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1. Ökumenismus — Inhalt und Grenzen

 

 

I. Der Ökumenische Rat der Kirchen

Ökumenismus ist die Bewegung, in welcher die Christenheit des 20. Jahrhunderts sich ihrer Einheit neu bewußt geworden ist und nach ihrer Verwirklichung strebt. Entstanden in den großen historischen Zentren des Protestantismus, Canterbury, Genf, Uppsala, hat sie sich in verschiedenen Etappen nahezu alle Kirchengemeinschaften der Welt zugeordnet, die außerhalb der Römisch-katholischen Kirche existieren. Nur wenige von diesen — wie die Lutherische Missouri-Synode in den USA — haben sich ihr versagt. Die Bewegung hat aber auch die Römische Kirche ergriffen, welche im II. Vatikanischen Konzil über diesen Gegenstand verbindliche dogmatische Aussagen gemacht hat. Es ist nicht unsere Aufgabe, über diesen Tatbestand theologische oder geschichtliche Urteile zu suchen. Wir haben vielmehr als Kanonisten nach dem kirchenrechtlichen Gehalt der Bewegung, ihrem Inhalt und ihren Grenzen zu fragen.

Die ökumenische Bewegung hat im Ökumenischen Rat der Kirchen Gestalt gewonnen. Seine rechtliche Struktur ist daher zunächst zu erwägen. Unbestritten ist, daß der Ökumenische Rat sich nicht als Superkirche versteht und keine Leitungsgewalt über seine Mitgliedskirchen beansprucht. Aber was hat sich eigentlich rechtlich ereignet, als sich die Kirchen zusammenschlossen? Dieser Vorgang läßt sich dem äußeren Bilde nach mit weltlichen Rechtsvorgängen auf drei verschiedenen Ebenen vergleichen. So ähnelt etwa die Bildung des Rates einer Vereinigung des Privatrechts, in welcher sich religiöse Körperschaften auf Grund der international anerkannten Vereinigungsfreiheit zu gemeinsamen, ihrer freien Verfügung unterliegenden Zwecken zusammengeschlossen haben. Dies wird am Grenzfall deutlich, nämlich in Staatssystemen, welche keine Vereinigungsfreiheit für einzelne und Körperschaften anerkennen, infolgedessen die Beteiligung einer Kirche ihres Gebiets von politischen Bindungen abhängig machen. Auf einer zweiten Ebene kann der Ökumenische Rat mit einem sehr losen Staatenbund verglichen werden. Er setzt wie ein solcher gleichberechtigte, souveräne Gebietskörperschaften voraus. Der Vergleichspunkt liegt auch darin, daß die vollzogene Bindung nicht mehr einfach rücknehmbar ist. Viele Mitgliedskirchen haben die Mitgliedschaft zum Verfassungsgrundsatz erhoben. Das unbestrittene Austrittsrecht der einzelnen Kirchen besteht mindestens für die bedeutenderen Mitglieder praktisch nicht. Bei Spannungen im Rat könnte allenfalls eine Spaltung in verschiedene Richtungen entstehen, nicht

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aber eine Auflösung. Schließlich bildet der Rat eine gewisse Analogie zu den völkerrechtlichen Zusammenschlüssen des Völkerbundes und der UNO. Wie diese verfolgt er nicht nur gemeinsame Zwecke auf Weltebene, sondern setzt zugleich einen umfassenden Bestand vorgegebener und aufgegebener rechtlicher und sozialer Gemeinsamkeiten voraus.

Jene Vergleiche zeigen aber, daß der Tatbestand auf diesen rechtlichen Ebenen nicht zulänglich verstanden werden kann. Charakteristisch ist jedoch für den Ökumenischen Rat der Kirchen, daß er die rechtliche Tragweite der entstandenen Vergemeinschaftung eher zu verkleinern geneigt ist. Er hat zwar in der bekannten Basisformel versucht, in dem erreichbaren Höchstmaß die dogmatische Übereinstimmung auszudrücken, die für alle Mitgliedskirchen gilt. Damit ist zugleich eine Grenzlinie geschaffen, welche bestimmte Gruppen ausschließt — wie etwa die Unitarier, die die Gottheit Christi leugnen. In der Erklärung von Toronto 1950 ist auch versucht worden, das rechtliche Verhältnis der Mitgliedskirchen zu umschreiben. Hier wird zwischen einer Anerkennung als Kirche im eigentlichen und Vollsinne und einer solchen als handlungsfähiges Subjekt des Kirchenrechts unterscheiden. Auf diese Weise kann man der theologischen Frage entgehen, ob die anderen Mitgliedskirchen im strengen Sinne Kirchen sind, aber doch mit ihnen im Verband zusammenwirken. Durch diese Spaltung des Tatbestands in ein theologisches Innen und ein rechtliches Außen wird jedoch das Problem sozusagen eingefroren und einer Weiterentwicklung entzogen. Das gleiche gilt für die hier oft verwendete Unterscheidung von „order”, das heißt der theologisch begründeten, wesensmäßigen Ordnung der einzelnen Kirchen und der „policy”, ihren äußeren Leitungsformen. Mit alledem wird zwar offengehalten, daß man auch auf diesem Felde zu weiterer Gemeinsamkeit voranschreitet, zugleich das Problem aber auch beiseite gestellt. Ohnehin ist der Sinn der Bewegung für kirchenrechtliche Fragen nur schwach ausgebildet. Die umfassenden Studien des einen Zweiges der ökumenischen Bewegung, über Glaube und Kirchenverfassung (Faith and Order), haben zwar zu einem ausgebreiteten theologischen Dialog geführt, sind aber nicht von entsprechenden kirchenrechtlichen Untersuchungen begleitet gewesen. Die veröffentlichten Ergebnisse einer zeitweiligen Unterkommission, der Faith and Order Commission on Institutionalism 10, der ich angehört habe, sind nicht ausgewertet worden.

 

II. Relative Anerkennung als Rechtsverhältnis

Wenn nun die ökumenische Bewegung Bestregungen ähnelt, in denen in unserer Epoche die Menschheit ihre Einheit zu verwirklichen sucht, so unterscheidet sie sich doch zugleich auch wesentlich von diesen Bestrebungen.

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Denn sie geht notwendig von der bereits vorgegebenen Einheit der Christenheit als Kirche aus. Die Einheit bedeutet für sie nicht eine Selbstverwirklichung als Fernziel, sondern bereits Voraussetzung. Als historische Religion knüpft das Christentum an eine einmalige, unüberbietbare, unüberholbare geschichtliche Tatsache an. Gerade diese aber ist ein konkretes rechtliches Geschehen, eine Bundstiftung. Denn Neues Testament heißt „Neuer Bund”. Die Christenheit hat also ihre rechtliche Einheit nicht als Ziel vor sich, sondern als Ausgangspunkt hinter sich. Sie läuft zugleich auf ein Ziel zu, welches nach der Heiligen Schrift gerade wieder mit rechtlichen, genauer mit Begriffen der Gerichtssprache dargestellt wird. Sie ist auf dem Wege von der Bundstiftung Gottes zum Gericht. Einheit bedeutet für sie nicht zuallererst Forderung, sondern bereits geschehene Gabe und Ermöglichung. Einheit und Universalität ist in diesem Sinne der Kirche vorgegeben und nicht erst herzustellen. Diese Universalität ist zugleich die Voraussetzung aller rechtlichen Legitimität der Kirche. In der Kirche kann nicht rechtens sein, was nicht einem jeden Christen als Christen angeboten und zugemutet werden kann. Kanonistik kann daher nur ökumenisch verstanden und betrieben werden.

Trotz dieser Voraussetzungen ist die universale Kirche in einer ebenso skandalösen wie unüberwindlichen Weise gespalten. Bis in die Gegenwart haben sich die Kirchen gegenseitig die Gemeinschaft aufgesagt, sich ausgeschlossen. Dabei ist es gleichgültig, ob der Ausschließungsgrund in dem Vorhandensein oder in dem Fehlen bestimmter Merkmale der Kirche gesehen wird. Der Protestantismus sieht etwa im Papsttum einen willkürlichen Zusatz, welcher in der Heiligen Schrift keinen Grund hat. Die alten Kirchen bestreiten den protestantischen Kirchen die Eigenschaft als Kirche, weil sie an der apostolischen Nachfolge der Bischöfe keinen Anteil haben usw.

So gesehen könnten die getrennten Kirchen in kein ständiges, für sie selbst wesentliches Rechtsverhältnis zueinander treten. Wenn sie es dennoch tun, scheinen sie die Verdammungsurteile sozusagen versuchsweise und vorläufig außer Kraft zu setzen, um zu sehen, wie weit man ohne sie gemeinsam kommen kann. Damit aber wäre nichts Entscheidendes gewonnen. Man stände vor der Alternative zwischen gedanklich unklaren, wenig aussichtsreichen Einheitsbestrebungen und einem sogenannten Realismus, das heißt Pessimismus und Furcht vor dem anderen, die regelmäßig mit einem Verzicht auf entschlossene Bemühungen gleichbedeutend sind. Diesem hoffnungslosen Zirkel können wir nur entgehen, wenn wir in dem Zusammenschluß selbst einen die Kirchen in ihrem Grundbestand betreffenden Verbindungsvorgang und damit zugleich eine fruchtbare Fortbildung kirchenrechtlicher Rechtsformen zu erkennen vermögen. Dieser Meinung bin ich in der Tat. Der Vorgang des Zusammenschlusses ist selbst eine neue Form

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der Verhältnisbestimmung. Wenn ich zur Deutung nach einem angemessenen Rechtsbegriff suche, so stoße ich auf denjenigen der Anerkennung. Die Anerkennung ist eine der großen Denkformen des Rechts. Indem ich eine rechtlich bedeutsame Tatsache anerkenne, entnehme ich sie aus der Zweideutigkeit zwischen Tatsache und Rechtsanspruch und verzichte auf ihre Bestreitbarkeit, beispielsweise in der Anerkennung einer unehelichen Vaterschaft. Im Ökumenismus erkennen die getrennten Kirchen wechselseitig das Vorhandensein anderer Kirchen an, die einen unabweisbaren Anspruch auf rechtliche Berücksichtigung haben, obwohl sie nach den theologischen Grundsätzen nur in einem unvollständigen Sinne Kirche sind. Es ist gerade das Anstößige der ökumenischen Erfahrung, daß man Wirkungen des Heiligen Geistes beobachtet, die man nicht leugnen kann, die aber mit den geltenden theologischen Begriffen nicht zulänglich eingeordnet werden können. Da aber zwischen theologischer Wahrheitserkenntnis und geistlicher Wirklichkeitserfahrung keine Deckung zu erzielen ist, kann die Anerkennung keine vollständige, sondern nur eine teilweise oder bedingte sein. Dies scheint dem Begriff der Anerkennung zu widersprechen, der auf Behebung rechtlicher Zweideutigkeit zielt. Jedoch kennt auch das Völkerrecht verschiedene Stufen und Weisen der Anerkennung. Er ist hier daran zu erinnern, daß in der Geschichte der Kirche die wechselseitige Anerkennung geistlicher Entscheidungen eine wesentliche Quelle von Kirchenrecht gewesen ist. Es handelt sich hier um Entscheidungen, die gerade nicht eindeutig aus bestehenden Grundsätzen abgeleitet werden können, die aber wegen ihres überzeugenden Inhalts als völlig rechtmäßig angenommen werden.

Diese, wenn auch nur teilweise oder bedingte, Anerkennung, zeigt aber zugleich an, daß wir uns in einem geschichtlich bedeutsamen Stilwandel des Kirchenrechts befinden, der noch nicht genügend ins Bewußtsein gehoben worden ist. Es gibt heute sehr starke antijuristische und antiinstitutionelle Bewegungen in der Kirche, und zwar gerade in der Katholischen Kirche, in welcher diese Fragen lange Zeit der Kritik entzogen waren. Diese Bewegungen sind ein Anzeichen dafür, daß anstehende Probleme noch nicht geklärt worden sind. Zugleich sind diese Bewegungen aber auch in ihrer wesentlich negativen Haltung wiederum blind dafür, worum es heute geht. Denn wenn sie wüßten, wieviel hier heute sorgfältig zu tun ist, wenn die Anstrengung des Begriffs auf diesem Arbeitsfeld schon eingesetzt hätte, so würde der nur negative Affekt einen großen Teil seines Anreizes und seiner Kraft verlieren.

An der Rechtsgeschichte unseres Jahrtausends hat die Kirchenrechtslehre einen großen und ehrenvollen Anteil, unbeschadet aller Mißbildungen,

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denen sie nicht entgangen ist. Ihre bedeutendste Kraft bestand aber gerade in begrifflicher Klarheit, in der Trennschärfe, nicht zuerst in der Verbindung. Nun zeigt sich aber in unserer Zeit, daß die mit großer Präzision herausgearbeiteten Institutionen des Rechts, wie Staat, Eigentum und vieles andere, in neuer Weise sich miteinander verzahnen und überschneiden. Damit verlieren sie nicht einfach ihren Gehalt und ihre Funktion, wohl aber ihre eindeutige Abgrenzbarkeit. Ich bezeichne diese Erscheinung als „relative Nichtobjektivierbarkeit”. An diesem Stilwandel hat auch das Kirchenrecht Anteil. Das II. Vatikanische Konzil hat bekanntlich sehr umfassende positive Aussagen gemacht, aber im Gegensatz zu früheren Konzilen auf die Verdammung der Gegenmeinungen verzichtet. Es war offenbar nicht möglich, die positiven Sätze einfach logisch umzukehren und sie dann in dieser Form abzuweisen. So ist noch das Konzil von Trient (1546-1563) verfahren. Vor aller Augen sind historische Verdammungen, wie die Erklärungen gegenüber der Ostkirche (1054), wie die Abweisung des Jansenismus (1713), zurückgenommen worden. Deutlich besteht auch die Tendenz zur Überprüfung vieler bestehender Abgrenzungen. Dies ist weit mehr als ein Umschlag der Haltung oder womöglich der Taktik. Es entspricht vielmehr der Einsicht in die nur begrenzte Angemessenheit der hier verwendeten Begriffe. Mit dieser Einschränkung der Beurteilbarkeit von Gegensätzen verändert sich aber auch Wesen und Bedeutung der kirchlichen Entscheidungsgewalt, in welcher nunmehr die Entscheidung für etwas gegenüber der Abgrenzung gegen etwas den Vorrang enthält. Überall stoßen heute Dogmatik, Ethik und Kirchenrecht an diese Grenze der Beurteilbarkeit. Auch die Grenzen der Kirche haben ihre bisherige Eindeutigkeit verloren, so wenig auch etwa ein kritischer Theologe, wie Karl Rahner, die Möglichkeit und Notwendigkeit echter Grenzsetzungen ausschließt. Der hier beschriebenen Tendenz entspricht zugleich auch die Tatsache, daß die Zusammensetzung der kirchlichen Synoden auf allen Ebenen und in allen Konfessionen nicht mehr auf einen einzigen Legitimationsgrund göttlichen Rechtes zurückverweist, sondern auf eine sinnvolle Pluralität verschiedener bedeutsamer Berufungsgründe, die einander ergänzen, aber auch relativieren.

Das Konzil hat nun im Dekret über den Ökumenismus sich zu der Möglichkeit und Notwendigkeit bekannt, konkrete Beziehungen zu den getrennten Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften aufzunehmen. Es vermeidet dabei die direkte Anwendung des juristisch bedeutungsvollen Begriffs der Anerkennung (agnoscere), bezieht diesen Begriff aber bei den Getrennten auf die sich bei ihnen erweisenden „wahren christlichen Güter” (bona vera christiana, 4, 60). Aber gerade wenn die Nichtkatholiken „wahre christliche Güter” zeigen, kann man diese von ihren Trägern als Subjekt nicht

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trennen. So ist diese Aussage in Wahrheit die vorsichtigste Form der Defacto-Anerkennung. Es soll nur vermieden werden, daß darin bereits eine volle Anerkennung gesehen wird. jedoch kann man mit niemand Beziehungen aufnehmen, dessen Rechtsexistenz man von Grund auf verneint. Jedenfalls ist hier das Scheinargument, die Selbsttäuschung aufgegeben, daß es sich bei den Getrennten nur um eine Summe einzelner Christen handle, nicht um Kirchen, deren geschichtliche Verbundenheit und Gestalt für diese Beziehungen und daher gerade kirchenrechtlich bedeutsam ist. Zwar wird noch zwischen Kirchen (etwa denjenigen, die in der bischöflichen Sukzession stehen) und kirchlichen Gemeinschaften unterschieden. Aber gerade dieses Nebeneinander beider Formen zeigt, daß die Unterscheidung nicht mehr grundlegende Bedeutung besitzt. Nach alledem kann man sagen, daß die römische Kirche im Dekret über den Ökumenismus den gleichen Akt der relativen kirchenrechtliche Anerkennung der getrennten Kirchen vollzogen hat, den die Gliedkirchen des Ökumenischen Rats durch ihren Beitritt vorgenommen haben. Der Eintritt in den Ökumenischen Rat wäre ein weiterer wichtiger, aber grundsätzlich betrachtet nur noch sekundärer Schritt. Über ihn wird ja jetzt bereits verhandelt. Interessant ist dabei, daß die Orthodoxe Kirche, innerhalb des Ökumenischen Rats stehend, in einem sehr viel strengeren Sinne sich als alleinige wahre Kirche versteht, als dies selbst die römische Kirche außerhalb des Ökumenischen Rats bisher vertreten hat. Die Theorie der relativen Anerkennung wendet sich also gegen eine Auffassung, welche das Verhältnis der Kirchen in einen inneren theologischen und einen äußeren verbandsrechtlichen aufspaltet.

Die offenkundige Schwierigkeit besteht freilich darin, daß sich diese relative Anerkennung auf eine Fülle höchst unterschiedlicher kirchlicher Bildungen bezieht. Trotzdem erschöpft sie sich nicht in einer zufälligen und strukturlosen Pluralität. Mit dieser Zuordnungsform ist nämlich die umfassende Frage gestellt, ob die bisher als ausschließlich verstandenen Gegensätze nicht als Ergänzung begriffen werden können, etwa im Sinne einer komplementären Entgegensetzung sich ausschließenden Lebensformen, die trotzdem beiderseits als legitime Verwirklichung des Auftrags der Kirche verstanden werden müssen. Die historischen Kirchen haben ein solches Verhältnis mit sehr fruchtbarer Wirkung die ganze Geschichte hindurch in dem Gegensatz von Weltkirche und Orden praktiziert. Unionen, wie die Kirche von Süd-Indien und die englische Unionsversuche auf der einen, die Entstehung mönchischer Gemeinschaften im Bereich des Protestantismus (etwa Taizé) auf der anderen Seite, zeigen, daß hier grundsätzlich bedeutsame Entwicklungen im Gange sind. Die Meinung, daß es sich bei den vielfältigen Trennungen in der Gesamtkirche um Verzweigungen handele, die je nach ihrer Richtung auslaufen (branch-Theorie), erweist sich für die Deutung und Ordnung des

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Verhältnisses der Kirchen als unzulänglich. Ich bin darüber hinaus der Meinung, daß in dem deutlichen Umschlag der Geschichte sich heute ein Ausgleich gerade der entscheidenden Entgegensetzungen, wie ein Vergleich in einem langverhandelten gerichtlichen Prozeß als Möglichkeit abzeichnet.

 

III. Ökumenisches Kirchenrecht als gemeinsame Möglichkeit und Aufgabe

Die Merkmale eines neuen Stils von Kirchenrecht lassen sich schon einigermaßen konkret beschreiben. Dieses Kirchenrecht geht nicht mehr von einem zu erfüllenden, auch eindeutig bestimmbaren begrifflichen Höchstmaß von Merkmalen und Anforderungen aus, sondern es faßt unterschiedliche Kräfte und Gehalte zusammen. So kann man es nicht mehr als „integral”, sondern als „integrierend” bezeichnen. Es blickt nicht mehr vorzugsweise auf die Scheidungen, sondern auf die Verbindungen; es unterstellt nicht die Sachverhalte fordernden Normen, sondern organisiert die Zusammenarbeit. Es vertritt nicht mehr mit möglichster Schärfe eine einzige Linie, sondern vollzieht sich in dialektischen Prozessen, auch wenn der Begriff des Dialoges hier noch nicht alles umfaßt. In diesem Zusammenhang sind die Neuentwicklungen von hervorragender Bedeutung, die sich heute in der Katholischen Kirche von der Gemeinde- und Diözesanverfassung über die Nationalsynoden bis zur Bischofssynode vollziehen. Nirgends kann es sich hier um die bloße Umstülpung von Autorität in Demokratie handeln. Eine eindimensionale Kirche kann dem eindimensionalen Mensch nicht helfen. Sinnvoll ist die Gewinnung von Formen, in welchen gleichsam kettenförmige Verbindungen unterschiedlicher Rollen und Zuständigkeiten ineinandergreifen. So kann es sich auch nicht um die Umbildung des Amtes der Kirche in bloße Funktionen handeln, sondern um Formen der Verzahnung und Verbindung, in denen die einzelnen Ämter und Aufträge miteinander wirksam werden. Die Kirche selbst lebt von der Paradoxie des Glaubens, daß Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes versöhnt sind. Niels Bohr hat für das von ihm entdeckte Phänomen der Komplementarität den Vergleich mit dem Verhältnis von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes herangezogen. Die Kirche selbst muß in ihrer Struktur die Paradoxie von Autorität und Freiheit, von Solidarität und Kritik, durchhalten und sichtbar machen. Wer nur Solidarität übt und fordert, wird unkritisch, und wer Kritik zum Prinzip erhebt, verliert die Solidarität. So lebt die Kirche von dem wechselseitigen verantwortlichen Schauen auf den anderen, der episkopé. An die Stelle eines scheidenden Entweder-Oder tritt das sinnvolle Sowohl-Als-auch und das Miteinander — una cum. Ein wesentlicher Inhalt des Ökumenismus von heute und morgen ist die gemeinsame Entwicklung des Kirchenrechts in diesen sich abzeichnenden neuen Formen. Ohne eine folgerichtige Bemühung zur Besinnung

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und Gestaltung wird sonst der Ökumenismus in ein Mißverhältnis zwischen Antrieb und Wirklichkeit geraten.

Auf diesem Arbeitsfeld wird sich aber sehr bald herausstellen, daß sich bis heute ein bedeutender Bestand allgemein anerkannten Kirchenrechts durchgehalten hat, vom Taufrecht über einzelne Züge des Amtsrechts bis zur Gemeindeverfassung. Die Kirchenrechtslehre hat merkwürdigerweise völlig versäumt, sich auf diese Tatbestände zu besinnen. Auch dadurch verliert das Verhältnis der getrennten Kirchen die gegenseitige Durchlässigkeit. In der ökumenische Bewegung hat die Besinnung auf die Gemeinsamkeit der Taufe bereits ihre grundlegende Bedeutung erwiesen.

Es wird aber auch möglich sein, gemeinsame Grundaussagen über die Rechtsstruktur der Kirche zu machen. Über die Grundzüge und die Stoffanordnung der geplanten Lex Ecclesiae Fundamentalis hat Kardinal Felici auf den Conventus Internationalis Canonistarum im Jahre 1968 gewisse Aussagen gemacht. Es handelt sich um Konzeptionen, welche auch der reformatorischen Theologie keineswegs fremd sind. In der Weiterarbeit an diesen Aufgaben bin ich zu der Überzeugung gekommen, daß es methodisch und sachlich möglich wäre, der Lex Fundamentalis eine Gestalt zu geben, die — vor und oberhalb der Gegensätze — geeignet wäre, allgemein anerkanntes Kirchenrecht zu werden, welches von den trennenden Konfessionsunterschieden nicht betroffen wäre. Ein solcher Grundbestand gemeinsamen Rechtes würde neben der Basisformel des Ökumenischen Rates eine außerordentliche Bedeutung besitzen.

Es besteht Einigkeit darüber, daß das Ziel ökumenischen Fortschritts nicht eine Einheitskirche sein kann, noch weniger die Rückkehr des einen zum anderen. Die für uns erkennbare Grenze des Ökumenismus liegt darin, daß wir ein weitreichendes und konkretes System des Zusammenwirkens und der Verzahnung auszubilden vermögen, keinesfalls aber eine abgeschlossene, zum System ausgebildete Gemeinsamkeit. Ich spreche also nicht von dem Kirchenrecht der Zukunft, sondern entwerfe ein als dringlich anstehendes Programm für eine angemessene Lebensform der Kirche von morgen.

Ökumenismus ist also zugleich Voraussetzung wie Inhalt einer umfassenden Bemühung der Gegenwart für die Zukunft. Seine Grenze deckt sich mit den Grenzen menschlicher Einsicht und Gestaltung. Das Augsburgische Bekenntnis (Art. VII) spricht getrost aus, daß „alle Zeit müsse eine heilige christliche Kirche sein und bleiben” — die nicht wir erhalten. Ihre Zukunft können wir also Gott anheimstellen. Aber ob wir — menschlich geurteilt — nicht ernstlich in Gefahr sind, mangels Voraussicht und Energie aus der Kurve der Gegenwart getragen zu werden, das ist ernsthaft zu bedenken und fordert unsere gemeinsame Arbeit.