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IV. Das Kirchenrecht

 

1. Entwicklung und Ansatzpunkt

 

Ein kurzer Überblick soll noch einmal die drei Stadien der Kirchenrechtsbegründung Erik Wolfs vor 1945 vergegenwärtigen, damit die Entwicklung bis zu seinem Hauptwerk, der „Ordnung der Kirche”, klarer vor Augen steht und der richtige Einstieg gefunden werden kann.

 

a) Vor 1945

Der Anfang des Kirchenrechts 1934 ist der Tradition verpflichtet. Die Kirche wird im wesentlichen von G. Holsteins Sicht her verstanden (herrschaftlich-genossenschaftliche Struktur; Unterschied und Zusammenordnung von Geist- und Rechtskirche); das Recht wird von der (immanenten) Schöpfungsordnung abgeleitet und mit der lutherischen Dreiständelehre verknüpft.

Die neuen Gedanken des Jahres 1936 enthalten das Programm der Zukunft. Holsteins Auffassungen werden verlassen, ebenso die Schöpfungsordnungen. Ein doppelter Ansatz tritt an ihre Stelle: Kirche und Mensch. Damit kündigt sich die spätere Polarität von Christologie und Anthropologie an. Eine existential vertiefte Interpretation der Kirche und die Rezeption der bisher geleisteten rechtsphilosophischen Arbeit führen zu einem neuen Rechtsbegriff und damit zu eigenständigem Kirchenrecht. Bekenntnis und Gottesdienst werden als die geistliche Mitte des Kirchenrechts erkannt; ihre biblische Weisung wird in Apg 2.42 f. gefunden; von dort aus ist die Verfassung der Kirche geordnet. Die Kirchenleitung steht damit nicht mehr im Mittelpunkt.

 

b) Nach 1945

Nach 1945 wird in drei Schritten das Erreichte ausgebaut und vertieft.

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Der erste Schritt ist der Vortrag über „Bekennendes Kirchenrecht” (1947). Der Titel ist programmatisch. Er ist fortan der Zentralbegriff. Er enthält den reformierter Theologie entstammenden Gedanken der Christokratie in der Kirche und in der Welt. Das Kirchenrecht bekennt die Christusherrschaft in der Kirche, indem es ganz vom Ereignis des Gottesdienstes ausgeht, vor der Welt, indem es beispielgebend verkündigt. Es erhält dadurch eine missionarische Ausrichtung. Dieses bekennende Kirchenrecht wird an Hand der bekannten Formulierung von CA VII entfaltet, indem Wort für Wort ihr Rechtsgehalt ausgelotet wird. Der ökumenische Impuls wird zum erstenmal rechtlich1 greifbar.

Der zweite Schritt ist der Beitrag in der Niemöller-Festschrift „Zur Rechtsgestalt der Kirche” (1952). In ihm wird die Königsherrschaft Christi zur Grundstruktur des Kirchenrechts vervollständigt: Sie ist (vertikale) bruderschaftliche Christokratie und (horizontale) christokratische Bruderschaft. Das ökumenische Interesse tritt in den Vordergrund.

Der dritte Schritt ist das große Lehrbuch „Ordnung der Kirche” (1961) mit den vorbereitenden Artikeln im dritten Band von „Religion in Geschichte und Gegenwart” (1959). Das scheint den vorläufigen Abschluß der Entwicklung darzustellen.

Der Weg zu einer (geistlich-)realistischen Ekklesiologie wird fortgesetzt, indem nicht nur das Paradox der christlichen Existenz zum Ausgangspunkt gewählt, sondern auch konsequenterweise die soziologische Betrachtungsweise als Komplement zur theologischen Sicht der Kirche hinzugenommen wird. Zur Begründung verweist Wolf (in einer konzentrierten Erörterung möglicher Methoden des Kirchenrechts) darauf, daß nur die dialektische Verbindung aller Methoden der paradoxen Situation der Kirche der Sünder gerecht zu werden vermag. Dieses schwierige Unternehmen ist nicht nur theologisch gefordert, sondern auch praktisch notwendig, um das komplexe Ziel eines „ökumenischen” Kirchenrechtes (einschließlich des katholischen) zu erreichen, wie es schon einmal Wirklichkeit war in der Ordnung der Jüngergemeinde und ihrer dialektischen Entfaltung in den Gemeindetypen derUrkirche. Der Ausgangspunkt des Kirchenrechts ist also historisch und wird systematisch durchgeführt. Als Grundsatz gilt, daß jedes kirchliche Rechtsinstitut und jeder Rechtssatz theologischer Begründung bedarf. Hierbei


1) Allgemein vgl. BekK 16.

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wird jedes Thema unterteilt in einen ökumenischen und einen konfessionellen Bereich. Zu letzterem zählt z.B. das bekennende Recht, weil es bisher keine katholische Anerkennung gefunden hat2.

 

c) Der richtige Ausgangspunkt des Kirchenrechts

Für jedes System des Kirchenrechts ist es entscheidend, daß der richtige Einstieg gefunden wird. Denn je nach dem gewählten Ausgangspunkt ist das Ergebnis bereits vorentschieden. Wolf schenkt darum der Eingangsfrage besondere Beachtung.

c 1. Negativ

Verhältnismäßig einfach ist zu sagen, was nicht Ursprung des Kirchenrechts sein kann.

Das ist jede nicht-theologische Begründung; erstens also die Rechtsetzung durch den Staat. Das war nicht immer, ist aber heute selbstverständlich. Auszuscheiden hat zweitens jede rechtsphilosophische Bestimmung des Kirchenrechts. Denn sie verbleibt innerhalb der Grenzen bloßer Immanenz3.

Damit kann Kirchenrecht auch nicht, zum dritten, naturrechtlich begründet werden. Solange keine Übereinstimmung darüber besteht, was unter Naturrecht zu verstehen ist, kann es jedenfalls einem ökumenischen Kirchenrecht nicht als Grundlage dienen. Darüber hinaus ist der große Naturrechtskenner Wolf der Ansicht, daß auch das gängige katholische oder evangelische Naturrecht dazu ungeeignet ist. Es kann allenfalls Grenze, nicht Grund des Kirchenrechts sein. Denn Naturrecht hat mit der Natur zu tun, die Kirche aber (primär) mit der Übernatur, gleich wie man das Verhältnis von Natur und Übernatur näher bestimmen will. Und man muß vom Vorzüglichsten der Kirche ausgehen, wenn man ihr Recht bestimmen will — das ist die Gnade4.


2) Die weitere Entfaltung ist bemerkenswert. Auf die Ordnung des Gottesdienstes (Wort, Sakrament, Liturgie i. e. S.) und der Gemeinde (Begriff, Gliedschaft, Aufbau) folgt die des Amtes (Pfarramt, Ältester, Diakon, Lehramt, Hilfsämter), wie im Grunde schon 1934. Vom Amt getrennt (ein „lutherischer" Gedanke) ist das Kapitel über die Kirchenleitung; die Behandlung der EKD und des ökumenischen Rates der Kirchen schließt den gewichtigen Band ab.
3) OdK VI; s.o. 286 f. u.ö. zur b. W.
4) RbW 68 (90), OdK 65, 469-480; dazu Grundmann ThLZ 1962 332 A. 28. Erst recht hat das Aufklärungs-Kirchennaturrecht der ecclesia naturalis hier nichts zu suchen (OdK ebd.). — Das soll nicht heißen, daß es innerhalb des Kirchenrechts keine ➝

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Aber auch die dialektische Natur des homo simul iustus et peccator reicht allein gesehen nicht zu, so kann man ergänzen. Denn man darf nicht „von unten” ausgehen, auch nicht vom Erlösten, wenn man ihn vom Erlöser getrennt hat.

c 2. Positiv

Es bleibt also die Kirche als Fundort des Kirchenrechts. Wolf zählt denn auch diese Erkenntnis zum Ertrag des Kirchenkampfes. „Kirchenrecht ist eine Funktion des Kirchenbegriffs”, und damit ist ein inzwischen (fast) allgemein, katholischer- wie evangelischerseits5, anerkannter Grundsatz aufgestellt. Die Kirche fordert kraft ihres Wesens das ihr entsprechende Recht.

Aber was ist das Wesen der Kirche? Wer bestimmt es? Denn hier entscheidet sich doch alles. Wolf gibt zunächst die traditionelle Antwort: Das Wesen der Kirche bestimme die Theologie, nämlich die Dogmatik, aus der Schrift, nicht nach subjektivem Verständnis, sondern nach der objektiven Glaubenslehre der Kirche, wie sie in den Bekenntnisschriften festgelegt sei6.

Das kommt einem Zirkelschluß doch sehr nahe. Außerdem hat H. Dombois den Einwand erhoben, daß eine solche Kirchenrechtslehre davon abhängig sei, was man gerade unter die jeweilige Kirchenlehre subsumieren wolle. Denn Abhängigkeit des Kirchenrechts von „der” Theologie — ja, aber auch von „den” Theologien? Das Kirchenrecht würde dann, überspitzt gesagt, zur Funktion der jeweiligen theologischen Mode und verlöre seine ökumenische Funktion.

Wolf sieht die Schwierigkeit7 und geht deshalb über den bisherigen


➝ sachlogischen Strukturen „aus der Natur der Sache” gebe, OdK 567 und u. 355 436. Nur können immanente Strukturen der Kirche nicht zur transzendenten Verfassung der Kirche führen; vielmehr begründet, begrenzt und richtet diese jene. (Außerdem sprechen bei Wolf Bedenken wegen der Ungeschichtlichkeit des Naturrechts und der Vorordnung des Lehramts mit.) Allgemein zum Naturrecht: RGG (21930) IV 445-451, (31960) IV 1353-1359, StL (61960) V 965-971; NRL (11955, 21959, 31964). Freilich hängt das zuletzt davon ab, was man unter Natur verstehen will. (Es hat den Anschein, daß Wolf [gegen K. Barth!] gegen eine christologische Naturrechtslehre [z.B. J. Heckels!] unter gewissen Voraussetzungen nichts einzuwenden hätte.)
5) Wolf (ThLZ 1955 621 f., OdK 23) nennt selbst H. Wehrhahn (ZevKR 1951 55), H. Barion (1931 12 ff.) und K. Mörsdorf; vgl. auch H. Liermann 1933 23; zustimmend G. May ThRv 1961 194, J. Hoffmann RDC 1965 177.
6) ThLZ ebd.; RbW 66 f., 72, Entsteh. 3, OdK 1, 18, 23, 63 ff.
7) OdK 23; übersehen von Dombois RdG 58 „konsekutive” Kirchenrechtslehre (s.u. 69311).

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Stand der Diskussion hinaus. Er beschreitet, um das Kirchenrecht noch „vor” jeder Vielfalt der Konfessionen und der Ekklesiologien zu begründen, den Weg zur „christlichen Existenz”: „Kirchenrecht ist eine Funktion christlicher Existenz” (unten 4). In ihrer Konkretheit wird die reale Dialektik von Christologie und Anthropologie (unten 2, 3) zusammengefaßt und dreifach „geordnet”: im stiftenden Ursprung der Urkirche (unten 4 a), in der Gegenwart des Gottesdienstes (4 b, 4 c) und der in Stiftung und Gottesdienst „zukommenden” „ökumenischen Kirche” (4 d).

 

2. Der christologische Ansatz

 

Christus ist das „Grundgesetz” der Kirche1. Dies wird bezeugt in der biblischen Weisung des Kirchenrechts (a). Sie verkündet die gottesrechtliche Struktur der Kirche als Christokratie und Bruderschaft (b).

 

a) Biblische Weisung des Kirchenrechts

Nun wäre alles das zu wiederholen, was oben zur biblischen Weisung des Rechts zu sagen war. Denn was vom Wort Gottes für das menschliche Recht gilt, das trifft erst recht auf das kirchliche Recht zu. Beschränken wir uns auf kurze Hinweise2.

Da die Kirche die geschichtliche Erscheinung des Reiches Gottes ist, bedarf sie in ganz besonderem Maße der Leitung durch das Wort Gottes. Christus hat es offenbart; die Schrift gibt davon Zeugnis. Dem leitenden Wort begegnet die Kirche in der biblischen Weisung. Die Weisung Christi ist sogar die eigentliche Verfassung der Kirche. Wo die Weisung gehört wird, da ist die Kirche schon „in Ordnung”. Damit hat die biblische Weisung die Funktion des ius divinum. Sie ist Rechtsgrundlage der Kirche und ihres Rechts, Lehrmeisterin kirchlicher Ordnung — Grund, Grenze und Ziel kirchlicher Rechtsschöpfung3.

Wo kirchliches Recht der Weisung zuwiderläuft, gilt es nicht; denn seine auctoritas ruht nicht in ihm selbst. In vielen Einzelweisungen


1) K. Barth OdG 53; OdK 466 A. 7.
2) Zum folgenden RbW 86, 90, GrundO 151, Bibel 288 (a), RgK 259 ff., BW 775, RGG I 49 f., RGG III 1509, OdK 8 f., 24 f., 356, 468 f., 512.
3) Wie Wolf (RGG III 1509, OdK 469) auch Grundmann (oben 18410) zum ius divinum; dazu s.o. 320 f.

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sagt die Schrift, wie die Kirche recht beschaffen ist; vor allem aber will sie die Einheit, die „ökumenische” Kirche. Da so das Kirchenrecht ganz auf dem Fundament der biblischen Weisung aufgebaut ist, gewährleistet es die Eigenart der Kirche und bewahrt sie vor den beiden Entartungen der „Liebes-“ und der „Zwangsgemeinschaft”.

Die Mitte der Kirche aber ist dort, wo das weisende Wort laut wird und wo man mit dem lebendigen Herrn Tischgemeinschaft hat: im Gottesdienst.

Die Verwurzelung des Kirchenrechts in der Offenbarung ist das erste Merkmal dieses Kirchenrechts. Es sichert seine Eigenständigkeit, gibt ihm Grund, Grenze und Ziel.

 

b) Christokratisches und bruderschaftliches Kirchenrecht

Aus dem Kirchenrecht der biblischen Weisung folgt die enge Verbindung des Kirchenrechts mit der Königsherrschaft Christi. Denn die bei der biblischen Weisung aufgezeigte Grundstruktur der Kirche als bruderschaftliche Christokratie und christokratische Bruderschaft ist zugleich Rechtsstruktur, und zwar Rechtsstruktur gottesrechtlichen Ranges.

Das „Kreuz” aus Christokratie und daraus erwachsender Bruderschaft der Gläubigen wird zum obersten Verfassungsgrundsatz der Kirche, ja zur eigentlichen und „einzigen Form christlicher Ordnung”.

b 1. Die Ordnung der Christokratie

Christokratie umfaßt für das Kirchenrecht ein zweifaches: Zunächst und in der Hauptsache ist sie der verborgene Dienst Christi, sodann in strenger Nachordnung die ihr „entsprechende” menschliche Ordnung der Kirche, die auf den Ruf des Herrn hört und sich nicht an weltlicher Staatlichkeit sichert. Diese Verfaßtheit entfaltet sich rechtlich in Wort und Sakrament, also im Gottesdienst. In der Verkündigung wird die Christokratie ausgerufen, in der Taufe wird zur Nachfolge erwählt, im Abendmahl zum Tisch des Herrn versammelt. So entsteht die dreifache Ordnung der Verkündigung, der Taufe und des Abendmahls als die rechtliche Mitte der Gemeinde. Das alles kann man zusammenfassen im Begriff der „Gottesdienstordnung”4.


4) KuR 360, RbW 88 ff., RgK 258 f., RGG II 1331 f., RdN 16 ff., OdK 150 ff., 155 ff., 511 f., OdL 7, 9, RuL 479 f., EStL 833. Daß die „vertikale” christokratische ➝

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b 2. Die Ordnung der Bruderschaft

Christi Herrschaft eint die Kirche durch die biblische Weisung zur Bruderschaft. Damit entsteht eine eigenständige Ordnung, die alle naturrechtlichen Anleihen erübrigt und übersteigt. Die Bruderschaft Christi begründet „entsprechende” menschliche Bruderschaft aus unvertretbaren, untrennbar in Christus solidarisch verbundenen Personen. Christi Herrschaft und Dienst spiegelt sich analog wider in den beiden Strukturelementen der Bruderschaft: in der Schlüsselgewalt und in der Diakonie. Man kann sie zusammenfassen in dem einen Begriff der „Dienstordnung”. Dieses Bruderschaftsprinzip ist das „zweite constituens” des Kirchenrechts, das als lebendige Verfassung in jeden Rechtsakt hineinwirkt. Es ist also insoweit Grund allen übrigen Kirchenrechts. Zugleich ist es seine Grenze: Niemand darf „hoheitlich” herrschen wollen5; und sein Ziel: Nur was dem Bruder dient, ist Recht.

Doch die Tragweite der christokratischen Bruderschaft geht weiter. Rechtlich gesehen ist sie Bußgemeinschaft, Bekenntnisgemeinschaft und Weisungsgemeinschaft: Bußgemeinschaft, denn Bruderschaft heißt zunächst μετανοεῖν, Umdenken als Vorbereitung für die Annahme des Rufes Christi (das bedeutet für ihr Recht, daß es eine „offene Ordnung” ist, die stets des Gerichtes und des kommenden Rufes gewärtig ist); Bekenntnisgemeinschaft, denn sie bekennt auch in ihrer lebendigen Ordnung ihren Herrn (damit ist hier die Quelle des bekennenden und der Welt ein Beispiel gebenden Rechtes); Weisungsgemeinschaft, denn sie lebt als Bruderschaft nur im beständigen Hören auf die biblische Weisung6.


➝ Struktur im Amt der Kirche ihre analoge Darstellung findet, ist ein auch Wolf vertrauter Gedanke (s.o. 278 284), der aber immer mehr zurücktritt, um einerseits die Einzigartigkeit Christi als des Hauptes besser rechtlich wiederzugeben, andererseits um die Unterordnung des Amtes unter Wort und Sakrament deutlicher zu machen.
5) Auch keine obrigkeitliche „Ämterhierarchie” und kein vorgeordneter „Priesterstand” — was keine billige Konfessionspolemik ist, sondern die in allen reformatorischen Kirchen gegenwärtige lebendige Erinnerung an ungeistlich begründete, auf Macht beruhende weltliche „Herrschaft” in der Kirche, wie sie in den reformationszeitlichen Mißständen und den staatlichen Übergriffen bis in unsere Zeit erfahren wurden. Genauso aber ist jedes „demokratische” egalitäre oder kollektivistische Mißverständnis der Bruderschaft ausgeschlossen, also jedes Verständnis, das politisch-staatliche Rechtsformen auf die Kirche überträgt.
6) Wie A. 4, ferner GrundO 151, Urspr. 31 f., OdK 4, 11 f., 16 f., RdN 24 ff., 27. Das Bruderschaftsprinzip berührt sich in Herkunft und Inhalt eng mit dem Gedanken der Kerngemeinde (s.u. 382 f.).

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Die Verfaßtheit als Christokratie und Bruderschaft, Gottesdienst-und Dienstordnung ist die eigentliche Kirchenverfassung. Was man sonst als Kirchenverfassung zu bezeichnen pflegt, ist daraus abgeleitet.

 

Vergleicht man die beiden bisherigen „von oben” gesehenen Ansätze, das Kirchenrecht der biblischen Weisung und der christokratischen Bruderschaft, die schon über die traditionelle Begründung des Kirchenrechts hinausführen, so zeigen sie sich als zwei Aspekte eines einzigen Satzes: Kirchenrecht ist nicht Funktion der Kirche, sondern Funktion der Herrschaft Christi.

Kirchenrecht ist aber zugleich — und vielleicht vor allem — Funktion christlicher Existenz. Wie verhält es sich damit?

 

3. Der anthropologische Ansatz

 

Auch im Kirchenrecht reicht, wie in der Ekklesiologie, die rein christologische Sicht nicht aus, um die Kirchenrechtswirklichkeit zu beschreiben. Die Realität der Sünde darf nicht übersehen werden. Man muß also die Paradoxie der Existenz des simul peccator et iustus berücksichtigen.

 

a) Die paradoxe Ordnung

Daraus resultiert eine „paradoxe Ordnung” eines Kirchenrechts, das geistlich und weltlich zugleich ist. Es ist ein Recht nicht von, aber in dieser Welt; göttliches Recht, aber in menschlich-allzumenschlicher Gestalt. Auch bei ihm treffen Sünde und Gnade real aufeinander und sind zur paradoxen Ordnung zusammengespannt. Es ist eine „Ordnung der sündigen, aber zugleich erlösten” Menschen. Nur wenn sie paradoxerweise beides berücksichtigt, ist die Kirche „in Ordnung”1.


1) RbW 64, 74, BW 775, RGG III 1506, Basler Kirchenbote 1961, OdK V, 6, 155, 193; eine rechtsphilosophische Parallele: auch W. Schönfeld hat (in seiner Spätschrift „Über die Gerechtigkeit” 1952) den „paradoxen Charakter” des Kirchenrechts betont, das beiden Reichen angehöre und aus der paradoxen Kirche folge; wie Wolf hat er die Kirche als geistlich-weltliches „Reich der Gnade” in „Knechtsgestalt” zwischen den Zeiten bestimmt (ebd. 37, 121 f.) — eine mehr als nur formale Ähnlichkeit (wenn auch Wolf den Neuhegelianismus Schönfelds nicht teilt), vgl. die wörtlichen Übereinstimmungen Gutachten 181, dazu oben 277!

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„Paradoxie” des Rechts will sagen: Es ist eine besonders „scharfe”, antinomische Dialektik, eine reale Einheit, die aber nicht rationalisierbar ist; tatsächlich zwar vorhanden, theoretisch aber unaussagbar und erst recht nicht definierbar. Zugleich enthält es eine Warnung: Paradoxe sind unaufhebbar, dürfen aber um keinen Preis auseinandergerissen werden, sondern müssen stets als In- und Miteinander bewußt bleiben2.

 

b) Das göttlich-menschliche Recht

Diese paradoxe Dialektik sagt etwas aus über das göttliche und über das menschliche Recht der Kirche.

Vom ius divinum heißt es, daß es trotz seiner absoluten Transzendenz nicht vom ius humanum der Kirche getrennt gesehen werden darf3. Es trägt, begrenzt und weist menschliches Recht — nicht getrennt von ihm, aber auch nicht mit ihm zu identifizieren. Es „existiert” immer nur in geschichtlicher Gestalt — wie das Reich Gottes in der sündigen Kirche. Das könnte man eine „dialektische” Interpretation des ius divinum nennen.

Das ius humanum zeigt das Paradox einer weltlichen und dennoch geistlichen Ordnung, wie nun näher darzulegen ist.

b 1. Das weltliche Kirchenrecht

Die Weltlichkeit geistlicher Ordnung heißt vor allem4 — und dies interessiert besonders den Juristen: Menschliches Kirchenrecht trägt alle


2) So meist: RbW 64, 74, OdK V, 5 f., 153; Beispiele: die bekennende Ordnung und die christliche Ehe, OdK 504 ff., 551 f.
3) RGG III 1506, OdK 153, 155.
4) Daneben ist die Gefährdetheit des Rechts durch die Sünde gemeint. — In noch einem dritten (uneigentlichen) Sinn unterliegt die Kirche „weltlichem” Recht. Gemeint ist jetzt nicht kirchliches, sondern das staatliche (Staatskirchen-)Recht. Denn sie unterliegt als Kirche in der Welt auch den soziologischen Gesetzmäßigkeiten der Welt. Das ist ihre „soziologische Rechtsgestalt” (wie sie sich etwa in der staatlich-rechtlichen Beschreibung als „Körperschaft des öffentlichen Rechts” ausdrückt), RgK 258, OdK 139 f. — Die „theologische” Rechtsgestalt ist der kirchenrechtliche, die „soziologische” der staatskirchenrechtliche Bereich. In diesem Sinne wird die Differenzierung zwischen iura in sacra und iura circa sacra akzeptiert, RgK ebd. gegen RbW 66; dazu historisch OdK 383, 393, 412, 480 A. 1, 492 (teilweise abweichend interpretieren die iura in/circa sacra Grundmann LWB 103 ff., RGG III1581 f. u. ö., J. Heckel Cura 281 ff.). Doch ist für Wolf ganz selbstverständlich, daß hier nicht die Selbständigkeit der Kirche und die Eigenständigkeit ihres Rechts angetastet werden soll.

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Charakteristika des weltlichen Rechts; denn es steht „in der Welt unter den natürlich-vernünftigen Gesetzmäßigkeiten des Daseins”.

„Kirchenrecht teilt eben die dialektische Struktur allen Rechts, die sich zwischen den Polen institutioneller und ideeller, konkreter und abstrakter, historischer und philosophischer, normativer und dezisiver Ordnung entfaltet. Darum ,gibt’ es nicht nur in jeder Kirche geschriebene und ungeschriebene Normen, ,kommt’ Satzungsrecht und Gewohnheitsrecht in jeder ,vor’; . . . Insofern folgt auch die Kirchenrechtslehre den Regeln, die auf anderen Rechtsgebieten ,sachlogisch’ (strukturell notwendig) gelten. Die von der Rechtsontologie herausgearbeiteten Grundstrukturen des Rechtseins teilt auch die kirchliche Rechtsordnung — sonst wäre sie keine.” Es gibt also sachlogische Grundstrukturen, Rechtsontologie, ja juristische Rechtstechnik der Gesetzgebung, Verwaltung, Rechtsprechung und Organisation, wie sonst beim weltlichen Recht. Kirchenrecht muß juristisch einwandfrei sein. Wolf bezeichnet das zusammenfassend als die „Positivität” des Rechts, was die Bejahung positiven Rechts umfaßt5.

Es ist sogar von Übel, ein allzu „geistliches” Recht zu erstreben. Zu leicht treibt man den juristischen Teufel des Rechtspositivismus aus und holt sieben schlimmere des theologischen; oder man spricht „geistlich”, aber unverbindlich. Eine derartige „Theologisierung” des Rechts wäre nicht nur unvernünftig, sondern theologisch falsch! Denn die „Weltlichkeit” des Kirchenrechts ist eine dogmatische Notwendigkeit. Sie folgt aus der Geschichtlichkeit der Kirche. Gottes Recht will menschliches, d.h. juristisches Recht. Daß dieses menschliche Recht mehr ist als sein weltlicher Anschein, ist nur im Glauben zu erfahren6.


5) Entst. 3, OdK 5 f., 12 f., 509; noch weiter ging RbW 73 f. (die Zitate finden sich OdK 6, 13); ganz ebenso Grundmann ÖAfKR 1965 298 u.ö., auch G. Söhngen 1962 61, 64 ff. Zustimmend G. May ThRv 1961 194; kritisch P. Landau ZKG 1962 347, aber was er vermißt, steht im Zitat OdK 13. Zur wesensmäßigen „Positivität des Rechts” (sein „geschichtliches” Dasein, so ab 1936) vgl. OdK 12 f. (wohl nach G. Radbruch RPhil 169); zustimmend A. Kaufmann 1957 27 A. 45, 1965 476.
6) RbW 68, RgK 257, BW 775, OdK 12 f., 18, 21, 509. Gegen den kanonistischen Positivismus vgl. G. Söhngen LThK VIII 639. Zur „Theologisierung” des Rechts: RgK 257, OdK 509.

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b 2. Das geistliche Kirchenrecht

Wenn so viel über die Weltlichkeit des Kirchenrechts gesagt ist, muß aber auch darauf hingewiesen werden, daß es von biblischer Weisung begründetes und begrenztes Recht ist; oder vom Menschen aus gesehen: Es ist vom Glauben erzeugtes und bezeugtes Recht. Es steht unter der Christokratie und weist über jedes menschliche Recht hinaus und auf seinen göttlichen Ursprung zurück. Es ist zwar eine Ordnung der sündigen, aber auch und vor allem der erlösten Existenz, ein Kirchenrecht nicht von dieser Welt.

Man muß sogar feststellen, daß die Geistlichkeit des Rechts das Wesentliche, die Weltlichkeit das Akzidentielle ist. Denn das Recht ist seiner Natur nach „göttlich”7!

 

Wenn das einzig legitime Paradox des Kirchenrechts das anthropologische ist, dann ist jede andere Entgegensetzung illegitim.

 

Exkurs VII: Die kirchenrechtliche Methode

 

Aus dem Paradox der geistlich-weltlichen Existenz der transzendenten und zugleich geschichtlichen Kirche folgte das dialektische Paradox des Kirchenrechts; aus diesem leitet Wolf die dialektische Verbindung von „geistlicher” und „weltlicher” Methode des Kirchenrechts ab.
Weil dieser Methodenpluralismus theologisch begründet und begrenzt ist — darin unterscheidet er sich von der Wolf-Laskschen „Methodenverschlingung” der zwanziger Jahre —, ergibt sich zunächst der Vorrang der theologischen Methode. „Kirchenrechtslehre ist ein Kapitel aus der Theologie des Rechts.”
Die theologische Methode im Kirchenrecht besteht zunächst in der Entfaltung und Rechtsinterpretation der Ordnungsprinzipien des kirchlich-gottesdienstlichen Lebens, also der „geistlichen” Dimension der christlichen Existenz.
Wegen der konfessionellen Zersplitterung kommt ein neues methodisches Element hinzu, das nicht allein aus der Paradoxie christlicher Existenz abgeleitet werden kann: Die „ökumenische” rechtstheologische Methode muß


7) BW 775, OdK V f., 5 f., 164, 509. Das ist zugleich eine rechtsethische Forderung. Denn „eine Kirchenordnung kann juristisch intakt und dabei doch rechtlich fragwürdig sein, ja geistlich Not leiden”, Gutachten 181.

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ergänzt werden durch Berücksichtigung konfessioneller, ja kontroverstheologischer Ansätze.
Aber gerade das Theologoumenon der welthaften Kirche fordert die zusätzliche Anwendung der juristisch-positivistischen Methode. Mit Kl. Mörsdorf (den Wolf zitiert): „Die Kanonistik ist eine theologische Disziplin mit juristischer Methode”8. Darum ist weitgehend die Rechtstechnik mit ihren Eigentümlichkeiten zu rezipieren, einschließlich der daraus folgenden Ergebnisse.
Auch die historische und soziologische Methode müssen für das Kirchenrecht fruchtbar gemacht werden. Die Begründung liegt wieder im welthaften Charakter der Kirche.
Diese „Dialektik” von theologischer und nichttheologischer Methode bedeutet die Eigenständigkeit des Kirchenrechts in methodischer Hinsicht. „Dialektik” heißt hier: Alle diese Methoden sind säuberlich zu unterscheiden in dem Bewußtsein der Einheit ihres Erkenntnisobjektes, aber auch der Möglichkeit von Konflikten. Keine Methode ist für sich theologisch unlegitimiert, jede aber problematisch und nur mit relativem Mitspracherecht begabt9.
Würde die Kirchenrechtswissenschaft diese umfassende Schau rezipieren, vielleicht vermöchte sie in aller Gebrochenheit doch ihrem großen Gegenstande gerecht zu werden!

 

c) Unechte Gegensätze

Nun ist die Kirchenrechtslehre gerüstet, einige der pseudoevidenten, „steril gewordenen Begriffsgegensätze” über Bord zu werfen, die die Diskussion des Kirchenrechts seit Jahrhunderten vergiften: die falschen Alternativen der unsichtbaren und der sichtbaren Kirche, der Geist-


8) OdK 17 m. A. 3, K. Mörsdorf I 36; zustimmend G. May ThRv 1961 194, ähnlich J. Hoffmann RDC 1965 177 (Offen bleibt freilich die Zuordnung dieser theologischen Disziplin zum Recht oder zur Theologie!). Der Vorrang der Theologie impliziert eine bestimmte Ontologie: Der Methodenpluralismus beruht auf den „mehrfache(n) Aspekte(n) des Seinsverständnisses” (des Seins der Kirche), Basler Kirchenbote 1961.
9) RbW 82, 84, 86, ThuR 34, RGG III 1506-1508, OdK 1 A. 3. Allerdings hat Wolf die soziologische Methode im wesentlichen nur für die Kirche (vgl. RGG III 1507 [c], OdK 85 ff.), nicht für ihr Recht (vgl. diritto 351) fruchtbar gemacht. — Bei der theologischen Teilmethode fordert Wolf die „dialektische” Verbindung von vier Sichtweisen: der kontrovers-, ökumenisch-, existential- und konfessionstheologischen Aspekte, die je ihre Nachteile und Vorteile haben (RGG III 1507 [d], OdK 18-22). Ein besonders klar durchgeführtes Beispiel ist das Verhältnis von Amt und Gemeinde (OdK 564 ff.) oder das Ineinander bisheriger methodischer Ansätze (RGG III 1508 [e], OdK 23 f.).

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und der Rechtskirche, der Wesens- und der empirischen Kirche, der Kirche als Institution und Ereignis.

Diese „toten” Begriffshülsen führen ja immer noch (und nicht nur in der evangelischen Theologie) eine „gefährliche Scheinexistenz”; mit ihnen läßt sich trefflich streiten, aber nicht die Wirklichkeit der Kirche Christi erfassen. Vor allem verhindern sie die Begegnung von Theologie und Recht10.

c 1. Unsichtbare und sichtbare Kirche

Sohms spiritualistische Trennung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche11 ist es vor allem, gegen die sich Wolf wendet. Neben den rechtstheologischen Gründen bewegt ihn das sozialethische Motiv: Die Zertrennung von Unsichtbarkeit und (abgewerteter) Sichtbarkeit der Kirche führt zu sozialer Verantwortungslosigkeit. Die der Welt ein Beispiel gebende Aktivität der Gemeinde geht verloren, wenn nur noch die Herzensgemeinschaft wesentlich ist, ihre äußere Entsprechung aber nichts mehr mit ihr zu tun hat12.

Sohms Spiritualismus verstößt — nun wieder die beiden theologischen Grundannahmen — sowohl gegen die Christologie wie gegen die Anthropologie.

Die Worte „sichtbar und unsichtbar” sind genausowenig wie „außen und innen” geeignet, das Göttliche zu umschreiben. Christus ist der Herr beider. Die Christokratie ist sichtbar und unsichtbar zugleich. Deshalb stimmen namhafte Theologen darin überein (genannt werden K. Barth und E. Brunner), daß auch die sichtbare Kirche von Christus „gestiftet” ist.

Erst recht ist sichtbar die Bruderschaft der Christen, die die Herrschaft Christi geschichtlich-leibhaftig darstellt. Die bloße Glaubens- oder Herzensgemeinschaft der „stillen Kämmerlein” ist noch keine Kirche (E. Schlink). Erst im sichtbaren Bekennen des Königtums Gottes, in Taufe, Predigt und Abendmahl wird sie zur Kirche. Rechtstheologisch richtig folgt deshalb aus den Sakramenten die Sichtbarkeit.

Christliche und also kirchliche Existenz in bruderschaftlicher Christokratie überwindet jeden Gegensatz von unsichtbarer und sichtbarer


10) RbW 66, OdK 496-501.
11) Wolf setzt ecclesia visibilis und eccl. invisibilis mit eccl. instituta und abscondita gleich, ARG 1952 116 f., OdK 71, 498; für Luther s.o. 157 f. m. A. 70.
12) RbW 71, 74, OdK 498 f.

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Kirche. Christliche und also kirchliche Existenz ist immer auch geschichtlich-sichtbare Existenz in Raum und Zeit13.

Der traditionell-spiritualistische Dualismus ist also überwunden; einen anderen setzt Wolf — legitimerweise — an seine Stelle, wobei es wichtig ist zu bemerken, daß damit die Begriffe einen neuen Inhalt bekommen.

Denn die Kirche ist „unsichtbar”, insofern nicht festgestellt werden kann, wer jemals im Laufe der Zeiten zum Reich Gottes zählt. Diese unsichtbare Kirche ist der Leib Christi (σῶμα Χριστοῦ). Sie ist die auserwählte Gemeinde Christi, der Tempel, den Christus auferbaut14.

Sie steht wieder in engem Bezug zur geschichtlichen Kirche15, in einer „notwendigen Dialektik”: nicht identisch, aber auch nicht getrennt. Nicht identisch, denn es gibt sicher Menschen, die vor Christus und (scheinbar) neben der Kirche zum Heil gelang(t)en; nicht getrennt, denn der Leib Christi lebt in der zeitlichen Kirche16.

Leib Christi, „unsichtbare” Kirche und Reich Gottes sind also das gleiche.

c 2. Geistkirche und Rechtskirche

Der zweite falsche Gegensatz ist der von Geistkirche und Rechtskirche17. Theologisch geht es dabei um den Bezug von „Gesetz” und „Evangelium”, „Gerechtigkeit” und „Gnade”, „Recht” und „Liebe”.

Immer handelt es sich um das Verhältnis von Recht und Pneuma, Recht und Charisma. Recht ist dabei immer zugleich etwas (mehr oder minder) Weltliches, und das Pneuma braucht kein Recht oder ist sogar


13) Akad. (1933!), ReG 263, NdK 1072, KuR 356, RidK 742, RgK 258, OdK 54 (m. A. 2), 68 f., 499 f. (m. A. 4), 513, EStL 833 f.
14) ReG 263, NdK 1072, KuR 356, RidK 742, ReG (5) 254 f., 261, Reich 52, RbW 92, RgK 261, OdK 9, 153, 163; Leib Christi als Bund der Einheit RGG II 1332, OdK 163.
15) Hier nicht i.S. v. RbW 74 (= soziologische Kirche) gebraucht.
16) OdK 70, 163, 500; vgl. K. Barth KD IV/2 698 ff. mit OdK 500 A. 4.
17) Wolf nennt als im wesentlichen gleichsinnig aus der evangelischen Diskussion die Liebes- und die Gesetzeskirche, die Wesens- und die empirische Kirche, oder, mit R. Bultmann, die „verkündigte Gottesherrschaft” gegen die „gegründete Kirche” u.a.m. Dazu und zum folgenden ReG 260, RbW 74, ThuR 34, RGG III 1507, OdK 151 f., 497 f., 500 f.; unspezifischer Gebrauch: OdK 163. — Nicht damit zu verwechseln ist die Unterscheidung von „theologischer” und „soziologischer Rechtsgestalt” der Kirche: Die (falsche) Antithese Geist- und Rechtskirche bewegt sich innerhalb der „theologischen Rechtsgestalt” (dazu unten Exkurs VIII 399 f.).

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rechtsfeindlich. Je nachdem ist dann das Recht ein ἀδιάφορον18 oder der Feind der wahren Kirche. Oft verbindet sich die Trennung von Geist- und Rechtskirche mit der von unsichtbarer und sichtbarer Kirche. Dann ist die unsichtbare die rechtsfreie Geistkirche, die sichtbare die rechtsbehaftete und deshalb inferiore „empirische” Kirche, die beliebiger Gestaltung offensteht.

Wolf teilt mit den beiden anderen hier behandelten rechtstheologischen Richtungen die Ansicht, daß sowohl antiquierte Rechtsauffassungen als auch fehlinterpretierte Theologoumena zu diesen Entgegensetzungen führen19. Sie können — auch im interkonfessionellen Gespräch — nicht mehr aufrechterhalten werden. Mit dankenswerter Klarheit und Sachkenntnis räumt Wolf mit dem Vorurteil auf, die katholische sei die Rechtskirche, die evangelische die Geistkirche — als ob nicht solche Probleme interkonfessionell zu sein pflegten und gemeinsamer Bemühung würdig.

Kirche ist notwendig und unscheidbar Geist- und Rechtskirche. Denn Geist und Recht stehen, wie in der Schrift, in einer dialektischen Spannung. Sie sind eins in der Unterschiedenheit. Man kann ihr Verhältnis sehen wie die Einheit von Seele und Leib beim lebendigen Menschen.

Hier ist auf die Lehre von den „notae extemaeecclesiae zu verweisen: Die geistliche Kirche wird an äußeren (und doch geistlichen) Zeichen erkannt, nämlich an Taufe, Predigt und Abendmahl. In ihnen treffen Geist und Recht zusammen. Denn rechte Kirche ist nur, wo die notae anzutreffen sind und wo die Kirche in Predigt und Sakramenten den Geist Christi verkündigt; dort ist sie zugleich „in rechter Ordnung” und damit — Rechtskirche20.

c 3. Wesenskirche und empirische Kirche

Eng mit der vorigen Unterscheidung verwandt ist diejenige von Wesens- und empirischer oder wieder Rechtskirche. Sie knüpft an die lutherischen Bekenntnisschriften an (ecclesia proprie — large dicta). Aber was


18) Gegen Kirchenrecht als ἀδιάφορον: KuR 353, RbW 74, Bibel 290, RO 334, OdK 503 u.a.; ebenso (u.a.) Grundmann RGG III 1571, ELKZ 1960 166, ZevKR 1962/63 14, ZevKR 1964/65 11, wie schon A. Adam DtPfBl 1936 360 (und im 19. Jh. Th. v. Harnack!).
19) Für Wolf siehe OdK 497 f.
20) Daß damit natürlich ein besonderer Rechtsbegriff vorausgesetzt ist, liegt auf der Hand. Auf ihn soll noch einmal am Ende der Darstellung eingegangen werden.

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dort noch innerlich verbunden war, wird auseinandergerissen als Folge einer Verschiebung im reformatorischen Naturbegriff (!): Gnade und Natur treten weit auseinander. Die Wesenskirche wird der Gnade zugeordnet — sie allein ist heilsbedeutsam —, die Rechtskirche der „empirischen” Sünden-Natur. Darum heißt sie also die „empirische” Kirche. Ihr Recht ist bloße „Notordnung” infolge der Sünde.

Aber auch diese Kontraposition ist falsch; sie führt entweder zur Schwärmerei oder zur Politisierung der Kirche. Wesens- und Rechtskirche sind eins. Wie Natur und Gnade in der christlichen Existenz dialektisch verbunden sind, so ist auch die Wesenskirche mit der Rechtskirche dialektisch geeint21.

c 4. Kirche als Institution und Ereignis

Eine vierte Antithetik nimmt eine Sonderstellung ein; bei den drei bisher behandelten war Wolf von Anfang an der Meinung, sie seien falsch und zu überwinden. Anders bei der Kirche als „Institution und Ereignis”. Drei scharf geschiedene Perioden stehen sich gegenüber.

4 a) 1936/37

Zur Zeit des „existentiellen Kirchenrechts” (1936/37) sind Institution und Ereignis eine selbstverständliche Einheit, auch wenn kein Wort darüber verloren wird. Denn Wesen („Ereignis”) und Ordnung („Institution”) der Kirche fallen fast in eins in der gelebten Ordnung des Glaubens („bekennendes Recht”).

4 b) 1948

Unter dem Einfluß der antiinstitutionellen Theologie K. Barths wird in „Rechtsgedanke und biblische Weisung” (1948) die Kirche nur vom Ereignis her gesehen; alles Institutionelle wird abgewertet.

ba) Ereignis
Ereignis ist die freie und unvorhersehbare Tat Gottes; sein Gnadenakt, durch den der Mensch zum Glauben kommt und zur Gemeinde Christi berufen wird. Ereignis ist ein fortwährendes dynamisches Sich-versammelt-halten in Christus und ein gehorsames Versammelt-werden; immer neu durch die Zeiten, aus der Vergangenheit durch die


21) RbW 76, OdK 500 f. mit lebhafter Zustimmung G. Mays ThRv 1962 259.

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Heilsgegenwart in die Zukunft übergehend. Ereignis ist endlich ein stets offener Raum, nicht abgeschlossene Zeit, fließend und beweglich; ganz im Dienst der wechselnden Erfordernisse der Verkündigung22. „Kirche” ist dann überall dort, wo sich dieses Gnadengeschehen ereignet.

bb) Congregatio, Stiftung und Anstalt
Die ereignishafte Kirche benennt Wolf mit dem Wort aus CA VII: congregatio23. Congregatio ist in dieser Zeit „das” reformatorische Kirchenverständnis; sie ist das „raum-zeitliche Kontinuum” (K. Barth), in dem sich Christokratie und Bruderschaft und damit „Kirche” ereignen.
Die Kirche als „Stiftung” drückt nur das passive Element aus, daß nämlich dieses Ereignis im Gehorsam aufgenommen werden muß und folglich für Menschen unverfügbar ist24.
Die Kirche als „Anstalt” dagegen wird abgelehnt. Denn für Wolf sind Anstalt und Institution das gleiche25. Was also heißt Institution?

bc) Institution
„Institution” ist in „Rechtsgedanke und biblische Weisung” (und meist, wo polemisch oder sonstwie uneigentlich darüber gehandelt wird) das ungeistliche Gegenstück der ereignishaften Kirche, das folglich abzulehnen ist.
Die Institution Kirche26 (übrigens nirgendwo näher umschrieben) ist die statisch-abgeschlossene „Einrichtung”, die sich bis zur Unabänderlichkeit verfestigt hat. Sie ist sich zum Selbstzweck geworden und reglementiert mit angemaßter geistlicher Autorität das Leben der Gläubigen.


22) RbW 69 ff., 89, OdK 66, 71.
23) Das ereignishafte Verständnis der congregatio behält Wolf auch später bei, wenn er dann vorteilhafter von der institutionellen Kirche spricht.
24) RbW 69 ff., 83, 88 ff., RgK 259, OdK 66, 68, 499; in OdK 66 wird congregatio als das aktive, Stiftung als das passive Element des Ereignisses Kirche mit der Kirche
als „Bund” verknüpft.
25) RbW 71, OdK 66, anders noch ReG 260, Gutachten 194; zur katholischen Kirche als Anstalt (ohne jede Polemik) OdK 54-56.
26) Von Institutionen innerhalb der Kirche kann man nur reden, sofern diese — der Dialektik des simul peccator et iustus gemäß — Rechtsgemeinschaft sündiger Menschen ist. Dann sind die Institutionen mahnendes „Gesetz” — so ist wohl RbW 73 f. zu verstehen. Anders noch, von der Schöpfungsordnungslehre her, KuR 359: Institutionen gebe es wenigstens im Kirchenrecht i.w.S., nämlich die Verwaltung und Regierung der Kirche.

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Bezeichnend sind die Antithesen: Die Kirche ist — recht verstanden — nicht „gesetzlich”, sachhaft-institutionell, sondern personal, dynamisch, existentiell — nicht Institution, sondern Funktion (Hilfe, Werkzeug)27.

Was veranlaßt Wolf dazu, in dieser Zeit so scharf Ereignis und Institution gegeneinander zu stellen? Mehrere Motive treffen zusammen. Das erste ist die hier noch vorherrschende Christokratie: Die Alleinherrschaft Christi scheint bedroht, wenn sie der Eigengesetzlichkeit der Institutionen unterworfen würde oder gar mit menschlicher Autorität konkurrieren müßte28. Zweitens geht es um die Unvergleichlichkeit der Kirche: Nur die Ablehnung ihrer Institutionalität bzw. die Betonung ihrer Ereignishaftigkeit scheint die einzigartige Sonderstellung der Kirche gegenüber jeder innerweltlichen Einrichtung zu gewährleisten und sie so vor Überfremdung durch politische Mächte zu schützen. Schließlich scheint nur so sichergestellt zu sein, daß die Kirche die ecclesia semper reformanda bleibt29.

4 c) 1959/61

Ganz anders, ja gegensätzlich ist, was Wolf zur Institution Kirche in „Ordnung der Kirche” sagt30. War er vorher der Gefahr der Pneumatisierung beinahe erlegen, so wendet er sich jetzt entschieden gegen jedes „pneumatisierte” Kirchenrecht31.

Nun ist die Kirche schon im Grunde ihres Wesens differenziert. Sie ist sowohl „Institution” als auch „Aktion”, Einrichtung wie Ereignis. Das sind die beiden Existentialien, die ihr Wesen bestimmen. Die Kirche ist einerseits raumhaft, beständig vorgegebene Geschichte, andererseits „pneumatisch”, dynamisch, augenblicklich aufgegebenes Geschehen. Beide Strukturen bilden ihre Urdialektik, ihre Unterschiedenheit innerhalb der Einheit. Der „Ort” dieser Einheit ist der Gottesdienst.


27) RbW 69 ff., 89, 92, Calv. 19, RGG III 1508, OdK 66, 511, PuS 190, vgl. auch OdK 350 mit 52, 353 A. 2, GR III/2 228, NRL 197.
28) Vgl. RbW 89, Calv. 19. Wirkt hier die unbeschränkbare potentia absoluta nach? Vgl. OdK 75; anders K. Barth KD IV/1 367, zit. RdN 49 A. 5.
29) RbW 69 ff.
30) OdK 27-29; vgl. ebd. 9, 463, 503; vorbereitet in RGG III.
31) Übersehen von J. Hoffmann RDC 1966 87. — Vgl. RGG III 1508 (f), OdK 503 (3.) u.ö. gegen RbW 69 ff. Ob J.L. Leubas „Institution und Ereignis” die Ursache ist? Doch findet er nirgends Erwähnung, auch (wenigstens einschlägig) nicht J. Ellul.

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Nun kommt auch die Kontinuität (das geschichtliche Moment) zu ihrem Recht32. Die Kirche ist (auch) von Christus errichtete Stiftung durch die Geschichte hindurch — „Stiftung” aber nur im analogen Sinn: Der ihr gegebene Geist ähnelt nur dem Stiftungsgut, die Gläubigen Destinataren33.

Das ist ein großer Fortschritt; aber Wolf selbst empfindet diese These der Fundamentaldialektik von Institution und Ereignis als so gewagt, daß er sie nur als „ökumenische” These aufstellt, sie aber sonst nicht fruchtbar macht34, — etwa für den Rechtsbegriff35!

 

4. Kirchenrecht als „Funktion christlicher Existenz” — die Ordnung des Paradox

 

Nun kommt auch der kirchenrechtliche Dreischritt zu seinem Ziel. Die scharfe Spannung zwischen dem christokratisch-bruderschaftlichen Grundgesetz und dem anthropologischen Ansatz der paradoxen Ordnung wird nun bewältigt in der „christlichen Existenz”. Sie ist der konkrete Einheitspunkt des Kirchenrechts, und damit nicht nur der ekklesiologische, sondern auch der kirchenrechtliche Zentralbegriff. „Paradoxe Ordnung” wird zur „Ordnung des Paradox”, das Kirchenrecht zur „Funktion christlicher Existenz”1.


32) OdK 159 f., 721 zur Kontinuität der Kirche; 503 ff. ihres Rechts; 715 zur Institution überhaupt; näheres ist über die Institutionalität (der Kirche und allgemein) nicht zu entnehmen.
33) OdK 54 als ökumenischer (interkonfessionell gültiger) Rechtssatz; die Ablehnung der Analogie (ebd.) trifft nicht die analogia fidei. Im übrigen unterscheidet Wolf für die katholische Kirche zwischen Heilsanstalt und Anstalt, OdK 53 f.
34) OdK 28 f. u.ö., RGG III 1075: Sie soll die verborgene Einheit in der Unterschiedenheit des (mehr) institutionellen katholischen und (innerhalb des evangelischen) des lutherischen Kirchenbegriffs mit dem (eher) ereignishaften reformierten aufzeigen; zu scharf Dombois RdG 58 f.
35) Andeutungen in dieser Richtung: zunächst KuR 359 (s. o. 362 26) und wieder EStL 834 (kirchliche Institutionen und Normen); rechtsphilosophisch: RGG V 850 f. (et), StL VI 741 (Regeln und Einrichtungen), NAR 138 (Norm — Institution — Dezision). Ferner unten 386 ff. 397 ff. mit Exkurs VIII. Weiter geht Ernst Wolf; er übernimmt die wichtigsten Ergebnisse der Institutionenforschung (scil. Dombois’), II 199, 206, wenn auch nicht den Rechtsbegriff, der daraus folgt.
1) Erstmals OdK 6 f., 23 (vgl. RGG III 1507 d); zustimmend G. May ThRv 1961 194; zur Genese s.o. 343 ff.

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Überflüssig ist es, noch einmal darauf hinzuweisen, daß damit kein existentialistisches Kirchenrecht gemeint ist; das ergibt sich schon zwingend aus dem Existenzbegriff2. Aber was heißt „Funktion” christlicher Existenz? Soll Recht eine bloße „Funktion” sein, wie die „funktionale Rechtstheorie” es will?

Funktion will hier (wie meist bei Wolf) nicht mehr besagen als eine enge Beziehung des Rechts zum Funktionsträger. Recht ist also kein selbständiges Etwas, sondern steht in einem notwendigen Bezug zur „Existenz”. Das hatte Wolf schon in den 30er Jahren herausgearbeitet.

„Was . . . für eine Gemeinschaft . . . aus ihrem Wesen heraus mit Selbstverständlichkeit für verbindlich gehalten wird, ist eben . . . ihr Recht.” Diese Konzeption des Rechts als „gelebter Ordnung” gilt auch jetzt noch, mit dem Unterschied, daß (rechtsphilosophisch) das positive Recht wieder mehr betont wird und (rechtstheologisch) der Akzent auf der christlichen Existenz liegt, weil inzwischen ihr Wesen klar zutage liegt: die Christusherrschaft3.

Im folgenden gewinnt die bisher noch konturlose „christliche Existenz” ihre klare Rechtsgestalt. Sie ist begründet im verpflichtenden Ursprung der Urkirche (unten a), sie findet ihre lebende Mitte im Gottesdienst (b, c), sie streckt sich aus nach der ökumenischen Kirche (d) — all dies nun in den Kategorien des Rechts. Die vier folgenden Abschnitte sind also nichts anderes als die Entfaltung der „Verfaßtheit christlicher Existenz”.

 

a) Der verpflichtende Ursprung

Entsprechend der Geschichtlichkeit christlicher Existenz als Kirche4 und ihrer biblischen Weisung genügt es nicht, gegenwärtig „in Ordnung” zu sein und sich dafür auf das Evangelium zu berufen5. Ihr Recht bedarf, um legitim zu sein, eines tragenden Anfangs. Zudem ist gegenwärtige Ordnung der Kirchen zerspaltene Ordnung; ihre Einheit ist zu suchen im stiftenden Beginn, wie er bezeugt ist in der biblischen Weisung.


2) ThLZ 1957 66 f., OdK 19, oben 316 (a 2), 343 f.15.
3) S.o. 281 ff.; OdK 6 f., 27 f., PuS 191. — Die Existentialdialektik von Institution und Ereignis im Wesen der gelebten Kirche erlaubt es, Wesen und Ordnung der Kirche fast gleichzusetzen. Wo das Wesen der Kirche lebt, da ist sie auch in Ordnung und damit im Recht.
4) Vgl. schon oben 282 f.
5) OdK 151, 160 gegen KuR 354 und W. Kamlah, H. v. Campenhausen, ebd. A. 2.

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a 1. Die Jüngergemeinde

Der verpflichtende Anfang liegt nicht einfachhin in „der” Urkirche; das wäre Romantik oder Abstraktion. Er ist auch nicht in der Pluralität neutestamentlicher Ordnungsansätze unauffindbar verlorengegangen; das ist eine exegetische Übertreibung, die nicht weiß, was „Recht” ist. Wo wurde die Christusherrschaft zuerst sichtbar? Man muß „hinter” die neutestamentlichen Gemeindetypen zurückgreifen. In der Jüngergemeinde ist sie zum erstenmal geschichtliche Wirklichkeit geworden. Der konkrete Rechtsbegriff befähigt zu dieser Erkenntnis.

Im Kreis der Jünger ist alles vorgeformt, was das Wesen des Kirchenrechts ausmacht. In ihm repräsentierte sich erstmals das im Alten Testament angekündigte Reich Gottes, in ihm hat die „ökumenische Kirche” ihre erste „Rechtsgestalt” gewonnen. Noch ehe es eine Theologie der Kirche gab, wurde im Kreis der Jünger die Kirche durch Christokratie und Bruderschaft gelebte Rechtswirklichkeit6! Christus war der Meister, der die Jünger zur ersten Bruderschaft zusammenschloß. Er erwählte und berief sie autoritativ; er übertrug ihnen die Christusvollmacht und beauftragte sie zur Verkündigung; er versammelte sie zum Gottesdienst des endzeitlichen Brudermahls und zum Bruderdienst füreinander.

Das war die dreifache verbindliche Ordnung der Kirche, also ihr Recht. Weil sie in der Jüngergemeinde zum erstenmal exemplarische Rechtsgestalt annahm, ehe sie sich in die Rechtstypen der Urgemeinden dialektisch entfaltete, liegt in ihr der ökumenisch verpflichtende Ursprung jedes Kirchenrechts.

In der Jüngergemeinde sind Rechts- und Liebeskirche, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Welthaftes und Geistliches in eins gefaßt. Wie unrecht hatten Sohm und alle seine Anhänger, aber nicht nur sie, sondern sogar die heute anerkannten Exegeten7, wenn sie, in einem Rechtsbegriff befangen, der schon 1920 überholt war, gerade das nicht finden, was sie suchen: den gründenden Grund der Kirche8!


6) ZevKR 1951 308 gegen E. Feine.
7) Kritisch zu L. Goppelt: OdK 151 A. 3, 153 A. 6; H. v. Campenhausen: ebd. 151 A. 2, 160 A. 2; E. Schweizer: ebd. 152 A. 6, 159 A. 3; H. Conzelmann: ebd. 154 A. 6, 157 A. 4, 159 A. 2, 160 A. 2 („verständnislos”!); H. Bacht: ebd. 156 A. 7; H.D. Altendorf: ebd. 161 A. 2. (Übrigens fehlt E. Käsemann!)
8) Zuerst ZevKR 1951 308; dann Urspr. 30 ff., ARG 1952 119, RGG II 1331, OdK 18 f., 151 ff. mit Hinweis auf K.L. Schmidt, W. Vischer, W. Hildebrandt; ➝

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a 2. Petrinische und paulinische Gemeindeverfassung

Die Ordnung der Jüngergemeinde steht im größeren Zusammenhang der Ordnung „der” Urgemeinde9 als eines dreigliedrigen Gebildes. Auf dem Fundament der Jüngergemeinde entfaltet sich die Ordnung der Apostelgemeinden in den Formen des petrinischen und des paulinischen Typs der Gemeindeverfassung, die wieder im „Grunddokument aller späteren Kirchenordnung”, der Didache, „schöpferisch verbunden” sind (welch letztere deshalb nicht mehr eigens behandelt wird).

Petrinische und paulinische10 Ordnung sind „für die spätere Entwicklung maßgebend” geworden, nicht nur im Verhältnis der Kirchen des Ostens und Westens zueinander, sondern auch der des Westens untereinander. Beide Ansätze entwickeln sich zwar „parallel” in der Geschichte, konvergieren aber in einem Punkt jenseits der Geschichte, der jenseitigen „johanneischen” Ordnung der ökumenischen Kirche, dem Ende der Zeit11. Worin besteht die Eigenart der beiden Ordnungstypen?

Anfänglich erscheint — ein letzter Anklang an Holsteinsche Vorstellungen — die paulinische Urgemeinde als Bruderschaft, die petrinische als Christokratie wohl wegen deren autoritativer Leitung.

Aber das ist bald als unrichtig erkannt. Sie stehen sich keineswegs wie Recht und Charisma gegenüber, wie viele noch meinen. Denn auch


➝ zugestimmt haben bisher G. May („Übernahme katholischer Forschungen”, ThRv 1961 196), Grundmann („überzeugend begründet”, ThLZ 1962 336). — P. Landau (ZKG 1962 348) hat das weitere (auch sonst erörterte) Problem aufgeworfen, welche der beiden Gemeindestrukturen heute verpflichte, wenn doch beide legitime Entfaltungen der Jüngergemeinde sind. Dombois wagt eine Antwort (RdG 62, 773, 821, 823): Nur die Jerusalemer Urgemeinde sei „Vollgemeinde”, die paulinischen bloße Missionsgründungen (scil. die nach Normalisierung der Verhältnisse ohnedies ihre missionarische Rechtsstruktur verlören). Aber welche Situation ist die normale?! Wolf selbst würde Dombois wohl kaum zustimmen, vielmehr auf seine Konzeption des ökumenischen („johanneischen”) Ordnungsmodells verweisen, das als Weisung und Leitbild jedes der divergierenden konfessionellen Rechte zu gelten habe.
9) Zum folgenden ARG 1952 119, RgK 259, 261, RGG II 1332, OdK 9 f., 161 ff., G. Holstein 1928 38 ff.
10) In KuR 354 hatte Wolf bezeichnenderweise nur das paulinische Leitbild entfaltet, das dem „konkreten” Rechtsbegriff entgegenzukommen schien.
11) Wenn man nicht annehmen müßte, daß Wolf von Teilhard de Chardins Lehre nicht allzu viel hält (NRL 192 „prähistorisch-anthropologisch-metaphysische Spekulationen”), so könnte man die johanneische Ordnung als ein rechtliches Pendant zum „Punkt Omega” bezeichnen, der ja ebenfalls der teleologische Zielpunkt der Geschichte ist.

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die „charismatische” Ordnung der paulinischen Gemeinden ist Rechtsordnung, und die petrinische Ordnung weist charismatische Elemente auf.

Dennoch hat die Gegenüberstellung von Recht und Charisma einen richtigen Kern. Zwar sind beide Gemeinden charismatisch und rechtlich verfaßt, nur liegt bei der petrinischen Jerusalemer Gemeinde und ihren Tochtergemeinden der Nachdruck aus judenchristlicher Tradition auf dem Recht, bei den paulinischen Missionsgemeinden vorwiegend heidenchristlicher Struktur auf dem rechtserzeugenden Charisma12.

Auf die ins einzelne gehenden Schilderungen näher einzugehen, ist nicht notwendig; hier interessieren nur die rechtstheologischen Grundannahmen. Beide Gemeindetypen werden — zu Recht — nicht zuerst von ihrer Ämterverfassung, sondern von ihrer gottesdienstlichen Verfaßtheit her gezeigt; beide weisen gleichwohl ein ausgeprägtes Ämterwesen auf, und zwar die Jerusalemer Gemeinde des monokratischen, die Missionsgemeinden des Mehrämtertyps.

a 3. Kontinuität und Autorität

Wieso aber sind diese beiden Urgemeinden legitime Fortsetzungen der Stiftung Christi, der Jüngergemeinde? Das ist die Frage nach der Kontinuität. Deren eigentliche Begründung ist christologisch und anthropologisch: Sie liegt erstens in der Identität des historischen Jesus in der Jüngergemeinde mit dem herrschenden Christus in den apostolischen Gemeinden, zweitens in der Kontinuität der heilsgeschichtlich verstandenen Kirche, die nicht nur punktuelles Ereignis, sondern ebenso dauernde Institution ist. Daraus folgt die rechtliche Kontinuität von selbst: sie liegt in der Einheit von Christokratie und Bruderschaft als der beiden Fundamentalsätze des Kirchenrechts. Diese Rechtskontinuität wird sichtbar in der Weitergabe der Christusvollmacht an die Apostel („Schlüsselübertragung”). In dieser rechtlichen Kontinuität liegt die Autorität alles späteren Kirchenrechtes bis auf den heutigen Tag; denn jedes menschliche Recht hat wahre auctoritas nur vom verpflichtenden Ursprung her. Letztlich verpflichten kann aber nur die Königsherrschaft Christi. Das ist generell die biblische Weisung als Offenbarung des Gottesrechts und der Christokratie, historisch die Autorität Christi, die


12) Also liegt die Betonung bei der petrinischen Rechtsform mehr auf der „Institution”, bei der paulinischen auf dem „Ereignis”, beide aber innerhalb der umgreifenden Dialektik von Institution und Ereignis.

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durch Übertragung des Schlüsselamts auf die Apostel und die Kirche tradiert wird. So ist gegenwärtige Rechtsentstehung legitimiert im Schlüsselamt der Gemeinde13.

Das bedeutet doch wohl die Anerkennung eines geistlichen Traditionsprinzips als Quelle der Verbindlichkeit des Kirchenrechts und seiner Rechtsqualität überhaupt.

 

b) Die gottesdienstliche Mitte

Die Kirche lebt im Gottesdienst. Dort ist ihre geistliche Mitte, dort wird sie von ihrem verborgenen gegenwärtigen Herrn auferbaut. Im Vollzug von Wort und Sakrament ist sie ursprünglich „in Ordnung”. Das Kirchenrecht ist bei Wolf wesentlich Gottesdienstordnung (b 1). Weil im Gottesdienst die Weisung zum Bruderdienst laut wird, folgt aus der Gottesdienst- die Dienstordnung (b 2, b 3). Das Kirchenrecht wird zur Ordnung der Liebe (b 4). Nach diesem Allgemeinen Teil des Gottesdienstrechts folgt der Besondere Teil der Ordnung von Wort und Sakrament (unten c).

b 1. Gottesdienstordnung

„Wort und Sakrament”, also „Gottesdienst”, bezeichnen den Inbegriff der Stiftung Jesu. In ihnen erwachsen Christokratie und Bruderschaft zu sichtbarer Gestalt. Gottesdienst ist also nicht das bloße Ritual, sondern zunächst und vor allem das Handeln Christi.

Deshalb gehören nicht zum Gottesdienst alle „schmückenden Zeremonien”, die Predigt und Abendmahl (i.e.S.) begleiten, also die (scil. gesungene) „Liturgie”. Sie „verkündigen” nicht, zählen also auch nicht legitimerweise zum Kirchenrecht14.


13) RbW 77 ff., BW 775, OdK 156 f., 160 ff. Zum „Amt” der Schlüssel s.u. 376 f.
14) Vgl. RefKZ 1949 131 ff., OdK 513 ff., 521, die Stellungnahme zur Michaelsbruderschaft OdK 116 (515) u.ö. und die Begründung seiner Ämterniederlegung in der Badischen Landeskirche JK 1949 555, weniger streng OdK 510 und ebd. 513, wo Liturgie (i.w.S.) Gottesdienst ist. Daß Wolf Gemeindegebet und -gesang („Gott thront auf den Liedern seines Volkes”, sagten die Kirchenväter!) in seinen polemischen Äußerungen nicht vom Begriff der Verkündigung ausschließen will, zeigt OdK 513. Bei der Verkündigung fehlen aber die Lesung, das Evangelium! (und nicht nur bei ihm, unten 78420 zu Dombois): „Wort”verkündigung geschieht nur „gehört in der Predigt, geschmeckt im Abendmahl”, RefKZ 1949 132 ff. (Zu G. May ThRv 1962 261: Wolf ist nicht reformierten, sondern [konsens-]unierten Bekenntnisses!, ➝

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Der so verstandene Gottesdienst ist Grund, Grenze und Ziel des Kirchenrechts.

Er ist historisch, sachlich und rechtlich der Ursprung geistlicher Ordnung. Der innerste Kern der Urkirche war der Gottesdienst; denn „sie harrten aus in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft, im Brotbrechen und im Gebet” (Apg 2.42). Darin wurde Kirche auferbaut. Der Gottesdienst war ihr „christokratisches” Strukturprinzip, in ihm erwuchs sie zur Rechtsgemeinschaft. Weil Christus ihn für seine Gemeinde als „geistliche Lebensmitte” gestiftet hat, ist er fortan die Grundordnung, aus der heraus seine Gemeinde lebt bis zur Wiederkunft.

Somit liegt in diesem geschichtlichen Anfang auch der sachliche Ursprung: Jede legitime Kirchenordnung beruht auf Wort und Sakrament, die Gemeinde hat darüber nicht zu verfügen15. Gottesdienstliches Leben bildet und ordnet Gemeinde. Wo Gottesdienst geschieht, ist sie in Ordnung. Im Kult ist jede Kirche verfaßt zu einzigartiger Rechtsgemeinschaft. „Kirchenordnung ist primär Gottesdienstordnung.” „Seine Ordnung ist die Grundordnung der Kirche . . .: Die Taufe macht gliedfähig, die Abendmahlsteilnahme amtsfähig, das Sich-Halten-zum-Wort dienst-, insbesondere wahlfähig”16.

Was es sonst an Kirchenrecht gibt, ist aus dem Gottesdienst hervorgegangen. Er ist demnach auch der Ursprung der Ämter- und Kirchenverfassung — es bedurfte eines R. Sohm, diese Einsicht wieder ins Gedächtnis zu rufen. Kirchenregiment, Kirchenleitung entsteht historisch und systematisch aus dem Gottesdienst17.

Was aber aus Wort und Sakrament entstanden ist, hat sich streng nach ihnen auszurichten; es muß in irgendeinem wirklichen Sinn Gottesdienst sein, oder es ist nicht Kirchenrecht.


➝ wenn auch die Liturgie der Badischen Landeskirche deutlich zwinglianisch ist.) Die b. W. für die Ablehnung der Liturgie i.e.S. findet Wolf im 2. Gebot (PuS 197): Es verbietet „jedes sinnliche Veranschaulichenwollen der geistigen Existenz Gottes”.
15) „Gott gebietet den rechten Gottesdienst”, OdK 512; „die rechte Gestalt des Gottesdienstes (wird bestimmt durch die) Theologie”, RefKZ 1949 131. Die theonome Auffassung der Liturgie ist besonders schätzenswert, wenn man bedenkt, daß die katholische Liturgiereform immer noch vorwiegend mit „pastoralen” statt theologischen Erwägungen begründet wird (Ausnahme z.B. H. Volk 1965).
16) Basler Kirchenbote 1961, OdK 510, 512.
17) A.M. G. May ThRv 1962 261, Gottesdienst- und Gemeindeordnung (d.h. Amtsrecht) sind iure divino kongruent — wobei May wohl die engere katholische Gottesdienstauffassung voraussetzt, die die „Mission” nicht umfaßt.

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Der Gottesdienst ist nicht nur der Grund; er gibt auch die Grenze des Kirchenrechts an: was aus ihm erwachsen ist, ist legitimes („ökumenisches”) Kirchenrecht, mag es katholisch, lutherisch, reformiert oder uniert sein. Denn es gibt die christokratisch-bruderschaftliche Rechtsstruktur der Urgemeinden wieder18.

Schließlich ist Gottesdienst das Ziel jeder Ordnung der Kirche; alles übrige Tun dient ihm und ist ihm untergeordnet19. Dieser auf den ersten Blick nicht voll verständliche Satz wird erläutert durch das „bekennende und beispielgebende Kirchenrecht” (s.u. 5).

b 2. Gottesdienst und biblische Weisung

Auch die biblische Weisung wurde oben als Grund, Grenze und Ziel des Kirchenrechts vorgeführt. Wie verhalten sich die beiden Aussagen zueinander?

Die Antwort ergibt sich aus dem, was Gottesdienst ist. Daß die Liturgie (i.e.S.) nicht hierher gehört, wurde schon erwähnt. Im eigentlichen Sinn ist Gottesdienst die Verkündigung des lebendigen Wortes Gottes, sei es im Wort der Predigt oder in Taufe und Abendmahl20. Der Gottesdienst ist ganz von diesem weiten Begriff der Wortverkündigung her gesehen, der zudem die Mission mit umfaßt. Alles übrige ist daher gedeutet, ja ihr untergeordnet.

Die biblische Weisung dagegen ist eben dieses autoritative Wort Gottes, wie es in der Schrift bezeugt ist. Im Gottesdienst wird das Wort der Weisung verkündigte Wirklichkeit. Darum ist Gottesdienst im Rechtssinn die Verkündigung der biblischen Weisung. Wie das „liturgisch” zu geschehen habe, bleibt offen; wesentlich ist, daß im Gottesdienst die biblische Weisung verkündigt und gehört wird21.


18) RidK 762, KuR 358 f., RbW 72 f., 82, 87, RgK 257, RGG I 49 f., II 1331, OdK 28, 155 ff., 160, 510 ff., 521.
19) Dieser folgenreiche Satz wird im Dienst- und bekennenden Recht erläutert (unten 372 ff. 386 ff.).
20) OdK 513.
21) Vielleicht darf man formulieren, an die Urdialektik der Kirche anknüpfend: Gottesdienst ist die Institution, in der das Ereignis der biblischen Weisung geschieht, und zugleich das Ereignis, das die Institution der Schrift zu gegenwärtigem Leben erweckt. Wer aber allein handelt, ist Gott in Christus.

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Damit wird die Lehre von der biblischen Weisung an einem wichtigen Punkt ergänzt und in die Lehre vom Gottesdienst eingebaut.

b 3. Gottesdienst- und Dienstrecht

Wie die Christokratie die Bruderschaft begründet, so der Gottes-Dienst den Dienst am Bruder. Deshalb folgt aus der Ordnung des Gottesdienstes die Ordnung des Dienstes, der „Diakonie”. Diese ist ebenso universal wie jene: Kirchenrecht ist „vertikal” stets Gottesdienst, „horizontal” stets Bruderdienst. Gottesdienst- und Dienstrecht sind also nicht zwei getrennte Rechtsgebiete, sondern die beiden notwendig zusammengehörigen Seiten des einen Kirchenrechts. Die Dialektik von Gottesdienst- und Dienstrecht will darum Einheit in der Unterschiedenheit: Jede Gottesdienstordnung ist um des Bruders willen, jeder Dienst am Bruder ist Entsprechung zum Gottesdienst Christi, denn er verkündigt den Herrn.

Ein Umkehrschluß liegt nahe: Soweit es Gottesdienst und Diakonie gibt, erstreckt sich die Zuständigkeit des Kirchenrechts. In der Tat trifft diese Ausweitung des kirchenrechtlichen Bereichs zu. Die gesamte Seelsorge und Mission ist von biblischer Weisung geordnet. Sie sind deshalb legitimer Gegenstand bruderschaftlicher Ordnung. Der eigenständige Rechtsbegriff des Kirchenrechts ermöglicht dies. „Jeder Dienst am Nächsten ist Gottesdienst.” „Alles Kirchenrecht ist . . . diakonische und missionarische Ordnung.”

b 4. Die Ausweitung des Kirchenrechts auf die Nächstenliebe

Diakonie und Nächstenliebe erhalten also nun Rechtsqualität. Diakonie ist der andere Grundzug jedes kirchlichen Rechtsbereiches, der nie fehlen darf, mag er auch in unterschiedlicher Deutlichkeit hervortreten. Dienst ist ebenfalls Grund, Grenze und Ziel des Kirchenrechts.

Wolf veranschaulicht die Diakonie am Amtsrecht. Jedes kirchliche Amt ist vor jeder weiteren Qualifizierung zunächst Gottesdienst und Dienst am Bruder. Das ist sein Grund und seine Würde. Deshalb gibt es keinen Rangunterschied zwischen dem angeblich geistlichen Amt der Wortverkündigung und dem angeblich weltlichen der Kirchenleitung, zwischen „priesterlichem” und „diakonischem” Handeln: beides ist Gottesdienst, unvergleichbar mit einem weltlichen Amt. „Dienst” ist seine Grenze: Es gibt kirchliches Amt nur nach biblischer Weisung, also nur, wo es Christus bezeugt. Bruderdienst ist schließlich seine Richtung

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und sein Ziel. Zwang in jeder Form ist mit Bruderschaft unvereinbar. Darin ist es ein Beispiel für die Welt22.

Gottesdienstlicher und Dienst-Charakter sind die beiden Konstituentien des Kirchenrechts. Die Bruderliebe zeigt den usus spiritualis des Kirchenrechts. Das Kirchenrecht umfaßt die Nächstenliebe, weil der Bruderdienst immer schon Gottesdienst ist.

Das „kann man nur mit Ergriffenheit lesen”, schreibt ein Kritiker23. „Man gewinnt den Eindruck, daß die Protestanten auf keinem unrichtigen Weg sind, wenn sie das als zum Recht gehörig ansehen, was im katholischen Bereich als aszetische und pastorale Weisung ein kümmerliches Leben fristet.”

 

c) Die dreifache Ordnung des Gottesdienstes

Das Kirchenrecht als Ordnung des Gottesdienstes entfaltet sich nach dem verpflichtenden Vorbild der Urgemeinden im rechten Vollzug von Taufe, Verkündigung und Abendmahl, also als Tauf-, Verkündigungs- und Abendmahlsordnung. Da Christus Menschen erwählte und berief, hatten sie Tauf Ordnung (c 1); da er sie bevollmächtigte und beauftragte zur Verkündigung, hatten sie Verkündigungsordnung (c 2); da er sie zum gemeinsamen Mahl versammelte, hatten sie Abendmahlsordnung (c 3). Darin kommt ihre Rechtsverfassung als Wort- und Sakramentsgemeinschaft zum Ausdruck.

c 1. Taufordnung
1 a) Taufe

Die Taufe ist das objektive Anzeichen der göttlichen Erwählung, die nota externa der Besitzergreifung durch Christus, das Zeichen der neuen Kreatur; oder „subjektiv” Merkmal der Wiedergeburt, Vermutung des Glaubens24. Sie begründet die Zugehörigkeit zur Gemeinde, damit die Bruderschaft.

Unversehens ist damit die Taufe zum Rechtszeichen geworden. Sie ist ein theologischer und juristischer Tatbestand, die Tauf„Ordnung”


22) RbW 75 ff., RgK 258, RGG III 1508 f., OdK 160, 510 ff., 605, 654, auch 528 ff.; OdL 21 f. — Zur Dialektik von Gottesdienst- und Dienstordnung siehe auch M. Heckel 1963 261 ff. m. A. 105.
23) G. May ThRv 1962 261.
24) Die Problematik der Kindertaufe klammert Wolf aus.

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(als Inbegriff der die Taufe und ihre Folgen regelnden „Normen”) also wesentlicher Bestandteil des kirchlichen Rechts. Ihre wichtigste Rechtsfolge ist die Gliedschaft in der sichtbaren Kirche.

Dagegen gibt die Taufe noch nicht das Recht zur Teilnahme am (namentlich Abendmahls-)Gottesdienst. Denn Wolf vertritt einen gestuften Gliedschaftsbegriff.

1 b) Kirchengliedschaft

1. Nicht hierher gehört die Frage, wer dem Reiche Gottes zuzuzählen ist: Die Gliedschaft der Christenheit oder „ökumenischen Kirche” ist (mit H. Liermann) „metajuristisch”, weil unbestimmbar.
2. Kirchengliedschaft (ohne Beiwort) kann seit der Himmelfahrt Christi nur durch Taufe erworben werden, da sie als Zeichen der göttlichen Erwählung (und des Glaubens) gestiftet ist. Wer zur geschichtlich lebenden Kirche kommen will, muß ihr auf geschichtliche, d.h. sichtbare Weise beitreten. Die Probleme des votum ecclesiae u.ä. werden vermerkt, aber nicht weiter ausgeführt.
3. Kirchenglied „im Vollsinn” („Vollgliedschaft”) ist, wer seinen Glauben öffentlich bekennt. Die Rechtsfolge ist die Teilnahmebefugnis am (Wort-)Gottesdienst und Abendmahl, d.h. die Zugehörigkeit zur „Kerngemeinde”. „Zur Kirche kann nur gehören, wer an ihrem geistlichen Leben existentiell teilnimmt, . . . wer in der Gemeinschaft des Wortes und Sakramentes wirklich steht.” Weitere Folgen werden im Ämter- und Wahlrecht gezogen. Nur bekennende Christen sollen das geistliche Leben verwalten dürfen.
4. Vom ungläubigen Getauften wird nur bemerkt, seine Gliedschaft sei nur „scheinbar”25.
5. Sehr skeptisch wird die bloße Landeskirchenzugehörigkeit („Kirchenmitgliedschaft”) beurteilt, weil sie nach den verschiedensten, aber allesamt rechtstheologisch unqualifizierbaren Voraussetzungen entsteht26; sie ist eine nur historisch erklärbare Anomalie27.


25) Was bei Heckel eine zentrale Frage ist, rückt bei Wolf an den Rand, den verschiedenen Blickrichtungen entsprechend.
26) Sie stammen teils aus dem Steuer-, teils aus dem bürgerlichen oder Verwaltungsrecht; z.B. „gewöhnlicher Aufenthalt”, „Erfassung”. Man kann vielerorts durch Zuzug Lutheraner, Unierter oder Reformierter werden, ohne es zu bemerken, geschweige denn gewollt zu haben (näheres OdK 574-583 „erschreckender Wirrwarr”).
27) Zu Taufe und (Mit-) Gliedschaft (Wolf ist terminologisch nicht immer bei Gliedschaft geblieben, vgl. OdK 531, obwohl er mit H. Liermann genau zwischen ➝

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Dieser gestufte Gliedschaftsbegriff28 führt zu einem gestuften, aber „dialektisch” geeinten Kirchenbegriff: Die erste Stufe entspricht der metajuristischen Gliedschaft; es ist die ökumenische Kirche der Christenheit. Die zweite ist der Kreis der Getauften (wobei die Ungläubigen nur wegen des Rechtsscheins dazu gehören). Die dritte ist der Kreis der bekennenden Christen, die „Kerngemeinde”.

c 2. Verkündigungsordnung

Verkündigung des Evangeliums ist ausgeübte Christokratie. Sie macht deshalb das eigentliche Wesen der Kirche aus.

2 a) Verkündigung

Verkündigung oder „Apostolat” ist sehr weit gefaßt; entsprechend der christokratischen Konzeption wird zunächst Gemeinde- und Missionsverkündigung nicht unterschieden, denn der Ruf Christi richtet sich an alle.

Was heißt hier „Verkündigung”? Sie umfaßt jede „Wort”-Verkündigung; zunächst die Ausübung der Christus vollmacht in der Abendmahlsfeier; vor allem aber Predigt, Lehre und Mission; schließlich alles, was dazugehört, also auch Gemeindeleitung, Binde- und Lösegewalt29. Man könnte die Ansicht Wolfs so zusammenfassen: Verkündigung ist die inhaltlich bestimmte, verbindliche (autoritative) Kundmachung der frohen Botschaft an andere mit verbindender oder trennender Wirkung.

Verkündigung und Rechtsordnung sind auch im Ursprung untrennbar. Das Verkündigungsrecht entstand schon in der Jüngergemeinde. Christus beauftragte und bevollmächtigte im „Missionsbefehl” seine Jünger, indem er sie zu Aposteln machte und ihnen dadurch an seiner


➝ kirchlicher Gliedschaft und landeskirchlicher Mitgliedschaft unterscheidet) vgl. ReG 266, ReG (5) 269 f., RbW 60, 72 f., 78, 87 ff., Urspr. 31, RgK 255, OdK 6, 68 f., 498 ff., 511, 531 ff., 574 ff., PuS 192, RGG II 1331, III 1508; die Taufgliedschaft ist unverlierbar; es gibt keinen Kirchenaustritt, RGG II ebd. u.ö.
28) Wolfs Gliedschaftsbegriff kommt in Ansatz (Wort und Sakrament) und Durchführung (Gliedschaft simpliciter — im Vollsinn) der Unterscheidung K. Mörsdorfs (I § 2 III) von konstitutioneller und tätiger Gliedschaft sehr nahe (der Unterschied liegt im kanonistischen Glaubensbegriff).
29) Verkündigung i.e.S. (der [Gemeinde- und Missions-] Predigt) und i.w.S. (des Gottesdienstes) werden also nicht unterschieden, vgl. z.B. OdK 156 f. gegen RefKZ 1949 132 ff., OdK 590.

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Christusvollmacht Anteil gab; er übertrug ihnen das „Mandat” des Schlüsselamtes, die „Kirchengewalt”. Dadurch, daß die Gemeinde verkündigt und so in Ordnung gerät, „hat” sie Verkündigungsordnung. Nur Ausdruck dessen sind z.B. „Predigtordnungen” der einzelnen Kirchen30.

2 b) Die Schlüsselgewalt

Dem von Christus den Jüngern übertragenen Schlüsselamt entfließt die Schlüsselgewalt.

Im engeren Sinne ist die Schlüsselgewalt Ausspruch und Aufhebung des Bannes31.

Im weiteren und eigentlichen Sinne ist sie die der Kirche von Christus verliehene Gewalt, die Kirchengewalt32. Die Gewalt der Schlüssel ist hier universal. Sie umfaßt den Inbegriff der kirchlichen Binde- und Lösegewalt; das ist Wortverkündigung33 und Sakramentsverwaltung, Lehr- und Kirchenzucht (einschließlich des Bannes), aber auch die sonstige Ordnung der Gemeinde, namentlich die Kirchenleitung.

Sie wird nicht in einen „geistlichen” (Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung) und einen „weltlichen” Teil (Kirchenleitung) aufgespalten, sondern gliedert sich als das dreifache „Amt” Christi (Prophet, Priester und König) in die drei „Ämter” der Jünger: das kerygmatische Lehramt, das apostolische Priesteramt und das diakonische Hirtenamt (das die Kirchenleitung enthält!)34.

Der Ursprung der Schlüsselgewalt liegt in der Bevollmächtigung und Beauftragung der Jünger. Inhaber der Schlüssel ist, biblischer Weisung gemäß, die Gemeinde als ganze, d.h. regelmäßig ihre berufenen Vorsteher, in besonderen Fällen jeder Christ (auf Grund charismatischer Berufung, die von der Rechtsordnung anzuerkennen ist), z.B. die Bruderräte während des Dritten Reiches.

Weitergegeben wird die Vollmacht, wie schon in der Urkirche, durch den Rechtsakt der Tradition, sei es mit, sei es ohne Handauflegung, als


30) RbW 77 ff., OdK 510, 525 ff.
31) In RidK 446, ReG (5) 274 noch ein außerrechtlicher Akt (mit H. v. Campenhausen); anders OdK.
32) Bedenken gegen diesen Begriff OdK 654.
33) Zur Beichte als Teil der Wortverkündigung OdK 529 f.
34) Diese Dreiteilung wird allerdings im systematischen Teil von OdK aufgegeben zugunsten der Zweiheit von Amt und Leitung.

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„mittelbare Weisung des Hl. Geistes”, unter Mitwirkung der Gemeinde in irgendeiner Form. Die Tradition wird dabei rechtlich als Erfüllung des Rechtsauftrages der Apostel interpretiert, nicht als personale Apostelnachfolge. Tradition und Schlüsselamt selbst sind letztlich nicht vollständig institutionalisierbar35.

Die Schlüsselgewalt ist die geschichtliche Rechtsgestalt der Christokratie.

c 3. Abendmahlsordnung

Im Abendmahl verbindet sich der Herr mit den Seinen und erneuert damit den in der Taufe geschlossenen Gottesbund. Unsichtbar ist er unter ihnen anwesend als der Herrscherkönig — nicht nur als Gekreuzigter, sondern auch als Auferstandener; nicht nur als Mensch, sondern auch als Gott; nicht nur als der zukünftige König des Gottesreiches, sondern auch als der gegenwärtige Herr der Welt. So wird die Abendmahlsgemeinschaft36 unter seiner Herrschaft zum Zeichen des Reiches Gottes und zugleich zur Bruderschaft. Die Vertikale und die Horizontale der Kirche sind hier vor-bildlich verwirklicht.

Christi Wort auferbaut diesen Kreis der Erwählten stets neu und erhält ihn in Ordnung. Er gewährt seinen Jüngern Teilhabe an seiner Vollmacht. Aus Abendmahlsgemeinschaft wird so Abendmahlsordnung.

Auch das Abendmahl ist also kein unjuristisches Geschehen, sondern die Ordnung der am Tisch des Herrn versammelten Gemeinde.

Das bedeutet negativ, daß nicht-„bekennende” Christen (also auch Kinder!; erst recht Ungetaufte) zum Abendmahl keinen Zutritt haben sollen, folglich auch nicht zum Amt, das das Abendmahl verwaltet; positiv soll das Abendmahl ein Abbild der Stiftung Christi sein, also ordnungsgemäß vollzogen werden (Einsetzungsworte, ferner Beachtung der sonstigen biblischen Weisungen, auch des allgemeinen Ordnungsgebotes)37.

Im Gottesdienst ragt die „ökumenische Kirche”, das Reich Gottes, in die Zeitlichkeit der Kirche „zwischen den Zeiten” hinein. Die Ordnung der Kirche ruht darum „auf ökumenischer Basis”.


35) Zur Schlüsselgewalt KuR 364, RidK 446, ReG (5) 273 f., RbW 77 ff., Urspr. 31 f., RGG III 1508 f., 1537, OdK 17, 156 f., 162, 165 f., 171, 461, 601, 647 f.; Einfluß H. v. Campenhausens, EvTh 1937 143 ff.
36) Hier nicht i.S. des Teilakts der Kircheneinheit.
37) RbW 72 f., 87 f., Urspr. 31 f., RGG II 1331, III 1508, OdK 156 f., 534 ff.

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d) Ökumenisches Kirchenrecht

Das Kirchenrecht Wolfs ist „Kirchenrecht auf ökumenischer Basis”38. Es vertritt nicht einfachhin einen vielfach schon zur Mode gewordenen „Ökumenismus”, der die Wahrheit umgeht und die Liebe herabwürdigt, sondern stellt vor die Frage nach der Rechtsbedeutsamkeit der im Ursprung einen, in der Gegenwart gespaltenen, in der Zukunft geeinten Kirche, die oben die „ökumenische” genannt und als der ekklesiologische Aspekt („Leib Christi”) des anhebenden Reiches Gottes erkannt wurde.

Die rechtliche Betrachtung ergibt:

d 1. Rechtsgrundlage

Rechtsgrundlage jeder ökumenischen Ordnung ist die im Evangelium niedergelegte Stiftung Christi, die ihre erste und daher geschichtlich-verbindliche Rechtsgestalt gefunden hat in der Verfaßtheit der Urkirche. Rechtsgrundlage ist aber ebenso die „johanneische” Ordnung der Zukunft, d.h. die geoffenbarte Struktur des eschatologischen Gottesrechts, das immer schon als anbrechendes da ist39.

d 2. Ökumenisches Recht der Gegenwart

Was kann daraus an „ökumenischem” Kirchenrecht der Gegenwart (nicht abgeleitet!, sondern) vorgefunden werden? Sicher keine abgeschlossene ökumenische Ordnung der Kirchen; denn die ökumenische Kirche ist das Gottesreich, das „zwischen den Zeiten” nie mit der Kirche identisch ist. Wohl aber rudimentäre „Ansätze”, wie Wolf sagt; vielleicht könnte man auch mit der Schrift von „Zeichen” sprechen. Jedenfalls sind sie „jetzt schon” Legitimitätsgrund und -grenze der verschiedenen Kirchenordnungen.

Zuerst ist hier zu nennen die vertikal-horizontale Grundstruktur der Kirche als Christokratie und Bruderschaft. Weiter wäre auf die Taufe, das Abendmahl, die Predigt, das Amt auch als ökumenische Rechtsinstitute hinzuweisen: Kirchenrecht aus der Quelle des Gottesdienstes ist


38) Nach G. Dickel ARG 1964 108 findet in OdK sogar „die Summe der ökumenischen Bestrebungen in bezug auf das Kirchenrecht ihren ersten literarischen Ausdruck”.
39) OdK 8 f., 21,151, 164 f., PR 152.

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ökumenisches Recht. Wichtig sind ferner die vielfältigen Verwirklichungen der „Teilökumene”.

Auch ein negativer Rechtssatz beansprucht allgemeine Geltung: Jede Kirchenspaltung ist insoweit — auch rechtlich — illegitim, als sie der jetzt schon möglichen Einheit der Kirchen widerspricht.

Es gibt also Anfänge ökumenischer Rechtsordnung quer durch alle Kirchen. Sie sind sachlich identisch mit den oben genannten „Spuren” der ökumenischen Kirche40.

d 3. Das ökumenische Prinzip

Vor allem ergibt der Gedanke des ökumenischen Kirchenrechts ein umfassendes rechtspolitisches Prinzip.

Es besagt negativ: Jede geltende Kirchenordnung ist nicht endgültig. Jede Festlegung auf eine bestimmte, zeitbedingte Interpretation der biblischen Weisung oder eine fixierte konfessionelle Rechtsstruktur verstößt gegen die „ökumenische” Kirche. Es erweist alle Ordnungsmodelle der Kirchen, seien sie katholisch, lutherisch oder reformiert, als relativ in bezug auf das einbrechende Reich Gottes.

Positiv folgt daraus, daß jedes Kirchenrecht das geschichtlich „mögliche” Maß an Ökumenizität verwirklichen soll, seien es teilökumenische, seien es gesamtkirchliche Realisationen. Konfessionelle Gegebenheit ist ökumenische Aufgabe. Der Anhaltspunkt für das geschichtlich Mögliche ist das den Kirchen geschenkte gemeinsame Bekennen Christi. Soweit das Bekennen geht, soll auch die Rechtsordnung gehen.

Weiterhin verlangt das ökumenische Leitbild, daß jede partikuläre Rechtsordnung strukturell offen sein muß für das, was ihr die Zukunft des Herrn zumutet. Vom Kirchenjuristen erwartet man zwar gemeinhin, daß er das Bestehende wahrt. Das ist aber gerade nicht seine Aufgabe. Er hat kirchliche Ordnung so auszugestalten und zu konzipieren, daß sie eine offene Ordnung („offenes System”) sei, bereit, möglicher Dynamik des Geistes Rechtsraum zur Entwicklung und Entfaltung zu geben41.


40) RbW 82, GrundO 176 ff., OdK 8 f., 25 ff., 66 und oben 340 ff. Die Bedenken von G. May ThRv 1961 194 f. dürften sich nach De Ecclesia kaum noch aufrecht erhalten lassen: Wenn es in katholischer Sicht „Kirche” (in näher zu bestimmendem Sinn) von Nichtkatholiken gibt, dann auch Kirchen-Recht.
41) RbW 69, 84, OdK 21, 159, 722 f. (zur Grundordnung der EKD), NRL 193. Als Beispiel einer strukturell offenen Ordnung bietet sich das ökumenische Modell der „bündischen Übereinkunft” an: Die Dialektik von Einheit in und trotz der ➝

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Dieses ökumenische Rechtsmodell ist das integrierende Prinzip der divergierenden Kirchenordnungen. Es kann nicht theoretisch festgelegt, auch nicht aus der Offenbarung rational deduziert werden. Denn es ist die rechtliche Dimension der seit Christus anhebenden Gottesherrschaft. Es erlaubt nur, Grenzen und Ziele aufzuweisen, die jedes historische Kirchenrecht erfüllen muß, und impliziert einen (auch) dynamisch-teleologischen Rechtsbegriff42.

Zugleich verweist das „Kirchenrecht als offene Ordnung” zurück auf die Vorläufigkeit und Gerichtetheit jeder menschlichen Rechtsordnung.

d 4. Rechtsnatur

Was die Rechtsnatur des ökumenischen Prinzips betrifft, so ist es als ius divinum zu erschließen. Denn Gottesrecht ist sein Anfang, die Stiftung der Kirche; Gottesrecht ist sein Fortgang, die beginnende Einheit der Kirche; Gottesrecht ist schließlich sein Ende, das Reich Gottes.

Seine Verwirklichung im Kirchenrecht dagegen hat teil an dessen dialektischem Charakter: Ordnung der Kirche ist gottesrechtlich gestiftet, menschenrechtlich gestaltet. Wie die Kirche das Reich Gottes abbildlich repräsentiert, so das Kirchenrecht das Gottesrecht. Wie das Reich Gottes der Kirche sachlich vorgeht, so das im divinum dem menschlichen Recht43.

 

Christologischer und anthropologischer Ansatz des Kirchenrechts münden in die Verfaßtheit christlicher Existenz: Begründet im stiftenden Anfang der Jüngergemeinde, spannt sie sich in Gottesdienst und Bruderdienst aus auf die ökumenische Kirche.

Nun wendet sich der Blick nach außen: Gottesdienst ist Verkündigung, Kerygma. Damit schlagen wir das Kapitel des „bekennenden Kirchenrechts” auf, das seinen historischen Anfang im Kampf der Bekennenden Kirche nahm44. Es zeigt wieder die christliche Existenz-im-Recht, aber nun von einer neuen Seite.


➝ Unterschiedenheit wäre in einer „bündisch” geordneten Ökumene verwirklicht; vgl. OdK 66, 722 f. (EKD). (Auf dieser ekklesiologischen Grundannahme beruht das Decretum De Ecclesiis Orientalibus Catholicis des Vaticanum II!)
42) RbW 81 ff., GrundO 150, OdK VI, 8 ff., 19 ff. Zum Landeskirchentum: EKD 83-85, OdK 584 A. 1 („religiöse Fiktion”) u.v.a.
43) RbW 83, RGG III 1509, OdK 7 ff., 21, 68, 154 f.
44) „Erik Wolf versucht die Einsicht des Kirchenkampfes von der Untrennbarkeit der Kirchenordnung vom Bekenntnis systematisch durchzuführen”, H. Kloppenburg JK 1963 660.

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5. Bekennendes und beispielgebendes Kirchenrecht

 

Der Begriff des „bekennenden Kirchenrechts” ist im Kirchenkampf1 entstanden. Auch bei Erik Wolf ist er von dieser Erfahrung geprägt. Er ist eine Analogiebildung zur „Bekennenden Kirche”, der Selbstbezeichnung der innerkirchlichen Gegenwehr (namentlich der „Jungreformatorischen Bewegung”) gegen die Deutschen Christen. Sie besagte von Anfang an Aktualisierung des Bekenntnisses zu Christus mit allen Konsequenzen: Innere und äußere Freiheit für die Kirche, Lösung von politischen Verflechtungen, Rückbesinnung auf die fast vergessenen historischen Bekenntnisschriften (besonders bei Lutheranern), Schaffung einer gegenüber dem Staat eigenständigen Ordnung.

So gewann der Ausdruck schnell eine rechtliche Seite: „In der Kirche ist eine Scheidung der äußeren Ordnung vom Bekenntnis nicht möglich” (Barmer Erklärung zur Rechtslage 3.). Daraus folgt als Umkehrung, „daß die Kirche pflichtgemäß handelt, wenn sie einer Leitung, die das Bekenntnis verletzt, die Gefolgschaft versagt”. Die formelle Begründung dazu gab die Proklamation des Notrechts gegen die „Reichskirchenregierung” auf der zweiten Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche zu Dahlem im Oktober 19342.

Die Konzeption des bekennenden Kirchenrechts hat darum spezifische Merkmale, die alle bei Wolf wiederzufinden sind3: die Ablehnung der Schöpfungsordnungen (gegen die Verführungen der Volksnomos-Ideologie), die Betonung der Einheit der Schrift auch für das Kirchenrecht


1) „Kirchenkampf” umfaßt freilich sehr vieles und verschiedenes. Genauere rechtshistorische Forschung könnte nachweisen, daß wesentliche Erkenntnisse, die heute als „Ertrag des Kirchenkampfes” gebucht werden, bereits in den 20er Jahren erarbeitet waren (Rechtsphilosophie!, zutreffend Ernst Wolf II 191; Eigenständigkeit des Kirchenrechts, vgl. J.V. Bredt II 396, s. oben 2731), daß weitere wichtige Anstöße nicht erst vom Kampf ab 1934 ausgingen, sondern schon durch den „Aufbruch” 1933 freigelegt wurden (vgl. ReG 260 f. und RichtR überhaupt), ja bis in die Gedankenwelt des religiösen Sozialismus und der Jugendbewegung zurückverfolgt werden könnten. Der entscheidende Beitrag der frühen dialektischen Theologie ist bekannt; der Anteil der Lutherrenaissance der 20er Jahre (soweit ihre Vertreter nicht dem Volksnomos des Deutschtums verfielen) ist dagegen noch weitgehend unerforscht. Zum allgemeinen geistes-(rechts-)geschichtlichen Hintergrund vgl. ReG (5) 253 f.
2) BekK 15 f., OdK 441. — Der Ausdruck „Bekennende Kirche” findet sich aber schon 1933 (vgl. den programmatischen Aufsatz von W. Jeep 17 f.). — Die fundamentale Bedeutung des Notrechts entfaltet zutreffend K. Till.
3) Vgl. besonders GrundO 150 f., RgK 254 ff., RGG II 1335, OdK 437 ff.

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(gegen die Abwertung des Alten Testaments als Judenbuch), die neue Sicht der Gemeinde als Kerngemeinde (gegen die Masse des geistlich inaktiven, aber deutsch-christlich gesinnten „Kirchenvolks”) und des Amtes als „bruderschafllichen” Dienstes (gegen das Führerprinzip), der Regreß von den Bekenntnisschriften auf das Bekenntnis zu Christus (gegen die Konfessionalisierung, die als negative Folge der Rückbesinnung auf die Bekenntnisschriften in den lutherischen Kirchen eingetreten war und bis heute zunimmt) und vor allem die neue Sicht des Kirchenrechts als eines bekenntnisgebundenen Rechtes (gegen die bis dahin allein herrschende positivistische und „bürokratische” Rechtspraxis, die Legalität vor Legitimität stellte).

Das „bekennende Kirchenrecht” ist also ein sachlicher und ein emotionaler Begriff zugleich. Es haften an ihm alle die bitteren und frohen Erinnerungen dieser Prüfungszeit der Kirche, der Wolf gedient hat wie wenige.

Nicht viel davon ist rationaler Analyse zugänglich; aber das Wenige soll doch versucht werden. Dabei sollen die Rechtsbegriffe der Kerngemeinde (unten a), des Bekenntnisses (b) und vor allem des bekennenden (c) und beispielgebenden Rechtes (d) selbst anleiten.

 

a) Die Erfahrung der Kerngemeinde

Was Kerngemeinde ist, versteht man ebenfalls am ehesten auf dem Hintergrund der soziologischen Situation evangelischen Landeskirchentums und der historischen des Kirchenkampfes.

Die Kerngemeinde ist der geistliche Kompromiß zwischen der Volkskirche und der Freikirche in der durch die landeskirchlichen Verhältnisse geforderten Form. Sie ist der Versuch, die träge Masse des Kirchenvolks durch Bildung eines geistlichen Kristallisationspunktes mit Christus in Beziehung zu bringen.

Ihre große Stunde kam im Kirchenkampf. Die Bildung von Kerngemeinden (auch „Gemeindekerne” genannt) war die einzige Chance, die geistlich inaktive Mehrheit der Kirchen„mit”glieder von den Wahlen für die Kirchenverfassungen fernzuhalten: nur die Kerngemeinde sollte aktiv und passiv wahlberechtigt sein, nicht die an den Deutschen Christen orientierte Mehrheit. So sammelten sich, oft ohne äußere Steuerung, die „bekenntnistreuen” Gemeindeglieder und übernahmen selbstverantwortlich die kirchlichen Aufgaben. Ihre geistliche Quelle wurde nicht

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so sehr der Wortgottesdienst, als vielmehr das Abendmahl. Daraus erwuchs eine starke geistliche Gemeinschaft.

Im Bild der Kerngemeinde Erik Wolfs4 ist all das enthalten. Sie ist deshalb definiert als der Zusammenschluß der geistlich aktiven, bekenntnistreuen Gemeindeglieder, die selbständig kirchliche Aufgaben übernehmen und ihren Glauben öffentlich bekennen; an anderer Stelle wird sie der Abendmahlsgemeinde gleichgesetzt5.

Die „Spuren” des Kerngemeinde-Gedankens sind allenthalben zu finden. Er ist in der christokratischen „Bruderschaft” enthalten; er läßt die Jüngergemeinde aus dem Kreis der Anhänger Jesu heraustreten6, auch der innere Kreis der Gliedschaft (die „tätige Gliedschaft” im Sinne Mörsdorfs) ist gleich der Kerngemeinde; vor allem der Leitbegriff des Kirchenrechts Wolfs, das „bekennende Kirchenrecht”, ist von der Erfahrung dieser lebendigen Gemeinschaft her entworfen, wie zunächst am Begriff des „Bekenntnisses” gezeigt wird.

 

b) Bekenntnis und Bekennen

„Das Bekenntnis” ist in der Rechtssprache nicht der Akt des Bekennens, sondern gemeinhin entweder der „Bekenntnisstand” einer (Landes-)Kirche oder eines Kirchenmitgliedes oder aber die diesen Bekenntnisstand bestimmenden „Bekenntnisschriften”. Damit sind nun nicht primär die gemeinsamen altkirchlichen Symbole gemeint, sondern die unterscheidenden (lutherischen, reformierten oder unierten) „Bekenntnisse der Reformation”, als deren wichtigste in Deutschland die lutherische „Confessio Augustana” von 1530 und der reformierte Heidelberger Katechismus von 1563 zu nennen sind.

Wolf geht von Anfang an von dem Satz aus: Kirchenrecht und Bekenntnis sind untrennbar. Was aber ist Bekenntnis bei Wolf?


4) Oft wird die Kerngemeinde als spezifisch reformierte Erfindung dargestellt, aber zu Unrecht. In anderer Form genoß sie schon lange lutherisches Heimatrecht, sei es in Gestalt pietistischer Bibel- und „Gemeinschaftskreise” seit dem 18. Jh., sei es in der von volksmissionarischen Gruppen seit dem 19.Jh. (dazu vgl. W. Birnbaum 1939 5ff., 85 ff., 121 ff.). Zu ihrer Ausprägung im Kirchenkampf trug natürlich die dialektische Theologie entscheidend bei. Der Neuansatz besteht darin, daß nicht mehr allein das freie Gebet oder die missionarische Aktivität, sondern das Abendmahl in der Mitte steht (immanente Elitevorstellungen sind hier also fehl am Platz).
5) ReG 266, KuR 355, 360 f., ReG (5) 269 f., GrundO 150 f., OdK 96 ff., 157, 547, 654; vgl. auch NdK 71 ff.
6) Urspr. 31.

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b 1. Entwicklung

Die Entwicklung läuft vom aktual-existentiellen Bekennen zum dialektisch verstandenen Bekenntnis. Bis 1952 ist Bekenntnis nicht „eine Bekenntnisschrift des 16. Jahrhunderts”, vor 1945 nicht einmal das (isolierte) Wort der Schrift, sondern der Glaube, der wesensnotwendig zum Bekennen drängt, zur Gemeinschaft verbindet und vom Ungläubigen trennt. Weil das Bekennen des gemeinsamen Glaubens (im Gottesdienst) das Wesensgesetz der Gemeinde ausmacht, „ruht” die Gemeinde auf dem Bekenntnis (als Bekennen)7.

Aber der tätige Akt des Glaubens kann von seinem formulierbaren Inhalt nicht abgetrennt werden: Bekennen und Bekenntnis gehören zusammen. Zwischen „Bekenntnis” und „Bekennen” besteht dialektische Einheit.

b 2. Homologie

Damit wird die Urdialektik von Institution und Ereignis von der Kirche auf ihr Bekenntnis übertragen. Bekenntnis ist als formulierte Schrift „Institution”, als aktuale Aussage „Ereignis”. Die Bekenntnisschrift bedarf der „Einübung ins Christentum” (Kierkegaard). Umgekehrt kann nur „das” Bekenntnis bekannt werden; Aussage ohne Inhalt gibt es nicht.

Die historische Berechtigung dieser Übertragung liegt in der Jüngergemeinde. Dort war Bekennen und Bekenntnis eins in der ὁμολογία: „Antwort” der Jünger auf den erwählenden Ruf des Herrn und „Zeugnis” seiner Herrschaft8. Durch das antwortende Zeugnis wurde der Kreis der Jünger zur Bekenntnisgemeinschaft konstituiert. Bei den nachapostolischen Gemeinden ist es nicht anders; auch sie antworten auf den in der Verkündigung der biblischen Weisung lautwerdenden Ruf mit dem Bekenntnis Seiner Gegenwart.

Damit ist auch die sachliche Berechtigung der dialektischen Einheit von Bekenntnis und Bekennen erwiesen. Sie liegt im Gottesdienst und in der Verkündigung. Man muß sogar sagen, daß Gottesdienst, Verkündigung und Bekenntnis sachlich identisch sind. Im gottesdienstlichen


7) S.o. 282 ff., AevKR 1937 24; Bekenntnis drückt sich in Kultus und Recht aus, ReG (5) 256, RbW 68, 92 f.
8) Zur „entsprechenden” Rechtsanthropologie RGG V 854, GR I 21 (Wort als Begegnung).

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Bekennen wird die Gemeinde durch ihren Herrn geeint; sie wird „sichtbare Kirche”. Bekenntnis ist kirchenkonstituierend. Im Ereignis des Bekennens baut sich die Institution Kirche auf, und indem sie ihr Bekenntnis wiederholend einholt, wird Institution zum Ereignis. Das Bekennen des Bekenntnisses wird so zur wahren Ordnung der Kirche, das Kirchenrecht zur bekennenden Ordnung9.

b 3. Bekenntnisschriften

Die unlösbare rechtstheologische Verbindung des Bekennens mit dem Bekenntnis erweist sich auch vom anderen Ende her, nämlich von der juristischen Interpretation der Bekenntnisschriften. Auch darin wird sichtbar, daß es sich um eine Dialektik handelt, bei der Unterschiedenes zusammengehört, und nicht um einen verschleierten Aktualismus, der eigentlich doch nur das je gegenwärtige Bekennen meint.

Gegen die frühere (umstrittene) Generallinie der lutherischen Theorie (schon im 18. Jahrhundert J. Boehmer: credenda non sunt agenda) und gegen die (unumstrittene) Praxis bis 1933 behauptet Wolf mit den Bekenntnissynoden die Rechtsqualität der Bekenntnisse für die einzelnen Kirchen. Es zeuge von „rechtstheologischer Ahnungslosigkeit”, wenn verkannt werde, daß sie normae normantes für Kirchenaufbau und Gottesdienst der ecclesiae particulares seien. Denn sie sind das „nor-mativ-konstitutive Glaubensdokument ihrer Gründung”.

Auch H. Liermann bezeichnet die Bekenntnisse als normae normantes, aber „metajuristischer”, d.h. außerjuristischer Qualität. Anders hier. Sie sind Rechtsquelle. Ihre Wirkungsweise wird umschrieben mit den gleichen Worten, die die biblische Weisung auszeichneten: Das Bekenntnis habe „legitimierende, begrenzende, richtungweisende” Funktion für das Kirchenrecht (nach G. Wendt). Es ist also ebenso Recht wie die biblische Weisung, nämlich nicht-normatives, nicht-autoratives Recht, das widersprechendes Kirchenrecht formell und materiell außer Kraft setzt, das aber im Unterschied zur biblischen Weisung nur ius humanum ist, aber obersten Ranges, d.h. nicht im Wege (einfacher) kirchlicher Gesetzgebung abänderbar10.


9) RidK 762, RbW 77 f., OdK 158, 502, 513, RGG III 1508 f. interpretiert von OdK 27 ff., 67 (in statu-in actu) her. „Einübung”: OdK 502, OdL 8.
10) Sondern nur mit Zustimmung der ganzen Kirche, d.h. aller Gemeinden?

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Damit gilt zunächst das traditionelle Dreistufenschema, aber nur innerhalb des Rechts: nach unten (im Verhältnis zum ius ecclesiasticum) ist die Bekenntnisschrift norma normans; nach oben (im Verhältnis zur Schrift) ist sie norma normata. Denn der Satz ecclesia semper reformanda besteht auch für das Bekenntnis der Kirche zu Recht, d.h. die Bekenntnisschriften müssen jederzeit vom Ganzen der Schrift her überprüft werden können. — Dann aber wird das Schema der biblischen Weisung untergeordnet: Die historischen Bekenntnisschriften sind nur „leitende Weisung” für das übrige menschliche Recht, sofern in ihnen in acta, also in geschichtlicher Aktualität (Barmen!), die Weisung des Hl. Geistes verstanden wird („in” der Institution das Ereignis laut wird). „Bekennend erst rechtfertigt sich ein Bekenntnisstand.”

Die Interpretation der „institutionellen” Bekenntnisschrift als „aktuelle” Weisung des Geistes ergänzt die obige Bestimmung als ius humanum.

Daraus erhellt auch ihre Vorrangstellung und ihre erschwerte Abänderbarkeit gegenüber dem übrigen Kirchenrecht. Zugleich sind die methodischen Schwierigkeiten eines bekennenden Rechts beantwortet. Es ist weder unmittelbar und ungeschichtlich der Schrift zu entnehmen, noch konfessionalistisch an eine historische Auslegung des 16. Jahrhunderts gebunden, noch wird es durch nur-„pneumatische” Ereignishaftigkeit aufgelöst: Es ist bekennendes Recht in der dialektischen Einheit von historischem Bekenntnis und aktualem Bekennen gottesdienstlicher Verkündigung11.

 

c) Bekennendes Kirchenrecht

Die drei Charakteristika des Bekenntnisses bestimmen auch das „bekennende Kirchenrecht”. Es ist die Ordnung des Gottesdienstes und der Verkündigung; es verbindet aktuales Bekennen und historisches Bekenntnis im Begriff des Rechts; schließlich ist das Bekenntnis sein Grund, seine Grenze und sein Ziel.


11) RbW 68, RgK 257, RGG III 1509 f., IV 1533, OdK 63, 79, 417, 469, 480 f., 485, 492, 503 ff. (mit RdN 17), 510, 572, OdL 9; etwas anders RGG IV 1533 f. für das kirchliche Notrecht als ungeschriebenen Bekenntnisgrundsatz; G. Wendt RGG II 1535, H. Liermann 1933 21 ff., 34 ff., ähnlich H. Thielicke z.B. FS Schmidt 164 ff. Negatives Beispiel Badische Landeskirche: OdK 484 A. 3, 514 A. 2, vgl. auch JK 1949 555. Bekenntnis als Norm: K. Till 111 ff.

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c 1. Recht als Antwort und Zeugnis

Weil das Recht der Kirche aus der gottesdienstlichen Verkündigung hervorgeht, trägt es den Charakter einer Antwort. Im antwortenden Bekennen wird die göttliche Rechtsweisung erfahren, die in der Ordnung der Kirche menschliche Rechtsgestalt gewinnt. Dadurch wird sie zugleich zum Zeugnis für die Christokratie und Bruderschaft in der Kirche. Diese Eigenart des kirchlichen Rechts zeigt sich erstens in seinem Normenbestand; denn es ist vor allem Gottesdienstordnung in der zweifachen Gestalt derVerkündigungs- und Sakramentsordnung. Zweitens zeigt es sich in seiner Funktion als Dienstrecht; denn es will ausschließlich mithelfen, die Christokratie und Bruderschaft unter den Gläubigen und in der Welt zu verwirklichen.

Bekennendes Kirchenrecht ist also die geschichtliche Rechtsantwort und Rechtsbezeugung von Christokratie und Bruderschaft.

c 2. Recht als Bekenntnis und Bekennen

Die Rechtsgestalt dieser Antwort teilt die Urdialektik der Kirche. Diese Dialektik enthält die untrennbare Verbindung jeder kirchlichen Ordnung mit den historischen Bekenntnissen einerseits, dem aktualen Bekennen andererseits. Bekenntniskirche muß Bekennerkirche sein12, und ebenso Bekenntnisrecht bekennendes Recht. Kirchenrecht ist Bekenntnisordnung in statu und bekennende Ordnung in actu, geordnete Verkündigung und verkündigende Ordnung; es ist selbst Bekenntnisakt und rechtliche Ausformung des Bekenntnisses13.

Besteht innerhalb dieser Dialektik eine Reihenfolge? Wolf bejaht diese Frage. „Wie der Glaube zur Lehre sich festigt, das Bekennen zum Bekenntnis sich formt, so bildet sich aus der (seil, rechtlichen) Verfaßtheit im Glauben die Verfassung der Kirche”14. Das „Ereignis” der bekennenden Ordnung begründet die „Institution” des Bekenntnisrechts; diese wiederum bedarf der steten „Einübung ins Christentum”, ins Ereignis der Gnade.


12) OdK 577 f. A. 2 gegen H. Liermann 1933 195 f.; zu R. Smend ZevKR 1957/58 124 vgl. OdK 584 A. 1, 586 A. 1.
13) RbW 5, 67 f., 77, RgK 257 ff., RGG II 1332, OdK 67, 158, 502, 508, 510 ff. — Im Grundsätzlichen stimmten bisher zu G. May ThRv 1961 194, D. Oehler FS Giese 195 ff., W.D. Marsch ZevKR 1956 153; dagegen verkennt J. Hoffmann RDC 1966 86 f. diese Dialektik im Rechtsbegriff: „Le «méta-juridique” (= H. Liermann!, d. Verf.) risque d’évacuer le droit”. Von luth. Standpunkt ähnlich W. Maurer 1963. Zum Rechtsbegriff s.u. 393 ff.
14) Basler Kirchenbote 1961.

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c 3. Die Funktion des Bekenntnisses für das Recht

Das Bekenntnis — wie schon der Gottesdienst! — ist Grund, Grenze und Ziel der Kirchenordnung in der Dialektik beider Bedeutungen des Bekenntnisses. Auch dies meint „bekennendes” Kirchenrecht.

3 a) Grund

Das Bekenntnis als Grund der Ordnung besagt: Kirchenrecht muß dem Bekenntnis „entsprechen”. In diesem Sinn bedeutet bekennendes das bekenntnisgemäße und bekenntnisgebundene Recht. Es wird in seinen Rechtsaussagen vom jeweiligen Bekenntnisstand15 der jeweiligen Kirche legitimiert.

Also ein „Bekenntnisrelativismus” einander material widersprechender, formal aber bekenntnisbegründeter Kirchenrechte? Der jede historische Kirche überholende ökumenische Rechtsgedanke hilft weiter: Das Bekenntnis ist nur insofern Rechtsgrundlage, als es auf der Höhe der Zeit interpretiert wird, d.h. den geschichtlich möglichen Stand ökumenischer Glaubenserkenntnis wiedergibt. Denn die Glaubenserkenntnis schreitet fort, die Rechtserkenntnis begleitet sie. Letzter Grund ist immer die biblische Weisung, insofern sie die Bekenntnisschriften interpretiert und korrigiert. So verstanden „beruht” das Kirchenrecht auf den historischen Bekenntnisschriften und überholt sie.

Diese Begründung auf dem Bekenntnis gibt dem Recht auch eine vom weltlichen Recht unabhängige und eigengeartete Autorität und Verbindlichkeit, weil es Ausfluß der christlichen Existenz ist, also der bekennenden Gemeinde, oder anders: ihrer Schlüsselgewalt. Es kann nicht autoritativ auferlegt werden, sondern muß von der Gemeinde (in irgendeiner Form) akzeptiert werden.

Die Bedeutung des Bekenntnisses erstreckt sich sogar auf den kirchlichen Rechtsbegriff selbst. Wo eine Gemeinde im Bekenntnis, d.h. in Verkündigung und Gottesdienst geordnet lebt, d.h. gemäß den Weisungen der Schrift und des Bekenntnisses, dort hat sie Recht, und wenn es in ihr keinen einzigen geschriebenen Rechtssatz gäbe. Bekennendes Kirchenrecht ist überpositiv: der Positivierung zugänglich, aber nicht


15) Aber „nicht (schon) jedes Wort der Bekenntnisschriften ist rechtsverbindlich”! Basler Kirchenbote 1961.

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bedürftig; denn sein sicherer Grund ist die im Bekenntnis lautwerdende biblische Weisung. Bekennendes Kirchenrecht enthält also auch die Anerkennung des ius divinum, die Ablehnung des Rechts als eines ἀδιάφορον16.

3 b) Grenze

Bekennendes Kirchenrecht ist bekenntnisbegrenztes Recht. Da das Bekenntnis deutliche, distinktive Verkündigung ist, die nicht nur eint, sondern auch scheidet, ist auch das Recht dieser Art.

Daraus folgt, daß es Lehrzuchtrecht geben muß, das nicht nur formale, sondern auch materiale Kriterien zur Entscheidung kennt!

Daraus folgt weiter, daß es auch unrechte und damit rechtsunwirksame „Ordnung” der Kirche gibt, nämlich wo sie gegen das Bekenntnis verstößt: nicht nur gegen das historische, sondern auch gegen das jetzt mögliche Bekenntnis! Wolf würde keinen Augenblick zögern, aus diesem Grundsatz zu schließen, daß auch jedes Kirchenrecht Unrecht gegen die Kirche ist, das jetzt mögliche Formen der Einheit nicht wahrnimmt und das jetzt Grenzen aufrichtet, die nicht als ius divinum gelten müssen. Man muß mit Wolf noch weitergehen. Freilich „nicht jeder kirchliche Rechtssatz ist ein Bekenntnissatz”! Doch was nicht dazu dienlich ist, der Welt das Evangelium zu bekennen, hat im Kirchenrecht nichts zu suchen, mag es auch noch so „zweckmäßig” oder „weltklug” sein. Kirchenrecht kann noch so sehr „juristisch” in Ordnung sein und dennoch geistlich Not leiden.

Daraus folgt schließlich: Das bekennende Kirchenrecht sagt auch, was nur Sekte, nicht mehr Kirche ist; es scheidet zwischen falscher und rechter Kirche17.

3 c) Ziel

Bekennendes Kirchenrecht dient dem Bekenntnis. Sein einziges Ziel ist die Verkündigung des Wortes Gottes nach innen und nach außen, oder anders: die Christokratie und Bruderschaft im Gottesdienst sichtbar werden zu lassen.


16) BekK 15, GrundO 151, RbW 67 f., 79, 92 f., JK 1949 555, RgK 254 ff., Entsteh. 24, RGG II 1332, OdK 18, 67, 464, 485, 508.
17) RbW 79 ff., 83 f., RO 321, Basler Kirchenbote 1961.

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Die kirchliche Rechtsordnung soll in allem dem Bekenntnis, der Verkündigung dienen. Sie ist in allem „diakonische und gottesdienstliche Ordnung”. Jedes Rechtsinstitut bis herab zu Finanzverwaltung und Grundstücksrecht hat die Nächstenschaft zu verwirklichen. Gemeindeaufbau, Kirchengliedschaft, jede kirchliche Rechtsfrage steht unter dem Rechtsvorbehalt der Verkündigung. Vor allem hat es die Einheit der Kirche zu bezeugen.

Bekennendes Kirchenrecht, so möchte man hinzufügen, zeigt sich nicht zum wenigsten darin, daß es dem „Frommen” ein Ärgernis und dem (Rechts-)Philosophen eine Torheit ist.

So soll eine Bekenntnisgemeinschaft entstehen, deren Ordnung „für alle anderen Menschen ein Zeugnis ablegt für die Mitte und das Haupt dieser Gemeinschaft: Christus!”18.

 

Bekennendes Kirchenrecht ist damit die Rechtsgestalt des Rufs Christi an die ganze Welt. Es ist die Rechtsbotschaft des Evangeliums in unserer Zeit. In seiner Eigenart als Institution und Ereignis spiegelt es, dem Glauben erkennbar, seine jenseitige Herkunft wider und erhellt so die Welt. Darin wird es ein Beispiel, das auf die jenseitige Ordnung des Reiches Gottes hinweist19.

 

d) Das beispielhafte Recht

Bekennen und Bekenntnis stellen der Welt vor Augen, was wirklich ist. Darum wird die Kirche der Welt zum Zeichen. Das gleiche trifft für ihre Ordnung zu, da man ja das Recht der Kirche nicht vom Bekenntnis trennen kann. Das „bekennende” wird zum „beispielhaften” Recht20.


18) Gutachten 181, BekK 15, GrundO 180 f., RbW 83 f., 93, RefKZ 1949 131, Entsteh. 3, OdK 510 f.; K. Barth OdG 73; „Bekenntnisgemeinschaft” (RgK 256 u.ö.) bezeichnet ursprünglich die „bekennende Kirche”, BekK 16.
19) Vgl. Gutachten 181, RbW 67 f., 83, OdK 27 f. — Die Fundamentaldialektik des ereignishaft-institutionellen „bekennenden Rechts” wiederholt sich in der Fundamentaldialektik der „ordnenden und geordneten” Ordnung der Kirche, u. 397 ff. Dazu H.H. Schrey schon 1952 31: „Ähnlich liegen die Dinge auch beim Recht. Es ist beides: Institution und Ereignis (mit Berufung auf J.L. Leuba) . . . Als Satzung . . . ist es institutionsbegründend, selbst ein Teil des Institutionellen . . . Aber es gibt kein aktuelles Recht, das nicht zugleich ,ungeschriebenes Recht’, nomos agraphos wäre.”
20) Gleichbedeutend: vorbildliches, exemplarisches, paradigmatisches Recht.

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d 1. Das eigentliche Recht

„Von oben” ergeht der Ruf Gottes in Christi biblischer Weisung an alle. Er „gilt” universal. Aber nur die Christen antworten; das geschieht in Gottesdienst und Verkündigung, im „Bekenntnis”. Dadurch gerät die Gemeinde „in Ordnung”. Die christliche Gemeinde ist verfaßt im bekennenden Recht.

Die Vertikale begründet die Horizontale: Wie Christus der wahre Mensch ist, so ist analog die christliche Gemeinde die wahre Gemeinschaft. „Eigentlich” sollte jede Gemeinschaft solchergestalt geordnet sein, nämlich Christus gehorchend die Brüderlichkeit verwirklichen. Aber nur die Gemeinde Christi hört den Rechtswillen Gottes und bekennt ihn mit ihrer ganzen Existenz. Daraus folgt: Das bekennende ist das eigentliche Recht und darum das „vorbildliche” und beispielhafte Recht. Es zeichnet sich dreifach vor anderem menschlichen Recht aus. Es gründet in göttlicher Stiftung, ist begrenzt von biblischer Weisung, ist Vorspiel der civitas Dei21.

Sofort muß ergänzt werden: Nur vom „vorläufigen” menschlichen Kirchenrecht des homo simul peccator et iustus ist die Rede. Deshalb ist es nur „exemplifikativ”, nicht „imperativ” für die Welt. Es hat nur einen „relativen Vorsprung” (K. Barth) vor dem Recht der Welt. Es geht nicht um die Aufrichtung der Theokratie, die vorwegnehmen will, was der absoluten Zukunft gehört. Es soll nicht mittelbar oder unmittelbar dem Staat vorgeschrieben werden, was er zu tun oder zu lassen hat. Erst recht wird kein Gewissenszwang ausgeübt. Das wäre mit der Bruderschaft unvereinbar, die jeden in seinem Recht lassen muß22.

d 2. Das Komplement des bekennenden Rechts

Die Wurzeln dieses Gedankens sind teils historischer, teils systematischer Art.


21) RbW 55 f., 66 ff., 72, 76 f., 82 f., OdK 5 f., 468 (causa und telos). Entsprechendes gilt für die Kirchenrechtslehre, OdK 4 f.; zustimmend G. May ThRv 1961 194 und Ernst Wolf II 193, 198 („Kirchenrecht als vorbereitende Disziplin des . . . Rechtsdenkens”).
22) RbW 38, 55, 93, Urspr. 32, BW 775, RdN 24 f., RGG II 1330, III 1508 f., DO 59, OdK 121, 159, EStL1032 f.; EStL ebd. erweitert zum Ternar exemplarischer, confessorischer und kerygmatischer Funktion des Kirchenrechts; K. Barth OdG 78; Ernst Wolf II 197 f.: nur „propädeutische” Bedeutung des Kirchenrechts für das weltliche Recht (ebd. 275 ff.) und nur als Bekenntnissatz verbindlich (ebd. 228); also „weder Ideal noch Norm” der weltlichen Gesellschaft.

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Wolf selbst hat oft genug betont, daß die kalvinistische Frömmigkeit auf das Zeugnis in der Welt ausgerichtet ist23. Dazu kommen auch hier die Anstöße des Kirchenkampfes, in dem die bekennende Ordnung der Kirche in der Tat der Welt ein Beispiel gab. Verstärkt wird diese Tendenz zum beispielhaften Recht durch den Ruf zur „verantwortlichen Gesellschaft” (responsible society), der auf den Weltkirchenkonferenzen von Amsterdam (an der Wolf teilgenommen hat) und von Evanston lautgeworden ist; man versteht darunter das Leitbild einer vor Gott und den Nächsten verantwortlichen und deshalb als frei geforderten Gemeinschaft24.

Die systematische Begründung des paradigmatischen Rechts liegt, wie schon angedeutet, in der Dialektik von Christokratie und Bruderschaft.

Die Christokratie ist nicht Herrschaft, sondern Dienst und Anruf, der sich an die ganze Welt richtet, nicht nur an einzelne, sondern auch an die Völker und Gemeinschaften; denn ihr Ruf gilt universal. Die Ordnung der Kirche ist näherungsweise diejenige Antwort, die de iure alle Völker geben sollten, die aber de facto nur von der Gemeinde Christi gegeben wird.

Dadurch ist sie Dienst am Bruder; wieder nicht nur am einzelnen, sondern an den Völkern, Gottes Vorbild entsprechend. Kirchenrecht wird so zum helfenden und erziehenden Wort der Kirche an die Welt, damit wenigstens soviel in Ordnung komme, als der gefallenen Schöpfung zwischen den Zeiten möglich ist25.

Das vorbildliche Kirchenrecht ist Teil der „Ordnungsaufgabe” der Gemeinde an der Welt, ihrer Weltverantwortung und ihres recht verstandenen „Öffentlichkeitsauftrags” — nicht mehr ist gemeint. Es ist nur die Rechtsdimension des Verkündigungsauftrages der Kirche26. Es


23) Dazu ist wohl die gemäßigte Erbsündenlehre (zu Calvin vgl. Reich 44, Calv. 16 A. 15, 19, 25 A. 60, 30 [anders OdK 473?], O. Weber RGG I 1594, F. Hoffmann HthG I 150) und der „aktive” Glaubensbegriff zu nennen, der die spiritualistische Trennung von Innen und Außen nicht (mehr) kennt.
24) Amst. 561 ff., 594 ff., RdN 16, 48 A. 19; dazu die RdN 48 A. 19 angegebene Lit., ferner Ernst Wolf II 259 f., 274 f., H.D. Wendland 1958 124 ff., E. Duff und P. Abrecht ER 1965 241 ff.
25) EKD 85, OdL 16 ff.; ähnlich Ernst Wolf II 227.
26) RbW 93, RGG III 1509, OdK 418, 718.

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bezeugt, daß Ordnung der Christokratie menschlich möglich ist, und stellt so die Welt vor die Glaubensentscheidung27.

Bekennendes Recht und beispielgebende Ordnung sind also die beiden komplementären Seiten des Kirchenrechts. Sie sprengen den traditionellen kirchlichen Rechtsbegriff.

 

6. Der Rechtsbegriff des Kirchenrechts

 

Es hat den Anschein, daß das „bekennende” und „beispielgebende” Kirchenrecht einen anderen als den weltlichen Rechtsbegriff voraussetzt, der — nach den bisher sichtbar gewordenen Prämissen — erstens aus theologischen Voraussetzungen folgt, denn nur sie legitimieren zur Abänderung; der zweitens ein ereignishaftes Element in sich aufgenommen hat1, weil sonst ein „Bekennen” des Rechts undenkbar ist.

Ein Überblick über den Rechtsbegriff im Rahmen der Rechtstheologie Wolfs soll eine erste Antwort auf die hier aufgeworfenen Fragen bringen.

 

a) Das dialektische Recht

Würde man, die Rechtstheologie und das Kirchenrecht Wolfs überblickend, einen Rechtsbegriff abstrahierend postulieren wollen, so müßte er „dialektisch” sein: Er müßte aus dem zweifachen christokratisch-bruderschaftlichen und dem anthropologisch-paradoxen Ansatz kommend, sich zu einem „Recht christlicher Existenz” vereinen.

Ein komplexeres Bild zeigt sich, wenn man die tatsächlichen Entwicklungsstadien im Rechtsbegriff Wolfs vergleicht.

a 1. Bis 1948

Nach der ausschließlich rechtsphilosophischen Anfangszeit (bis 1933) liegt dem Kirchenrecht zunächst der gleiche (Schöpfungsordnungs-) Rechtsbegriff zugrunde wie dem weltlichen Recht; nur der Gesetzgeber ist verschieden (bis 1936). Vertiefte anthropologische Besinnung führt 1936/37 zur Eigenständigkeit des Rechtsbegriffs der Kirche als Folge


27) ReG (5) 264, GrundO 180 f., RbW 49, 63 f., RGG II 1332, III 1508 f., OdK 77, 159, 512, OdL 16 ff. Ähnlich A.D. Müller, zit. OdK 512 A. 1.
1) Die idealistische Trennung von Mensch und Recht, Subjekt und Objekt ist also bei Wolf überwunden.

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und Funktion der qualitativen Verschiedenheit von gläubiger und weltlicher Existenz. Die Dialektik der Kirche als geistliches und welthaftes Paradox weist auf die Paradoxie im kirchlichen Rechtsbegriff selbst. 1948 scheint daraus der Schluß gezogen zu werden, daß die Ordnung der Kirche als Kirche der Heiligen geistliche Rechtsordnung sei, als Ordnung der Kirche der Sünder aber weltliche Zuchtordnung2.

Diese Extremposition wird nicht weitergeführt. Wo sollte auch der Bereich geistlichen Rechts aufhören, der des weltlichen Rechts anfangen? Wie könnte ein solches Kirchenrecht noch die Einheit der Kirche wahren! Muß nicht auch die Sünde (in) der Kirche „geistlich” bewältigt werden, auch im Recht? Das allein entspräche dem Primat der theologischen Methode.

a 2. In „Ordnung der Kirche”

In der Tat trägt die „Ordnung der Kirche” weiter. Eindeutig wird die Trennung der Kirche als Sünde erklärt und also als Unordnung disqualifiziert, die mit dem Paradox des Rechts nichts zu tun hat. Die Dialektik des Kirchenrechtsbegriffs wird zu einem Ende gebracht, das auch dem Denkweg der Glaubensanalogie „von oben — nach unten — nach oben” gerecht wird und so den geistlichen Einheitspunkt dieser Dialektik hervortreten läßt; das ist Christus und die christliche Existenz.

2 a) Von oben

Das bedeutet, daß jeder weltliche Rechtsbegriff für das Kirchenrecht unverbindlich ist. Damit wird auch jede philosophische Vorentscheidung über das Kirchenrecht unmöglich. Was das Recht der Kirche ist, kann allein an ihrer geistlichen Mitte erkannt werden. Es ist, wie oben ausführlich erörtert, gottesdienstliches, verkündigendes und bekennendes Recht. Es hat Teil an der Dynamik der ecclesia semper reformanda, ja es birgt in sich die Dialektik von Recht und Charisma, oder richtiger von Institution und Ereignis.

Das bedeutet weiterhin: Die Rechtstheologie kann sachlich und methodisch nicht getrennt von der Rechtsphilosophie behandelt werden. Stets muß beider Einheit in der Unterschiedenheit beachtet werden, denn sie stehen in einem Verhältnis dialektischer Entsprechung („Fundamentaldialektik des Rechts”). Die theologische Rechtsbegründung fordert die philosophische als ihre Ergänzung, die philosophische


2) RbW 73 f.

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verlangt nach der theologischen als ihrer transzendenten Legitimierung, Limitierung und Normierung. „Rechtsphilosophie gründet und mündet in Rechtstheologie”3.

2 b) Nach unten

Die Palette möglicher Rechtsbegriffe ist damit theologisch eingeengt. Diese Rechtstheologie fordert einen Rechtsbegriff, der „strukturell zur Transzendenz geöffnet” sein muß. Als wichtigste Folge erscheint die Ablehnung des normativen Rechts, wenn man darunter ein in unveränderliche, abstrakte Regeln gefaßtes ius strictum versteht. Auch das Gegenteil ist mit dem Wesen der Kirche unvereinbar; sei es ein (dezisionistisches) Recht aus Anweisungen für jeden Einzelfall, ein reines Billigkeitsrecht eines unbeschränkt verfügbaren ius dispositivum, ein „pneumatisiertes” Recht aktualistischen Bekennens oder schwärmerischer Liebe. Diese Extreme ergeben entweder keine „offene” Ordnung, die beweglich genug ist, den Impulsen des Geistes zu folgen, oder sie verkennen die sachlogischen Strukturen des Rechts, die von der Offenbarung ja nicht beseitigt, sondern in ihrem wahren Wesen aufgehellt werden4.

Ebenso widerspricht ein vom Zwang her konzipiertes Recht der Natur des Kirchenrechts; die Herrschaft Christi verlangt die Freiheit der Glaubensentscheidung. Auch die Struktur der herrschaftlichen Über- und Unterordnung, die das weltliche öffentliche Recht kennzeichnet, ist diesem Recht fremd. Die Herrschaft Christi ist Dienst am Bruder. Christokratisches Recht ist diakonisches Recht. Gleichwohl soll es in allem juristisch einwandfreies Recht sein5.


3) RbW 67, 72 f., RgK 260, RGG IV 1353, V 854, EvW 1963 373 f., OdK VI, 8 f.; die andere „Fundamentaldialektik” ist die von Rechtsontologie und Rechtsethik (RGG V 851 ff.; für vorher vgl. ZStW 1938 197 f., BW 777 f., OdK 492).
4) RbW 75, 91, RgK 260, Fragw. 23, Entsteh. 11 f. A. 47, OdK 13, 21, 160 ff., 503, PuS 195, NRL 198; zur Sachlogik: Die Rechtstheologie fordert und begrenzt sie. Sie ist gleich der „Sach”-Gerechtigkeit; ihre Gefahren sind Formalismus ohne rechtsethische Verbindlichkeit oder Mißachtung der Freiheit des Menschen (RdN 14, 44 A. 3, 54 A. 5, OdK 5 f., 13, 503).
5) RbW 75, 90, Entsteh. 3; Zwang ist (auch) kein Merkmal des weltlichen Rechts: Fragw. 17, 29 A. 37, 30 A. 38 (mit Radbruch) u.ö. — ein wichtiger rechtsphilosophischer Rechtsunterschied zu Heckel, wobei aber zu prüfen wäre, ob aus Heckels weltlichem Recht als theologischer lex irae notwendig die rechtsphilosophische Zwangsnatur des Rechts folgt (zum Zwang im Kirchenrecht vgl. Grundmann Chronik 24, ZRG 1964 XXIV f.). — Gleichwohl bezweifelt K. Wortelker 113 ff. die Rechtsqualität des Wolfschen Kirchenrechts.

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Schließlich muß dieses Recht, wie die durch Christi Weisung zutage gekommene paradoxe Rechtslage des Menschen vor Gott es verlangt, umfassend genug sein, um das Paradox des simul peccator et iustus ordnen zu können. Es muß nicht nur die Realität der Sünde berücksichtigen — das tut jedes Recht —, sondern ebenso und vor allem die die Sünde überwindende Gewalt der Gnade.

2 c) Nach oben

Da der so gewonnene Rechtsbegriff auf Grund seiner theologischen Herkunft sich vom weltlichen Recht unterscheidet, weist er über sich hinaus, wird ontologisch zum Vorbild weltlichen Rechts und erweist dessen analoge Bildfähigkeit.

 

Vergleicht man diesen Rechtsbegriff mit dem der biblischen Weisung, so stellt man keinen Widerspruch, sondern weitgehende Übereinstimmung fest, unbeschadet der Überordnung der Weisung. Soll man daraus schließen, daß das Kirchenrecht wie die biblische Weisung den Charakter von Rechtsgrundsätzen trägt, die kirchliches Handeln legitimieren, begrenzen und anleiten? Oder soll es ein juristisches Recht sein?, — vielleicht nur in bestimmten Teilbereichen?

Es ist überhaupt auffallend, daß die negativen Aussagen weit überwiegen. Wolf sagt sehr genau, was kirchliches Recht nicht ist. Was sein Wesen ist, wird eingegrenzt, aber selbst im Dunkel gelassen. Was ist das für ein Recht, das „strukturell offen” ist, zugleich aber die „sachlogischen Strukturen” berücksichtigt; das juristisch einwandfrei ist, aber die Einheit in der Unterschiedenheit von Rechtstheologie und Rechtsphilosophie umspannt? Da Wolf sich hierzu nicht äußern will — aus Vorbedacht, wie noch zu zeigen sein wird! —, bietet das Material drei Möglichkeiten: Logisch bedenklich wäre das Verfahren, durch Umkehrschluß aus den negativen rechtstheologischen Bestimmungen die positiven Merkmale des Rechtsbegriffs zu folgern. Erst recht ist es problematisch, durch eine petitio principii den sonstigen Rechtsbegriff Wolfs (von 1936/37, der biblischen Weisung, der Rechtsphilosophie) in die Leerstelle einzusetzen. Damit verbleibt nur, durch Untersuchung weiterer Einzelbegriffe (wie „Ordnung”, „Rechtsgestalt”) die Elemente seines kirchlichen Rechtsbegriffs zu finden.

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b) Ordnung

Ordnung und Recht sind bei Wolf häufig synonym, wie bei K. Barth, aber anders als bei Dombois6. Aber viele ziehen es vor, statt von Kirchenrecht von Kirchenordnung zu sprechen. Bei ihnen schwingt ein „neuer Gefühlston” mit, wie Wolf bemerkt; „Ordnung” ist für sie zum Mode- und Ersatzwort an Stelle des allzu „juristischen” Kirchen„rechts” geworden. Man glaubt damit die geistliche Seite des Rechts gefunden zu haben, die im Gegensatz stehe zum kanonischen Recht, zu den Schöpfungsordnungen, zum „Gesetz”; man wähnt sogar, die Alternative zum Recht gefunden zu haben, das man sich immer noch als Zwangsordnung vorstellt.

Anders Erik Wolf7. Die Entwicklung des Ordnungsgedankens bestätigt seinen Weg vom Ereignis zur Fundamentaldialektik von Ereignis und Institution.

b 1. Gelebte Ordnung

Vorbereitet wird der Ordnungsgedanke durch den anthropologischen Ansatz der „gläubigen Existenz” (1936/37). Dort war das Recht die verbindlich gelebte Ordnung einer Gemeinschaft. Diese Konzeption der „gelebten Ordnung” wird fortgeführt in „Rechtsgedanke und biblische Weisung” (1947/48): Die Herrschaft Christi ist die wahre, wiederhergestellte „Schöpfungsordnung”. Das Recht der Kirche ist Werk der Christokratie und sichtbare Frucht des Glaubens der Gemeinde, eine „gelebte Ordnung”, die im Ereignis des Bekennens aktuell wird. Wirkliche, d.h. legitime Gemeinde ist nur, wo sie tatsächlich zum Wort und Sakrament im Gottesdienst versammelt ist. Dann ist sie „in Ordnung”; das ist ihre „Ordnungswirklichkeit” und Rechtsgestalt, von daher hat alles übrige „juristische Recht” seine Verbindlichkeit8.

Wo aber Kirchenordnung nur Recht ist im Akt des Bekenntnisses und der Verkündigung, wo also Rechtsentstehung und Rechtszustand


6) Vgl. Dombois RdG 1012, K. Barth OdG 6, 10 f. u.ö.; Wolf passim. Bei Wolf einmal auch i.e.S. als „Gesetzgebung” unterschieden vom Richten und Verwalten: OdK V.
7) RbW 65, schärfer OdK V gegen früher (vgl. ReG 259, 263).
8) S.o. 283 m. A.41; RbW 68, 72 ff., 89 ff.; EStL 1032. — Ähnlich übrigens Ernst Wolf II 205: „. . . das Recht, das dem Leben jener Gemeinschaft dient und mit ihr auf den Plan tritt”.

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zusammengesehen werden, dort steht nichts entgegen, sie in einem analogen, aber dennoch zutreffenden Sinn „bekennendes Recht” zu nennen. Tatsächlich ist das „bekennende” Recht in dieser aktualistischen Periode von 1936 bis 1948 als fester Begriff (erst mit, dann ohne Anführungszeichen) entstanden!

b 2. Recht als Ordnung

Nach 1948 wird zwar das aktualistisch-ereignishafte Moment festgehalten: „ius divinum . . . ist . . . eine ,aktuelle’ Ordnung: die der Christokratie”9. Zugleich tritt das institutionelle Element10 in der Ordnung mehr und mehr hervor. Mit G. Radbruch bestimmt Wolf die Ordnung als die rechtliche Dimension von Institution und Ereignis: sie ist „ordnende” und „geordnete” Ordnung.

Nun liegt das rechtsphilosophische Wesen des Rechts — über Radbruchs „Trialektik” von Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit und Sicherheit hinaus — in seinem „Ordnungsauftrag”: es ist „das Ordnende, das die Gemeinschaft gründet”. Das hängt mit der — noch später kurz zu schildernden — Rechtsontologie zusammen: Das Wesen des Seins ist sein In-Ordnung-Sein. Darum gilt auch für die biblische Weisung, daß sie Ordnung stiftet11. Wolf faßt also Akt und Sein des Rechts in eins.

So ist auch jetzt Kirchenrecht Glaubensordnung, aber nicht mehr aktualistisch wie früher verstanden, sondern dialektisch: Das Recht macht den Glauben zum ordentlichen, der Glaube „ordnet” und rechtfertigt Ordnung als Recht12.


9) OdK458; vgl. ebd. 502 ff.
10) Vgl. „Rechtsgestalt der Kirche” unten Exkurs VIII und RbW 70 der neue „Status” des aktuellen Ergriffenseins von Christus; zu den der Schöpfung eingeschaffenen „Ordnungen” der Ehe, Familie, des Eigentums RbW 28 ff., OdK 122.
11) BW 775 („Ordnung der sündigen, aber zugleich erlösten Menschen”), OdK 10 f., 17, GR I 149, 154, III/l 117; vgl. die schönen abschließenden Worte zum Rechtsgedanken Ad albert Stifters: „Recht . . . ist Gründung . . ., gibt Bindung und Bestand . . . Das Ergebnis der Gründung ist der Stand (Status) . . . Er ist die Form der Gemeinschaft, die gliedernd bindet. So wirkt das Recht die Gründung der Gemeinschaft und erhält sie zugleich” (Stifter 129; vgl. RbW 70).
12) OdK V, 8 f.; Basler Kirchenbote 1961 (s. o. 387). Dazu GR III/2 137 („Fundamentaldialektik” von abstrakter [als dauernd gewollter] und konkreter [augenblicklicher] Ordnung), Fragw. 20 (auch GR I 40), diritto 356, StLex VI 741; vgl. NRL 199 = NRL (1) 111; wohl auch Stifter 126 f., GrundO 176 f., RGG II 1332; vgl. Radbruch RPhil 284 f.; schließlich EStL 1600 („bekenntnismäßig begründet und bekennend erprobt”) und ebd. 1033.

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„Bekennende” Ordnung ist also fortan nur noch „dialektisch” zu verstehen. Sie ist Recht in der Einheit von aktuellem Bekennen und historischem Bekenntnis im Gottesdienst.

Damit ist die eingangs gestellte Frage nach dem Rechtsbegriff des Kirchenrechts in erster Näherung beantwortet. Es bleibt im Grunde bei dem Rechtsbegriff der „gelebten Ordnung”, der nur fortentwickelt wird. Kirchenrecht ist im Wesen Ordnung des ereignishaft-institutionellen Seins. Wie die Kirche Sein und Sollen zugleich ist, Institution und Ereignis, so ist auch ihre Rechtsgestalt Sein und Sollen zugleich, Institution und Ereignis: „bekennendes Recht”.

 

Exkurs VIII: „Rechtsgestalt” der Kirche

 

Die institutionelle Seite des Rechts erscheint deutlicher unter dem von Wolf gerne verwendeten Begriff der „Rechtsgestalt”, gleichbedeutend der „Ordnungsgestalt”.
Das „Gestaltdenken” führt zurück zur Philosophie der zwanziger Jahre. Die geisteswissenschaftliche Betrachtung der einmaligen Gestalt eines historischen Phänomens und seiner unverwechselbaren Struktur (Dilthey) ist eine Reaktion auf die naturwissenschaftlich-quantitative Methode. Sie will die Totalität eines Gegenstandes erfassen und verstehen.
Erik Wolf hat das Gestaltdenken über seine neukantianische Zeit hinaus bewahrt und als Jurist auf die Rechtsgestalt erweitert und umgeformt.
Die „Gestalt” (des Naturrechts, der Soziologie usf.) ist anfangs bei ihm die einmalige und beispielhafte Verwirklichung einer zeitlosen Idee (des Naturrechts usw.) in der Geschichte. Die „Gestaltwerdung einer Idee” kann in Stufen geschehen; sie ist erreicht, wenn die Idee ihre höchste Geschichtswirksamkeit entfaltet: das ist das Kriterium der erreichten „Gestalt”.
Bezeichnend sind die phänomenologischen Termini, die ihre Entstehung beschreiben. Die Gestalt „tritt hervor” aus der Verborgenheit, wird „bildhaft”, „erscheint” und braucht einen eigenen Lebensraum. Sie wird „geschaut” und „nachgezeichnet” in der Begrifflichkeit „ganzheitlichen” Denkens. Sie tritt in die Geschichtlichkeit einmaliger „Problemkonstellationen” (Mannheim), die ihren spezifischen Umriß bestimmen; sie hat ihre besondere Zeit, ihren besonderen Ort.
Neben der „Sozialgestalt” gibt es die „Individualgestalt”, denn die Idee vermag sich auch in einzelnen Menschen zu verkörpern. Wolf hatte sich sogar zunächst die Aufgabe gestellt, die ganzheitliche Methode des Gestaltsehens auf einzelne Menschen zu übertragen und in deren Reihenfolge zu einer

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„Gestaltgeschichte” des Rechts fortzuschreiten13. Zeugnis dieser Bemühungen sind die Untersuchungen zu Grotius, Pufendorf und Thomasius (1924/27); sie werden fortgesetzt in den „Großen Rechtsdenkern” (11939, 41963), in den Forschungen zum „Wesen des Rechts in deutscher Dichtung” (1940 ff./1946) und in den bisher fünf Bänden des „Griechischen Rechtsdenkens” (1950 ff.). Besonders feinsinnige Beispiele der individuellen Gestalterfassung sind die Gedenkrede auf Adolf Schönke (1955) und die Würdigungen Radbruchs.
Mit der Übertragung der „Gestalt” auf den Rechtsbereich („Rechtsgestalt”) verschiebt sich die Bedeutung. Die Rechtsgestalt der Kirche ist nicht mehr die neukantianische zeitlose Idee der Kirche in ihrer zeithaften Verwirklichung, sondern — darin der Wandlung von der Rechtsphilosophie zur Rechtstheologie folgend — die gültige Verwirklichung christlicher Existenz, zunächst und vorbildlich in den historischen Ämtern und Kirchenordnungen der Apostelgemeinden, dann aber auch in jeder Kirche. Rechtsgestalt ist das „wahre In-Ordnung-Sein der Kirche” in Bekenntnis und Gottesdienst. Die idealistischen Kategorien werden also zugunsten der Geschichtlichkeit christlicher Existenz aufgegeben14.
Immer aber leistet dieser Begriff, die Rechtsform der Kirche in der Geschichte „ganzheitlich” zu erfassen und so zur Überwindung der falschen Gegensätze von sichtbarer und unsichtbarer, von Geist- und Rechtskirche, von Institution und Ereignis beizutragen15.
Der zugehörige Begriff der „Struktur” ergänzt die „Rechtsgestalt”. Denn die Rechtsgestalt der Kirche weist typische Ordnungsprinzipien auf, die keine andere Gemeinschaft kennt. Es ist der besondere vertikal-horizontale „Grundriß” (ein Anklang an die Institutionendiskussion) der Christokratie und Bruderschaft16.

 

7. Offene Fragen

 

Die Rechtstheologie Erik Wolfs will nicht nur die stets zur Transzendenz geöffnete Kirche in den Denkformen des Rechts begreifen; sie


13) Die Tatwelt 1926 100, AÖR 1926 415, Grotius 1 ff., 17, 31, 33, 48, 124, ASW 1928 181 ff., RGG 2IV 448 f., Stifter 89, 127, GR I 23, III/2 9, RdN 63 A. 5, RGG IV 1356 (3.). — Zur „Gestalt”, ihren philosophischen Voraussetzungen und Problemen vgl. allg. die FS Ehrenfels.
14) Rechtsgestalt wird schließlich abgeschwächt zur Bezeichnung der verschiedenen historischen Möglichkeiten des Rechts der Kirche gebraucht; es gibt die Ordnungsgestalten der katholischen, der evangelischen und der orthodoxen Kirchen.
15) KuR 352, ZevKR 1951 307, RgK 254 ff., RGG II 1332, OdK 26, 492, 567, 601 f.; Stifter 20 Ehe als Rechtsgestalt der Geschlechterliebe.
16) ReG (5) 248, ZevKR 1951 307, RgK 258 f., OdK 685.

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ist auch selbst ein „offenes System”1. Die spezifische Form der Dialektik Wolfs läßt sehr verschiedene materiale Ausfüllungen zu (etwa im kirchlichen Verfassungsrecht). Das Kirchenrecht gewinnt dadurch eine große ökumenische Weite; es bleiben aber auch Fragen offen2.

Zum Recht der Kirche hat Wolf mit K. Barth überzeugend dargelegt, daß es ganz aus dem Gottesdienst entstehe und von ihm her zu entwerfen sei. Aber wie geht es vor sich, wenn aus Wort und Sakrament Recht entsteht? Der nur-normative Rechtsbegriff ist jedenfalls abgetan, zu Recht. Er hat in der Kirche nichts zu suchen. Aber wie sieht der neue Rechtsbegriff positiv aus? Oder genauer: hat die „gelebte Ordnung” der Gemeinde eine beschreibbare Struktur3?

Mit dieser — von Wolf wohl bewußt ausgesparten4 — Lücke im Rechtsbegriff mag es zusammenhängen, daß der Vorgang der Entstehung des Amtes aus der Verkündigung nicht deutlich wird; daß der Zusammenhang der Kirchenleitung mit den gottesdienstlichen Funktionen zwar historisch, aber bisher nicht systematisch aufgezeigt wurde; daß schließlich die historische und sachliche Begründung der Kirchenordnung auf dem Kreis der Jünger und den petrinisch-paulinischen Urgemeinden wenig für Kritik oder Aufbau der heutigen Ordnungsgestalten der Kirchen ergibt. Die Ordnung der Urgemeinden steht fast wie ein erratischer Block im Gefüge des Kirchenrechts trotz des Rechtsbegriffs der „Repräsentation”, der die heutige Kirche mit dem Anfang und diesen mit dem Gottesreich verbindet5.

Wenn es zuträfe, daß diese Probleme — mit die schwierigsten, die das Kirchenrecht kennt — ohne rechtsphilosophische Ausfüllung des theologischen


1) S.o. 379.
2) Der biblisch-christologische Rechtsansatz als solcher soll hier an keinem Punkt angezweifelt werden; ihn eindrucksvoll begründet zu haben, ist das ökumenische Verdienst Erik Wolfs, wofür ihm nicht nur die evangelische Rechtstheologie dankbar sein sollte.
3) Wolf weist auf die rechtshistorischen Forschungen R. Sohms hin; W. Maurer (KuD 1960, ZevKR 1961/62) hat neuerdings gezeigt, daß Sohm nicht nur von seinem Verdikt über das Kirchenrecht her gesehen werden darf, daß vielmehr noch ungehobene Schätze der Erschließung harren (wie auch Dombois hervorhebt). Gehen Wolfs Überlegungen in diese Richtung?
4) Zu der von Wolf (nur!) im rechtstheologischen Bereich geübten rechtsphilosophischen ἐποχή s.u. 421 f.
5) Welchen Repräsentationsbegriff verwendet Wolf? Wo ist Recht und Grenze dieses so außerordentlich vieldeutigen Begriffs im Kirchenrecht? — Zur Kritik an den exegetischen Grundlagen s.o. 325 f.

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Rechtsbegriffs nicht zu lösen sind, — was verbietet, diesen Rechtsbegriff zu erforschen6?

Was den Gottesdienst selbst anlangt, so würde man eine Unterscheidung zwischen den verschiedenen Arten der Verkündigung wünschen. Mag es — auch in der katholischen Homiletik — durchaus streitig sein: Predigt vor der gläubigen Gemeinde und missionarische Predigt vor der „Welt” sind nicht das gleiche, auch kirchenrechtlich. Der Adressat qualifiziert die Botschaft.

Auch sonst bemerkt man eine gewisse Unscharfe des Begriffs. Zwar wird zwischen Verkündigung i.w.S. (Verkündigung des Logos in Wort und Sakrament) und i.e.S. (Predigt) differenziert, aber nicht immer zwischen Verkündigung und Lehre, Lehre und Bekenntnis, Bekenntnis und Verkündigung. Einmal sind sie unterschieden, ein andermal nicht, ohne daß dafür sachliche Gründe ersichtlich wären7. Aber ist Lehre Verkündigung i.S. des biblischen Kerygma? Gibt es kerygmatische Verkündigung außerhalb der Predigt, etwa in den Lesungen, in den „Einsetzungsworten”, in den Liedern des Volkes?

Schließlich, wie erwächst aus Verkündigung und Bekennen „das” Bekenntnis? Der Hinweis auf die Dialektik von Institution und Ereignis scheint nicht das letzte Wort zur Sache zu sein. Näheres über die Bekenntnisbildung zu erfahren, wäre auch von höchstem ökumenischen und Rechtsinteresse. Davon hängt es ja ab, ob der Weg vom gemeinsamen Bekennen zum Bekenntnis beschritten werden kann. Mit dem Rechtsbegriffe Wolfs wäre es unvereinbar, darin ein ausschließlich außerrechtliches Geschehen zu erblicken.


6) Wenn Christus nicht legislator, sed verus legis interpres ist, liegt es dann nicht nahe, die materiale Ausfüllung der in analogia fidei erkannten Geschöpflichkeit menschlicher Existenz zu entnehmen und dergestalt die christologische mit der heilsgeschichtlichen Betrachtung zu verbinden — wie es Wolf auch sonst tut?
7) Vgl. RbW 77 ff., GrundO 147, OdK 81 m. A. 3, 156, 510, 525, 590 und oben 375 29, auch EStL 833.