicht nur an den einzelnen, sondern auch an die Obrigkeit in ihren drei Gewalten, darüber hinaus an alle Gemeinschaften und Völker, ja die ganze Menschheit.
Die Grenze des Rechts aus dieser biblischen Weisung lautet: Niemals darf Tötung oder Schädigung von Leben empfohlen, verherrlicht, leichtgenommen werden; sie verbietet, Leben zu gefährden oder zu vernichten, wo es nicht unvermeidlich ist, usf.; — zu beachten nicht nur bei der Vernichtung „lebensunwerten Lebens”, sondern auch bei der Sterilisation, dem Straßenverkehrsrecht u.v.a.
Ziel ist der Schutz allen (nicht nur des menschlichen) Lebens. Dieser „Wegweiser” ist in jedem Rechtsbereich zu beachten. Er leitet den Gesetzgeber an, in so schwierigen Problemen wie Todesstrafe, Kriegsdienst, Schwangerschaftsunterbrechung, Euthanasie usf. überall das Rechtsgut des Lebens zu wahren. Dem Richter verhilft er zur gerechteren Entscheidung im Konflikt des Einzelfalls; der Verwaltung gibt er Hilfestellung bei ihren Planungen. Darüber hinaus gilt er als politische Weisung, den Schutz des Lebens zu propagieren.
Seine Verheißung lautet: „Als Begnadigter und Erlöster, der aus dem Wort lebt, wirst du nicht töten”16.
Dem Juristen fällt die weitgehende Unbestimmtheit der so interpretierten biblischen Weisung auf, und er wird fragen, ob ihre Unbestimmtheit nicht die Erfüllung ihrer Funktionen vereitelt. Wolf hat dazu nicht
15) Die Zählung des Heidelberger Katechismus
ist anders als die gebräuchliche. Sie vertauscht 5. und 6. Gebot;
das geht auf Leo Judae zurück (O. Farner RGG III 962).
16) RbW 48-50 = RO 331-333.
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ausdrücklich Stellung genommen; in seinem Sinne wäre etwa zu antworten:
Es ist schon viel gewonnen, wenn jeder möglichen Rechtsordnung ein Grundriß dessen vorgegeben ist, was des Schutzes und der Fürsorge des Rechts bedarf, wenn also klar gesagt werden kann, was mögliches Ziel einer Rechtsordnung ist und was nicht. Das hat eine unlängst vergangene Epoche deutscher Geschichte zur Genüge bewiesen.
Außerdem ist diese Ausfüllungsbedürftigkeit beabsichtigt. Sie folgt aus der theologischen Anthropologie. Wenn der Mensch konstituiert ist durch das in Freiheit setzende Wort Gottes, wenn er also im Wesen Ant-Wort ist, dann darf biblische Weisung nicht jeden Einzelfall reglementieren. Es soll gerade verhindert werden, daß ihr Inhalt erschöpfend angegeben werden kann. Sonst würde dem Menschen die Verantwortung genommen. Biblische Weisung aber ersetzt nicht Verantwortung, sondern fordert sie. Mehr als Anleitung zu richtiger Entscheidung will sie gar nicht sein. Denn unter allen Umständen muß der Freiheitsraum des Gewissens geschützt werden17.
Aus diesem Grund wehrt sich Wolf gegen jedes starre „System” oder „Programm”18 biblischer Weisungen, gegen ihre Auffassung als abstrakte Prinzipien (aus denen nur noch deduziert zu werden braucht)19 oder ihre Deutung als vorgegebener Weltplan20 und billigt ihnen nur eine exemplifikative und erzieherische Bedeutung zu21.
Um so schärfer meldet sich aber ein zweites juristisches Anliegen. Ist die biblische Weisung überhaupt noch Recht?
Um über die Meinung Wolfs Klarheit zu gewinnen, empfiehlt es sich auch hier, seinem „dialektischen” Verfahren folgend, zunächst zu sagen, was biblische Weisung nicht ist, um daran und darauf eine positive Antwort zu finden.
17) RbW 40, 53, 86, RO 322 f.
18) RbW 32, 40, 86, RO 322, RgK 260; anders noch RbW
30.
19) Bibel 291, RO 323; ebenso Ernst Wolf II 200 f.
20) RbW 48 A. 51 = RO 331 f. A. 1.
21) RbW 32 erzieherisch, RO 333 exemplifikativ, OdK
468 exemplarisch.
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Biblische Weisung ist, zunächst in juristischer Sicht, nicht „befehlender Rechtssatz”. Man kann sie nicht normativ verstehen. Norm ist hier die formale und abstrakte, für eine unbestimmte Vielzahl von Fällen unmittelbar verbindliche Regel (Ge- oder Verbot), die zwingend und ausnahmslos1 gilt und „von oben” auferlegt ist, kurz die „obrigkeitliche Satzung”, erst recht also die positivierte Norm2.
Diese Absage an jedes positivistisch-normativ-rationale Verständnis gibt einen wichtigen ersten Hinweis auf den Rechtsbegriff Wolfs.
Weil juristische Satzung dem evangelischen Theologen als lex gilt, die dem Evangelium gegenübersteht, lautet das theologische Zwischenergebnis: Biblische Weisung ist nicht „Gesetz” im theologischen Sinn. Von einer „Vergesetzlichung” oder „Juridifizierung” des Evangeliums kann nicht gesprochen werden3.
Biblische Weisung ist auch nicht ein Gegenstück zur abstrakt-generellen Norm, sei sie rechtsverbindliche Anweisung für jeden konkreten Einzelfall, „Dezision” oder ein anderes aktualistisches oder existentialistisches Recht4.
Ist die biblische Weisung etwa im Wesen Liebe? Ohne hier schon auf das verwickelte Verhältnis des Rechts zur Liebe näher einzugehen, mag vorläufig der Hinweis genügen, daß die biblische Weisung auch mit einem „reinen” Liebesgebot nichts gemein hat — sofern man (juristisch) unter Liebe das ausschließliche Gegenteil des Rechts versteht, (theologisch) den schwärmerischen Antinomismus, der wähnt, die „Liebe” hebe das „Gesetz” auf5.
1) Zum biblischen Scheidungsrecht OdK 551
i.V.m. Treysa 61.
2) RbW 35, 43, 45, 48 m. A. 51, 53, 86, Bibel 291, RO
331, RgK 260 f., BW 774, 777, OdK 468, 551, GuN 641, EStL 833 f.;
vor allem ist es nicht die perhorreszierte kirchlich-autorisierte
Norm, die das Gewissen fessle, RbW 40, 87; s.u. zum ius
div.
3) Zeugnisse 82, RbW 34, 45, 51, 86, Treysa 61
(„zwischen Gesetz und Liebe”), OdK 468 f. Deshalb sei die b. W.
kein evangelisches corpus iuris canonici, ZAkDR 1936 360, GrundO
181, RbW 91, Bibel 291.
4) RbW 86, Bibel 291, RgK 260 f., vgl. OdK 159 A. 2
gegen H. Conzelmanns Rechtsbegriff, Radbr.RPhil. 38 mit Max
Müller (und dazu ZDKPh 1943/44 75 ff.), ebd. 73 gegen einen „auf
die pure Aktion sich gründenden ,Existentialismus’”.
5) RbW 45, 49 und wieder Treysa 61 („zwischen Gesetz
und Liebe”); s.u. 412.
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Erst recht hat biblische Weisung nichts zu tun mit einem bindungslosen Subjektivismus, der auf willkürliche Selbstentfaltung ausgeht6.
Auch als bloß ethisches Gebot kann die biblische Weisung nicht bezeichnet werden. Zwar kommt sie ihm sehr nahe; denn ihre Verbindlichkeit ist (auch) ethischer Natur, und vom Recht gehen enge Bande zur Ethik. Aber biblische Weisung ist nicht immanente Moralvorschrift, ihre Autorität kann nicht auf innerweltlicher Sittlichkeit beruhen, denn sie ist Christi Wort7.
Damit lautet das negative Fazit: Biblische Weisung ist weder Rechtssatz, noch „reine Liebe”, noch bloß sittliche Norm.
Die positive Auskunft muß bei der rechtstheologischen Zentrallehre anfangen. Das ist die Christokratie. Wenn biblische Weisung im „Kern” das Wort in den Wörtern ist, nämlich Christus, und wenn Christus nicht nur die Mitmenschlichkeit Gottes offenbart, sondern auch seine absolute Souveränität und Gerechtigkeit8 — dann eignet der biblischen Weisung eine absolute Autorität.
Genau das behauptet Wolf. Die biblische Weisung ist absolut verbindliches Ge- und Verbot, sowohl was den Inhalt, wie was den Personenkreis betrifft. Sie gilt allgemein, unverrückbar und überzeitlich. Sie verpflichtet unbedingt, sowohl als Grund, wie als Grenze und Ziel jeder menschlichen Rechtsordnung. Sie hat die unbedingte Autorität Christi und damit Gottes und fordert die Antwort des Gehorsams9.
6) RbW 40.
7) RbW 36, 86 f., Bibel 290 f., RO 327, Fragw. 16 (das
Recht bedarf ethischer Begründung), BW 777 f., RdN 18, OdK 382,
492, s. o. 272 f.! Ethik ist hier also immanent philosophische
Ethik (gelegentlich aber auch als transzendente christliche
Ethik: z.B. PR 132).
8) RbW 42, Bibel 288 ff., BW 774.
9) EKD 85, RbW 42 f., 47, 53, 61, 63, 84, 93, GrundO
152, Amst. 595, Bibel 288 ff., RO 327, RGG III 1509, OdK 468,
551, GuN 640, zum rechtsphilosophischen Existential der „Geltung”
vgl. diritto 349 ff. (354-356), zum rechts-theanthropologischen
Existential der Dialektik von Gebot und Gehorsam vgl. PR
147.
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Daneben scheint keine menschliche Freiheit mehr bestehen zu können. Aber wenn man sich vergegenwärtigt, was oben über die Christokratie und die gewissenanleitende, beispielhafte Struktur der biblischen Weisung auszuführen war, dann gewinnt alles seine rechte Kontur und seine Ergänzung von der menschlichen Seite her.
Die absolute Verbindlichkeit gilt nur für den Christen. Doch auch für ihn ist sie vermittelt. Sie entfaltet ihre Verpflichtung über das Medium des Gewissens, das im Glauben zur rechten Entscheidung angeleitet wird. Nur dem wahren Hörer des Wortes gilt ihr Spruch10.
Für den „natürlichen” Menschen „gilt” die Weisung nur abgeschwächt. Sein Gewissen ist nicht gerüstet, der absoluten Autorität zu folgen. Darum steht sie für ihn nur in „natürlicher” Geltung11.
Es liegen also alle Elemente vor, die in der rechtsphilosophischen Sicht Wolfs die biblische Weisung als Recht qualifizieren, und zwar in eminentem Maße: Geltung, Verbindlichkeit, Verpflichtungskraft — wobei ihr Verhältnis hier nicht näher bestimmt zu werden braucht.
Auch die innere Nähe der biblischen Weisung zur Ethik (ihre pädagogische Wirkung durch das Gewissen) ist kein Einwand gegen ihre Rechtsbeschaffenheit. Die Zertrennung von Recht und Sittlichkeit ist eine unbiblische Irrlehre, genauso wie die Scheidung von Innen und Außen beim Recht. Gott fordert das Innen und das Außen. Recht ist autonom und heteronom; es ist innere Gesinnung der Rechtlichkeit und äußere Ordnung; es umfaßt sowohl Gebote der Liebe und der inneren Zucht wie solche der Verfaßtheit sozialer Existenz12.
Deshalb benennt Wolf die biblische Weisung mit von Jahr zu Jahr steigender Deutlichkeit mit dem Namen des Rechts. Sie ist
10) Oben 315 und RbW 37, 40, 43, 61, Bibel 291
(c), RO 335.
11) RbW 56, GrundO 152, RO 327; s.o. 301 ff. 308
f.
12) S.o. 317 (a 4). Wenn bei Heckel das Außen als
selbstverständliche „Ausstrahlung” der Gnade erscheint, so bei
Wolf als sittliche Aufgabe (dazu s.u. 3375); auch
autonom und heteronom sind bei Wolf anders verwendet: während
„autonom” bei Heckel die relative Bewegungsfreiheit zu
menschlicher Rechtsschöpfung innerhalb der lex
charitatis anzeigt (mißverstanden von Wolf ARG 1952 118),
weist es bei Wolf auf materialgefüllte Rechtsgesinntheit
(δικαιοσύνη); „heteronom” bezeichnet gelegentlich auch die
„Vertikale” des Gotteshandelns (Urspr. 31, OdK 155), darin Heckel
nicht unähnlich. Sowohl Heckels als auch Wolfs Auffassung
unterscheidet sich aber von der formalen Autonomie des Gewissens
bei Kant (vgl. Bibel 290 3.).
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Offenbarungsrecht, Bekenntnisrecht, Verkündigungsrecht13. Das kommt ferner in einer Reihe von Antithesen zum Ausdruck. Biblische Weisung ist nicht Rechtssatz, sondern Rechtsgrundsatz; nicht Entscheidungs-, sondern Bestimmungsnorm; nicht Menschensatzung, sondern Gottesrecht.
Rechtsgrundsatz ist die biblische Weisung insofern, als sie, die weder positivierbar noch judizierbar ist14, nur grenzsetzend und richtungweisend auf das von Fall zu Fall zu findende „richtige Recht” hinlenkt; sie gibt die leitenden „Rechtsgedanken”, Leitbilder, Leitsätze, Richtlinien, Richtsätze (alles Synonyme für Rechtsgrundsatz wie biblische Weisung), die zum gerechten Verhalten hinführen. Sie heißt deshalb auch verpflichtende Direktive, „Auftrag”, Mandat (D. Bonhoeffer) oder direktives Gebot (nach P. Althaus)15.
Das ist freilich ein Recht besonderer Art; der neuzeitliche Rechtsbegriff ist verlassen. Es ist theologisches (aber nicht „metajuristisches”)16 Recht, das den juristischen Bereich zwar übersteigt, aber nicht „unjuristisch” ist. Es transzendiert nicht nur jedes menschliche Recht, sondern ist das „transzendente” Recht17 schlechthin. In diesem Sinne bejaht Wolf die Rechtsqualität der biblischen Weisung.
Woher kommt die Legitimation, den Rechtsbegriff so unerhört auszuweiten? Nicht rechtsphilosophische Überlegungen zwingen dazu; es ist der zentrale Gedanke der Christokratie. Wenn Christus der göttlich legitimierte wahre Mensch ist, dann ist Christi Recht das wahre, das eigentliche Recht. Wenn aber Christus die Offenbarung Gottes ist, dann ist Christi Weisung das offenbare Gottesrecht.
13) EStL 832 f.
14) RdN 19, OdK 551, NAR, NRL 125, EStL 832 f.,
Vorstufe Treysa 59 ff.; wäre es positiviert, so würde es durch
dieses menschliche Handeln zu menschlichem Recht.
15) Zeugnisse 82, RbW 43 ff., 48, 53, 87, Bibel 291,
RO 322 f., Calv. 22, BW 777, RdN 19, OdK 159, 468, DO 48 und
allg. NAR. Auch die biblische ἐντολή („Gebot”) versteht Wolf in
diesem Sinn, RdN 52 A. 3, OdK 159. „Richtschnur” steht oft i.e.S.
für die dritte (richtungweisende) Funktion der b. W. — Die b. W.
heißt auch Bestimmungs-, nicht (nur) Entscheidungs-,
Beurteilungs- oder Bewertungsnorm (nach einer Unterscheidung von
Eberhard Schmidt vgl. v. Liszt-Schmidt I 175, 223 ff.), weil sie
jedermann unmittelbar angeht und nicht erst nachträglich zur
Beurteilung angelegt wird (RbW 43 f.; vgl. Schuldlehre 20, ARWP
1932/33 513, Radbr.RPhil. 136).
16) So G. Dickel ARG 1964 111, J. Hoffmann RDC 1966 86
f., beide i.S. H. Liermanns (vgl. 1954 8, ZevKR 1961/62 292),
also als außerrechtlicher Bereich; Wolf verwendet den Begriff in
anderem Zusammenhang, vgl. Schuldlehre 12.
17) Vgl. RbW 27 zur göttlichen Gerechtigkeit.
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Könnte man demnach die biblische Weisung als evangelisches ius divinum bezeichnen? Selbst unter denen, die seine Existenz bejahen, ist es durchaus ungeklärt, was darunter zu verstehen sei. Auch Wolf hat auf die Verschiedenheit des reformierten und des lutherischen Begriffs des ius divinum hingewiesen18. Wie sieht er die Beziehung der biblischen Weisung zum ius divinum?
Gemeinreformatorischer Anschauung gemäß darf es zunächst kein „katholisches” ius divinum sein. Damit ist zweierlei abgewehrt: allgemein ein „gesetzliches” Mißverständnis des göttlichen Rechts, im besonderen die (behauptete) Vorordnung des Lehramts vor das ius divinum19.
Im übrigen aber wird ein evangelisches ius divinum unbefangen bejaht. Es ist formal gleich der biblischen Weisung, inhaltlich gleich dem in ihr offenbarten Gottesrecht. Die biblische Weisung ist das evangelische ius divinum20.
Damit gilt alles, was bisher vom Gottesrecht und von der biblischen Weisung und ihrem Verhältnis zum ius humanum ausgesagt wurde, ebenso für das ius divinum.
18) OdK 369 A. 6 gegen Grundmann RGG III 1575;
anders jedoch RdN 52 A. 2 zur lex charitatis
Heckels!
19) ZAkDR 1936 360, Bibel 289 ff., RO 320, BW 774 f.,
RGG III 1509; nicht mehr erwähnt in EStL 831 ff. Anfänglich (ReG
262, RidK 742, KuR 353, 357) hat Wolf darum sogar jedes ius
div. abgelehnt. — In der katholischen Lehre ist es Str., ob
der Papst das Recht hat, vom ius divinum zu
dispensieren. Nach richtiger Auffassung kann er nur
deklaratorisch feststellen, daß hier das ius divinum
ohnehin nicht gelten will.
20) Ius divinum = Gottesrecht, z. B. OdK 464
f.; ius div./Gottesrecht = b. W., z.B. RbW 41 f., OdK
154, 235, 369 A. 6, 551, EStL 831 f. — In EStL 831 f. wird der
Einbau des ius divinum in die inzwischen
weiterentwickelte ökumenische Rechtsontologie vollzogen: ius
div. ist i.w.S. göttlich gestiftete Seinsordnung (lex
aeterna = „Schöpfungsordnung”); i.e.S. gottesrechtlich
verbindliche Sollensordnung (lex Christi =
„Erlösungsordnung” = Biblische Weisung); im engsten Sinn die
Grundordnung der Kirche (ius div. positivum —
„Erwählungsordnung”). — Anders dagegen K. Barth: ius
divinum ist nur die „Vertikale”, die Christokratie (OdG 63
f.); noch weiter geht M. Schoch 98 „von A bis Z menschliches
Recht”. — Im Grundsätzlichen wie Wolf der große französische
Kanonist G. le Bras ZRG 1938 56 für Gratian: Exemples et
conseils de la Loi et de l’Evangile constituent le droit divin,
qui inclut le droit naturel. Anders dagegen K. Mörsdorf HthG
I 835 „unmittelbar anwendbares Kirchenrecht . . . höchster
Ordnung”.
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So begründet und begrenzt das göttliche jedes menschliche Recht und erhellt sein Wesen: ius divinum weist ius humanum, ius humanum weist zurück auf ius divinum21. Auch hier gilt also die Denkfigur der Analogie von oben nach unten nach oben.
Besonderen Nachdruck legt Wolf auf die Überzeitlichkeit (und Überörtlichkeit) der biblischen Weisung des Rechts. Immer wieder wird betont, sie sei Weisung für alle Zeiten, in jeder Lage, an jedem Ort1.
Das überrascht bei einem Rechtsdenker, der durch die Schule Heideggers gegangen ist; aber hier vertraut der Humanist in Wolf eher der abendländischen Tradition, den Lehren des Kirchenkampfes und der Worttheologie K. Barths2.
Sehen wir genauer zu, was eigentlich an der Weisung überzeitlich, unwandelbar, unverrückbar ist. Es ist dasjenige, was ihren Kern und ihr Wesen ausmacht: das Wort Gottes in den Worten der Schrift, die übergeschichtliche ἐντολή. Darum ist überzeitlich3 ihre Funktion, nämlich als Grund, Grenze und Ziel menschlichen Rechts. Denn insofern ist sie Zeichen der Herrschaft Christi. Überzeitlich ist darüber hinaus das, was das weisende Wort Gottes schafft, indem es anredet: das Volk Gottes quer durch die Geschichte.
Geschichtlich bedingt ist alles übrige. Keine überzeitliche Geltung beansprucht zunächst die Weisung der Schrift, sofern sie als Naturrecht etsi deus non daretur oder als „ewig gültiges” Sittengesetz (miß-)verstanden wird.
Das gleiche gilt für die „Gestalt”, die das göttliche Wort annimmt, etwa die Rechtsbegriffe der Bibel. (Es ist also nicht möglich,
21) RbW 28, 36, 38 f., 55, 64, RO 319, 327, BW
774 f., RdN 17 ff., 28, OdK 5; auch J. Fuchs (1963 218-220)
behauptet die absolute, aber abgeleitete Geltung menschlichen
Rechts als Entsprechung zur Absolutheit der Gabe und des
Anspruchs Gottes auf den Menschen. Einen Schritt weiter wagt PR
151: eine theologisch-existentiell durch die b. W. umgeschaffene
menschliche Rechtsordnung wäre „entsprechendes” ius
divinum, vergöttlichtes menschliches Recht.
1) RbW 41, Bibel 288, RdN 52 A. 3, DO 56, OdK 109,
718.
2) S.u. 414 ff.
3) Entsprechendes mag für die Überörtlichkeit gelten;
Wolf geht darauf nicht weiter ein.
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„formal-biblizistisch” aus der Bibel unveränderlich gültige Rechtsgrundsätze zu gewinnen4.) Sodann ist geschichtlich die Interpretation, die der Mensch im Glaubensgehorsam zu leisten hat; er ist im Gewissen beauftragt, die Weisung von Fall zu Fall in jeder konkreten „Situation” und existentiellen „Lage” auszulegen und zu verkünden. Insofern ist die Vielfalt der Auslegungen Ausdruck der Unerschöpflichkeit des Gotteswortes (und der möglichen Situationen, wie man hinzufügen darf). Zeitbedingt ist schließlich das kraft biblischer Weisung entstehende menschliche Recht5.
Nicht nur die Geschichtlichkeit der biblischen Weisung verbietet es, eine abschließende Systematik biblischer Weisungen zu geben. Ihre rationale Unsystematisierbarkeit folgt vor allem aus ihrem „Weisungskern”, dem personalen göttlichen Anruf zu menschlicher Freiheit, dessen möglichen Inhalt menschliche Begriffskunst nicht erfassen kann. Ein fertiges System, das alle möglichen Situationen erfaßte, würde die Not der Verantwortung aufheben, die zu ertragen Gottes Wort aufruft6.
Ist es deswegen überhaupt nicht möglich, von einem konkret angebbaren Inhalt zu sprechen? Erschöpft sich die biblische Weisung in ihrer grundlegenden, grenzsetzenden und zielweisenden Funktion?
Kritiker hatten in der Tat gemeint, die biblische Weisung sei eine Art Naturrecht mit wechselndem Inhalt; auch wo sie konkrete Weisungen gebe, seien das bereits anderweit übernommene Inhalte7.
Davon trifft nur so viel zu, als die biblische Weisung in der Tat auslegungs- und in einem gewissen Maß ausfüllungsbedürftig ist. Das wurde schon am zeitlichen Geltungsbereich der Weisungen deutlich; denn die biblische Weisung ist überzeitlich und geschichtlich, sie beachtet die menschliche Freiheit.
Im übrigen ist die Weisung des Wortes Gottes nur für denjenigen
4) Ernst Wolf II 201.
5) Zeugnisse 82, RbW 43, 45, 53, RO 319, 323, 333, RdN
19. Zur „Situation” rechtsphilosophisch: QR 35 f.
6) S.o. 315 und RbW 54, RO 322.
7) H. Müller-Zetzsche 44 ff., L. Raiser ZevKR 1951
182.
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ohne Inhalt, der ihre theologischen Voraussetzungen leugnet. Nicht nur behauptet Wolf selbst die Inhaltlichkeit8 — das wäre nur Indiz —, sondern sie folgt aus dem „System” mit Notwendigkeit9. Denn wenn biblische Weisung Ausdruck der Christokratie und des in Christus geoffenbarten wahren Menschenbildes ist, dann ist ihre materiale Ausfüllung der theologischen Anthropologie zu entnehmen. Diese wiederum verweist — wie bei Johannes Heckel — auf das christologische Naturrecht, denn das Menschenbild aus Christus ist von Gott in der Schöpfung von Anfang an grundgelegt. Biblische Weisung und christologisches Naturrecht sind insoweit sachlich identisch. Wenn schließlich das von biblischer Weisung „gewiesene” materiale menschliche Recht eine „Entsprechung” des Gottes-Rechts sein soll, dann muß — logischerweise — auch das Gottesrecht materiale Gehalte aufweisen.
Nach diesen Vorerwägungen kann an einigen Beispielen aufgezeigt werden, wie sich Wolf die christologisch-naturrechtliche Ausfüllung der biblischen Weisung vorstellt. Sie lassen eine gewisse Rangfolge der Weisungen erkennen10.
Der zentrale Inhalt der Weisung lautet: Anrede Gottes an sein Volk, lebendiges Kerygma von Christus, das kommende Reich Gottes aufzuerbauen11.
Deswegen ist die „Grundweisung” das „Große Gebot” der Gottes-und Nächstenliebe12. Aus ihm erfließt alles übrige, namentlich der Dekalog. Davon „abzuleiten” sind die Worte, Gleichnisse und das Verhalten Christi, die Haustafeln der Apostelbriefe, die Goldene Regel und viele andere „Einzelweisungen”13, die hier nicht im einzelnen dargelegt werden sollen.
Doch ist wegen seiner großen Bedeutung wenigstens kurz auf den Dekalog einzugehen. Seine Fortgeltung für den Christen (im Sinne des
8) Z.B. BW 777 „material-ethischer
Rechtsgedanke”.
9) Die Frage nach der Praktikabilität und der
Erkenntnis gehört nicht hierher.
10) Vgl. die Bejahung biblisch-dogmatischer Deduktion
der b. W. RdN 52 A. 6.
11) S.o. 294 ff.
12) RbW 52, OdK 467 A. 9, RuL 488, OdL 19.
13) RbW 50, RdN 31 und die Aufstellungen Bibel 288
ff., OdK 467 f. m. A.
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tertius usus legis), ja für alle Menschen, wird unbefangen bejaht, in bewußter Übereinstimmung mit der scholastischen und reformierten Tradition, während die komplementäre paulinisch-lutherische Linie, die Lehre vom finis legis, eher zurücktritt14.
Der Dekalog ist das einzig unmittelbare Gebot Gottes gegenüber den mittelbaren Weisungen in den prophetischen und Geschichtsbüchern. Er trägt zur Gänze überzeitlichen Charakter. Vermöge dieses „Grundlegungscharakters” enthält er nicht nur „die legitimierende (und limitierende) Grundordnung, die norma normans aller alttestamentlichen Gesetze”, sondern darüber hinaus — Christus ist ja nur legis in-terpres und bringt inhaltlich nichts Neues — „eine Zusammenfassung des Ordnungswillens Gottes” für das neutestamentliche Volk Gottes, ja sogar (vorbildlich) für die ganze Menschheit, „eine Richtschnur aller Sozialordnung”, „Gottes kategorischen Imperativ”.
Damit werden die Zehn Gebote zur Summe aller Rechtsweisungen Gottes und zum „Rechtfertigungsgrund jeder Rechtsordnung” überhaupt!
Entsprechend ihrer Bedeutung können die Zehn Gebote gar nicht weit und tief genug ausgelegt werden15. Beispiele solch extensiver Interpretation gibt Wolf in Auseinandersetzung mit P. Brunner und A. de Quervain16, aber ohne auch nur einen einzigen Exegeten heranzuziehen.
Der bedeutsamste Gewinn durch die Konzeption der biblischen Weisung im derzeitigen kirchenrechtlichen Gespräch scheint darin zu bestehen, daß die Forderung nach einer theologisch-systematischen Fundierung des Rechts — sie ist Gemeingut geworden — erweitert wird zu der Forderung nach der biblisch-positiven Grundlegung des Rechts,
14) OdK 73, 76, 463 A. 7, 466 A. 6 zum
tertius usus legis (scil. veteris), aber mit
Ernst Wolf und Heckel als usus spiritualis
verstanden.
15) RbW 41 A. 21, 44 f., 49, Bibel 290, RO 330 f.,
333, OdK 468, PuS 196. Freilich kann das nur gesagt werden, weil
der Dekalog entsprechend dem Schriftverständnis ganz von Christus
her gesehen wird.
16) RbW 45-53, RO 331 f., OdL 19-27, PuS
196-199.
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namentlich eines ökumenisch verstandenen Kirchenrechts. Diese energisch durchgeführt zu haben, ist das Verdienst Erik Wolfs, ebenso, auf die sozialtheologische Dimension der biblischen Weisung hingewiesen zu haben. Das kann nicht genug hervorgehoben werden; denn nach unserer Auffassung kann es keinen ökumenischen Fortschritt geben ohne gemeinsames Hören auf das Wort Gottes1.
Hier liegen zugleich die offenen Fragen. Sie beziehen sich durchweg auf die Bedeutung der Hermeneutik und der neutestamentlichen Exegese überhaupt für die Gewinnung biblischer Weisung2. Wolfs Haupteinwand richtet sich gegen die Exegese: sie trage nichts aus für die geistliche Substanz des Bibelwortes; erst recht seien religions- oder geistesgeschichtliche Tatsachen geistlich ohne Belang. Die Verschiedenheiten der Auslegung zeigten nur die Unerschöpflichkeit des Wortes Gottes3.
Das ist freilich nicht unrichtig, aber gibt es nur eine historisch relativierende Exegese? Selbst wenn das der Fall wäre: hat nicht auch sie dem Hörer des Wortes geistlich Relevantes zu sagen? Vermag doch nur sie aufzuweisen, in welcher historischen Situation Gott geredet hat. Kann man so vom „Wortleib” (M. Schmaus) und der Geschichte abstrahieren, um dem Wort Gottes „rein” zu begegnen?
Wolf zieht aus der — dogmatisch zweifellos richtigen — Annahme der geistlichen Einheit der Schrift sogar die Folgerung, daß die Verschiedenheit der Hagiographen (auch in Rechtsfragen) weithin außer acht gelassen werden kann. Das ist nicht unbedingt zwingend, ebensowenig, daß der heilsgeschichtliche Standpunkt des Alten Testaments, seine relative Eigenständigkeit, unberücksichtigt bleiben dürfe, weil das Alte Testament nur von Christus her Bedeutung habe.
1) Für eine Interpretation der b. W. als
„wegweisendes” „ethisches Modell” (i.S. T.W. Adornos) und als
verbindlicher „offenbarungsgeschichtlicher Typos” vgl. J. Blank
Concilium 1967 361 f. Blank kommt damit — abgesehen von der
Rechtsqualität der b. W. — der Intention Wolfs sehr nahe.
2) Vgl. die vorsichtige Kritik H. Bornkamms 1948 216
ff. an der prophetisch-christologischen Schriftauslegung Luthers,
die derjenigen Wolfs verwandt zu sein scheint.
3) RbW 43, 53, RO 318; vielleicht steht dahinter
Kierkegaards Einfluß (vgl. GuN 640 f.)?
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Kann man diese exklusiv christozentrische Auslegung des Alten Testaments mit dem ersten Glaubensartikel vereinbaren? (Sie wird auch nur bei der biblischen Weisung durchgeführt; überall sonst ist der erste Artikel berücksichtigt!) Wird man damit der heilsgeschichtlichen Rolle des alttestamentlichen Gottesvolkes ganz gerecht? Vielleicht darf man sagen, daß in diesem Punkt trotz aller Rede von Geschichtlichkeit doch ungeschichtlich-idealistische Vorstellungen mitwirken.
Ein weiterer Einwand richtet sich gegen die Methode der Auslegung4. Man kann nur selten erkennen, auf Grund welcher hermeneutischer Prinzipien die Auslegung der biblischen Weisung ein konkretes Ergebnis — etwa in den grundlegenden Verfassungsfragen der Kirche — ergibt. Gerade die „Menschlichkeit Gottes” (K. Barth) hat doch gezeigt, daß und wie sehr Gott in menschlichen Worten gesprochen hat, die in der Sachlichkeit menschlicher Methoden ausgelegt werden wollen5.
Die hier ausgesprochenen Fragen liegen dem Verfasser deswegen so sehr am Herzen, weil ihn mit Wolf die Überzeugung verbindet, daß nur durch den Rückgriff auf die Rechtsweisungen Gottes in der Schrift das ökumenische Gespräch entscheidend gefördert werden kann.
4) Zur Hermeneutik biblischer Weisung vgl. J.
Blank aaO. 358 ff. (ohne Bezugnahme auf Wolf). — Die ganze
Konzeption der b. W. ist ursprünglich ohne Berührung mit der
Exegese entworfen und durchgeführt; erst ab RdN finden sich
häufiger Zitate von Exegeten, dankenswerterweise auch von
katholischen, aber fast nur aus Lexika (Ausnahme das bedeutsame
Kapitel über die Jüngergemeinde OdK 152-169). Aber entsprechend
der Grundauffassung, daß die „geistliche” Auslegung die
historischen Fragen erübrige, wird auf sie auch dort nicht
eingegangen, wo die Sache es verlangt hätte: rechtlich verfaßte
Jüngergemeinde; die Dreiteilung ἐπίσκοποι — πρεσβύτεροι —
διάκονοι (vgl. auch J. Hoffmann RDC 1965 173); zu berichtigen
etwa, Paulus habe das römische ius quod natura omnia animalia
docuit anerkannt; die atl. Gerechtigkeit sei ganz in der
Frömmigkeit aufgegangen (RbW 10 f.). Zwar wird entgegen der
Kritik E. Schlinks die Notwendigkeit einer biblisch-deduktiven
Systematik bejaht (RdN 52 A. 6), doch wo wird das wirklich
systematisch durchgeführt?
5) K. Barth 1956 18 f. — So sehr eine juristische
Interpretation der Schrift ernst zu nehmen ist, ja mit Wolf
urgiert werden muß; genügt eine Auslegungsmethodik, bei der es
„niemals (auf den) isolierten Wortsinn . . ., sondern auf den
Zusammenhang der Stelle, auf ihre Parallelen mit anderen Texten .
. . und auf ihre rechte (!) Interpretation” ankommt (RO 321)?
Wenn der Theologie Rechtsblindheit vorgeworfen wird, zu Recht,
was wird sie zu solcher theologischen Methodik sagen?