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Zwei Leitmotive beherrschen und durchdringen die Polyphonie der bewegten Entwicklung Erik Wolfs und geben ihr eine höhere Einheit. Es ist der unstillbare Wunsch, in unklaren Zeitläuften ein verantwortliches geistiges Leben zu führen1 — und weil dies nicht möglich ist ohne ein klares Bewußtsein vom Ziel, kommt dazu die lebenslange Suche nach dem „wahren” Recht. Dieser doppelte Antrieb läßt Wolf mit bewundernswertem Elan an allen Kämpfen der Zeit regen Anteil nehmen und führt ihn schließlich von der Rechtsphilosophie zur Rechtstheologie.
Erik Wolfs rechtsphilosophischer Werdegang spiegelt die Entwicklung der Rechtsphilosophie von 1920 bis heute wider — nie in allzu getreuer Anhänglichkeit, sondern stets in spannungsreicher Auseinandersetzung. Rein äußerlich betrachtet sind es zwei Perioden, die sich voneinander abheben — die Zeit des Neukantianismus Heidelberger Prägung (1924-1929) und die Wendung zur Phänomenologie und Existentialphilosophie im Sinne Heideggers (1929-1945)2.
1) Vgl. Kirche und Akademiker (1933): „Das
Sehnen nach absoluter Verantwortung . . . als eine der
wesentlichen Tatsachen” in der jungen Generation.
2) Bei genauerem Zusehen ist das nicht mehr als eine
recht oberflächliche Schematisierung: immer hat sich Erik Wolf
mit dem gesamten Spektrum der Philosophie konfrontiert, jederzeit
sind sowohl existentialphilosophische als auch phänomenologische
und wertphilosophische Elemente vertreten. Das Gesamt der
philosophischen Auseinandersetzung ist latent vorhanden, wenn
auch verschiedene Zeiten verschiedene Aspekte in den Vordergrund
rücken. Wolf kann nicht einfach irgendeiner „Richtung” zugeordnet
werden.
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In Jena und Heidelberg begegnete Wolf den philosophischen Richtungen3, die ihn für die Folgezeit in wechselnder Intensität bestimmten: dem Neukantianismus Rickert- und Laskscher Prägung, der Existentialethik Grisebachs, der „soziologischen Einstellung” F.W. Jerusalems und wieder H. Rickerts4.
Vor allem schlägt ihn zunächst der Neukantianismus in seinen Bann.
Obwohl er längere Zeit Assistent bei A. Graf zu Dohna ist5, entscheidet er sich nicht für die sogenannte „Marburger Richtung”, die das Recht formal und subjektiv bestimmt. Auch R. Stammlers Rechtstheorie wird stets abgelehnt, erst recht H. Kelsens „reine Rechtslehre”6.
Vielmehr wählt er die sogenannte „Heidelberger” oder „südwestdeutsche” Richtung. Denn sie allein ermöglicht es, das Recht material zu begründen7. Die Kulturwissenschaft H. Rickerts und E. Lasks gibt die allgemein-philosophische Fundierung8. Die Toleranz und der soziale Rechtsreformwille G. Radbruchs9 sind ebenso gegenwärtig wie
3) Gewisse Impulse verdankt er auch der
Jugendbewegung (WuT 1934 21-25) und dem Georgekreis, dem er aber
nicht angehörte.
4) Daneben wären viele Namen zu nennen, die bei der
staunenswerten Belesenheit Wolfs allenthalben Spuren hinterlassen
haben, so etwa das „ganzheitliche” Denken (weniger O. Spanns, als
O. v. Gierkes [ZStW 1937 292 f., 1938 202] und E. Grisebachs
[ARWP 1926/27 417]), die „Problemkonstellationen” K. Mannheims
(zuletzt NRL 194), G. Simmel, R. Eucken usf. Dabei ist zu
bemerken, daß Wolf gerade diejenigen nicht oder erst sehr spät
erwähnt, die neben Grisebach und Heidegger vielleicht den
tiefsten Eindruck auf ihn gemacht haben: G. Radbruch und S.
Kierkegaard. Doch wird die neuhegelianische Rechtsphilosophie
trotz gelegentlicher Hegelianismen entschieden abgelehnt (ZStW
1934 566; vgl. das Pauschalurteil AÖR 1929 292), ebenso der
sogenannte Neufriesianismus (ZStaatW 1929 155).
5) Nachwort in: A. zu Dohna 1959 97.
6) Z.B. Schuldlehre 29, 95 ff., ZStW 1934 573; Grotius
114, Schuldlehre 83 u.ö.
7) Die badischen Neukantianer haben Kant vom Logiker
wieder zum Ethiker gemacht und die Rechtsphilosophie aus den
Höhen der theoretischen Vernunft in die praktische Vernunft
herabgeholt, ZStW 1938 201 u.ö. zu Rickert.
8) Vgl. z.B. Schuldlehre VI, 2 ff., 73 ff. (Rickert),
77 ff. (Lask).
9) Vgl. die Veröffentlichungen zu Radbruchs Person und
Werk: in der Badischen Zeitung (1950), im Natural Law Forum
(1958), ARSP (1959), die große Einleitung zur Radbruchschen
Rechtsphilosophie, das neue Kapitel in GRD (4. Aufl.); dazu
Radbr.RPhil. 39 f.; Wolf war 1926-1927 Assistent bei ihm und
wurde von ihm habilitiert.
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die humanistische Rechtsphilosophie von M.E. Mayer10, auf den hinzuweisen bei keiner Gelegenheit versäumt wird. Mit dem neukantianischen Ansatz verbindet sich der Eindruck der materialen Wertethik und Phänomenologie vor allem E. Husserls und M. Schelers11. Die resultierenden Zentralbegriffe sind: Wert, Kultur, Gestalt, Geltung, Methode12.
Die Philosophie ist deshalb allgemeine Wissenschaftslehre13, die Rechtsphilosophie ist „die Lehre von der Wirklichkeit und vom Wert des Rechts” „in unaufhebbarer Strukturverschlingung”14. Wie überall, so ist auch beim Recht zwischen der Idee und der geschichtlichen Gestalt zu unterscheiden, aber nicht zu scheiden15. Phänomenologische Gedankengänge sind es, wenn die Idee als das überzeitliche „Wesen” des Rechts, die konkrete geschichtliche Gestalt als das „Zufällige” erscheint16. Doch bleibt es beim Neukantianismus, denn die Rechtswissenschaft ist eine Kulturwissenschaft (Rickert), das Recht ein Kulturphänomen, wobei der „transzendente” Wert (die „Rechtsidee”) in der konkreten „ganzheitlichen” Rechtsgestalt zur einmaligen geschichtlichen Erscheinung kommt: das Recht verbindet Sein und Sollen, Wirklichkeit und Wert. Halten wir fest: Recht ist auch in der Realität beheimatet17! Der Rechtsgedanke, als „verantwortlich machender Sollenssatz” verstanden18, erscheint im „Gesetz”. Charakteristisch für die Grundhaltung dieser Zeit ist folgende These: „Innerhalb der geschichtlichen Wirklichkeit gibt es keinen Kampf des Nicht-Rechts mit dem Recht, sondern nur den Kampf um besseres, ,wahres’, ,richtiges’ Recht”: Recht und
10) Bes. in Schuldlehre.
11) Vgl. Verbrech. 29 A. 2; A. Reinachs Versuch wird
dagegen nicht geschätzt, z.B. Schuldlehre 109 A. 44, ZStaatW 1931
340 f.
12) Dazu ausführlich Schuldlehre 74 ff.
13) Schuldlehre 73 (Rickert).
14) Schon in seiner Diss. 1924; ebenso Die Tatwelt
1926 102, 104 und Schuldlehre 2, 74 (Rickert); zu Lasks
Strukturverschlingung vgl. Schuldlehre 92 ff., ZStW 1934 565,
Radbr. 487 — ein weiterer Unterschied zu den „Marburgern”.
15) Schuldlehre 86-123; z. B. für den Staat ZStW 1925
215; für das Recht Grotius 51 u.a., das Naturrecht ASW 1928 181
ff.
16) Vgl. ZStW 1925 215, 1927 398, JW 1929 1000.
17) Vgl. Schuldlehre 76 f., ZStW 1927 402 f., 1928
385, 1934 565; „Gestalt” als die geschichtliche Verkörperung
einer Idee: Die Tatwelt 1926 100, ASW 1926 818; zum
„wesensgemäßen” Recht vgl. RGG (2. Aufl.) IV 446 ff.; „das Wesen
des Menschen im Gedanken des Rechts erfassen”, ebd. 449 u.ö.
18) MSchrKrimPsych 1927 118.
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Unrecht schließen sich nur in der theoretischen Sphäre aus19. Der oberste Wert ist die Idee der Gerechtigkeit, die sich jedoch verkörpert in der Idee des Staates als Kulturgemeinschaft, konkret also im „Gemeinwillen” des jeweiligen Staates. Er ermöglicht und trägt das individuelle Leben20.
Auch das kritische Methodenbewußtsein ist neukantianisches Erbe (hier wieder besonders H. Rickerts und E. Lasks). Das komplexe Phänomen der Kultur verlangt die komplexe Methode: Es ist die „wertbezogene” (Radbruch) sogenannte „geisteswissenschaftliche” Methode H. Rickerts und G. Simmels einerseits, W. Diltheys und F. Gundolfs andererseits)21. Sie hat zwei Eigenheiten: material die „soziologische Einstellung”22, formal das deutende „Verstehen”. Da das Recht Kultursachverhalt ist, folgt daraus die Anwendbarkeit dieser Methode auf das Recht. Die „Methodenverschlingung” Lasks führt zur Überwindung des schroffen Dualismus von Sein und Sollen; sie sind in der Kulturwirklichkeit des Rechts untrennbar23.
19) Verbrech. 6; richtig, „das heißt dem
Kulturraum . . . angemessen”, Schuldlehre VI; zum Gedanken des
„Kampfes” s. u.; diese quasi-relativistische Auffassung ist bald
überwunden: „Selbst das RG anerkennt heute die Geltung
naturrechtlicher Korrektiven des Gesetzesrechts”, ARWP 1932/33
513.
20) Die Tatwelt 1926 106, 110 (Hegel!), ZStW 1928 386,
Schuldlehre 116 f., 140, FG v. Frank 521 usf. Damit ist zwar
jeder Wertrelativismus ausgeschlossen (ZStW 1927 400 f. mit
Rickert gegen Radbruch, Schuldlehre 100, ZStW 1934 560 f., DRWiss
1939 175), denn oberster Wert ist „die Substanz des Daseins”
(Fürsorge 2) als das sinngebende Prinzip des Lebens (Schuldlehre
116 A. 11/12 Hegel), aber der oberste Wert steht doch nur im
Dienst des Staatsethos (Schuldlehre 114 ff. Rickert; vgl. RGG [2.
Aufl.] V 832 f.: „Jeder rechtliche Gedanke . . . rechtfertigt
sich . . . vor dem zentralen Wert des Rechts: der Gerechtigkeit.
Die Gerechtigkeit wirkt sich in der Strafe [scil. und überhaupt]
aus durch die Orientierung am Staatsgedanken. Gerecht sind
Strafen, die der Staatsidee einer Kulturnation entsprechen”),
bald auch der Volksgemeinschaft (ARSP 1934/35 362, RichtR 9, ReG
246, ZStW 1935 545). Der Staat ist nur „Form einer konkreten
Ordnung des Volkes” (NdK 1077 C. Schmitt!, gegen F. Gogarten ZStW
1936 161). Nur langsam werden das Naturrecht (es hat in der
inhaltlichen Bestimmung des Staatsethos „seine Ur- und Heimstätte
und kann nicht entbehrt werden”, ASW 1926 535) und die religiöse
Rechtsbegründung zum Korrektiv des totalen Staates (s.u. 272
f.).
21) Schuldlehre 76 f., HZ 1931 523, ZStW 1934 565,
u.ö.
22) S.u. 266.
23) Vgl. Grotius IV, AÖR 1926 415, HZ 1935 351, für
später vgl. PR 145; Radbr. 487 für Radbruch; „Legende”,
„Ruhmesgeschichte” gehen auf Gundolf zurück. Wolf hat als erster
die geistesgeschichtliche Betrachtungsweise für die
Rechtsgeschichte fruchtbar gemacht (W. Schönfeld in der Rezension
von Grotius ZRG germ. Abt. 1928 470-474).
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Man kann aber beobachten, wie die breite Erörterung der Methode immer mehr zurücktritt, um schließlich fast nur noch ein Mittel zum Zweck zu sein24. Immer jedoch wird ein dialektischer Methodenpluralismus25 vertreten, wie am klarsten in Wolfs großem Kirchenrechtslehrbuch „Ordnung der Kirche” zutage tritt. Jede Einseitigkeit der Methode führt zum einseitigen Ergebnis.
Überaus folgenreich ist Erik Wolfs Begegnung mit dem Existentialethiker Eberhard Grisebach in Jena (1922), in dessen Haus er viele Jahre verkehrte. Dieser, vom Erkenntnispessimismus des späten Kant ausgehend, hatte die Wendung zu einem Leben aus der Radikalität der realen „Existenz” vollzogen. Die daraus entstandene „pädagogische” Existenzphilosophie ist eine der Quellen der dialektischen Theologie geworden. Sie hat namentlich F. Gogarten beeinflußt26, aber auch Wolf selbst zu der lebenslangen Beschäftigung mit S. Kierkegaard angeregt. Ihm und Grisebach verdankt Wolf das ihn so sehr kennzeichnende „real-dialektische” Denken in Spannungen und Konflikten, deren Widerstreit legitimer Ausdruck der Wahrheitssuche ist. Das beruht auf der „metaphysischen Grundannahme”, daß zum Austrag der Gegensätze Kampf notwendig sei27. Diese Dialektik ist erwachsen aus einem personalen Ansatz. Das ist später für die Begegnung mit der Theologie K. Barths und für Wolfs Rechtstheologie überhaupt wichtig geworden. Grisebach vertritt ja eine — H. Cohens Auffassung nicht unähnliche28 —
24) JW 1934 150, HZ 1935 351, ZStW 1937
295.
25) Vgl. zum Methodendualismus Schuldlehre 13, 65, 78
f. nach Lask.
26) Wolf nennt ihn denn auch wiederholt, z.B. ZStW
1934 560 f. Auch K.E. Logstrups Existentialethik dürfte
Anregungen Grisebachs aufgenommen haben. Zur Auseinandersetzung
vgl. zunächst Wolfs großangelegte Rezension AÖR 1929 291-307 und
vorher ARWP 1926/27 411-421; ferner E. Brunner, Grisebachs
Angriff auf die Theologie, ZZ 1928 219-232 und schließlich Th.
Steinbüchel 237-257.
27) Vgl. ARWP 1926/27 412 m. A., 419 f., AÖR 1926 417,
ZStW 1927 403, FG v. Frank 522, 528; für später etwa GR III/2
124, GRD 261. (Nicht im Neuhegelianismus liegt also der erste
Ansatz der Dialektik Wolfs!) Deshalb ist die Demokratie die
gemäße politische Form (Verbrech. 30 A. 6); 1933 aber scheinen
die Zeichen der Zeit den autoritären Staat zu fordern (Neubau
passim); bereits 1934 aber hat Wolf den Mut, den totalitären
Staat zu kritisieren (s.u. 27277) und schließlich
abzulehnen (Zeugnisse 83 [1942!]).
28) Auf H. Cohen wird Wolf wohl erst später
aufmerksam, vgl. RdN 25 A. 1 (57).
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geradezu radikale Zuwendung zur „Vormacht des Du”. Das Du wird als Grenze des Ich erfahren und respektiert. Diese Erfahrung führt zu neuem Ernstnehmen der Realität29. Jeder Subjektivismus wird unmöglich. „Die brennende Frage nach der Wirklichkeit” gegenüber Lebenslüge und Traum, ein entschiedener Realismus also, kennzeichnet diese Einstellung. Real ist aber nur die Gegenwart30 — denn nur in der „Leidenschaft des Gegenwärtigen”31 kann Wirklichkeit und Wahrheit gewonnen werden.
Auch das Pathos der Gemeinschaft ist hier zuhause, obwohl es dem Neukantianismus keineswegs fremd ist. Die Gemeinschaft ist der „konstituierende Grundwert” — das schlechthin Bedeutende, ja die historische Notwendigkeit32! Diese Gemeinschaft ist aber nicht ein „Brei der Herzen”, sondern besteht in dem der „Grenze des Du” bewußten Vollzug der dialektischen Auseinandersetzung, ist also formal gesehen33.
Folgerichtig übernimmt Wolf auch die „ethische Existenz” Grisebachs. Das meint das dialogisch-dialektische Existieren in den Gegensätzen einer Gemeinschaft. So kann nicht nur von der Existenz des einzelnen, sondern ebensogut von der Existenz des Volkes, ja (später) der Kirche gesprochen werden34.
Erik Wolf denkt diesen Ansatz weiter für das Recht. In ihm verbinden sich Gemeinschaft, Personalismus und Dialektik: „Recht” ist nun das Bewußtsein der Grenze der Auseinandersetzung innerhalb der Gemeinschaft, in wechselseitiger Berücksichtigung der Position des andern,
29) Vgl. AÖR 1929 299 f. und die immer
wiederkehrende Warnung vor „Verfehlung der Wirklichkeit” AÖR 1929
296-305; z.B. für das „Naturrecht als praktische Realität” (ASW
1929 464, NRL 196 — eine Vorwegnahme von J. Elluls „Naturrecht
als Phänomen” [Ellul 1948 52 ff.]!); vgl. aber auch E. Hubers
„Realien des Rechts” (Radbr. 487, NRL 189) und E. Husserls
„Zurück zu den Sachen” (Radbr. ebd.).
30) Vgl. Die Tatwelt 1928 128 f., ARWP 1926/27 413.
„Gegenwart” ist auch der Titel des Hauptwerks von E. Grisebach,
einer „kritischen Ethik”.
31) Titel des III. Buches der „Gegenwart”
Grisebachs.
32) ARWP 1926/27 413, FG v. Frank 521; vgl. auch DLZ
1930 88. Die bekannte Unterscheidung Tönnies’ von Gemeinschaft
und Gesellschaft wird als künstlich und individualistisch
abgelehnt, z.B. HZ 1937 109, ZStW 1938 214.
33) Vgl. Die Tatwelt 1926 106: „Der Staat (ist) der
Lebensinhalt, die Gemeinschaft die Lebensform!”
34) Z.B. KuR 353. — In dieser Zeit beginnt die
lebenslange Beschäftigung mit Kierkegaard, deren literarische
Spuren erst in RdN (15, 65 A. 5) zu finden sind, deren innerer
Ertrag aber die ethische Existenz Grisebachs und seine
Realdialektik zur theologisch begründeten materialen
Existentialdialektik vertiefen wird (s.u. 429 433
43830.
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zugleich das gültige Maß, die „Gestalt” dieses ἀγών35. Rechtsverletzung ist, das wird mit steigender Deutlichkeit hervorgehoben, jede Störung der Integration der konkreten Gemeinschaft, sprich des Staates36 — natürlich im Rahmen des geltenden Rechts.
Dazu kommt — bei Grisebach — eine personalistische Situationsethik, geboren aus der Erfahrung der Krise. Der Totalitätsanspruch der Naturwissenschaften schien jede Frage nach dem Sinn zu zerstören. Das ist die damals viel berufene „Krisensituation der Wissenschaft”, die von den Zeitgenossen tief empfunden wurde37. Grisebach versucht den Ausweg in die Ethik: Nur die voraussetzungslose Gegenwart zählt, die im Engagement des ganzen Herzens bewältigt wird. Weniger die Exi-stentialethik selbst als ihr zeitkritischer Impetus und vor allem ihr pädagogischer Eros38 haben in Erik Wolf starken Widerhall gefunden.
Auf dem Hintergrund dieser Erfahrung der existentiellen Ungesichertheit ist die Suche nach „der” Gerechtigkeit zu sehen, die Wolfs ganzes Werk durchzieht39, bis hin zur Bejahung eines Naturrechts40 und der „Biblischen Weisung”.
Die „soziologische Einstellung” schließlich wird Erik Wolf durch seinen Doktorvater F.W. Jerusalem in Gestalt einer sehr eigengearteten
35) ARWP 1926/27 416 f., 419; RdN 20 „Du” als
Grenze des Rechthabens — übrigens ähnlich J. Fuchs 1963 212
f.
36) Typen 36.
37) Vgl. AÖR 1926 424, 1929 292 f., Logos 1930 360
f.
38) Die Tatwelt 1928 127 ff. zu J. Burckhardt (mit dem
Wolf mütterlicherseits verwandt ist).
39) „Wer unabhängig vom geschichtlichen Wandel der
Rechtsformen (!) um die apriorische Erkenntnis der Wahrheit des
Ewigen im Recht sich bemüht . . .”, JW 1929 1000; vgl. Die
Tatwelt 1926 100; „der zentrale Wert des Rechts: die
Gerechtigkeit”, RGG (2. Aufl.) V 832 f.
40) Ein philosophisches Naturrecht hat Wolf stets
bejaht (vgl. o. A. 20, 29, ferner Die Tatwelt 1926 108,
Schuldlehre 100 f., und besonders seinen Artikel Profanes
Naturrecht RGG 2IV 445-451); er ist „ohne Scheu vor
dem Gespenst des Naturrechts”, ZStaatW 1931 343 (nämlich eines
phänomenologischen), wenn er auch unter dem Einfluß E. Brunners
(?) vorübergehend „in kritischer Selbstbescheidung” auf ein
evangelisches Naturrecht (nicht auf Schöpfungsordnungen! RichtR
18, 27 u.ö.) verzichten zu müssen glaubt (in den
Veröffentlichungen 1934, z.B. ReG 252, 256 ff., ARSP 1934/35 355;
das „Naturrecht” E. Brunners ist keines, ReG 259); diese Skepsis
ist bereits 1936 wieder überwunden (ZStW 1936 156; vgl. ebd. 1937
287: die metaphysische Grundlegung des Rechts durch die
römisch-katholische Naturrechtslehre ist eine „Vernunfteinsicht .
. . von elementarer Richtigkeit”); ferner Zeugnisse 82, Reich 38
f.
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„verstehenden” Soziologie vermittelt41. Auch H. Rickert ist wieder zu nennen. Daneben kennt Wolf selbstverständlich die großen Soziologen des Rechts; namentlich Max Weber42 ist hier wegen seiner geistigen Nähe zum Heidelberger Neukantianismus vorweg zu erwähnen.
Unter der „soziologischen Einstellung” verstand man damals in methodischer Hinsicht jenen ursprünglichen Impuls des Denkens, der sich seinen „Gegenstand selbst schafft”, also alles andere als bloße Empirie, dazu die Ausrichtung des „geisteswissenschaftlichen” Denkens auf die „gesellschaftlichen Kulturfaktoren”43.
Die Soziologie wird später vor allem für die Rechtstheologie fruchtbar; von Anfang an aber betont Wolf ihre Bedeutung im Rahmen der geistesgeschichtlichen Betrachtung des Rechts44.
1929 gerät Wolfs Neukantianismus in die Krise. „Wer von der kritischen Ethik Grisebachs herkommt, empfindet die Antithese Kant-Scheler nicht mehr als die eigentliche Grundspannung”: sie „versperren sogar . . . den Zugang zu einem verantwortlichen geistigen Leben in der Gegenwart”! „Die Systeme von Descartes bis Kant, die Lebensphilosophie und die neukantianische Kulturphilosophie scheiden . . . aus”45.
Die Wende kommt nicht so sehr aus heiterem Himmel. Sie war längst vorbereitet durch die Existentialethik Grisebachs, die Wolf nie losließ und nur zeitweise vom Neukantianismus überdeckt wurde, und die immer schon anklingenden phänomenologischen Gedankengänge. Ausgelöst wurde sie jedoch durch die Begegnung mit M. Heidegger46.
Martin Heideggers Freundschaft bestimmt diese zweite Periode mit
41) Im übrigen teilt Wolf dessen Ansichten
keineswegs, AÖR 1926 415 ff., Grotius 3, HZ 1931 523.
42) Vgl. die Würdigung in Logos 1930 359-375, ferner
ZStW 1934 560 f., Die Tatwelt 1926 102.
43) AÖR 1926 415, Fürsorge 1 f., Logos 1930 374 f.,
GRD 731.
44) ZStW 1927 398, Grotius IV, nämlich zur Erforschung
der Rechtstatsachen; RichtR 14 ff. (Volksgeist und Rassenseele).
Dazu A. Hollerbach QR 26.
45) ZStaatW 1929 155, 1931 340 f., AÖR 1929 291 ff.,
ReG (5) 246 f., DRWiss 1939 181, vgl. auch DLZ 1930 1914. Zur
politischen Stellung (jungkonservative Bewegung) vgl.
MittIntKrimV 1933 193-195.
46) Heideggers Bedeutung liege gerade im Durchbruch
vom Idealismus zum Existentialismus, so ZStW 1936 156.
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ihren beiden — sich überschneidenden — Unterabschnitten47, die man als den phänomenologischen und den existentialphilosophischen Ansatz bezeichnen könnte. Gleichzeitig leitet die religiöse Rechtsbegründung zur eigentlichen Rechtstheologie über.
Zunächst also dominiert der frühe, der „phänomenologische” Heidegger, daneben hat Gerhart Husserls Rechtsphilosophie einen tiefen Eindruck hinterlassen48.
Die Phänomenologie tritt ihren Siegeszug an. Das bedeutet zugleich die „Wende zur Metaphysik”, wie ein damals viel gebrauchtes Schlagwort lautet49. Von hier aus werden die „Werte” neu begründet.
Bisher war Wolf „badischer” Neukantianer, und er hielt sich auch rückblickend dafür. Da wird mit einem Male, ohne jeden Übergang, dem Rickertschen vor dem Wiener und Marburger Neukantianismus (Kelsen-Stammler) nur mehr ein „relativer Vorsprung” zuerkannt auf dem Weg zu den „überzeitlichen Werten” einer phänomenologischen „Wesenslogik”, der nun gewagt werden muß, allen kritizistischen Einwänden zum Trotz und jenseits der „empirischen Naivität” der Soziologen50. Heidegger ist es, der mit der von seinem Lehrer E. Husserl übernommenen phänomenologischen Methode den Weg zu den „entzeitlichten” und daher „ewigen” Werten weisen soll51.
47) Es wäre sogar möglich, einen dritten
Unterabschnitt aufzuweisen, der sich von etwa 1939 bis 1945
erstrecken würde. In dieser Zeit entwickelt nämlich Wolf die
Grundzüge seiner späteren Rechtsontologie, die von der
Rechtstheologie weithin unabhängig ist und gewisse Anregungen
Heideggers selbständig weiterdenkt. Einiges daraus ist unten 414
ff. (zur Geschichtlichkeit des Rechts) mitgeteilt. Vier Schritte
auf diesem Weg sind die vier Arbeiten über Hölderlin, Stifter
(Heidegger gewidmet), Hebel und Droste-Hülshoff (WdR). Nach 1945
greifen erst wieder die Bände über das griechische Rechtsdenken
diese Aufgabe an. Der Ertrag dieser langjährigen Forschungen ist
in äußerster Knappheit in die acht Spalten des Art.
Rechtsphilosophie im RGG zusammengepreßt. Darüber s.u. 422 f.
48) Auf die Unterschiede zwischen M. Heidegger und G.
Husserl braucht hier nicht eingegangen zu werden.
49) JW 1931 190, ZStW 1934 560 ff., 1937 287.
Selbstverständlich bleibt es bei der Eigenständigkeit der
Jurisprudenz gegenüber der Metaphysik, ZStW 1934 565.
50) JW 1931 190, ZStW 1938 197 f., auch DRWiss 1940
57, Radbr.RPhil. 37; zur Soziologie ASW 1929 641.
51) ARWP 1932/33 513, HZ 1931 523; zur Intuition
(keine platonische Wesensschau!) ZStW 1937 285. Die
phänomenologische Methode gilt aber nicht allein, ZStaatW 1931
341; kritisch zu F. Kaufmanns Rechtsphänomenologie Schuldlehre
78, gemildert AÖR 1931 105-112.
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In diesem (phänomenologischen) Sinne ist es zu verstehen, wenn gegen einen einseitigen Psychologismus „das transzendentale Wesen des Rechts, sein ,objektiver Charakter’”, hervorgehoben wird. Freilich gilt auch hier das Ineinander von Sein (essentia) und Dasein (existentia) des Rechts. Jede einseitige „Transzendierung” des Rechts ist falsch. „Recht ist da im Sein.” Das ist eine Forderung, die anzustreben, nicht eine Realität, die aufzufinden ist. Es muß diejenige Rechts Wirklichkeit gesucht werden, die mit der Rechtswahrheit (dem obersten Rechtswert der Gerechtigkeit) eins ist52.
Der Personbegriff wird nicht mehr nur von Grisebach bestimmt. Person ist zunächst der Werte verwirklichende Mensch Schelers, bald auch die in Verantwortung gerufene Existenz im Sinne Heideggers, die sich verwirklicht im Gegenüber zum Du53, beides verbunden und fortgebildet in der rechtsphilosophischen Interpretation der Rechtspersonalität durch G. Husserl54.
Nicht mehr das isolierte Individuum und die davon getrennte Gemeinschaft sind die „Grundwerte” des (Straf-)Rechts, sondern Staat und Person, besser noch Person im Staat55 — wobei unter Staat nun der reale, autoritäre Willensverband begriffen wird, der sich stets neu verwirklichen muß im Vorgang der Integration56.
52) ASW 1929 641, 1930 385 f., dazu K. Larenz
1935 61 f.
53) ZStW 1936 158 f.; vgl. Täter 13
wesenswissenschaftliche, d.h. phänomenologische Personlehre;
ferner Neubau 27 f., ReG 252 ff.
54) Allgemein zur Rechtsphänomenologie G. Husserls:
Täter 5, ZStaatW 1931 328-346 gegen Schuldlehre 78; zur
strafrechtlichen Betonung des „konkreten” Täters vgl. grundlegend
Täter, für später DRWiss 1940 88; zur Rechts„person” ZStaatW ebd.
337-345, Täter 15. Im Anschluß an G. Husserl unterscheidet Wolf
verschiedene „Seinsweisen” (Täter 36) des „Menschen im Recht”
(Rechtsgenosse - Rechtssubjekt - Rechtsperson, ebd. 15 ff., 27
ff.) mit der gefährlichen Konsequenz, daß der (gleich aus welchem
Grund) nicht (staats-)wertverwirklichende Mensch auch nicht volle
Rechtspersonalität genießt, eine immer weitergehende capitis
diminutio erwogen und befürwortet wird, bis hin zur Leugnung
unverbrüchlicher Menschenrechte (z.B. ARSP 1934/35 355, RichtR 17
f., 24) und bis zur „totalen Inpflichtnahme” (i.S. Forsthoffs)
jedes einzelnen (RichtR 25); anders 1942 (Zeugnisse 84) und
schließlich PuS 191 f. (1963).
55) JW 1933 2097 f., Neubau 25, 33 ff.; Staat als
„sinngebende Grundidee des gesamten Rechtsgütersystems”, Neubau
33, wenn auch nicht als alleinige Rechtsquelle, ZStW 1934 573;
Volk und Person ReG 248.
56) Typen 36, Neubau 25, 28, 33 f., ZAkDR 1936 361,
i.S. von Smend, dem sich Wolf durch die gemeinsame
phänomenologische Methodik verbunden weiß. Auch C. Schmitt wird
nun beachtet, ARSP 1934/35 355, ZStW 1938 202 gegen DRWiss 1939
177 A. 2, 179.
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Sind damit nun die Fragen gelöst, die der so genannte „große Aufbruch” 1933 stellt? Für Erik Wolf beginnt eine Zeit gründlichen Umdenkens. Nur für kurze Zeit überwältigt ihn der Nationalsozialismus; mit den meisten Christen teilt er die Auffassung, es gelte mitzuarbeiten, daß aus dem „Dritten” ein „christliches” Reich werde57. Aber sehr bald wird die Illusion durchschaut. Wolf wendet sich schon Ende 1933 der Bekennenden Kirche zu.
Rechtsphilosophie ist nun nicht mehr ein unverbindliches Theoretisieren über eine „Idee Recht”, „sondern ein Philosophieren aus der Not bestimmter . . . Fragen”, „die uns angehen”58, ein Fragen aus Not und eigener Bedürftigkeit, als einsamer Mensch . . .59.
Es hat etwas Erschütterndes, wenn man verfolgt, wie für Erik Wolf ein rechtsphilosophisches Ideal nach dem andern zerbricht60. Unter seinem kritischen Blick stürzt ein System um das andere ein. Keines hat soviel Bestand, daß es Antwort böte auf die immer drängendere Frage: Was ist Recht? Was Gerechtigkeit? Und zwar: Was ist mögliches Recht jetzt in diesem Staat, der aufgerichtet und bis ins letzte geprägt ist vom Nationalsozialismus? (Denn Recht ist Ordnung nicht einer beliebigen, sondern dieser61 besonderen Gemeinschaft — eine Ausflucht in die Idealität ist nicht möglich.)
Nun beginnt der „Weg von der Wertlehre zur Seinsfrage”62. Die konkrete „Existenz im Recht” wird wichtiger als alles andere. Wie kann man in diesem Staat noch verantwortlich leben? Grisebachs Gedanken treten jetzt ans Licht. Das bedeutet einen Umbruch: Die „Werte” rücken an die zweite, die „Existenz” an die erste Stelle63. Existenz ist das Leben, so wie es ist, das alles nur Gedachte durchbricht, das gebieterisch eine Stellungnahme fordert64, für die aber kaum philosophische
57) Vgl. WuT 1934 22 f. zu den „drei großen
Erlebnissen” — man beachte die Reihenfolge — „des Evangeliums,
der Jugendbewegung, des Nationalsozialismus”.
58) Nicht P. Tillich, sondern C.A. Emge!
59) ZStW 1936 164 f.; vgl. ebd. 1938 217.
60) Natürlich ist Radbruchs Wert„relativismus” daran
nicht unbeteiligt; primär ist jedoch die persönliche Erfahrung
Wolfs.
61) ReG (5) 252.
62) ZDKPh 1943/44 75.
63) ZStW 1934 560 f., 1938 201, und zwar die
„ethische” Existenz, insoweit mit Grisebach, ZStW 1936 156,158
f.
64) Vgl. WuT 1934 22.
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Maßstäbe zu finden sind. Die „metaphysische” Ausrichtung bleibt zwar, aber sie wird zur existentiellen Frage. Immer noch gibt es Werte, ja die Suche nach dem höchsten Wert ist entscheidend — aber die Wertetafel Rickerts ist wertlos geworden angesichts der Nöte der Zeit65.
Wie kann man eine solche Existenz durchhalten? Nur eine existentielle „Dialektik” vermag noch zusammenzusehen, was auseinanderstrebt und sich bekämpft. Die Gegensätze im Volk und speziell in der Rechtswissenschaft66 drohen zu zerstören, was noch an Gemeinsamkeit besteht. Man verketzert einander, macht dem wissenschaftlichen Gegner das völkische Lebensrecht streitig. Was rettet? „Der Ansatz muß von Hegel und Heidegger her gefunden werden”67. Das Interesse an der geisteswissenschaftlichen Betrachtungsweise erlahmt68. Das bloße Verstehen ändert ja nichts. Der Kulturgedanke verblaßt. Auch E. Husserls „Logizismus” gerät in Verruf. Jede Abhängigkeit von den Theoremen eines einzelnen Denkers führt irre69. Nur die Methode mag etwas taugen, die den Ausgleich herbeizuführen verspricht. Dazu ist an sich die bisherige „komplexe” Methode hervorragend geeignet; sie wird deshalb formal beibehalten; aber von ihren (Rickert-Laskschen) Ursprüngen gelöst und über den neukantianischen Dualismus hinaus erweitert, um auch die phänomenologischen und existentialphilosophischen Anregungen aufnehmen zu können70. So wird aus der komplexen Methode eine mehrpolige Dialektik71.
Dialektik also heißt die Losung, und zwar — insoweit im Sinne Grisebachs — eine Dialektik im Dienst des Lebens. Sie soll die friedliche Koexistenz der Gegensätze ermöglichen.
65) Vgl. ZStW 1938 197 ff., auch ASW 1933 380.
Es geht also bei Wolf nie um eine „Verantwortlichkeit” ohne
Inhalt, sondern um die existentielle Erfahrung der Krise der
„Werte”.
66) Immer wieder hat Wolf versucht, dem „fruchtlosen
Methodenstreit” (zunächst auf strafrechtlicher, dann 1933 auf
„nationaler” Ebene) ein Ende zu machen.
67) DRWiss 1939 181.
68) ZStW 1936 153; resigniert (?) wieder wie früher:
Reich 35.
69) ZStW 1938 198 gegen Rickert.
70) ZStW 1934 565 f. „ein nicht wieder preiszugebender
Fortschritt”, ReG (5) 251 f.
71) Vgl. schon FG v. Frank 522, 528, wo die „Synthesis
der sechsfachen (!) Antithetik” (scil. der Staatszwecke) in einer
„realen Dialektik” zusammengeschaut wird. Diese Dialektik bleibt
auch später, vgl. die Typologien der vielen einander
widersprechenden und ergänzenden Theorien über Natur, Recht und
Naturrecht (NRL, RdN u.a.), der Rechtsgeltung (diritto), und
schließlich der konfessionellen Lehren in OdK.
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Was folgt daraus für das Recht? Es wird ebenfalls von der Wendung vom Idealismus zum existentiellen Realismus erfaßt. Diese „Existenz-im-Recht” kennt keine Trennung von Sein und Dasein. Bloße „Lebendigkeit” ist unverbindlich; wahres Dasein muß wesenhaftes Sein besitzen. Die Scheidung des 19. Jahrhunderts zwischen positivem Recht und Rechtsidee ist überholt. Recht gehört zur „wesenhaften Existenz”. Es wird zu einem Existential der Person72. Das ist nicht vulgär-individualistischer „Existentialismus”. Denn es ist die „soziale”, ja (zunächst noch) „völkische” Existenz der ganz in die Gemeinschaft eingebundenen Person. Der Mensch existiert notwendig gemeinschaftlich73.
Recht tritt also nicht zur Gemeinschaft von außen hinzu, weder als „Adiaphoron” noch als „formale Norm . . . (mit) rein machtmäßigem Durchsetzungszwang”, sondern Recht „war schon je mit ihrer Existenz als solches da”. „Recht wird als Ordnung einer konkreten Gemeinschaft verstanden”. Es ist nicht in erster Linie Norm, sondern vor allem „Gestaltung einer sozialen Lage”, „konkrete Lebensordnung”.
Damit kann Recht nicht mehr abstrakt „von außen” erkannt, sondern „nur vom Boden existentieller Gemeinschaftszugehörigkeit” erlebt werden. Das „ideelle”, „erdachte” Recht tritt zurück, das „wirkliche”, „gelebte” Recht erscheint74. Die Dialektik von Sein und Sollen ist jetzt ins Innere des existentiellen Rechts verlagert. Recht steht jenseits der Alternative von Naturrecht und Positivismus. Es umfaßt das gegenwärtige Dasein im Recht und die Frage nach der Gerechtigkeit75.
72) Täter 15; dazu ReG (5) 249, Stifter 126 f.,
ZStaatW 1941/42 190 f. Auch später bleibt das Recht ein
Existential, s.u. z.B. 406 und PR 141. Ebenso bestimmen das Recht
z.B. W. Maihofer 1954 39 ff., 1963 164 f.; J. Fuchs 1963 220, 223
(bei aller Verschiedenheit im übrigen).
73) KuR 353, 357 ff., RidK 762, NdK 1072; vorher JW
1933 2097, Neubau 41; ZStW 1936 156 „die gewaltige Wendung . . .
vom Individualismus zur Gemeinschaft”; ebd. „Existenz in und aus
Gemeinschaft”; schärfer ARSP 1934/35 348, 355, ZStW ebd., 1938
201 f.; „Recht (ist) eine Daseinsqualität, . . . unserer . . .
Seinsstruktur zu eigen. Diese Seinsstruktur ist die Struktur der
(jeweiligen) Gemeinschaft . . . eine schöpfungsgemäße Ordnung
zusammengehöriger Menschen”, ReG (5) 248.
74) RichtR 3 f., 18, ReG 242 f., ReG (5) 246 f., 252,
ZStW 1937 292, Dt.RDenken Heft Savigny 38; vgl. die ständigen
Hinweise auf das Ideal der Rechtswahrheit in GRD. Man muß das
alles auf dem Hintergrund der lebendigen Gemeinschaft der
bekennenden Kirche sehen!
75) ReG 242 f., ReG (5) 245 f., 250 ff.; (Hegels)
„konkretes” Recht als dialektische Verwirklichung der Idee in der
Geschichte ersetzt nun das Recht als Kulturphänomen des badischen
Neukantianismus.
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Der Schritt zur konkreten Existenz ist folgenreich. Der existential-ontologische Ansatz führt gemäß seiner inneren Logik zur religiösen und schließlich zur theologischen Begründung des Rechts76.
Die „religiöse” Begründung lautet: Das Recht ist göttlichen Ursprungs; dieses Wissen ist im religiösen Bewußtsein aller Zeiten aufbewahrt. Jede Autorität ist Gottes, und nur insoweit ist sie Autorität. Eine damals nicht zu überhörende Warnung! Daraus ergibt sich die Relativität jeder politischen Ordnung77. Unsittliche Normen sind auch juristisch unverbindlich, „ein selbstverständlicher Gedanke”78. Die Sittlichkeit begründet und begrenzt das Recht; das Recht ist Teil des Sittlichen. Immer wieder wird die Besinnung auf die ethischen Grundlagen des Rechts gefordert79. Das „Recht des Volkes bedarf aber der Begrenzung und Bestätigung durch das Evangelium”. Darin begegnen sich Philosophie und „echte, d.h. Offenbarungstheologie”80. Die ethische Existenz im Recht ist die gläubige Existenz im mitmenschlichen Bezug geworden81.
Damit ist aber der Bereich der nur-philosophischen Rechtsbegründung endgültig verlassen. Dies ist zugleich der letzte Schritt der Abwendung vom Nationalsozialismus, die Wolf laut genug bekannt hat, zu einer Zeit, da fast alle schwiegen. Wer es hören wollte, konnte es hören82.
Die Rechtstheologie ergreift die Führung. Sie wird die treibende Kraft. Ab 1935 liest Wolf auch Kirchenrecht. Das bedeutet nicht, daß
76) Angekündigt zuerst in Neubau 44,
durchgeführt endgültig in ReG (5) 243 ff. — zeitlich ist es also
ein Neben- und Ineinander von existentieller, religiöser und
theologischer Rechtsbegründung, wobei die „religiöse” Begründung
eher die Sprache gegenüber der politischen Öffentlichkeit, die
„theologische” diejenige innerhalb der Kirche ist.
77) ZStW 1934 577 f., RichtR 27, WuT 1934 23 (Stellung
zur „Obrigkeit”), ReG 250 ff. (Hinweis auf die
Selbstvergottungstendenz des totalen Staates!), ReG (5) 243-245,
248, 250, Zeugnisse 81 ff. (s.u. A. 82).
78) ZStW 1936 164, ReG (5) 251.
79) ZStW 1936 156, 1937 285, 1938 197 ff., 214; ferner
schon Grotius 122: Sittlichkeit als allgemeinste Norm der
Kulturwirklichkeit.
80) RichtR 27!, ReG (5) 249 f.!, ZStW 1936 154;
gemeint sind K. Holl, A. Schlatter einerseits, K. Barth (und E.
Brunner) andererseits.
81) Vgl. ZStW 1936 158 nach F. Gogarten (Grisebach!)
und ReG (5) 250.
82) Vgl. Erik Wolf/F. Böhm, „Richtschnuren (!) der
bekennenden Kirche für die staatliche (!) Rechtsordnung” (1942)
in: Zeugnisse 81-87, ferner die völlige Umarbeitung von ReG
(1.-3. Aufl.) zu ReG (5. Aufl.), in der jede Bezugnahme auf
nationalsozialistische Gedanken und Autoren ausgemerzt wird;
schließlich die deutlich zeitkritischen Bemerkungen in den
angeführten juristischen (!) Zeitschriften.
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die Rechtsphilosophie jetzt brachläge. Sie verbirgt sich vielmehr in der historischen Darstellung der Rechtsgedanken „großer Rechtsdenker” und Dichter aus der Überzeugung, daß die Rechtsidee beispielgebende Gestalt anzunehmen vermöge in Person und Werk bedeutender Menschen83.
Dazu kommt die belebende Rückwirkung der Rechtstheologie auf die Rechtsphilosophie. Ihr Wechselverhältnis kennzeichnet die Folgezeit.
Auch die Rechtstheologie Erik Wolfs zeigt eine bewegte Entwicklung. Bis 1932 findet das suchende Auge nur einige obiter dicta, die allzu fragmentarisch sind, als daß eine Grundeinstellung deutlich zutage träte. Man kann vermuten, daß für Wolf das religiöse wie das politische Leben noch in die beides umfassende Kulturwirklichkeit eingebettet ist1.
Die theologische Begründung des Rechts setzt in den ersten Anfängen ebenfalls um 1933 ein2. Der äußere Anlaß ist der Kampf der
83) Vgl. ReG (5) 244, GRD (1), Stifter, Reich,
GRD (2) und die Zusammenfassung des Ertrages dieser Zeit in WdR;
dazu s.o. 26747.
1) Immerhin läßt sich entnehmen, daß Wolf nicht dem
Staat allein Rechtsetzungsbefugnis zuerkennt, sondern ebenso der
Kirche; denn Recht ist, was verbindlich ist, und verbindlich ist
auch das Credo — wenn auch in echten Hochkulturen stets die Idee
des Staates die religiöse Kultübung mit enthalten hat (ZStW 1925
213 f.). Die Kirche ist eine objektive Lebensordnung wie der
Staat und kann deshalb sittlich (und rechtlich?) verpflichten
(Verbrech. 27). — Neue Töne klingen auf, wenn auf einmal 1929
unter den zu begrüßenden Neuansätzen die „positive” Theologie von
K. Barth und R. Guardini (Personalismus!) genannt wird (AÖR 1929
292; „positive Theologie” war die kirchlich gebundene im
Gegensatz zur liberalen [G. v. Norden 20], weshalb Art. 24 des
Parteiprogramms der NSDAP mit seiner Berufung auf das „positive
Christentum” so viele Hoffnungen weckte!), ja sogar die
Kampfthese der frühen dialektischen Theologie, daß das Religiöse
gegen die Kultur gerichtet sei (ARWP 1932/33 513. Vgl. RbW 21:
die Offenbarung hat jede Religion aufgehoben!, scil. die
religio naturalis des erbsündlichen Menschen, Bibel
291). (Nicht hierher gehört die gelegentliche Erwähnung der
„Oekumene” [= Menschheit]!) Ab 1931 arbeitet Wolf als Mitglied
des Kirchengemeinderats und als Synodale in der (unierten)
Badischen Landeskirche mit (bis 1949, s.u. 36914),
nachdem er in den zwanziger Jahren der Kirche noch kritisch
gegenübergestanden hatte (vgl. Die Tatwelt 1926 102, 107 f.,
Grotius 105).
2) Die erste schriftliche Äußerung ist „Kirche und
Akademiker” in der Freiburger Studentenzeitung Januar 1933 („Wie
kann unsereiner zur Kirche zurückfinden?” heißt es
darin).
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Bekennenden Kirche gegen die staatlichen Eingriffe. Er gebietet vertiefte Besinnung auf das Wesen des Rechts. Die philosophische Begründung allein genügt nicht mehr. Sie hat sich als zu wenig tragfähig erwiesen.
Der innere Beweggrund ist das Erlebnis des Zerbrechens jeder möglichen Philosophie des Rechts. Keine vermag dem forschenden Herzen Genüge zu tun. Da fällt der Blick — folgerichtig, wie man behaupten möchte — auf die Theologie. Nun wiederholt sich auf höherer Ebene die kritische Einsicht Grisebachs und Radbruchs in die Unzulänglichkeit jeder philosophischen Bemühung. Gibt die Theologie Antwort auf die Frage nach dem Recht? Erik Wolf hofft es3.
Keine fertige Rechtstheologie steht am Anfang, eher ein vorsichtiges Tasten nach dem richtigen Ansatz. Scheinbar ohne jeden Zusammenhang mit seiner bisherigen Rechtsphilosophie, auch ohne an K. Barth anzuknüpfen, setzt Wolf mit der Theologie der Schöpfungsordnungen ein (unten a, b). Erst allmählich macht er seine rechtsphilosophischen Erkenntnisse für die Rechtstheologie fruchtbar. Die daraus erwachsende Existentialtheologie des Rechts (unten c)4 überwindet nun die Schöpfungsordnungs„ideologie”, wie er selbst später sagt, so daß der Grundstein für die große Rechtstheologie nach 1945 gelegt ist.
Welchen positiven Beitrag hat die Kirche zu den inneren Fragen der Nation zu erbringen5? Unter diesem Aspekt wird die Diskussion mit den Deutschen Christen und dem Staat geführt.
3) Vgl. Fragw. 27 A. 1 Incende quod
adorasti . . .; ASW 1933 381: „Unabweisbar drängt sich dem
ernsten Leser . . . die Wahrheit des uralten Satzes auf, daß eine
echte Philosophie eine große systematische Theologie zur
Voraussetzung hat. Die sorgfältige Ausschaltung des zentralen
Problems aller Rechtsphilosophie: des Problems der Kirche . . .
läßt schmerzlich deutlich erkennen, wie arm im Geiste wir
geworden sind.” Und rückschauend in Die Friedenswarte 1948 192:
„Ein unerschütterter Glaube an den ,Geist’ des Menschen (ist) auf
Grund der Erfahrungen mit sich selbst und der Welt . . . nicht
mehr möglich . . . Man wird und muß einen tieferen Grund für den
Menschen . . . suchen, als der Mensch ihn selber legen kann”;
ferner PuS 189 f.
4) Die im folgenden versuchte Einteilung ist nicht
unproblematisch, da es sich eher um Verschiebungen des
Schwerpunkts als um getrennte Entwicklungsabschnitte handelt.
5) W. Künneth/H. Schreiner im Vorwort zur ersten
Auflage von ReG V f.
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Das ist sachlich die Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Staat. Wolf stützt sich dabei auf die Schöpfungsordnungstheologie. Denn nur auf dieser Basis kann das Gespräch mit den Deutschen Christen stattfinden.
Was versteht Wolf unter den „Schöpfungsordnungen”? Sie sind das Ewig-Wesentliche, die „Gesetzmäßigkeit der Schöpfung selbst”, eine „Ordnung Gottes”6. Phänomenologische Wesensschau erscheint nun in theologischer Überhöhung.
Diese Ordnungen wirken zwar wie Recht; denn sie rechtfertigen und begrenzen den Staat und sein Recht7. Aber sie sind nicht selbst Recht; sie sind nicht rationalisierbar, normierbar und positivierbar. Denn sie sind nur existent im personalen Einsatz, in der Gesinnung, also in der „Person”. Sie bilden eine „Gesinnungsordnung”. Doch auch sie sind nicht autonom. Das Evangelium begrenzt und bestätigt sie8.
Damit kommt Wolf zu einem dreifachen Ansatz: des Evangeliums, der Schöpfungsordnungen und der verantwortlichen, auf den Anruf des Gewissens (Heidegger!) hörenden Person. Gottes Autorität aber trägt sie alle.
Schöpfungsordnung als Gesinnungsordnung und verantwortende Person wirken nun zusammen und bringen (in nächster Konkretionsstufe) das „wirkliche”, gelebte Recht hervor, das zwar Normen kennt, aber im Wesen irrational ist. Es ist ein „natürliches”, aber kein christliches Recht; denn die Gerechtigkeit des Rechts wird von der Liebe des Evangeliums überwunden9. In schroffem Gegensatz zu später stehen sich also Recht (als „Gesetz”) und Liebe (als „Evangelium”) gegenüber10.
Zu den Ordnungen zählt Wolf, mit der damals allgemeinen Meinung, die „Stände” Ehe, Familie, Gemeinde11, aber auch Volk, Rasse,
6) ARSP 1934/35 355 ff.
7) Zum erstenmal wird hier die „legitimierende und
limitierende Funktion” genannt, die den Leser noch oft
beschäftigen wird.
8) Vgl. RichtR 26 f.
9) ReG 250-259, RichtR 13. Trotz der „nationalen”
Einkleidung (ebd.) ist das immer noch das ethisch-existentiale
Recht.
10) Ebenso noch RbW 34.
11) Damit ist wohl die Kirche angesprochen.
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Ehre usf.12 Die Erbsündlichkeit und Gefährdetheit solcher Schöpfungsordnungen bleibt freilich noch außer Betracht.
Wo steht in diesem Rahmen die Kirche? Das Verhältnis von Kirche und Staat müsse den Schöpfungsordnungen gemäß sein, überlegt Wolf13, denn der ihnen gemeinsame Rechtsboden, auf dem auch eine Verständigung möglich sein müßte, ist die Schöpfung. Wie man sich das Verhältnis beider des näheren vorzustellen hat, bleibt zunächst ungeklärt. Doch soviel steht fest: Kirche und Staat dürfen nicht gleichgesetzt, erst recht nicht „gleichgeschaltet” werden14! Denn die Kirche verkündet Gott als den Schöpfer und Erhalter der Schöpfungsordnungen. Deshalb bedarf der Staat der Kirche, und die Kirche dient, recht verstanden, in ihrer Verkündigung dem Staat. Gleichwohl ist sie „Kirche im Volk, Nationalkirche, ihrem von Gott bestimmten historischen Schicksal nach”, und hat deshalb dem Volk zu dienen15.
Und das Recht in der Kirche, ihre „Rechtsgestalt”? Wenn Evangelium und Ordnungen diversi generis sind, dann kann es kein eigengeartetes Recht der Kirche geben. Denn Recht und Evangelium muß man auseinanderhalten, wie wir oben sahen.
So ist es in der Tat. „Es bleibt dabei, daß vom . . . theologischen Bewußtsein der Glaubenswahrheiten aus kein Rechtssystem entworfen werden kann”16. Die notwendige Verbindung von Glaube und Recht in der Kirche ist noch nicht erkannt.
12) ARSP 1934/35 355 ff., RichtR 13 ff., ReG
241 ff. — Die drei erstgenannten „Stände” sind das
anthropologische Fundament der lutherischen Dreiständelehre und
damit der „christlichen Volksordnung”, ReG 252 ff.
13) RichtR 13 f., 26 f. (religiös begründeter
totalitärer Staat); ReG 255, 265 (aber kein christlicher Staat,
sondern Christen im Staat, anders trotz weithin gleichen
Wortlauts ReG (5) 264!
14) RichtR 27, ReG 248, ReG (5) 250.
15) RichtR 26 f., ReG 265: die Kirche mahnt den Staat,
der Staat „ruft” die Kirche; WuT 1934 24 f. „alles irdische Wesen
(bedarf) der Rechtfertigung vor dem Herrn”; unter diesem
Vorbehalt sind „Volk und Staat auch in ihrer heutigen Gestalt . .
. von Gott gewollt” — ein Anklang an die damals weit verbreitete
deutschchristliche Geschichtsideologie.
16) ReG 259 gegen ReG (5) 268.
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Dennoch stehen sich Recht und Kirche nicht feindlich gegenüber. R. Sohms Ansicht wird abgelehnt. Aus dem Wesen der Kirche folge, wie schon Luther richtig gesehen habe (!), daß Geist- und Rechtskirche zusammengehören.
Die Notwendigkeit der Rechtskirche — darunter wird hauptsächlich die „äußere Kirchenverfassung” verstanden — folgt aus „soziologischen Gründen”, also wieder aus der Schöpfungsordnung. Sie regelt demnach auch das Verhältnis von Geistkirche und Rechtskirche. Und nur wenn die Kirche zugleich Rechtsgestalt trage — ein praktischer Gesichtspunkt —, könne sie sich wirksam vom Staat abgrenzen. Kirchenrecht als Grenze! Doch ist ein solches Kirchenrecht gleichwohl „geistlich” — aber nur deshalb, weil jedes Recht im Wesen „geistlich”, d.h. aus Schöpfungsordnung ist17.
Der starke Einfluß G. Holsteins (und für die „Geistlichkeit” dieses Rechts: W. Schönfelds18) ist nicht zu übersehen. Dieses Kirchenrecht ist „im Wesen” vom weltlichen Recht kaum zu unterscheiden. Denn Recht folgt in jedem Falle aus der Sozialität der Person, mag es auch in einem Falle von der Kirche, im andern Falle vom Staat stammen.
Doch der Unterschied zu Holstein besteht im Rechtsbegriff19: Recht ist für Wolf nicht „zwangsnormierte Verhaltensordnung”20, sondern (auch in der Kirche) das „gelebte” Recht, das keiner Positivierung bedarf (und deshalb auch gegen Staatseingriffe immun ist!), denn es kommt überall auf den im Recht wirkenden Geist Christi an21 — eine Heckels usus spiritualis iuris inhaltlich ähnliche Auffassung.
Die Struktur der Kirche wird nun fast ganz mit G. Holstein beschrieben. Die eine Kirche weist zwei „Gestalten” auf; ihre „innere” Gestalt,
17) ReG 259 ff., 263, ReG (5) 259 ff.; ReG 263:
die Wirkung der geistlichen Kirchenerneuerung (= Geistkirche) auf
die Verfassung (= Rechtskirche) muß der Schöpfungsordnung
entsprechen! (Aber wie kann das angehen? Sollte der Geist
gezwungen werden, dem Recht zu folgen, oder nicht vielmehr
umgekehrt, wie schon G. Holstein 1928 228 verlangte?)
18) Für später s.u. 3531.
19) Dagegen nicht im Kirchenbegriff, trotz G. Holstein
1928 225 f.: „Rechtsordnung . . . ist Schöpfungsordnung, Kirche
aber ist . . . Erlösungsordnung”. Denn hier spricht G. Holstein
nur von der Geistkirche.
20) G. Holstein 1928 227.
21) ReG 263 f., KuR 356 f.; es trifft also nicht ganz
zu, wenn das Kirchenrecht nur zur sichtbaren Kirche gerechnet
wird, z.B. ReG 263.
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also das Wesentliche, ist die Geistkirche, d.h. die unsichtbare Glaubensgemeinschaft unter der Herrschaft Christi. Das ist die eigentliche, die geistige Existenz der Kirche.
Hieraus resultiert das „herrschaftliche” Strukturelement. Nun weicht Wolf zum zweitenmal von Holstein22 ab (die erste Abweichung lag im Rechtsbegriff): Während das herrschaftliche Element bei G. Holstein der Geistkirche vorbehalten blieb, kommt es bei Wolf auch im Amt der Rechtskirche zur Erscheinung.
Dazu kommt die „genossenschaftliche” Strukturform. Das ist die „äußere” Gestalt, die „eigentliche” Rechtskirche, das Anstaltliche der Kirche. Es ist nicht die Glaubens-, sondern die Verwaltungsgemeinschaft, die ecclesia visibilis als „die zeitgeschichtliche Form der ecclesia invisibilis”.
Beide Komponenten gehören konstitutiv zusammen „wie Leib und Seele”. Sie verneinen also nicht Kirchenrecht (gegen R. Sohm), sondern ermöglichen es (mit G. Holstein). Die Verbindung beider folgt daraus, daß aus der Herrschaft Christi auch „äußere Gemeinschaft besonderer Art” folgt23.
Herrschaftliche und genossenschaftliche Strukturen spiegeln sich wider in der Episkopal- und Synodalverfaßtheit der Kirche. Das Wesen der Kirche verbietet, die Bischofsverfassung autoritär-zentraiistisch und die Synodalverfassung parlamentarisch-demokratisch auszugestalten und sich so an das politische Gemeinwesen anzulehnen24.
Der Überblick über Erik Wolfs Kirchenrechtsauffassung 1933/34 ergibt: Die Kirche wird im wesentlichen noch „traditionell” mit Holstein gegen Sohm bestimmt; die typischen Kennzeichen sind die Unterscheidung (aber nicht Scheidung) von Geist- und Rechtskirche sowie die beiden Strukturelemente des Herrschaftlichen und des Genossenschaftlichen. Die Rechtslehre dagegen weist in die Zukunft25. Recht ist nicht Zwangsordnung, sondern verbindliche Form des Lebens.
Die eigentümliche Verbindung von traditionellem Kirchen- und zukunftweisendem Rechtsbegriff sprengt in der Konsequenz die Konzeption
22) Vgl. G. Holstein 1928 228, 269 ff. Daß
damit ein Ansatz für eigenständiges Kirchenrecht gewonnen ist,
wird noch nicht bemerkt.
23) ReG 259 ff., 264 ff., ReG (5) 257 f., WuT 1934 24
f. Das ist nun freilich ein glatter Widerspruch, s.u. 279.
24) ReG ebd. — was nicht besagen soll, daß die Kirche
vom Staat keine — weitgehenden — Anregungen entgegennehmen
dürfte, ebd. 264 ff.
25) KuR 353.
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Holsteins. Der veränderte Rechtsbegriff wandelt auch den Kirchenbegriff. Das kann nicht anders sein, wenn es zutrifft, daß Kirche und Recht im Wesen verbunden sind.
In der bisherigen „Konzeption 1933”, wie sie der Kürze halber genannt werden soll, ringen zwei unvereinbare Ansätze um die Herrschaft.
Erstens: Das Verhältnis von Geist- und Rechtskirche folgt aus der Schöpfungsordnung, gehört also in den Rechtsbereich. Wie aber schon G. Holstein gezeigt hatte, ist dagegen einzuwenden, daß dann der Geist gezwungen wird, dem Recht zu folgen26.
Deshalb widerspricht der zweite Ansatz: Die Christusherrschaft, also die herrschaftliche Strukturform, demnach die Geistkirche, kommt auch in der Verfassung der Rechtskirche zum Ausdruck. Der Geist bestimmt zuletzt doch das Recht.
Zwischen beiden Gedankenreihen gibt es keinen Ausgleich. Die Ursache dieses Dilemmas liegt, wie so oft, in der Politik. Die Kirche gehört, wie oben gezeigt wurde, einerseits zum Volk, andererseits steht sie ihm gleichwohl gegenüber. Das gestörte Verhältnis zur politischen Wirklichkeit bringt auch das Innere der Kirche in Unordnung, wie die Sonde des Rechts offenlegt.
Die Einsichten des Kirchenkampfes verlangen deshalb eine Änderung: Volk, Staat und Kirche müssen deutlicher als bisher unterschieden werden. Dann tritt auch die Eigenständigkeit27 des Kirchenrechts (wieder!28) hervor. Auch das Dunkel um die Schöpfungsordnungen wird sich lichten29.
Kirche und Staat stehen jetzt notwendig in Spannung zueinander, die nicht harmonisiert werden darf. Es ist nicht ein Kampf der Vernichtung (!),
26) G. Holstein 1928 228.
27) Dieser Ausdruck zuerst RidK 825.
28) S.o. A. 1. Diese zunächst nur rechtsphilosophische
Einsicht war anfangs von der Theologie der Ordnungen überdeckt
worden.
29) Zum folgenden vgl. KuR 352 ff., NdK 1072 ff., RidK
742, 762 f., 824 f., 922 f.; 138, 378, 446 f.
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sondern die Spannung des Dialogs (Grisebach!), um die aus der Wesens- und Aufgabenverschiedenheit von Kirche und Staat (!) folgenden Gegensätze auszutragen — und so gemeinsam der übergreifenden Gemeinschaft des Volkes zu dienen30.
Die Spannung von Kirche und Staat wird zunächst durch eine extensive Interpretation der Schöpfungsordnungen auszugleichen versucht. Zu den Ordnungen gehört nun nicht nur der Staat und das Recht überhaupt, sondern auch die Kirche und Staat umgreifende Schöpfungs- und Lebensordnung des Volkes. Damit wird auch die Kirche zur Schöpfungsordnung!, und zwar zu einer Ordnung eigenen Rechtes31. Mit diesem Kunstgriff gewinnt Wolf die „Eigenständigkeit” des Kirchenrechts.
Das erweckt den Anschein, als ob hier die Kirche (etwa wie beim „Rechtswalter” Jäger) als Ausdruck der „religiösen Funktion des Volkes” begriffen würde. Doch damit würde die Intention Wolfs ins Gegenteil verkehrt. Denn aus der Überordnung des „Volkes” werden keinerlei rechtliche Folgerungen gezogen. Wolf will mit dieser Konzeption vielmehr das eigene Recht der Kirche vor allen staatlichen Eingriffen theoretisch absichern, indem er der Kirche einen eigenen Ursprung in der Schöpfungordnung einräumt, zugleich aber die gemeinsame Aufgabe von Staat und Kirche am Menschen („Volk”) sichtbar macht.
Also zwei Rechtsquellen, Staat und Kirche, jedoch nur ein Rechtsbegriff! Sind damit alle Schwierigkeiten beseitigt? Keineswegs. Noch im gleichen Jahr stellt Wolf die Schöpfungsordnungen hintan und wendet
30) Aber KuR 355: der Staat umfaßt die Kirche,
insofern sie sichtbare Organisation eines Teils des Staatsvolks
ist! (Gemeint aber als Legitimation des Staatskirchenrechts;
berichtigt RidK 825: die Gemeinde der Christen gehört zur
politischen und rechtlichen Gemeinschaft des
Volkes.)
31) RidK 824 f., NdK 1072 ff. — Daraus folgt, daß es
(Rechts-?)Kirche jenseits der Grenzen des „Volks” (noch) nicht
geben kann. — Unklar bleibt, wieso die Kirche Schöpfungsordnung
ist. Wolf hat wohl kaum an eine „Kirche des Alten Testamentes”
gedacht (sie kommt erst OdK 154 vor) wie etwa Heckel, eher an die
lutherische Dreiständelehre; „Schöpfungsordnung Kirche” scheint
eine Chiffre zu sein für die immanente Weltseite der Kirche, die
sowohl die Gemeinschaftlichkeit als auch das Recht umfaßt, also
für die Rechtskirche. Formal rückt diese Auffassung des
Verhältnisses von Staat und Kirche in die Nähe der katholischen
Lehre von den beiden societas perfectae.
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sich dem (später so genannten) bekennenden Kirchenrecht zu32. Die Forderung der Bekenntnissynode von Bad Oeynhausen nach einem auf dem Bekenntnis aufgebauten Recht ist nur Anlaß, nicht Ursache; eine vertiefte Anthropologie führt zur Eigenständigkeit des Kirchenrechts.
Wolf verbindet nun den existentialontologischen Ansatz seiner Rechtsphilosophie mit den Erkenntnissen des Kirchenkampfes zur Existentialtheologie des Rechts: „Wahre” Existenz im Recht ist gläubige und den Glauben bekennende gemeinschaftliche Existenz. Ihre doppelte „Gestalt” ist das kirchliche und staatliche Recht. Verfolgen wir die einzelnen Schritte auf diesem Weg!
Als erstes fordert Wolf eine „wahre” Anthropologie rechtlicher Existenz, eine „Wissenschaft vom Sein des Menschen schlechthin”33, die die Ansätze des personalen und existentiellen Denkens „dialektisch” in sich vereint. Daraus soll eine Begründung des Rechts erwachsen, die zutiefst dem Wesen des Menschen entspricht.
Was ist das für ein „Wesen” des Menschen? Ist es die scholastische Wesensnatur, die natura hominis des Aufklärungsrechts, der Personwert des badischen Neukantianismus, die phänomenologische Idee oder gar Hegels „Geist”34?
Das Wesen des Menschen ist die auf den Anruf des Du antwortende „ethische Existenz”. Existenz aber verwirklicht sich in Gemeinschaft. Sie ist gemeinschaftsbezogen und gemeinschaftsgebunden, und zwar notwendig zwiefach: gemeinschaftliche Existenz ist Existenz vor Gott und der Welt. Der Mensch ist Christ und Volksgenosse.
Wahre Existenz ist gläubige, im Glauben gedeutete Existenz — eine Existenz von Gott geschaffen, gerichtet und erlöst35; sie entfaltet sich
32) Wenn das auch nur rückschauend erkennbar
ist! Der Holsteinschen Konzeption und den Schöpfungsordnungen
neigen noch ReG und NdK zu; RidK und KuR (ein mehrfach in der
Bekennenden Kirche gehaltener Vortrag) betonen die
„anthropologische” Linie (Recht aus kirchlicher Existenz); in ReG
(5) (der Umarbeitung von ReG) stehen beide Begründungen
nebeneinander.
33) ZStW 1936 158, 1937 285.
34) Vgl. NRL Kap. I.
35) KuR 353; ZStW 1936 161 entsprechend für die
Schöpfungsordnungen. Hier sind also Natur und Gnade in
existentieller Einheit.
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als christliche Existenz in der Gemeinschaft der Glaubenden und als welthafte Existenz in Staat, Gemeinde und Ehe.
Glaube drängt notwendig hin zu öffentlichem Bekennen. Dieses Bekenntnis ist die geistliche Mitte der Gemeinde, ihr Kristallisationspunkt. Zum ersten Mal tritt hier das Bekenntnis in den Dienst der Rechtsbegründung — eine auch wissenschaftstheoretisch bemerkenswerte Entwicklung36!
Bekenntnis ist also nicht eine der historischen Bekenntnisschriften, auch nicht der Buchstabe der Schrift, sondern das in der Aussage der Gemeinde gegenwärtige Evangelium37. Anthropologie und Theologie zusammen haben diesen Rechts-Begriff des gelebten „Bekenntnisses” geschaffen.
Aus der doppelten Existenz des Menschen in Kirche und Staat folgt das unterschiedliche Recht von Kirche und Staat; aus der Eigenständigkeit und qualitativen Unterschiedenheit der zweifachen Existenz folgt die Eigenständigkeit des Kirchenrechts und des weltlichen Rechts. Das Kirchenrecht aber gründet im Bekenntnis.
Jetzt gibt es also nicht nur zwei Rechtsquellen, die kirchliche und die staatlich-politische Existenz, sondern zwei Rechtsbegriffe. Das soll nun am Kirchenrecht erläutert werden.
Aus der gemeinschaftlichen, glaubenden und den Glauben im Bekenntnis bezeugenden personalen Existenz erwächst „Kirchenrecht” von selbst. Denn das Recht gehört zum Wesen des Menschen38, zu seinem „Personsein”39. Zwar gilt das für jede lebendige Gemeinschaft; für die
36) Die Aufnahme des Bekenntnisses als
Gegenstand der Rechtswissenschaft enthält eine weitere Abkehr vom
Neukantianismus, der gegen Dilthey und Gierke behauptete, nur
Erkenntnis, nicht Bekenntnis sei möglicher Gegenstand der
Wissenschaft (vgl. Schuldlehre 83).
37) KuR 357 f., RidK 742, ReG (5) 256; vgl. AevKR 1937
24: Das Bekenntnis ist „Behauptung der Wahrheit, und zwar einer
unbedingten, schlechthin verbindlichen und für alle gültigen
Wahrheit des Lebens”. Das spätere „bekennende Kirchenrecht”
kündigt sich an: „Es ist das Gemeindebekenntnis, das sich in
ihrem Recht so gut wie in ihrem Kultus ausdrückt. Aus ihm erst
folgen die Ämter” (RidK 742).
38) Zuerst RGG (2. Aufl. 1930) IV 445 ff.; KuR 353,
ReG (5) 261, Stifter 9.
39) Zeugnisse 81.
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Kirche aber, die die gläubige Existenz und damit das innerste Wesen des Menschen angeht, in ganz besonderem Maße.
Recht „ist” das „geistige Leben”, lebendiger „Ausdruck konkreter Gemeinschaft”, ihre „Rechtsgestalt”. Recht tritt zur Gemeinde nicht von außen hinzu, sondern „war schon je mit ihrer Existenz als solcher da”40. Es wächst „organisch” aus dem Leben der Gemeinde. Denn „was . . . für eine Gemeinschaft von Menschen aus dem Wesen dieser Gemeinschaft heraus mit Selbstverständlichkeit (gilt, d.h.) für verbindlich gehalten wird, ist eben . . . ihr Recht”. Das aber ist das Bekenntnis!
Das Bekenntnis ist die formgebende „gelebte Ordnung” der Gemeinde; es verbindet, ist deshalb verbindlich und „gilt” für die Zukunft; es ist „das angemessene rechte Sich-Verhalten aller Glieder” ihre „Verfassung”, ihr „Wesensgesetz”41 — und darum ihr Recht. „Kirchenverfassung” wird zum „Bekenntnisausdruck”.
Kirchenrecht ist ein streng „bekenntnisgebundenes” Recht42, ungeschrieben, aber nicht weniger gültig; zeitgebunden, aber zeitverbindlich; geschichtliches, weil aufgegebenes, „geschicktes” Recht, das, aus Vergangenheit stammend43, in die Zukunft weist44. Von hier aus ist es fortan unmöglich, Geist- und Rechtskirche zu trennen45!
Wie sieht diese lebendige Verfassung aus? Ihr Inhalt ist in Apg 2.42 verbindlich angesagt: das Brotbrechen als die rechte Ordnung von
40) RidK 742, ZStW 1937 292, ReG (5) 256.
41) KuR 354 f., 357, ReG (5) 256 f.; zum materiellen
Verfassungsbegriff Radbruchs vgl. Radbr. 493, Ehlers’ Entstehg.
6, Wolfs RgK 258, OdK 161 A. 2.
42) ReG (5) 256, 268; NdK 1074 weist auf die vierte
Bekenntnissynode der DEK von Bad Oeynhausen 1936 hin (gegen z.B.
die Verfassung der DEK vom 11.7. 1933 Abschnitt II Art. 2 Ziff.
3; Kirchenges, vom 9.8.1934 über die Leitung der DEK und der
Landeskirchen § 1 II).
43) RidK 762: in der Beständigkeit der Urgemeinden
liegt der Kern allen Kirchenrechts.
44) KuR 355; vgl. ReG (5) 250 f., ZStW 1937 293:
gegenwärtig = aktuell und geschichtlich i.S. von geistiger
Existenz; ferner das Referat über G. Husserl ZStaatW 1931 329;
ZStW 1938 201 f., „geschichtlich” ist also anders als bei Dombois
(s.u. 516 ff.) und Grundmann (vgl. LWB 46, 402, 528, 531, ZevKR
1962/63 8 f.) gebraucht.
45) ReG (5) 255. — Die Einzelaussagen sind noch
uneinheitlich: Gelegentlich wird noch ganz im alten Sinne
„geistlich” und „rechtlich” gegenübergestellt (RidK 446 für das
Amt), aber die „unsichtbare Kirche” wird kaum mehr erwähnt; es
wird nur gesagt, die (sichtbar-unsichtbare) Glaubens-Gemeinde (!)
müsse in allen Stücken dem unsichtbaren corpus Christi
mysticum entsprechen.
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Sakramentsspende und -empfang; die Apostellehre als die rechte Ordnung der Verkündigung des Wortes; das Gebet als die rechte Ordnung des Gottesdienstes; die Gemeinschaft als die rechte Ordnung des gemeindlichen Lebens.
Das ist die eigentliche Verfassung der Kirche, nicht nur die Regierung und Verwaltung der „Institution” („Kirchenverfassung i.e.S.”)46.
Hier steht nun — ebenfalls zum erstenmal — der „Gottesdienst” in der Mitte des Kirchenrechts47!
Aus dieser Verfaßtheit der Kirche ergeben sich rechtliche Konsequenzen, die über die — formal noch beibehaltene — Unterscheidung G. Holsteins von herrschaftlicher und genossenschaftlicher Struktur hinausweisen. Die Kirche ist nicht nur „herrschaftlich” und „genossenschaftlich” verfaßt, sondern vor und in allem „bruderschaftlich”48; denn die Kirche ist eine „geistliche Bruderschaft”, die in der rechten Ordnung des Brotbrechens usw. lebt.
Wer an der Bruderschaft nicht teilhaben will, kann auch nicht das („herrschaftliche”) Amt der Kirche begehren oder an den („genossenschaftlichen”) kirchlichen Wahlen teilnehmen, mag er auch Kirchen-„mit”glied sein. Das wahre Gottesvolk ist nicht statistisch erfaßbares „Kirchenvolk”, sondern „wer sich zur Gemeinde hält”.
Das bedeutet konkret den Einbau der Ältesten, der Bruderräte und der im Abendmahl sich sammelnden „Kerngemeinde” in die im übrigen lutherische Kirchen Verfassung (mit dem Bischof an der Spitze).
Auf diese Weise versucht Wolf, seiner ausgleichend-,,dialektischen” Art folgend, den (lutherischen) Bischof mit dem (reformierten) Ältesten zu verbinden49 — und das volkskirchliche Ideal mit der bekennenden Kirche zu versöhnen.
46) KuR 358 f., RidK 762, ReG (5) 257, RgK 256
f.
47) Vgl. RidK 742; Kirche ist Gottesdienst und Dienst:
ReG (5) 264.
48) Mit Calvin (NRL 103 f.) in Entsprechung zur
antiken Staatslehre: zum Monarchischen („Herrschaftlichen”) und
Demokratischen („Genossenschaftlichen”) muß das Aristokratische
(„Bruderschaft”) hinzukommen; hierzu und zum folgenden KuR 360 f.
Das entspricht entfernt der alten Dreiteilung von Episkopal-,
Synodal-, Konsistorialgrundsatz. Dieses gefährliche
staatsrechtliche Analogon ist aber schon 1937 verlassen (vgl. ReG
[5] 269 ff.; auch GrundO 178 zur Grundordnung der EKD und
schließlich RbW 90, RgK 259, OdK 67, Basler Kirchenbote
1961).
49) ReG (5) 269 ff.
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Befragt man dieses Kirchenrecht auf seine tragenden Annahmen, so ruht es auf zwei Säulen: Das Recht folgt aus dem Wesen des Menschen — und: Das Recht folgt aus dem Wesen der Kirche50. Das ist für Wolf kein Widerspruch; denn der Mensch kann nicht definiert werden ohne die Offenbarung. Ebenso versteht nur die gläubige Existenz den geoffenbarten Grund des Rechts. Der Glaube wird zum Erkenntnisprinzip des Rechts51. Die Eigenständigkeit der kirchlichen Ordnung gegenüber jedem weltlichen Recht liegt offen zutage. Der Totalitarismus völkischer Existenz ist gesprengt. Das ist der entscheidende Fortschritt, den das Jahr 1936 gebracht hat.
Es war notwendig, diesen anthropologischen Entwurf etwas ausführlicher darzulegen. Denn nach 1945 wird die anthropologische Sicht in eine christozentrische Rechtstheologie der „biblischen Weisung” eingebaut (II), auf der Kirche (III) und Kirchenrecht (IV) aufruhen. Dann schließt sich der Kreis: Der Weg führt wieder zurück „von der Rechtstheologie zur Rechtsphilosophie” (V).Eine Betrachtung der „Dialektik” (VI) zeigt zum guten Ende die eigentümliche Denk- und Redeweise eines der großen Rechtsdenker unserer Zeit, dem vielleicht gelang, was er selbst rühmend von Zwingli sagt: eine „erasmische Verbindung von Christentum und Antike”52.
50) ReG 259, ReG (5) 256, 258. Verbindet man
beide Sätze, so erhält man den zweiten, nämlich den
anthropologischen Ausgangspunkt des Kirchenrechts nach 1945: „Das
Kirchenrecht ist eine Funktion kirchlicher Existenz” (OdK 23)!
Die christozentrische Begründung dieser Sätze ist noch nicht klar
durchgeführt. Sie „schweben” noch zwischen Christokratie und
Schöpfungsordnung. Die Konzeption steckt noch in den Fesseln
Holsteinscher Gedanken, die erst nach 1945 abgestreift werden.
(Vgl. WuT 1934 24: die Herrschaft Christi wird vom Evangelium als
gegenwärtige verkündigt; alles Irdische bedarf christologischer
Rechtfertigung; ReG 260, ReG [5] 258: Christus ist das Haupt der
„geistigen” Kirche; seine Herrschaft konstituiert auch äußere
Gemeinschaft besonderer Art; das ist das „herrschaftliche”
Strukturelement der Kirche.)
51) ZStW 1936 161, RidK 825, NdK 1072, ReG (5) 250;
vgl. RichtR 3: Rechtserkenntnis ist die für die Existenz
verbindliche Erkenntnis des eigenen Seins-im-Recht; ganz ähnlich
NRL 196; ReG (5) 252, deshalb verlangt Kirchenrechtserkenntnis
Kirchengliedschaft (den Glauben); HZ 1937 109 f. gegen die
politische Mißdeutung des Daseins-Rechts. — Ob dieses
Kirchenrecht ein ius divinum kennt, ist nicht klar: Es
stammt mittelbar aus Gott, nämlich der im Licht der Offenbarung
gesehenen Schöpfungsordnung, andererseits wendet sich Wolf gegen
jedes katholische ius divinum als „Juridifizierung der
Schöpfungsordnungen”, ReG 257 ff., KuR 357, NdK 1073, ReG (5)
256, 260, Zeugnisse 82. Damit entfällt jeder Widerspruch zwischen
religiöser (s.o. 272 f.) und christlicher Rechtsbegründung (vgl.
ReG [5] 248 ff.; folglich ist Naturrecht möglich, RbW 28 ff., OdL
18 f. m. A. 37 u.v.a..!; dazu W. Maihofer QR 15 ff.).
52) Zwingli 176.