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9. Sätze des allgemeinen Kirchenrechts

 

 

Die gemeinschaftliche Gabe, welche wir in diesem Bande einem bewährten Freunde darbringen, ist einem Gelehrten gewidmet, der sein ganzes Leben hindurch der ökumenische Bewegung gedient hat. Sein Hauptantrieb hat unverkennbar immer im Bereich der Sozialethik gelegen. Aber er hat doch zugleich niemals die Bedeutung der Fragen aus den Augen verloren, die in „Faith and Order” zusammengefaßt sind. Dem entspricht es, wenn ich hier Erwägungen zu einem Thema des ökumenisches Kirchenrechts oder des Kirchenrechts in ökumenischer Sicht vorlege.

Von Kirchenrecht im ökumenischen Horizont kann man heute in dreifacher Weise sprechen:

Es hat sich die Auffassung, ja die Tatsache durchgesetzt, daß Kirchenrecht, recht verstanden, nur noch im ökumenischen Zusammenhang betrieben werden kann. Unzweifelhaft sind wir auf diesem Felde aus der alten Kontroverstheologie und dem heraus, was man komparative Ekklesiologie nennt, der vergleichenden Nebeneinanderstellung historischer Individualitäten, die sich letzten Endes dann doch nichts gegenseitig zu sagen haben. In zunehmendem Maße wird deutlich, in welchem Maße die Probleme ineinanderhängen, die sich in allen Kirchen, wenn auch in unterschiedlicher Gestalt, stellen. Ein Beleg dafür ist schon die Tatsache, daß die parallelen Systementwürfe, die Erik Wolf und ich fast gleichzeitig vorgelegt haben, sich nicht anders haben bezeichnen lassen.

Auf einer anderen Ebene stellt sich die Frage des ökumenischen Kirchenrechts in dem unabweisbaren Problem, wie sich der Ökumenische Rat der Kirchen und die konfessionellen Weltbünde kirchenrechtlich selbst zu verstehen haben. Zu dieser Frage haben unter anderem Peter Brunner, Hans Liermann, Siegfried Grundmann in Gutachten und Werken Stellung genommen. Sodann stehen wir heute vor der Aufgabe, die konziliaren Aussagen über den Ökumenismus kirchenrechtlich auszulegen. Hierüber habe ich mich auf dem internationalen kanonistischen Kongreß in Rom im Januar dieses Jahres geäußert. Dies sind mehr als pragmatische Fragen; aber sie gehen doch von gegebenen Tatbeständen aus und sind nicht primär Gegenstand der an anderer Stelle notwendigen theoretischen Besinnung.

Bei alledem sind doch auch Hemmungen und rückläufige Bewegungen unverkennbar. Es besteht kein starkes Gefühl, das eine wie das andere,

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die theoretische Besinnung und die Interpretation der im Gang befindlichen Bewegung voranzutreiben.

Einem dritten, wenig beachteten Gebiet ist diese Abhandlung gewidmet, der Frage, ob es Sätze allgemeinen Kirchenrechts gibt. Auffälligerweise ist nun die Möglichkeit von Sätzen des allgemeinen Kirchenrechts gerade von solchen Autoren bestritten worden, welche in einem sehr strikten Sinne die Möglichkeit und Notwendigkeit von Kirchenrecht vertreten (Barth, Erik Wolf). Nach Karl Barth kann es nur um die Aufzeigung der allgemeinen, aber auch theologisch verbindlichen Voraussetzungen des Kirchenrechts, nicht aber um seine Entfaltung gehen. „Es gibt kein allgemeines Kirchenrecht27. Es muß verschieden entfaltet werden. So entschieden er sich gegen eine falsche Spiritualisierung des Kirchenrechts bei Sohm, gegen Emil Brunners Mißverständnis der Kirche wendet — so wenig ist eine Begründung für diese strikte Verneinung allgemeinen Kirchenrechts zu finden. Auch ob vielleicht die Verschiedenheit der Gestaltung eine Strecke weit eine übereinstimmende sein müsse oder könne, wird nicht erwogen. Der Theologe entwickelt nur die Axiome, nach denen Kirchenrecht theologisch legitim gebildet werden muß, — die Konkretion ist grundsätzlich partikular.

Es ist immer mißlich, nach den Begründungen eines Autors zu fragen, der uns diese selbst versagt. Das Gewicht der Folgerungen einer solchen Auffassung macht jedoch diese Untersuchung unvermeidlich. Aus gewissen verstreuten Andeutungen könnte man den Grund für die Barth’sche Ablehnung darin suchen, daß er Kirchenrecht immer nur als einen Versuch der Gestaltung, als einen Versuchs des Gehorsams ansehen will. Damit wird freilich eine sehr bestimmte Bejahung von Kirchenrecht von innen heraus in Frage gestellt. Denn wenn seine gegen Emil Brunner scharf formulierten theologischen Sätze so verbindlich sind, wie sie unzweifelhaft gemeint sind, so müßten ja auch die kirchenrechtlichen Folgerungen in einem vergleichbaren Sinne und Maße verbindlich sein. Das wäre durch die gleichzeitige Rücknahme in den Charakter des Versuchs in Frage gestellt. Gemeint ist möglicherweise ein anderes: die Wandelbarkeit solcher Bildungen soll vorbehalten werden. Indessen zeigt die Geschichte des Kirchenrechts selbst, daß auch die bestimmteste Vertretung von Sätzen des sogenannten ius divinum tiefgreifende Umgestaltungen der Auslegung und Anwendung keineswegs ausgeschlossen hat. So wird das, was an verständlichen Vorbehalt gegen eine im Rechtsleben freilich in diesem Sinne kaum vorkommende Unwandelbarkeit gemeint ist, potenziert und damit übergewichtig. Eine zweite Erwägung führt zu der Deutung, daß die konkrete Anwendung jener theologischen Sätze in so hohem Maße von partikularen, zeitlichen und nationalen Verhältnissen abhängt, daß schon darum von allgemeinen Grundsätzen nicht gesprochen

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werden kann. Auch diese Auffassung ist bedenklich. Denn sie setzt im Stile der liberalen Theologie das Element der außertheologischen Faktoren im Gestaltungsprozeß so hoch an, daß die Eigentümlichkeit der Kirche dahinter bis zur Unerkennbarkeit verschwindet. Das würde in der Konsequenz heißen, daß die Kirche selbst keine historische Identität erkennbarer Art besitzt. Jeder Gebildete weiß, daß etwa die großen historischen Rechtskreise des germanischen oder römischen Rechts, das Recht auch anderer Kulturkreise gewisse unverwechselbare Eigenheiten besitzt. Es von vornherein aber auszuschließen, daß die Kirche ihre unverwechselbare Eigenheit besitzt, hieße in der Konsequenz, daß sie außerstande wäre, in die Geschichte selbst einzugehen. Sie bliebe immer irgendwie außerhalb und oberhalb der konkreten Geschichte. Auch wenn man auf diese Folgerungen Barth nicht mit Sicherheit behaften kann, so drängen sie sich doch auf und können nicht ausgeschlossen werden. Es liegt diese Erwägung in Richtung der kritischen Fragen, die ich im größeren Zusammenhang in Kap. I meines Kirchenrechtswerkes an Barth gestellt habe.

Etwas deutlicher äußert sich Erik Wolf, der übrigens trotz mancher Verbindung zu Barth nicht in dem Grade als dessen juristischer Interpret oder Gewährsmann verstanden werden darf, wie vielfach angenommen wird. Er warnt 28 sicher mit Recht gegen die kritiklose Übertragung von Grundbegriffen der allgemeinen Rechtslehre oder allgemeinen Kirchenrechtslehre auf das Kirchenrecht, vor dem abstrakten Rationalismus des 18. und dem juristischen Positivismus des 19. Jahrhunderts. Aber das sind abgelebte Gegner; es fällt auf, daß keine Abgrenzung im Raum des 20. Jahrhunderts versucht wird. Mit der Ablehnung jener Haltungen wird eine Begründung für die hier ebenfalls ausgesprochene Bestreitung des allgemeinen Kirchenrechts nicht gegeben. Nach späteren Ausführungen muß das Kirchenrecht zugleich unionstheologisch auf das Verbindende, kontroverstheologisch auf die Herausarbeitung des um der Wahrheit willen Streitigen und zugleich „existential-theologisch” ausgearbeitet werden. Wolf wendet sich also zunächst nur gegen die Deduktion aus problematischen Allgemein- und Obersätzen — sicher zu Recht. Er wendet sich dann — bis zu einer gewissen polemischen Abwertung der historischen Bekenntnisse — gegen eine Ideologisierung des Bekenntnisbegriffs, durch welche jeder einzelne Satz des Kirchenrechts je nach dem Bekenntnis einen anderen Sinn erhalten müßte. Aber zwischen der Ablehnung von Generalsätzen und dem Postulat einer mit der kritischen Kontroverse verbundenen Unionstheologie fällt die Frage nach dem gegebenen Bestand allgemeinen Kirchenrechts stillschweigend dahin. Ich finde jedenfalls nicht, daß sie von ihm irgendwo ernstlich in Angriff genommen worden ist. Nach wie vor werden die verschiedenen historisch-bekenntnismäßigen Typologen von Kirchenrecht einander

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gegenübergestellt, die sich dann irgendwo — wenn auch annahmeweise nicht erst am Jüngsten Tage — wie die Gerade im Unendlichen eines versöhnenden johanneischen Kirchenrechts treffen sollen. Das Verdikt gegen das allgemeine Kirchenrecht hält durch.

Auch hier vermisse ich die eigentliche Begründung. Im Gegenteil; wenn Wolf sich gegen die Ideologisierung des Kirchenrechts wendet, nach welcher identische Sätze in unterschiedlichen konfessionellen Zusammenhängen einen verschiedenen Sinn haben müßten, so würde die Ablehnung des allgemeinen Kirchenrechts gerade dorthin führen, wo Wolf selbst nicht hin will. Der Hinweis auf Spuren ökumenischen Kirchenrecht in allem konfessionellen Kirchenrecht verkleinert das Phänomen und Problem durchhaltender Gemeinsamkeit bis zur Unkenntlichkeit. Das gemeinsame Prinzip der Offenheit und Vorläufigkeit meint etwas anderes. Hier wird einmal die Gemeinsamkeit der Haltung mit Barth sehr deutlich. Insoweit gilt auch für Wolf das oben Gesagte 29.

Als ein dritter Autor wendet sich Dietrich Pirson gegen meine Annahme gemeinen Kirchenrechts mit dem Satze: „Gemeinsame Rechtsinstitute in verschiedenen Kirchen begründen noch keinen Bestand an universal-kirchlichen Normen”, und begründet dies damit, meine Meinung beruhe auf einer bekenntnismäßigen Auffassung, nach welcher der gottesdienstlichen Tradition in besonderem Maße konstitutive Bedeutung für die kirchliche Ordnung zukomme 30. Nun hat Karl Barth im Rahmen der von ihm entwickelten theologischen Voraussetzungen das Kirchenrecht als liturgisches und bekennendes Recht qualifiziert. Diesen Gedanken habe ich aufgenommen, aber ihn doch dahin abwandeln müssen, daß er nicht als Deduktionsbasis ex nunc von uns aus gelten könne, sondern als heuristischer Schlüssel für das Bildungsgesetz allen Kirchenrechts in seinen sehr verschiedenen Gestaltung sich bewähren müsse. Abgesehen davon, daß ich mit Barth auch von der Dualität von Liturgie und Bekenntnis ausgegangen bin, ist für mich die Tradition als solche so wenig wie für Barth ein Beweisgrund.

Es handelt sich also nicht um die materiellen Inhalte irgendeiner Tradition, sondern um die Aufweisung eines Bildungsgesetzes, nach welchem sich durch Liturgie und Bekenntnis Kirchenrecht bildet, weil sie die spezifischen Handlungsformen sind, in denen sich Kirche vollzieht. Man wird schwerlich Barth das unterstellen können, was man meint, bei mir vermuten zu können. Nun hat Dietrich Pirson das besondere Verdienst, durch seine Schrift einen Schritt aus dem traditionellen Partikularismus der Betrachtung herausgetan zu haben. Seine These ist es gerade, daß die Universalität der Kirche die Voraussetzung aller kirchlichen Legitimität in jedem partikularen Zusammenhange ist. Daß dies nicht notwendig eine sichtbare institutionelle Form von Einheit erfordert, ist außerhalb des Streites. Da die Begründung für die

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Ablehnung meiner These deren Voraussetzungen selbst nicht trifft, vermisse ich auch hier die Benennung der Gründe, die Pirson — übrigens ohne Beziehung zu Barth und Wolf — im Ergebnis zu der gleichen Ablehnung führen.

Die Bedeutung und die Verantwortung dieser Positionen ist deswegen so groß, weil sie selbst unter der Voraussetzung ihrer theoretischen Richtigkeit die Bedeutung derjenigen Rechtssätze ungemein vermindern, in denen auf Grund eines unbestreitbaren Konsenses gemeines Kirchenrecht objektiv nachweisbar ist. Wenn also theoretische Gründe dagegen beständen, im strikten Sinne von allgemeinem Kirchenrecht zu sprechen, so schließt das den vorhandenen Tatbestand nicht aus, müßte ihn aber zugleich verdunkeln. Wie wäre denn die ökumenische Situation von heute, wenn nicht von dem anerkannten Satz ausgegangen werden könne, daß die Taufe die unverlierbare Gliedschaft in der Kirche begründet! Wie würde sich die ökumenische Christenheit verstehen, wenn ihr nicht jenes unverwechselbare Element von Öffentlichkeit eignete, welches weder eine bloße Tatsache noch allein eine theologische Position bedeutet, sondern zugleich einen sehr bestimmten rechtlichen Horizont und rechtliche Folgerungen einschließt! Wie würde diese Christenheit aussehen, wenn sie nicht von Anbeginn in konkreten, leiblich versammelten Gemeinden zusammenfände, so daß also eine abstrakte Reichsunmittelbarkeit isolierter gläubiger Individuen in ihr ausgeschlossen ist? Es sind also gerade solche Elemente, die die reformatorischen Kirchen aufs stärkste bewegen, die von Grund auf diese rechtlichen Strukturen mitbestimmen.

Freilich besteht unverkennbar zwischen dem universalen Anspruch allgemeinen Kirchenrechts und dem Geltungsbereich der nachweisbaren Konsense über solches Recht eine bemerkliche Differenz. Gerade hier aber ist die bloße Alternative von Bejahung und Verneinung, das „Alles oder Nichts” verderblich. Es haben ja bekanntlich die großen verfaßten Kirchen von der griechischen Orthodoxie bis zum Calvinismus eine unbestrittene gemeinsame Bekenntnisgrundlage in den drei altkirchlichen Symbolen. Diese Symbole sind jedoch nicht die Basis für alle Kirchen, die im Ökumenischen Rat vereinigt sind. Trotzdem besteht evident keine frontale Antithese in dieser dogmatische Frage. Ähnlich ist es auch in den Sätzen des allgemeinen Kirchenrechts. Gewisse Grundsätze sind von allen den — und gerade den großen — Kirchen rezipiert, die sich über die einschlägigen Fragen verbindlich geäußert haben. Viele der übrigen Kirchengemeinschaften haben diese Fragen beiseite gelassen. Die Erfahrung der Arbeit in der Faith and Order Commission on Institutionalism hat aber gezeigt, daß die Vertreter wesentlicher Freikirchen über weite Strecken dann mit den historischen Großkirchen auch hier einig gehen, wenn sie auf die bisher von ihnen unbeachtete

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Relevanz solcher Fragen in einem geduldigen und brüderlichen Gespräch aufmerksam gemacht werden.

Ein Analogon zu dieser Lage stellen die konziliaren Aussagen über das Verhältnis der römisch-katholischen Kirche zu den getrennten Christen dar. Wenn hier zwischen Kirchen und kirchliche Gemeinschaften unterschieden wird, so sind bekanntlich hierfür gerade kirchenrechtliche Elemente, wie etwa die apostolische Sukzession der Bischöfe, wesentlich. Daß aber an dieser Stelle nebeneinander von Kirchen von unbestrittener kirchenrechtlicher Existenz und kirchlichen Gemeinschaften gesprochen wird, zeigt, daß diese Differenz, so wichtig sie auch genommen wird, zugleich doch weder fundamental noch radikal ist.

Für das Selbstverständnis der ökumenischen Bewegung und ihren Fortgang ist es wesentlich, ja unerläßlich, daß wir auf diese Konvergenzpunkte mit Sorgfalt achten, ohne über die Zwirnsfäden des theoretisch unlösbaren Generalienproblem zu stolpern. Würden wir die faktische Bedeutung übersehen, die dieses Gemeinsamkeiten besitzen, würden wir gezwungen, unseren Ausgangspunkt von der historischen Partikularität der getrennten Kirchen so zu nehmen, daß auf Grund eines sogenannten Ansatzes, eines mehr oder minder klar umschreibbaren Vorverständnisses jeder einzelne Satz in seiner Bedeutung verändert und affiziert werden würde. Man muß also, wenn man das eine bestreitet, fast unvermeidlich das Entgegensetzte mit nicht weniger gefährlichen Konsequenzen tun. Ich vermag freilich die oben zitierte Grundauffassung von der Universalität der Kirche als Voraussetzung aller Legitimität des Kirchenrechts denkerisch auch jetzt nicht mit der Bestreitung allgemeinen Kirchenrechts zu vereinen.

Ungeachtet der hier liegenden Gegensätze versuche ich im folgenden, eine gewisse Bestandsaufnahme der für mich erkennbaren Sätze gemeinen Kirchenrechts vorzulegen. Dabei ist erneut auf jene Differenzierung zu verweisen, daß ein Teil dieser Sätze wesentlich im Konsens der verfaßten Kirchen steht, nämlich derjenigen, die es auf sich genommen haben, die Problematik von Kirchenverfassung bis zu einer gewissen Schlüssigkeit verantwortlich auszutragen, und die es gerade deswegen mußten, weil sie als umfassende Volks- und Landeskirchen sich nicht auf Minderheiten und theologisch begrenztere Positionen beschränken. Sehr viele Versuche, diesen Problemen zu entgehen, beruhen gerade auf dem Verzicht, aber auch der Weigerung, die damit verbundene Verantwortung für die Öffentlichkeit, die Allgemeinheit des christlichen Glaubens als Angebot für jedermann wirklich durchzuhalten. Viele engere Zusammenschlüsse höchst achtbarer Christen, die aus sehr verständlichen Gründen sich von den institutionellen Großkirchen getrennt haben, leben insoweit auf Kosten derjenigen, mit denen sie nichts zu tun haben wollen, und überlassen es ihnen, die Last und

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Mißlichkeit dieser Aufgaben sichtbar zu tragen. Die im Nachfolgenden vorgeführten Sätze wollen also in der bezeichneten Differenzierung gelesen werden.

Es ist bei alledem nicht vermeidlich, daß bei der Formulierung bestehender Rechtsgrundsätze ein Element der Interpretation einfließt, welches sie voller auslegt, als sie vielleicht überall verstanden werden. Unvermeidlich geht diese Interpretation bis zu einem gewissen Grade auch in die Forderung über. Aber der kundige Leser wird das, was hier nicht zu scheiden ist, doch in etwa zu unterscheiden wissen.

Ein solcher Versuch bedeutet freilich auch eine Art Appell, eine dringende Erinnerung, einen Stachel für alle zukünftige Arbeit, das nicht aus den Augen zu lassen, was — im schlimmsten Fall als hypothetische Basis der Gemeinsamkeit — sich für die Zukunft als fruchtbar erweisen wird. Auch wer diese Sätze mehr oder minder weitgehend bestreiten würde, müßte doch zur Kenntnis nehmen, daß die darin beschlossenen Lebensgehalte und Probleme ihn selbst zu einer besseren und angemesseneren Gestaltung verpflichten. Tradition ist in diesem Sinne gerade nicht Bindung an Vorentscheidungen, durch die alles schon geklärt ist. Sie bringt vielmehr im Gegenteil in der vorfindlichen Gestaltung ins Bewußtsein, worum es der Christenheit schon immer gegangen ist worum es einer zukünftigen Christenheit unter ihren eigenen Bedingungen und in ihren eigenen Formen immer erneut wird gehen müssen. Man wird freilich erkennen, daß in diesen, auch wieder sehr bescheidenen Basisformulierungen ein hohes Maß von Einsicht und konkretem Gehorsam liegt, welches unsere Achtung und Aufmerksamkeit erfordert. Es wird also versucht, oberhalb der partikularen Verschiedenheiten zu formulieren. Um der Klarheit willen ist es dabei an einzelnen Punkten notwendig, die Stellen mit aufzuweisen, an denen der Grundkonsens dann wieder auseinandergeht. Der Konsens ist seit langem vorhanden und evident, obwohl wegen der partikularrechtlichen Betrachtung und der Vereinzelung der Sachprobleme in der Kirchenrechtslehre diese unbestrittene Rechtslage bisher kaum ins Bewußtsein getreten ist. Für die partikularen Kirchen bedeuten und erfordern solche Sätze nicht eine Änderung ihrer Grundsätze, sondern deren Präzisierung im Blick auf diese Gemeinsamkeit.

Damit gehe ich nunmehr auf die konkreten Sätze über:

 

I. Taufe

1. Die Taufe kann von jedem verantwortungsfähigen Menschen ohne Rücksicht auf seinen Glauben und seine eigen Taufe gültig vollzogen werden,

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sofern er dabei die Intention hat, zu tun, was die Kirche tut, und das Wesentliche der Form beachtet (Ketzertaufe).

2. Die Taufe ist nicht wiederholbar.

3. Die Taufe begründet die Gliedschaft in der allgemeinen Kirche. Jeder Christ ist volles Glied der Kirche an allen Orten.

 

II. Gemeinde

4. Gemeinde im Sinne des Kirchenrechts ist diejenige Versammlung getaufter Christen, in der das Evangelium dergestalt ausgerichtet wird, daß der Christ in ihr zu jeder Zeit alles zum Heil Erforderliche empfangen kann (Suffizienz der Gemeinde).

5. Die Gemeinde ist darauf angelegt, ständig („in der Apostel Lehre, im Brotbrechen und im Gebet”, Apg. 2, 42) zusammenzuleben. Dem widerspricht nicht, daß eine gottesdienstliche Versammlung im Einzelfall im gleichen Sinne Gemeinde ist. Daraus kann jedoch der Begriff der Gemeinde nicht im Sinne jeweiliger Aktuosität verstanden werden (Ständigkeit der Gemeinde).

6. Jeder Christ ist gehalten und verpflichtet, sich einer Gemeinde anzuschließen und zuzurechnen. Dieser konstitutive Gemeindezwang ist nicht mit dem regulativen territorialen Parochialzwang zu verwechseln (Gemeindezwang). Es gibt also keine reichsunmittelbare Gliedschaft der allgemeinen Kirche ohne Verweisung des einzelnen auf eine konkrete, gemeindeartige Bindung.

7. Jeder Christ ist verpflichtet und berechtigt, nach dem Maß der ihm verliehenen Gaben zum Dienste der Gemeinde und ihrer Auferbauung beizutragen. Jeder Christ ist verpflichtet und berechtigt, das Evangelium missionarisch auszubreiten (Dienst- und Missionspflicht).

8. Christen besitzen als solche, und nicht nur hilfsweise iure civili, Vereinigungsfreiheit. Jede Vereinigung von Christen kirchlichen Rechts ist jedoch verpflichtet, sich zu Kirche und Gemeinde in der Gemeinsamkeit des Dienstes in verbindliche Beziehung zu setzen und darauf in Anspruch nehmen zu lassen (Vereinigungsfreiheit kirchlichen Rechtes).

9. Die Kirche kann besondere Lebens- und Dienstgemeinschaften von Christen mit bestimmter Mitgliedschaft als Gemeinden eigener Art anerkennen und ihre Glieder vom Gemeindezwang freistellen. Die Gottesdienste auch solcher Gruppen sind grundsätzlich öffentlich (exemte Sondergemeinden).

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III. Gottesdienst

10. Der Gottesdienst ist in allen seinen Teilen öffentlich, sofern die Gemeinde nicht aus seelsorgerlichen und pädagogischen Gründen noch nicht zu vollen Aktivrechten aufgenommene Mitglieder von der Teilnahme ausschließt oder die Öffentlichkeit durch äußeren Zwang oder Gefahr der Verhinderung unmöglich wird. Daher sind auch Sondergottesdienste aus persönlichen Anlässen keine Privatgottesdienste, unbeschadet der Freiheit des Christen, sich im privaten Kreise zur Erbauung zu versammeln (Öffentlichkeit des Gottesdienstes).

11. Die Verbindung mit dem einen gleichen Herrn und die Allgemeinheit der Kirche verbieten nicht, sondern ermöglichen und erlauben die Verschiedenheit gottesdienstlicher Formen, sofern sie die unverkürzte Ausrichtung des Evangeliums ermöglichen.

 

IV. Amt

12. Die Ordination zum Amt der Kirche intendiert und versteht sich als Übertragung des Amtes in der allgemeinen Kirche. Es gibt daher nur im tatsächlichen, nicht im rechtlichen Sinne etwa Bischöfe der römisch-katholischen, lutherischen Kirche usw. Die Bestellung zu Verrichtungen, die auf bestimmte Personen und Sachbereiche beschränkt ist, ist in diesem Sinne daher kein Amt (Universalität des Amtes).

13. Die Ordination zum Amt der Kirche ist nicht wiederholbar, auch nicht nach vorgängiger disziplinärer Aberkennung der mit ihm verbundenen Rechte. von der Ordination ist die Einsetzung in bestimmte wechselnde Amtsbereiche und Funktionen zu unterscheiden (Verbot der Reordination).

14. Das Amt der Kirche ist jedem Christen — Eignung vorausgesetzt — ohne Rücksicht auf Abstammung und soziale Herkunft zugänglich (hinsichtlich des Geschlechts bestehen Unterschiede der Rechtsauffassung) (Geistlichkeit des Amtes).

15. Die Ordination ist eine gemeindeöffentliche gottesdienstliche Handlung. Sie wird im Regelfall (außer im Fall der Not oder Verhinderung) durch mindestens drei dazu Bevollmächtigte (in denen sich die Gesamtkirche repräsentiert) unter Gebet und Handauflegung vollzogen. (Die Anforderungen, die an die Ordinationsvollmacht gestellt werden, sind in den getrennten Kirchen verschieden.)

16. Unbeschadet unterschiedlichen Verständnisses über Intention und Weise ihres Handelns bekennt sich die Kirche zu der ihr gegebenen Verheißung, daß in ihr konkret Vergebung der Sünden geschehen kann (Schlüsselgewalt).

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17. Die Kirche beansprucht Pflicht und  Recht, aus schwerwiegenden geistlichen Gründen Glieder mit dem Ziele auszuschließen, sie dadurch als rechte Mitglieder wiederzugewinnen (Schlüsselgewalt).

18. Unbeschadet der Frage, ob und in welchem Sinne Gruppen von getauften Christen ohne Amt und bestimmte Verfassung als Formen der Kirche angesehen und erkannt werden können und müssen, sind sich die verfaßten Kirchen darüber einig, daß zu den Merkmalen der Kirche das mit ihr gestiftete apostolische Amt (in der Singularität oder der Pluralität der Ämter, in Gleichheit oder Ungleichheit) gehört.

 

V. Gesamtkirche

19. Eine jede Gemeinde ist gehalten, vermöge ihres Charakters als Glied und Gliederung der allgemeinen Kirche, die Gemeinschaft mit allen ihr erreichbaren Gliederungen zu suchen, von denen sie nicht durch kirchentrennende Unterschiede geschieden ist (Grundsatz der Interdependenz, Autarkieverbot).

20. Partikulare Kirchengemeinschaften können Selbständigkeit nur insofern beanspruchen, als die Ausrichtung ihres Auftrags unter den gegebenen realen Bedingungen dies erfordert, nicht jedoch auf Grund der nationalen Gemeinsamkeit ihrer Glieder (Verwerfung des Ethnizismus).

21. Die Ausübung der mit der Zugehörigkeit des einzelnen Christen, der Gemeinde und Partikularkirche zur allgemeinen Kirche Verbundenen Rechte wird durch die bestehenden kirchentrennenden Unterschiede und die dadurch bedingte Aufhebung der (vollen) Kirchengemeinschaft nur gehemmt; sie sind selbst nicht aufgehoben. Andererseits unterliegt ihre Ausübung am anderen Ort in der allgemeinen Kirche der wechselseitig anzuerkennenden guten Ordnung in brüderlicher Liebe. — Der nachfolgende Absatz VI würde gedanklich als allgemeine Voraussetzung vorzuschalten sein. Um aber den Bedenken zu entgehen, daß er vorweg Gesichtspunkte des Autors dem Ganzen auf dem Wege der Abstraktion entnimmt und zugleich unterschiebt, ist in diesen letzten Sätzen, die eine andere Qualität haben, versucht worden, eine Art Wurzel zu ziehen.

 

VI. Allgemeine Grundsätze

22. Alles Recht der Kirche und in der Kirche ist Dienstrecht. Es verleiht nicht Macht, sondern an den Auftrag gebundene Vollmacht. Diese dient der Sammlung und Sendung.

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23. Die Kirche gründet sich auf das in ihr ständig gottesdienstliche erneuerte, gelehrte und gelebte Bekenntnis, daß Jesus Christus ihr Herr, Gott und Heiland sei. Sie besitzt ihre Legitimation nicht ohne dieses Bekenntnis.

24. Alle einzelnen Christen, Gemeinden und partikularen Kirche sollen untereinander das Band des Friedens halten und bewahren und darum auch nach Frieden mit jedermann trachten und Frieden stiften (Friedenspflicht).

25. Die Armen, Kranken und Gefangenen und Verfolgten haben als die verborgenen Stellvertreter des Herrn ein besonderes ständiges Anrecht an die Kirche (diakonischer Charakter des Kirchenrechts).