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Von der Rechtsphilosophie war Wolf 1924 ausgegangen; die innere Konsequenz führte zur Rechtstheologie 1933.
Diese Rechtstheologie aber verlangt nach einer „entsprechenden” Rechtsphilosophie; die innere Notwendigkeit leitet darum vom verbindungslosen Nebeneinander zum dialektischen Ineinander.
Zunächst aber stehen Rechtstheologie und -philosophie in eigenartiger Berührungslosigkeit. Nachdem die Rechtsphilosophie bereits ein Jahrzehnt bewegter Entwicklung hinter sich hatte, setzte die rechtstheologische Reflexion 1933/34 völlig unabhängig von der philosophischen ein, um nach einer langen Zeit der Diastase1 von Rechtstheologie und -philosophie — unterbrochen von der Notzeit der Jahre nach 1935, in denen beide für eine kurze Weile zusammengeschweißt werden zur Rechtstheologie der gläubigen Existenz — erst jüngst ihre glaubensanaloge Verbindung zu finden. Damit verläuft auch hier der Weg von der Dialektik zur analogia fidei.
Darum liegt es nahe, das Verhältnis von Rechtstheologie und Rechtsphilosophie zusammenfassend zu untersuchen. Das wird tief in die Problematik der Rechtstheologie schlechthin führen. Vor allem wird zunächst sogar offengelassen werden müssen, ob philosophisch oder theologisch gesprochen wird. Denn erst wenn die Entwicklung (s.u. 1) von der „zerbrechenden” Dialektik von Gottes- und Menschenrecht (a) über die „versöhnende” Dialektik von Gottes- und Nächstenrecht (b) zur analogen Einheit in der Ordnung der Liebe und Gnade (c, d) aufgezeigt und mit der Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz (2) verbunden ist, kann die zunächst offengelassene Frage nach der philosophischen oder theologischen Natur des Liebes-Rechts erörtert werden (3): Sie führt zur „Theanthropologie” des Rechts (3 c 4).
1) Freilich kam schon die bisherige Darstellung nie ganz ohne rechtsphilosophische Fragestellungen aus; es zeigte sich vor allem, daß der Rechtsbegriff selbst ohne rechtsphilosophische Ergänzung nicht befriedigend zu umschreiben war.
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Drei Stadien der Rechtsphilosophie sind bei Wolf nach 1945 zu unterscheiden; sie zeigen formal den Weg von der Dialektik allein zur Analogie in der Dialektik, und inhaltlich von der Rechtstheologie allein zur Rechtsphilosophie in der Rechtstheologie. Die Rechtsphilosophie dieser Zeit kann also nicht von ihrer theologischen Begründung getrennt und vor der Rechtstheologie behandelt werden, sondern folgt ihr nach.
Das erste Stadium ist zu überschreiben mit der Dialektik von Gottesrecht und Menschenrecht. Es gibt im wesentlichen den Stand von „Rechtsgedanke und biblische Weisung” (1948) wieder.
Aus der absoluten Souveränität und Gerechtigkeit Gottes entspringt das Gottesrecht. Es ist absolut jenseitig als Gottes Herrschaftsrecht an uns und auf uns. Alles, was sonst den Namen des Rechtes trägt, ist vom Recht Gottes schon gerichtet. Gottes Recht ist das eschatologische Recht des Gerichtes. Das meint das Wort von der „Theokratie”. Gott ist damit die letzte Wurzel des Rechtes. Recht entspringt nicht zunächst der menschlichen Natur, sondern ist ursprünglich und in seinem tiefsten Wesen eine Eigenschaft Gottes2.
In Christus ist das Gottesrecht offenbar geworden, denn er hat die unmittelbare Rechtsordnung Gottes im Alten Bund authentisch bestätigt und erläutert. Darum kann ununterschieden sowohl vom Ordnungswillen Gottes wie vom Ordnungswillen Christi gesprochen werden. Das Gottesrecht ist das Christusrecht. Deswegen ist es unsinnig, um „christologische” oder „trinitarische” Begründung des Rechts zu streiten3. Biblische Weisung und Gottesrecht sind dasselbe. Da Christus das offenbare Gottesrecht ist, weist er den absoluten Abstand des
2) RbW 33 ff., GrundO 181, Bibel 290 (2.), RO
326, PuS 197; vgl. MuR 357, OdK 154; Recht Gottes = auf den
Menschen: RdN 17 f., OdK 154, DO 55. Das ist weder
„Existentialismus” noch Aktualismus, sondern „Seinsauslegung”
i.S. Heideggers (vgl. Radbr. RPhil. 37 f., 73 und oben 316 m. A.
4), auch „Der Mensch im Recht” Radbruchs (1957) wäre in diesem
Zusammenhang zu nennen.
3) RdN 46 f. A. 8, OdK 466, StLex V 971, GuN 640, PuS
194 mit H. Simon, Ernst Wolf; weiterführend oben 291 7 320 20.
Insoweit geht eine Verbindungslinie zur heilsgeschichtlichen
Rechtstheologie von J. Fuchs 1955 70 ff., 172; ebd. 75 gegen eine
„einseitig” christozentrische Rechtslehre (übersehen von Wolf
ThLZ 1957 67).
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menschlichen (auch des kirchlichen!) Rechts, zugleich aber zeigt er, wie vorläufiges Recht sein soll, und legitimiert es damit. Seine Weisung in Wort und Tat (Sühnetod Christi!) zeigt die Heiligkeit und Majestät des richtenden göttlichen Rechts4.
Das menschliche Recht ist das gerichtete Recht. Es teilt die Verfallenheit des Menschen. Auch wo im engeren Kirchenrecht (Gottesdienstordnung) der Abglanz des göttlichen Rechts sichtbar wird, selbst wo es vom zukünftigen Reich Gottes her als Vor-Ordnung künftigen Gottesrechts erscheint, verbleibt es dennoch im dialektischen Paradox zwischen Recht und Unrecht.
Auf dieser ersten Stufe der scharfen Dialektik ist eine Rechtsphilosophie zwar möglich, aber immer nur als schon gerichtete; entsprechend gering ist das rechtsphilosophische Interesse: Die menschliche Gerechtigkeit (als absolute Wertidee!) ist im wesentlichen formal bestimmt; materiale Aussagen werden erst durch rechtstheologische Verifizierung verbindlich5.
Das zweite Stadium könnte auch heißen „die Existenzordnung des Nächstenrechts”. Hierher gehört vor allem das „Recht des Nächsten” (1958). Die scharfe Dialektik von Gottesrecht und Menschenrecht wird nun vertieft und ergänzt durch die christologische Analogie von Christokratie und Bruderschaft. Die Dialektik lautet nicht mehr Gottesrecht und Menschenrecht, sondern Gottesrecht und Nächstenrecht. Das Gottesrecht ist nun nicht mehr allein absolutes Recht am Menschen, sondern auch Recht für ihn; „entsprechend” ist menschliches Recht nicht
4) Reich 52, RbW 36, 92, BW 773, RdN 16 f., 28,
63 A. 4/5 mit E. Schlink, OdK 28, 154 f., 159 A. 2, 164, 468.
Anders (?) nun RuL 479: Recht begegnet nur im Verhältnis der
Nächstenschaft, das aber zugleich Gottesverhältnis „ist”. —
„Gottesrecht” hat demnach zwei Bedeutungen: Es ist erstens das
souveräne, verborgene Recht, nach dem Gott am Jüngsten Tage
richten wird; es ist zweitens dasselbe Gottesrecht, insofern es
als b. W. Christi uns offenbart ist („gottesrechtlich [bestimmt]
durch Weisung Christi”, OdK 311); dazu kommt, drittens, die
unspezifische Verwendung als Synonym für ius divinum
(vgl. Inhaltsverzeichnis OdK 822). Verwandt ist der Begriff
„sakrales Recht” (vgl. DO 55 u.ö.).
5) RbW 9 ff., 20 f., 55, 64, 73 f., GrundO 181, ThuR
34; vgl. auch GR II 474 ff. u.ö. und unten 419 m. A. 3.
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mehr allein gefallenes Recht, sondern zugleich Recht für den (theologisch) Nächsten6.
Auch die Art der Dialektik ist verändert. An die Stelle der Diastase der Antithesen tritt ihr Ineinander und ihre Entsprechung: Nicht mehr Christokratie und Bruderschaft, sondern bruderschaftliche Christokratie und christokratische Bruderschaft; entsprechendes gilt für das Recht. Nächstenrecht ist (glaubens-)analog dem Gottesrecht. Das ist Seins- und Sollensaussage in einem, rechtsontologische Aussage und rechtsethische Forderung.
Das nächstenrechtliche Gottesrecht (Wolf bezeichnet es nicht so) begründet die „Personalität” („vertikale” Verfaßtheit in Verantwortlichkeit vor Gott) als Existential des Menschen. Sie ist Ausdruck der Gottesebenbildlichkeit und damit „das Urrecht vor allen Grundrechten”.
Aber wer Gott antworten will, ist auf den Nächsten verwiesen. Denn er ist die „Ikone Gottes”. Seine Personalität ist im Recht-Tun und im Recht-Lassen zu achten. Daraus resultiert die „Verfassung” der Nächstenschaft, die „Solidarität” („horizontale” Verantwortlichkeit freier und gleicher Menschen füreinander vor Gott). Aus der Übung der Partnerschaft folgt Nächstenschaft als Nächstenordnung der Bruderschaft, und somit aus gottbegründeter Personalität die mitmenschliche Solidarität. Damit „entspricht” das Nächstenrecht dem Gottesrecht; es ahmt absolute Gerechtigkeit in irdischer Gerechtigkeit nach.
Auch hier hat Christus in seiner Weisung diesen Sachverhalt offenbart und somit existentiell ermöglicht. Denn in Christus verbinden sich die Vertikale der Gottesherrschaft und die Horizontale der Bruderschaft. „Lex est lux”7. Wahres Nächstenrecht ist von Christus ermöglicht, weil in ihm Gott des Menschen Bruder geworden ist.
Die Analogie von Gottesrecht und Nächstenrecht führt also zu zwei materialen Rechtsgrundsätzen: Personalität und Solidarität. Sie sind die Verfassung der Christokratie und der Bruderschaft.
Was vor Gott Recht ist, soll auch für Menschen Recht sein8: Die rechtstheologische Dialektik von Personalität und Solidarität heischt „entsprechende” Anerkennung auf der Ebene des menschlichen Rechts. Sie fordert vom menschlichen Recht vor allem, daß der Gottesbezug
6) RGG III 1074 f., EStL 831; Ernst Wolf II
198, 202.
7) Zwingli 175, OdK 460, StLex V 968 (Zwingli), RuL
495.
8) Der „Glaube, der Recht bezeugt und Recht
verkündigt”, OdK VI, Grundmann ThLZ 1962 338.
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nicht angetastet wird. Der Antwortcharakter menschlicher Existenz, ihre „Freiheit”, muß auch im menschlichen Recht gewährleistet sein. Gott will sein absolutes Recht im relativen Recht respektiert wissen9.
Für die Rechtsphilosophie darf gefolgert werden, daß auch sie nicht mehr in der Diastase verharrt, sondern an der Entsprechung des menschlichen Rechts teilhat. Dies wird aber erst später explizit.
Das dritte Stadium trägt den doppelten Titel „Ordnung der Liebe” und „Ordnung der Gnade”. Das bisherige Gottes- und Nächstenrecht wird nun zum Recht der Liebe fortentwickelt und in der theologischen Anthropologie („Theanthropologie”) des Rechts verankert: Gottes-und Nächstenrecht sind dialektisch geeint im Liebesrecht. Der Zug zur Analogie verstärkt sich. „Das Nächstenverhältnis ,ist’ das Gottesverhältnis”10.
9) Vgl. die oben 30732 angegebenen
Stellen; zu den rechtstheologischen Existentialien der φιλία:
ARSP 1960 93; der Partnerschaft: RdN 27, OdL 13, PuS 192 nach A.
Schwan FS A. Betz 215 ff.; der Freiheit: RbW 70 f., 75, RdN 14,
RuL 495; der Personalität und Solidarität (Sozialität): RdN 16
ff., RGG V 854 f., NAR 149 f. (und GR II 139), PuS 192 ff., 201
ff., NRL 195, PR 134; zu letzterer auch Ernst Wolf 1961 85 ff.,
II 255 ff.; Sozialität als „die Gesinnung einer brüderlichen
Solidarität alles Lebendigen”: Montaigne 641. In GuN 642 spricht
Wolf nur von der Personalität als Verantwortlichkeit vor Gott und
„entsprechend” für den Menschen.
10) Aber es bleibt bei der Glaubensanalogie: Nur im
Glauben ist dieses Liebesrecht wahrhaft vollziehbar, RdN 32, RGG
V 854, OdL 9, 13 f., 18 f. — mit der Folge, daß das Liebesrecht
ein Erkenntnismittel für Naturrecht, aber nicht (scil. profanes)
Naturrecht ist, sondern Glaubensrecht (vgl. DO 59, OdL 19 A. 39),
das aber gleichwohl, vom Anspruch Christi her gesehen, auch für
den Nichtchristen gilt (RdN 34), d.h. zum geistlichen Ereignis
werden kann (s.u. 420 f.). — Das Liebesrecht findet sich in RuL
(1962), OdL und PuS (1963), GuN (1964) und zuletzt in PR (1966).
Zum folgenden vgl. OdK 467 A. 9, RuL 479-500, GuN 642, EStL 1032
und die folgenden Anmerkungen. Ebd. auch „Recht des Nächsten”
i.w.S. (d.h. einschließlich des Gottesrechts); „Liebesordnung”
(i.e.S. = Nächstenrecht i.e.S.) zuerst RGG II 1332. — Zwar baut
RuL direkt auf RdN auf (und findet sich unausgesprochen in
wichtigen Punkten bei J. Fuchs 1963 218 ff. wieder!!, nur der
Rechtscharakter der Liebe bleibt undeutlich); aber die Struktur
als Liebes- und Gnadenrecht wird in RuL erstmals explizit (anders
A. Auer FS Messner 116 f.). — Wolf beruft sich ausdrücklich auf
die innere Übereinstimmung mit Heckels Lex charitatis (RdN 52 A.
2, RuL 496 f., 499, PuS 202, PR 151). Der Titel „Ordnung der
Liebe” ist Augustin (EStL 1032; dazu K. Demmer passim, Augustins
ordo amoris z.B. in De civ. Dei PL 41 467), Thomas von
Aquin (RuL 485; STh II/2 q 26 a 1, a 6, a 13; q 44 a 8) und M.
Scheler (PuS 191) entnommen. Er kommt auch sonst in der
Scholastik vor, vgl. für Johannes von Rupellas (augustinische)
lex caritatis W. Steinmüller 414.
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Liebe wird nun genauer als bisher umschrieben. Zunächst wird jede immanente Deutung abgewiesen. Liebe ist weder philosophische Idee noch biologisches Faktum, weder Ausfluß individualistischer Autonomie (im Sinne Kants) noch egoistische Eigenliebe, weder Eros noch philanthropische „Caritas”.
Vielmehr kann Liebe nur theologisch bestimmt werden: „Gott ist die Liebe.” Sie ist Attribut Gottes, gnädiges Gericht und richtende Gnade. „Entsprechend” ist jede Nächstenliebe in Gottes Weisung begründet. So kann das ganze Neue Testament als Liebesordnung bezeichnet werden. Die analoge Einheit von Gottes-, Nächsten- und Selbstliebe kommt im „Großen Gebot” der Gottes- und Nächstenliebe zum Ausdruck: Wahre Agape ist nur aus und in der Gottesliebe möglich. Nächstenliebe - das ist die Liebe, mit der Gott liebt!, sagt H. Bergson. Im Nächsten zeigt sich Gott, in der Gottesliebe weiß der Mensch um den Nächsten11.
Auch das Recht ist gottbegründet. Bezeichnend ist, daß das Recht als konkreter Bezug gesehen wird. Das eigentliche Rechtsverhältnis ist der Gottesbezug; das Gottes Verhältnis aber realisiert sich im Nächstenverhältnis, ja „ist” das Nächsten Verhältnis12. Die dialektisch-analoge Einheit von Gottes- und Nächstenrecht, von theologischer und menschlicher Existenz-im-Recht gründet also im Nächstenverhältnis.
Das Nächstenverhältnis ist nun Grund und Mitte des Rechts. Jetzt wird das Ich zum einen Pol der Dialektik des Wir. Das Ich kann nur gedacht werden, weil es das Du gibt; diese alteritas „ist” die Ordnung des Wir — das Recht des Nächsten. Es ist ontologisch vorgegeben und ethisch aufgegeben. Das Nächstenverhältnis ist immer schon Rechtsverhältnis. Wer „personal” das Gottesrecht achtet, übt „solidarisches” Nächstenrecht. Die vertikal-horizontale Personalität in der Solidarität ist die „Ordnung der Liebe”13.
11) WdR 259, RdN 31 m. A. 14 f., RuL 482 ff.,
486 ff., NAR 144, PuS 193 f., OdL 10, 13, 26.
12) Dazu K. Rahner über die Nächstenliebe als primären
Akt der Gottesliebe, GuL 1965 168 ff. (183 f.)!
13) RdN 11, 27 f., RGG IV 1353, V 853 ff., PuS 191,
OdL 23.
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Recht und Liebe sind also dialektisch eins. Liebe ohne Recht ist ungeordnete Liebe, Recht ohne Liebe ist liebloses, d.h. aber ungerechtes Recht14. Liebe und Recht gehören existentiell zusammen, fordern und ergänzen einander. Sie sind „gegenläufig”: Liebe macht das Recht zum Recht und Recht ordnet die Liebe zum ordo caritatis.
In der Begründung dieser Sätze verbinden sich rechtstheologische und rechtsphilosophische Erwägungen sowohl systematischer als auch historischer Art.
Rechtstheologisch ist das Nächstenverhältnis historisch fundiert im alttestamentlichen Gottesbund und in der neutestamentlichen Gemeinde. Der Gottesbund ist aus Liebe; sein Inhalt ist Gerechtigkeit und Gemeinschaft; er verlangt menschliche Rechtspflege als Liebesamt. Die hebräische Sprache zeigt das Ineinander von Recht und Liebe: Das Wort sedaqa ist nicht „Gesetzesgerechtigkeit”, die tora nicht „Gesetz” (konstitutive Satzung), sondern Rechtsweisung (direktives Gebot) aus Gnade.
Ebenso ist die neutestamentliche Gemeinde in der Ordnung der Liebe verfaßt: Die Liebe Christi auf erbaut das Gefüge der Gemeinde zu ihrer eigentlichen Verfassung15.
Systematisch ist die dialektische Einheit von Recht und Liebe begründet im Wort Gottes und deshalb „analog” im Nächsten Verhältnis. Das ist zunächst die Meinung wichtiger Zeugen gemeinchristlicher Tradition16.
14) Insoweit a. M. J. Fuchs 1963 225 mit der
bisher h. M.; wie Wolf aber Thomas von Aquin (In Mt 5.2 — zur
Bergrede!): Iustitia sine misericordia crudelitas est;
misericordia sine iustitia mater est dissolutionis (zit. bei
F. Elsener 189).
15) PuS 191 (nach K. Barth KD IV/2 718 ff.), 195
f.
16) Wolf nennt (RuL ebd.) von den „Alten” Augustin
(die „Gerechtigkeit” ist Liebe, die Gott dient) und Thomas (wie
in der Gottes- die Nächstenliebe enthalten ist, so im Gottes- der
Nächstendienst, der jedem das Geschuldete gibt) einerseits,
Luther (ausweislich J. Heckels Lex Charitatis!) und
Calvin (das Gebot der Liebe ist Richtschnur der Gerechtigkeit)
andererseits; von den modernen Autoren die Katholiken B. Häring
(Recht und Liebe stehen nicht im Gegensatz) und J. Höffner
(sondern ergänzen sich), den Lutheraner E. Schlink
(„eigentümliches Ineinander”) und die Reformierten B. Nagy und K.
Barth (Nächstenliebe als Dienstordnung).
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Wichtig ist hier Wolfs eigene Ansicht: Das Gottesverhältnis — entsprechend das Nächstenverhältnis — ist einerseits unzweifelhaft ein Verhältnis der Agape, zugleich aber sind beide Dienst-und also Rechtsverhältnisse. Das Gottesrecht gebietet Nächstenliebe, die Liebe Christi fordert Gehorsam gegenüber dem Gottesrecht. Gottes- und Nächstenliebe sind notwendiger „Teil” des Gottesrechts17.
Natürlich ist die Forderung Gottes unendlich; es ist „alles geschuldet” (R. Bultmann), und nie vermag der Mensch Gott Genüge zu tun, und entsprechend auch nicht dem Nächsten. Doch ist das kein zureichender Grund, die Rechtsqualität des Gottesbezuges zu leugnen. Denn Gott anerkennt die objektiv unzureichende Erfüllung und läßt sie genug sein.
Auch rechtshistorisch und ideengeschichtlich sind Recht und Liebe im religiösen Ursprung eins. Was heute noch Liebe und „Gnade vor Recht” ist, erstarkt morgen zur Rechtsübung (P. Gillet)18.
Rechtssystematisch gilt deshalb: Liebe ist Grund, Grenze und Mitte des Rechts, Liebe und Recht sind (auch rechtsphilosophisch) in ihrer Entsprechung dialektisch eins. Der Ort dieses Miteinander ist die Nächstenschaft.
Liebe ist Grund des Rechts, und Recht vollendet sich nur in der Liebe. Recht ist nur geordnet in bezug auf die Liebe. Als Ordnung des Wir ist Nächstenrecht stets Ordnung der Liebe. Als Ordnung der Liebe fordert Nächstenrecht immer die Liebe zur Ordnung. Wird das Nächstenrecht aus der Gottesliebe entlassen, so wird es lieblos und fällt den Dämonen anheim; Personalität und Solidarität verkümmern, die Freiheit des einmaligen Du wird eingeengt, die Fürsorge entartet zum Mittel der Herrschaft; Billigkeit, Milde und Ausgleich als die eine Seite des Rechts verschwinden. Wird die Nächstenliebe „rechtsfrei”, so verfällt sie der Schwärmerei; die andere Seite des Rechts: Sicherheit, Stetigkeit und Gleichheit, wird verkannt.
17) Eine ähnliche „Verschränkung” von Gottes-
und Nächstenliebe und -recht ist auch das Ergebnis bei B.
Schüller 335 f.
18) RdN 38 A. 16, PuS 202 f., OdL 10 f., GRD 145; zur
fortschreitenden Humanisierung des Rechts: PR 131.
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Liebe ist Grenze des Rechts — davon braucht nicht viel gesprochen zu werden. Allzu ausschließlich hatte man nur diesen Aspekt der Dialektik beachtet, sei es, daß man Liebe und Recht im Kampf wähnte oder Liebe als Überwindung des Rechts ansah (W. Schönfeld, I. Kant), sei es, daß man Liebe dem Recht überordnete als seine Vollendung (E. Brunner, F. Tillmann). Aber wer wollte Gottes letztes Gericht höher achten als seine Liebe? Ist nicht seine Liebe auch „forensische” iustitia und also juristische?
Liebe ist Mitte des Rechts. Ein letztes Mal wird der Rechtsbegriff genauer erläutert. Wenn Liebe der Kern des Rechts ist, dann ist es fortan — auch für Theologen — unmöglich, den Zwangscharakter des Rechts zu behaupten. Liebloses Recht ist Unrecht, rechtlose Liebe ist ungeordnet, wie schon einmal betont wurde. Es gibt kein Rechtsverhältnis ohne Liebe, und das Liebesverhältnis ist rechtlich geordnet. Damit wird auch (neben den positivistischen) dem subjektivistischen Rechtsbegriff der Boden entzogen, der nur klagbare Ansprüche als Recht zu erkennen vermag. Dieses Recht kennt keine (durchsetzbaren) „Ansprüche”!, nur Pflichten und Lasten.
In drei Weisungen nach Art der alten Rechtsprüche umschreibt Wolf den Inhalt der personalen Solidarität des Liebesrechts (und lehnt sich damit an die nachreformatorische lutherische Naturrechtslehre an): Im Recht lassen! Einander Recht geben! Sein Recht erwarten!
Daraus leitet Wolf eine Fülle von Einzelweisungen ab, wie z.B.: Nicht über den Nächsten herrschen! Zwangsweise Rechtsdurchsetzung vermeiden! Auf gesetzlich zulässige Selbsthilfe verzichten! Sie tragen aber nicht deduktiv-normativen Charakter, sondern sind Rechtsgrundsätze und Leitlinien, die sich an die Gesinnung wenden und so für das übrige Recht regulativ und direktiv wirken19.
19) Näheres vgl. RbW 15, 29, 34, 46, RO 325, RgK 259, BW 773, 776 ff., NAR 150, OdL 23, und besonders RdN 24 ff., PuS 203 ff. (wobei zu ergänzen ist, daß die ➝
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Ausführlich setzt sich Wolf mit den theologischen und juristischen Einwendungen gegen das Liebesrecht auseinander. Nur das Notwendigste soll referiert werden.
Der Theologe wird zunächst darauf hinweisen, daß die Dialektik von Gesetz und Evangelium nicht beachtet sei. Aber das alttestamentliche Gesetz war ja gar nicht nur „Gesetz”, sondern Gnadenakt und direktives Gebot (jedenfalls wenn man es von der lex Christi her versteht, die eine lex caritatis ist). Außerdem ist die Gleichsetzung von juristischem Recht und theologischem Gesetz höchst zweifelhaft. Sie beruht auf dem überholten positivistischen Gesetzesbegriff des 19. Jahrhunderts.
Das gleiche entgegnet Wolf auf den Vorwurf, hier werde die Gottesliebe verrechtlicht. Außerdem: Warum sollte Gott nur in der Liebe wirken, nicht im Recht?! Für manche ist freilich „Liebe” der autonome Akt des isolierten Individuums, der dem heteronomen „Recht” von vornherein sittlich überlegen ist. Dieser Kantianismus verbindet sich obendrein nicht selten mit der Unterscheidung von Evangelium und Gesetz, die dadurch eine auch rechtsphilosophische Schein-Evidenz erhält.
Der Jurist wird die Verkehrung seines Rechtsbegriffs behaupten — womit er recht hat, aber eben nur unter der Voraussetzung des normativ-positivistischen Rechtsbegriffs, der hier gerade überwunden ist20.
Der Theologe und der Jurist verbünden sich schließlich in der Behauptung, hier werde die Trennung von Gnade und Recht mißachtet. Soweit damit nicht das gleiche gemeint ist wie mit der „Verrechtlichung der Liebe”, antwortet Wolf mit der doppelten Dialektik von Gnade und Recht auf der theologischen und „entsprechend” auf der philosophischen Ebene.
➝ lex charitatis auch um des andern oder der
Rechtsordnung willen das Bestehen auf dem eigenen Recht verlangen
kann, RdN 27, K. Barth KD III/4 787, P. Althaus 1965 79 f., J.
Fuchs 1963 225 f.). — Aus der gesamten ethischen Tradition des
Abendlandes nimmt Wolf die Anregungen für die Weisungen des
Liebes- und Nächstenrechts: Platon, Aristoteles, Augustin,
Thomas, Luther, Calvin, Schelling, Kierkegaard, K. Barth, R.
Guardini, M. Buber, H. Cohen, E. Grisebach, J. Heckel, um nur die
wichtigsten zu nennen; vgl. aber auch zu den Billigkeitsregeln J.
Oldendorps GRD 151 ff. Ähnlich übrigens J. Fuchs ebd. 212 f., 225
f.
20) PuS 193 f., OdL 13 ff.; z.B. H. Welzel 1962 232 A.
82 zum RdN!
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Rechtstheologisch können (theologische) Gnade und Recht in der Tat nicht getrennt werden. Mit E. Schlink ist vielmehr ihre wesensmäßige Zusammengehörigkeit in Gott zu betonen. Im gerechtmachenden Gericht wird Gnade im Recht zugesprochen. Recht ist richtende Gnade (Christi). Gericht und Gnade sind darum dialektisch eins: Deus iudex est deus iustus. Der theologische Gerechtigkeitsbegriff der iustitia salutifera zeigt den Rechtscharakter der Gnade und den Gnadencharakter des Rechts. Recht und Gnade dürfen gleichwohl nicht identifiziert werden. Sowohl Verrechtlichung der Gnade (in dem Sinne, daß die Gnade geschuldet sei) wie „antinomistische” Auflösung des Rechts in reine Gnade sind unhaltbar.
Die Ordnung der Gnade Gottes gibt die bisher noch ausstehende Begründung für die Entsprechung von Gottesrecht und Menschenrecht. Sie sind aufeinander bezogen, weil Gott dem Menschen zuerst sein Recht gegeben hat.
Das „Entsprechende” ist unter rechtsphilosophischem Aspekt zu sagen. (Juristische) Gnade ist nicht Aufhebung oder Durchbrechung des Rechts; Recht und Gnade sind also nicht zu scheiden. Ihr Ineinander darf aber auch nicht undialektisch aufgelöst werden, sei es, daß man das Recht in der Gnade (G. Radbruch) oder die Gnade im Recht (H. Coing) aufgehen läßt21: Recht ist richtende Gnade — auch hier.
Deshalb ist die gegenwärtige Überfülle strafrechtlicher „Gnadenakte” nicht rechtens; hier wird Gnade zu Unrecht erteilt. Das gleiche gilt für die ständige Ausweitung angeblich rechtsfreien Ermessens.
Abschließend warnt Wolf davor, die Möglichkeit, ja Notwendigkeit von Konflikten zu übersehen. Die Spannungseinheit von Liebe und Recht, Recht und Gnade muß erkämpft werden: Eine vollständige Harmonisierung ist unmöglich22.
Die wechselnde Bedeutung des Geschichtlichen bestätigt die allgemeine rechtsphilosophische Entwicklung. Stets wird bloße Historie von
21) Diese Thesen, deren formale Nähe zu Dombois
immerhin auffällig ist, hat Wolf leider nicht näher
ausgeführt.
22) PuS 194, GuN 643, 646, PR 153 ff.; gegen R.
Guardini, W. Schönfeld, E. Brunner; anders (Gnade „über” dem
Recht) noch GR I 45, III/2 254.
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der „eigentlichen” Geschichte abgehoben, immer deutlicher auch die Menschengeschichte von der (naturwissenschaftlich-)linearen Zeitvorstellung getrennt. Stets fragt Wolf nach dem „sinngebenden Prinzip” der Geschichte, das sie legitimiert und aus der bloßen Faktizität heraushebt.
In der neukantianischen Zeit Wolfs ist Geschichte die „Verschlingung” von Real- und Ideengeschichte in der Kulturgeschichte, die ganzheitlich als „Gestaltgeschichte” interpretiert wird. Das entspricht dem Dualismus von Sein und Wert (Sein hier als empirische Realität verstanden). Die Idee, die „überzeitlichen Werte” legitimieren die Geschichte, der Rechtswert der Gerechtigkeit das positive Recht; Gott ist der Herr der Geschichte, im historischen Geschehen faßbar1.
In der ersten existentiellen Periode wird die Realgeschichte betont. Denn das einzig Konkrete ist die Existenz. Das wirklich Seiende genießt den Vorrang vor den bloßen Ideen2. Der Einfluß M. Heideggers verbindet sich mit der im Kirchenkampf vordringenden Worttheologie zum Gedanken der Geschichtlichkeit christlicher Existenz. An die Stelle des Wertes und der Idee tritt der objektive Geist als Sinnmitte der geschichtlichen Existenz.
Nun ist alles Gegenwärtige nur „geschichtlich” zu verstehen, alles Geschichtliche nur als gegenwärtig Anwesendes. Denn Geschichtlichkeit ist das „Sinnvolle”, das „Bleibende” im Vergänglichen. Es ist das Wesen des immer gegenwärtigen Geistes; Geschichte nämlich als „verfügender Anfang” (M. Heidegger) und „geistiger Ursprung” (i.S. W. Jaegers); „verbindliche, unablässige Gegenwart”, „über uns hinausgreifende Zukunft”. Geschichtlichkeit ist also der verpflichtende Charakter des Seins (jetzt im metaphysischen Sinn), der in gegenwärtiger Vergangenheit gestiftet, in verpflichtender Gegenwart erfahren, in über uns verfügender Zukunft gegenwärtig wird. Das ist die geschichtliche „Lage” des
1) S.o. Exkurs VIII 399 f.; ReG 254, RichtR 26,
ferner RbW 19, GR I 11; DO 57 eingeordnet als Aspekt christlicher
Existenz.
2) Reich 35, Dt.RDenken 39 (geändert GRD 533).
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Menschen, seine konkrete Befindlichkeit und ontologische „Ortung”. Geschichtlichkeit des Seins selbst ist damit ausgesagt, nicht nur geschichtliche Verwirklichung eines Übergeschichtlichen3.
Das Recht ist in dieser Sicht „Seinsrecht”, menschliches Sein-im-Recht. Es ist der tragende Grund und die „richtende Richtung” der geschichtlichen Existenz und deshalb selbst nur geschichtlich zu verstehen. Denn Geschichtlichkeit ist im Wesen Verbindlichkeit, und Verbindlichkeit ist das Wesen des Rechts. Wirklich verbindlich ist aber nur das Mit- und Füreinandersein der menschlichen Existenz.
Geschichtlichkeit und Existentialität des Rechts sind damit zwei Seiten derselben Sache.
Deshalb heißt geschichtliches Recht nicht nur zeitgebundenes Recht — das auch —, sondern Recht ist überhaupt nur geschichtlich greifbar, was aber zugleich heißt, daß es Recht nur ist im Aufbruch zur Gerechtigkeit. In der lebendigen Existenz des Rechts muß Gerechtigkeit je und je Ereignis werden. Recht ist so dauernd in Entwicklung und Umgestaltung: Recht ist nur im Werden faßbar. Damit wird es ungemein dynamisch, veränderlich und vom Verfall bedroht, so daß es nur noch von der Gerechtigkeit her im Recht-Sein gehalten und als Recht an-erkannt wird.
Das ist nicht so aktualistisch, wie es klingt; die gegenwärtige Geschichtlichkeit des gestifteten verpflichtenden Anfangs verlangt „nichts Gewordenes unbeachtet zu lassen, keine gewachsene Stufe zu überspringen”, die Kontinuität des Rechts zu wahren, wo es legitim entstanden ist, und nur behutsam Bestehendes zu verändern. Denn „wirkliches Recht muß eine gewachsene und gelebte Ordnung sein”.
Das Recht ist untrennbar mit dem Sein des Menschen verbunden; deshalb ist das geschichtliche Problem des Rechts unerschöpflich, solange es auf Erden Menschen gibt. Nie ist es ganz verloren, stets muß es neu erkämpft werden, wie die Dichter aller Zeiten bekundet haben4.
3) ZStaatW 1941/42 187, WdR 286, GR I 10 ff.
(1946), 71, 223 ff., III/2 11 ff. („Grundbestimmung des
Menschen”), OdK 151, GRD IV, NRL 198. Zur einmaligen
geschichtlichen „Lage” vgl. GR III/2 115 ff., RdN 14, OdK 9, 19,
NRL 198; zur Dialektik von „Ortung” und Ordnung des Rechts RdN
19, 21, 45 A. 10, OdK 10, 27 f., RGG V 854, NAR 144, NRL 121 A.
623, 198.
4) KuR 355, ReG (5) 250 ff., Stifter 126-130, WdR 5,
10 f., 31 f., 230, RbW 14, 74, GR I 7, 10 f., 13, 121 ff., III/l
44, III/2 14 ff., OdK 15, QR 38; vgl. wieder PR 134 „Glauben, daß
Menschsein (nur) im Recht und für das Recht wesenhaft ist, wahres
Rechtsein aber (auch) menschlich sein muß”; PR 145 Recht als Gabe
und Aufgabe; RGG V 851 (ß) „gegenwärtig geltend, Vergangenes
bewahrend, Zukünftiges ➝
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Unter der Herrschaft der Rechtstheologie wird die existentialistische Interpretation der Geschichte nur langsam überwunden; das wird erst in „Ordnung der Kirche” praktisch erreicht und in „Das Problem einer Rechtsanthropologie” theoretisch begründet.
Zunächst tritt einfach die Theologie vor die Philosophie, die Geschichte und das Recht und relativiert sie alle. Der ethische (nicht prinzipielle!) Wertrelativismus G. Radbruchs erfährt nun seine theologische Begründung. Nur das Zerbrechen (S. Kierkegaard) jeder Rechtsphilosophie ist angesichts des absoluten Anderen (K. Barth) theologisch legitim. Jede philosophische Aussage über das Recht und seine Geschichtlichkeit hat in der Rechtstheologie nur relative Berechtigung, nicht mehr. Jede ist prinzipiell gleichberechtigt, wenn sie sich nur überhaupt theologisch rechtfertigen läßt. Es bleibt also rechtsphilosophisch gesehen scheinbar alles beim alten.
Aber der theologische Ansatz entfaltet allmählich seine philosophischen Implikationen. Die Relativierung der Rechtsphilosophie zeigt sich im Nebeneinander von existentialen, wertphilosophischen, hegelianischen und platonisierenden Aussagen. Auch die „ereignishafte” Interpretation des geschichtlichen Rechts läßt sich nicht halten: „Pneumatisierung” zerstört die Ordnung der Kirche; sie ist zutiefst ungeschichtlich. Geschichtliches Recht steht in der Urdialektik von Ereignis und Institution. Es ist eingebunden in die dreifache Geschichtlichkeit des Daseins. Als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft begründet und begrenzt Geschichte das Recht. Recht lebt von der Tradition, gründet in der Gegenwart, weist in die Zukunft; Recht besteht in den Schranken der Geschichte. Es ist gehalten, die Überlieferung nicht gering zu achten, die soziologischen Gegebenheiten der Gegenwart zu sehen und seine eigene stete Reformbedürftigkeit zu berücksichtigen. Neben
➝ entwerfend”. Aus dieser Verantwortung vor der Tradition glaubt Wolf, daß nur „in äußerster Not . . . der feste Rechtsboden der überlieferten Ordnung verlassen” werden darf (Gutachten 181 ff. [193]); vgl. die ruhig abwägende Stellungnahme „zur rechtlichen Neugestaltung der Kirche” (JK 1936 1072 ff., und dazu GrundO 178).
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wandelbaren Normen gibt es unwandelbare Rechtsgrundsätze, neben veränderlichen Rechtsinstitutionen auch unveränderliche; auch die gleichbleibenden Grundfragen des Rechts werden jeder Generation neu gestellt.
Trotz der Rangminderung bleibt es bei der Geschichtlichkeit des Rechts; aber sie ist zur immanenten Geschichtlichkeit geworden, die im absoluten Abstand zur Transzendenz steht und darum der theologischen Abwertung unterliegt. Die Geschichtlichkeit des Rechts als Verbindlichkeit des Seins ist zuletzt unverbindlich geworden. Kein idealistisches oder existentialistisches Ideal vermag ihr Leben einzuhauchen. Auch die Idee der Gerechtigkeit bleibt formal und unverantwortet, wenn sie nicht theologisch begründet, begrenzt und geleitet ist.
Als allein legitimierendes Prinzip der Geschichte erscheint nun — erst in „Ordnung der Kirche” genannt! — die Heilsgeschichte. Sie verhält sich zur Geschichtlichkeit, wie die Theologie zur Philosophie, wie die absolute Transzendenz zur Immanenz. Sie ist der Einbruch der Gottesgnade „senkrecht von oben” in die Geschichte, der sie ergreift, verwandelt und „nach oben” ausrichtet und ausrüstet zum Aufbruch in die Transzendenz.
Heilsgeschichte und Geschichte werden also verbunden in der Dialektik christlicher Existenz. Sie bilden eine „unscheidbare Einheit”: in der „Vorgeschichte als wartender Bund im Alten Testament, Gegenwartsgeschichte als missionierender Bund im Neuen Testament, Endgeschichte als verherrlichte Kirche im Eschaton (R. Prenter)”. Die Dialektik der (Heils-)Geschichte kann näher bestimmt werden. Sie enthält die abbildende repraesentatio des heilsgeschichtlichen Gottesreichs im geschichtlichen Volk Gottes, die „Eschatologie” in der Geschichte, die vor Gott verantwortliche christliche Existenz als den „geschichtlichen Ort der Erscheinung des zukünftigen Reichs Gottes”. Geschichte ist nur legitimiert von der Heilsgeschichte her.
Das Kirchenrecht wird so zum heilsgeschichtlich gerechtfertigten geschichtlichen Recht. Es ist, erstens, „von oben”, d.h. heilsgeschichtlich-transzendentes Recht: Es gründet im verpflichtenden Anfang der Gottesgemeinde des Alten und Neuen Bundes, oder anders, in der biblischen
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Weisung; es ist gegenwärtiger Anspruch im Gottesdienst, oder anders, im bekennenden Recht; es ist eschatologisch gerichtet auf die johanneische Ordnung der ökumenischen Kirche, oder anders, als verwirklichte Christokratie und Bruderschaft im Reich Gottes.
Es ist, zweitens, geschichtliches Recht, denn es hat teil an der Geschichtlichkeit der Kirche in der Welt; es ist mit juristischer Technik zu fassen, weist die sachlogischen Strukturen jeden Rechts auf, existiert in der Vorläufigkeit dieses Äons.
Es ist, drittens, „nach oben”, transzendierendes Recht, denn es weist auf seinen transzendenten Ursprung und sein eschatologisch.es Ziel hin und wird so für den, der Augen hat zu sehen, zum vorbildlichen Recht5.
Diese heilsgeschichtlich-geschichtliche Rechtsauffassung greift also zunächst das aktualistische Geschichtsverständnis K. Barths auf6, mildert es aber durch die Urdialektik von Institution und Ereignis. Das geschichtliche Recht ist auch Tradition und Institution. Es ist Geschichte und Geschehen, Gegebenheit und Aufgabe — eine wichtige juristische Ergänzung zur Theologie K. Barths.
Durchgängig bezeichnet Erik Wolf das Nächsten- und Liebesrecht als Rechtstheologie1. Gleichwohl nimmt er zweimal an zentraler Stelle rechtsphilosophische Erwägungen zur Hilfe: Auch die Rechtsphilosophie erweise, daß Recht und Liebe, Recht und Gnade dialektisch verbunden sind2. Ist also das Liebesrecht eine Rechtsphilosophie oder eine Rechtstheologie?
5) RbW 18 ff., Fragw. 14, 24 f., MuR 353, BW
775, GR II 103, OdK V, 12 ff., 28 f., 152 ff., 499, OdL 7, 11 A.
11, 15; R. Prenter RGG III 1313. Wenn aber von „Überzeitlichkeit”
der b. W. gesprochen wird (s. o. 321 f.), dann ist nicht die
immanente Idealität eines Wertes gemeint, sondern die
transzendente Heilsgeschichtlichkeit.
6) Dazu s.u. Exkurs XII 534 f.
1) RGG V 854, NAR 149, RuL 479, 489, 492, 500, PuS
190, 194, 203. Ebenso Ernst Wolf, der aber zugleich auf seine
rechtsphilosophische Vorbildlichkeit hinweist (II 197 f.); noch
einen Schritt weiter geht J. Fuchs, der vom theologischen und
philosophischen Verständnis seines innerlich so verwandten
christologischen Rechtsentwurfs spricht (1963 226).
2) Oben 407-413, RuL 491 ff. (Rechtsanalyse des
Almosens — vgl. J. Fuchs 1963 224!), GuN (Rechtsanalyse des
Weinberggleichnisses Mt 20.1-16).
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Von der Methode her ist das Liebesrecht eindeutig eine Rechtstheologie. Es ist durch theologische Erwägungen gewonnen, mit biblischer Weisung begründet und nur dem Glaubenden letztlich einsichtig.
Gleichwohl widerspricht es nicht rechtsphilosophischen Erkenntnissen, ja es stellt selbst eine Rechtsontologie und -ethik dar. Die obersten Rechtsgrundsätze, Personalität und Solidarität, sind durch Glaubensanalogie gewonnene und aus rechtstheologischen Prämissen abgeleitete, material aber rechtsphilosophische Erkenntnisse. Es ist eine Frage des Standpunktes, ob man das Liebesrecht (ratione essendi) der Rechtsphilosophie oder (ratione cognoscendi) der Rechtstheologie oder schließlich vielleicht sogar beiden zuzählen soll — vorausgesetzt, daß man überhaupt anerkennt, daß material philosophische Erkenntnisse auf theologischem Wege gewonnen werden können.
Aber warum wertet Wolf das Nächsten- und Liebesrecht ausschließlich als rechtstheologischen Ansatz? Der Grund dürfte — neben der von der Methode bestimmten Blickrichtung — darin liegen, daß Wolf keiner Rechtsphilosophie eine theologische Legitimation zuzugestehen vermag, da jedes menschliche Recht immer schon von Gottes Recht auf den Menschen als vorläufig und gerichtet entlarvt ist3. Mit anderen Worten: Wolf lehnt jede Rechtsphilosophie ab, die den Anspruch erhebt, „von unten nach oben” letzte Lösungen zu bieten.
Es stünde aber nichts dagegen, in der (rechtstheologisch = „von oben” begründeten) Rechtsphilosophie des Liebesrechts eine „rechtsgrundsätzliche” Rechtsphilosophie zu sehen, die jede andere (rechtsphilosophisch = „von unten" entworfene) Rechtsphilosophie begründet, begrenzt und normiert, wie nun kurz aus Wolf selbst nachgewiesen werden soll.
Die Ordnung der Liehe und Gnade ist die vorbildliche Ordnung des Rechts4. Wolf nennt das Liebesrecht nicht selbst „vorbildlich”. Aber in
3) Vgl. ThLZ 1957 67: Kategorien säkularer
Philosophie (z.B. „Natur”, „Geschichte”) sind keine
offenbarungstheologischen Einsichten und deshalb theologisch
unverbindlich; ebd. gegen jede „Vermischung” theologischen und
philosophischen Denkens.
4) Ebenso Ernst Wolf II 197 f. zum Recht des Nächsten,
in Anlehnung an das „vorbildliche”, „beispielgebende”,
„exemplarische” oder „paradigmatische” Kirchenrecht K.
Barths.
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zwei Aussagereihen kommt dieser Gedanke gleichwohl zum Ausdruck.
Die Ordnung der Liebe begrenzt und weist jedes andere menschliche Recht (sei es positives, Anspruchsrecht oder was sonst immer) — also auch jede Rechtsphilosophie. Das ist die erste Begründung5.
Sie wird vertieft in der zweiten, die sich vor allem in der „Theorie des Nächstenrechts” findet. Zunächst wird jedes „theoretische” Verständnis des Nächstenrechts abgewehrt. Es geht nicht um die Aufrichtung irgendeines neuen oder alten Rechtsideals, sei es immanent, sei es transzendent gedacht. „Es ist nicht Sache des Nächstenrechts, die verschiedenen . . . Rechtsideologien ideologisch zu bekämpfen.” Nur eines ist möglich: die „Vermenschlichung des Rechts”. Man muß exemplarisch existentielle Taten des Nächstenrechts setzen. „Existentielle exemplarische Ereignisse” des Nächstenrechts sind gefordert. „Der Liebe Tun” allein zählt.
Also ein aktualistischer oder pädagogischer Dezisionismus? Nichts weniger. Die „Ordnung” der Liebe meint dasjenige Tun, das sich aus der objektiven Rechtslage „dieser” konkreten Begegnung mit „diesem” Nächsten ergibt und „in” jeder beliebigen positiven Rechtsordnung realisiert werden kann6. „Der Liebe Tun” meint darüber hinaus diejenige rechtsphilosophische Struktur, die im bekennenden und beispielhaften Recht impliziert ist und in analogia fidei als die „beispielgebende Rechtsphilosophie” erkannt und in „entsprechender” menschlicher Rechtsordnung verwirklicht wird7.
Nun kann auch die Frage beantwortet werden, wie das Liebesrecht, das keine Ansprüche kennt, mit dem alltäglichen Recht und den „gängigen” Rechtsphilosophien zusammenstimmt, die ganz ohne Anspruch, Klage und zwangsweise Durchsetzung nicht auszukommen vermögen.
Die Antwort lautet: Das Liebes- und Gnadenrecht ist prinzipiell mit (fast) jeder Rechtstheorie und -praxis „vereinbar”; will sagen: es ist jedem Recht zur Verwirklichung sowohl ontologisch vor- wie ethisch
5) RdN 27 f., OdL 12, PuS 208 f. (RGG V 854),
PR 145-148. — Von dem üblichen Ternar fehlt also das „begründet
menschliche(s) Recht” (anders noch Stifter 128). Das ius
humanum wird „nicht bestätigt; vielmehr . . . von Grund aus
und immer neu in Frage” gestellt, OdL 19; anders für das
Kirchenrecht EStL 1032 und dann allgemein PR aaO.
6) Also wieder der usus spiritualis iuris
Heckels in der Rechtssprache Wolfs! — und keine geringe
Verwandtschaft zu echter Epikie bzw. aequitas.
7) PuS 206 ff.; ferner RdN 30 ff., 33 f. (2.), OdL 22
mit Hinweis auf Kierkegaard, PR 151; vorbereitet durch WdR
(passim).
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aufgegeben. Denn diese wahre Rechtsphilosophie der Agape ist (mit Kant zu sprechen) „transzendentale” Rechtsphilosophie; sie ist die Bedingung der Möglichkeit jeder legitimen Rechtsphilosophie.
Kraft ihrer theologischen Abkunft kann die „paradigmatische Rechtsphilosophie” des Nächstenrechts weder bestätigt noch widerlegt werden. Ihr Rechttun und Liebeshandeln ist „ewig gültig” in jedem zeitlich geltenden Recht. Wo die Ordnung der Liebe getan wird, erscheint jedes Recht relativiert. Wo sie verantwortlich und beispielhaft gedacht ist, wird jede Rechtslehre ihres absoluten Geltungsanspruchs entkleidet und hingewiesen auf ihre Quelle und ihr Ziel: die christliche Existenz und ihre eschatologische Vollendung.
Neben dieser „paradigmatischen Rechtsphilosophie” theologischer Abkunft und der eigentlichen Rechtstheologie hat Wolf auch selbst eine „philosophische” Rechtsphilosophie entwickelt, die er zunächst streng von der Rechtstheologie getrennt hält, bis er auch hier von der Diastase zur dialektischen Verbindung beider in der „Theanthropologie” des Rechts gelangt (1966).
Nach 1945 nimmt Wolf zunächst eine Haltung der ἐποχή ein: er verharrt gegenüber der „zünftigen” Rechtsphilosophie in kritischem Abstand. Denn mit dem von ihm so verehrten G. Radbruch teilt Wolf das tiefe Empfinden für die Relativität aller denkbaren Rechtsphilosophien, die ihren (Kierkegaardschen) Ursprung in der Paradoxie christlicher Existenz und in der immanenten Unlösbarkeit aller echten Rechtsprobleme hat. „Es ist noch sehr die Frage, ob Radbruchs Einsichten mit den gedanklichen Mitteln der überlieferten abendländischen Rechtsphilosophie überhaupt zu erschüttern sind.” Nur allmählich wendet Wolf sich wieder der Rechtsphilosophie zu. „Ein sokratisches In-der-Frage-bleiben” verbindet sich mit dem „unbedingten Ernst der philosophischen Haltung”8.
8) GR I 7, RGG V 854, NAR 136, OdL 17, GRD 740, 756 f., Radbr. RPhil. 56, 73, 76, NRL 25 f., 201.
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Das wieder ansteigende Interesse läßt sich an einer merkwürdigen Parallele zur Rechtsphilosophie vor 1945 erkennen. Auf die fast spielerische Verwendung von Begriffen der neukantianischen Periode (in „Rechtsgedanke und biblische Weisung” 1948) folgt die Rekapitulation des anthropologisch-existentialen Ansatzes, den Wolf aber bald zur eigenständigen Konzeption einer Rechtsontologie weiterführt.
Das Recht ist also zunächst Funktion menschlicher Existenz, ein „soziales Urphänomen”. „Mensch sein heißt in der Welt des Rechts sein.” Ohne Recht ist er nicht Mensch; er ist „das im Recht lebende . . . Wesen”. Deshalb „begründen alle Wesenszüge des Menschen” zugleich das Recht, werden aber auch vom Recht begrenzt: Menschliche Wesenszüge sind Wesenszüge des Rechts9. Die Analogie zum rechtstheologischen Entwurf des Kirchenrechts als Funktion christlicher Existenz ist un-überhörbar, wenngleich die methodische Trennung strikt befolgt wird: Rechtstheologie ist ja „von oben” konzipiert und damit unabhängig von jeder immanenten Rechtsphilosophie.
Dann fragt Wolf „hinter” die existentiale Rechtsphilosophie, um wieder zu einem „offenen System” zu gelangen, das das relative Recht eines jeden bisherigen Ansatzes mit äußerster methodischer Strenge verbindet.
Wolf ordnet fürs erste die historisch aufgetretenen
Rechtsphilosophien gemäß den vier Grundfragen der Philosophie
ein, die auch immer Grundfragen der Rechtsphilosophie sind:
die Frage nach dem Sein des Rechts (Rechtsontologie),
nach dem Sollen des Rechts (Rechtsethik),
nach der Denkbarkeit des Rechts (Rechtslogik),
nach der Rechtfertigung des Rechts (Rechtsmetaphysik, die an die
Rechtstheologie grenzt).
Dadurch gewinnt er die Möglichkeit, jeder Rechtsphilosophie ihr relatives Recht zukommen zu lassen und zugleich keine zu verabsolutieren.
9) GR I 7, 71 f. u. ö., II 21 ff., Fragw. 24, PR 145 ff.; MuR 350-357 zählt Wolf als solche Wesensbestimmungen des Menschen auf: den Menschen als Natur-, Vernunft-, Geschichts-, Individual- und Sozial-, schließlich als religiöses Wesen.
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Zum zweiten hinterschreitet er die abendländische Rechtsphilosophie im Gefolge von M. Heidegger zugunsten einer Fundamental- und Regionalontologie des Rechts. Wie Heidegger „hinter” die Seinsfrage der abendländischen Metaphysik zurückgehen will, so Wolf „hinter” die Rechtsmetaphysik der traditionellen Rechtslehre. Diese Rechtsontologie verbindet Wolf mit einer vertieften Rechtsethik und reduziert damit die aufgezählten vier Grundansätze auf zwei: Die rechtsontologi-sche Frage umfaßt die Sach- und Denklogik des Rechts, die rechtsethische enthält auch die metaphysische Frage nach der Gerechtigkeit10.
Sollte dies das letzte Wort zur Sache sein?
Zerfallen Rechtstheologie und Rechtsphilosophie in zwei streng getrennte Bereiche, die nichts miteinander zu tun haben, in schroffem Gegensatz zur Entwicklung sonst, die überall von der zerbrechenden Dialektik zur versöhnenden Glaubensanalogie ging?
So schien es bis vor kurzem; jüngst aber ist auch in dieser zentralen Frage die — längst angekündigte — dialektisch-analoge Verbindung beider tatsächlich durchgeführt.
Rechtstheologie und Rechtsphilosophie verhalten sich wie Theologie und Rechtswissenschaft, oder, mit K. Barth, wie Theologie und Philosophie. Ihre strenge Scheidung wird nur „von oben” überwunden; erst im Lichte der Glaubensanalogie wird sichtbar, daß die Rechtstheologie die Rechtsphilosophie begründet, begrenzt und hinweist auf ihr Ziel, die Rechtseschatologie. Sie alle aber kommen in eins in der „Theanthropologie des Rechts”11.
10) RGG V 847 ff., NAR 142 f., Radbr. RPhil.
73, NRL 199 ff. (Verbindung von Naturrecht und Rechtsontologie!);
ferner GR I ff. passim, bes. I 218 ff. — wobei der grundlegende
Unterschied darin besteht, daß Wolf (wie auch W. Maihofer) das
Recht nicht in die Uneigentlichkeit des Man verbannt, sondern das
In-Ordnung-Sein (was mehr ist als das Als-Sein W. Maihofers, arg.
PR 136) als ein unabdingbares Konstituens des Menschen begreift
(vgl. schon ZStW 1936 158 ff.!; ferner A. Villani passim, bes.
396 zur Heideggerschen Unterschätzung „Griechischen
Rechtsdenkens” mit Hinweis auf Wolf) und dies mit der
theologischen Rechtsanthropologie begründet (PR 145 ff.).
11) ThuR 3, PR 152 ff.; 145 f.: „Wie kommt es, daß
Recht im Menschen und Menschliches im Recht ist, ohne daß der
Mensch Recht (recht) hat? Doch um so fragen zu können, bedarf es
eines neuen Ansatzes”: der „Rechts-Theanthropologie” (unter
Berufung auf K. Barth FS H. Barth 93, 106). Sie zeigt: „Es ist
die eine Rechtswahrheit, die Rechtsphilosoph und
Rechtstheolog erfragen, nur wird auf verschiedene ➝
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Ein Abschluß scheint damit erreicht zu sein. Zunächst standen sich absolutes göttliches und sündiges menschliches Recht unvereinbar gegenüber; darauf folgte die Betonung der Christokratie und Bruderschaft; nun sind beide Ansätze in der Rechts-Theanthropologie dialektisch vereint. „Von oben” kommt die rechtstheologische Struktur der Christokratie und Bruderschaft; „nach unten” trifft sie auf die „philosophische” Rechtsphilosophie Wolfs; „nach oben” enthüllt sie sich als die glaubensanaloge rechtstheologisch-philosophische Struktur des „the-anthropologischen” Liebesrechts.
Der bewunderungswürdige Bau einer vom Glauben her entworfenen „Rechtsphilosophie in der Rechtstheologie” ist nun nachgezeichnet. Er ist in sich vollendet, gerade weil er „offen” ist.
Erst der Blick auf die beiden anderen hier geschilderten Entwürfe der Rechtsbegründung zeigt die Größe dieser Konzeption. Sie will nicht weniger, als die Rechtsphilosophie mit der Rechtstheologie versöhnen, und nimmt es auf sich, die Spannung zwischen der „dialektischen” Theologie K. Barths und dem lutherischen Anliegen des ersten Glaubensartikels mit juristischen Mitteln zu bewältigen, ja sogar die katholische Denkform der analogia entis zu berücksichtigen — im Anliegen H. Dombois ähnlich, in der Durchführung völlig andere Wege beschreitend, im praktischen Ergebnis weithin gleich J. Heckel.
Von der Zweireichelehre Heckels und vom „Recht der Gnade” Dombois’ sind auch die Fragen bestimmt, die an das offene System Wolfs gerichtet werden können (ebenso wie Wolf seine Fragen an Heckel und Dombois richten kann).
➝ Art gefragt, und jeweils ist das Befragte ein anderes . . . Aus der theologischen Existenz(,) denkt ein das Verhältnis von Mensch und Recht Erfragender nicht aus dem Menschenverhältnis, sondern aus dem Gottesverhältnis . . . Er denkt den Menschen vom Schöpfer hin und wieder zurück: vertikal. Erst dann denkt er vom Geschöpf aus zum Geschöpf hin und wieder zurück: horizontal. Er denkt das Recht vom Recht Gottes auf den Menschen her und zurück: vertikal. Erst dann denkt er vom Recht des Menschen für und gegen den Mitmenschen aus und wieder zu ihm hin: horizontal. Er denkt die Entsprechung von Recht und Mensch nicht als ein vom Menschen zu sich selbst gesetztes Verhältnis, sondern als ein von Gott gesetztes — nicht umgekehrt und nie umkehrbar.”
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Die erste Frage geht von der Zweireichelehre aus, deren zweiter Teil, die Regimentenlehre, den theologischen Dualismus der Rechte der beiden Reiche begründet. Heckel vermag ohne weiteres, die relative Eigenbedeutung des weltlichen Rechts gegenüber dem geistlichen (als Werkzeug des weltlichen Regiments Gottes) verständlich zu machen. Kommt dies nicht in der Konzeption Wolfs zu kurz, in der unter dem Aspekt der Königsherrschaft Christi jedes menschliche Recht (der Kirche wie des Staates) gleichermaßen in der Gottesferne existiert und nur ununterschieden einen schwachen Abglanz des Gottesrechts zeigt12?
Von Dombois’ „Recht der Gnade” her wäre ergänzend zu prüfen, worin der Rechtscharakter der Gnade und der Gnadencharakter des Rechts im einzelnen besteht. Auch die Vereinbarkeit der vergleichsweise „statischen” Institution Wolfs mit seinem heilsgeschichtlich-geschichtlichen Recht wäre zu überlegen. Dann vermöchte vielleicht auch die Bedeutung der Soziologie nicht nur für die Kirche, sondern auch für ihr Recht deutlicher zu werden.
12) So BW 775 von jedem menschlichen Recht ohne Unterschied der Herkunft. Vgl. freilich oben 391 über den „relativen Vorsprung” des „vorbildlichen Rechts” der Kirche.