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Mönchtum und Reformation

 

Unter dem Titel, den wir dieser Studie gegeben haben, untersucht der Hamburger Kirchenhistoriker Bernhard Lohse Luthers Auseinandersetzung mit dem Mönchsideal des Mittelalters1. Das umfang- und gehaltreiche Buch behandelt theologiegeschichtlich das asketische und monastische Ideal zunächst kurz in der alten Kirche, dann breit im Mittelalter bei Hieronymus, Augustin, Cassian, dann bei den Haupttheologen der Scholastik und des Spätmittelalters und schließlich in subtilen Darlegungen die Entwicklung Luthers in der Auseinandersetzung mit dieser Tradition. An wichtigem und reichem Stoff fehlt es also nicht. Aber der Leser stutzt doch, wenn er schon im Vorwort hört, auf Benedikt von Nursia, Franz von Assisi und viele andere brauche man nicht einzugehen, weil sie zum „Ideal” nichts grundlegend Neues beigetragen haben dürften, so groß ihre Bedeutung für seine Verwirklichung auch gewesen sein möge (S. 5). Es wird diese völlige Bedeutungslosigkeit der Ordensstifter und Vorbilder des Mönchtums nicht etwa überprüft und nachgewiesen, sondern als gegeben vorausgesetzt. Die konkrete, geschichtliche Gestalt des Mönchtums im Morgen- und Abendland mit ihren unendlichen kirchengeschichtlichen und kulturgeschichtlichen Wirkungen erscheint lediglich als die Vollstreckung der durch eine Kette von theologischen Denkern dargestellten Ideengeschichte. Die Differenz zwischen Vorstellung und Verwirklichung, die unableitbare Einzigartigkeit, die jeder konkreten Gestaltung trotz aller Ideen innewohnt — dies alles kommt gar nicht in Anschlag — von den Fragen der sozialen Strukturen vollends abgesehen. Massiver kann der ideengeschichtliche Historismus, kann die Tradition des philosophischen Idealismus nicht in die Theologie hineingetragen werden.

Diesem Mißverhältnis entspricht — um es rundheraus zu sagen — die Dürftigkeit der grundsätzlichen, exegetisch-dogmatischen Erwägungen zu Anfang und am Schluß. Das Sachproblem, ein Lebensproblem der Kirche, wird auf wenigen Seiten, genauer gesehen, auf wenigen Zeilen bündig abgetan. Es ist hier im Grunde gar kein


1 Bernhard Lohse, Mönchtum und Reformation — Luthers Auseinandersetzung mit dem Mönchsideal des Mittelalters. Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 12. Göttingen 1963.

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Problem. Askein heißt zunächst nur im allgemeinen Sinn „üben” und hat dann den Sinn der Übung durch Enthaltung und Verzicht gewonnen, so daß das Mittel der Übung, eben der Verzicht, die Hauptsache bezeichnete und im Begriff den Sinn der Übung miteinschloß. Aber auch so sagt der Begriff noch nicht aus, warum und zu welchem Ziele Askese geübt wird. Aber Lohse versteht unter „eigentlicher” Askese ganz selbstverständlich eine Enthaltung, die „aus einer leibfeindlichen Haltung resultiert und daher grundsätzlich zu verstehen ist” (S. 17), und stellt dagegen die „freiwillige” um des Vorrangs der Gottesherrschaft willen. Der gedanklich nicht weiter durchgeprüfte fragwürdige Gegensatz zwischen Grundsätzlichkeit und Freiwilligkeit genügt, um beiseite zu stellen, daß es sich in beiden Fällen, auch in dem radikalen Wort Matth. 19, 12, um Enthaltung handelt. Auch das Problem, was die Askese Einzelner im Verhältnis zu den anderen Glaubenden bedeute, wird nicht aufgeworfen. Als allein maßgeblichen Quintessenz neutestamentlicher Ethik wird die paulinische Formel vom „Haben, als hätte man nicht” proklamiert. Was besagt denn eigentlich die Bindung an die Schrift, wenn auch das unbestrittene Herrenwort gegenüber einem Vorverständnis unwichtig wird, mit dem man im Grunde die eigenen historischen Entscheidungen rechtfertigt? Schief ist vor allem der Gegensatz zwischen Grundsätzlichkeit und Freiwilligkeit. „Grundsätzlich” hieße ein Verzicht, der eigentlich zum notwendigen Bestande christlicher Ethik gehören würde, aber vermöge der Schwachheit der großen Menge nur wenigen auferlegt werden kann, für die Übrigen ermäßigt werden muß. Ein Element solcher Grundsätzlichkeit ist im Mönchtum insoweit enthalten, als dieses als Spitze eines Vollkommenheitsideals verstanden wird. Aber schon die fragwürdige Vorstellung der Stufung zeigt, wie sehr diese Grundsätzlichkeit von vornherein relativiert werden mußte, um überhaupt durchgebildet und gelebt werden zu können. Eben darum ist die mönchisches Lebensform nie zur allgemeinen Forderung für den Christen erhoben worden — und deshalb ist sie immer eine freie und freiwillige gewesen, eine Aussonderung auf Grund eines „Berufs”, der nicht jedermann verliehen ist.

Das Abheben auf die Freiwilligkeit bei Lohse bedeutet aber etwas ganz anderes. Die Askese wird zur rein individuellen, subjektiven Entscheidung, die in keinem Verhältnis zu den Entscheidungen anderer steht, von daher weder positiv noch negativ beurteilt werden kann. Es ist die Konsequenz der von ihm nicht weiter begründeten Voraussetzung, daß es nur eine Einheitsethik gebe. Er beantwortet mit dieser Unterscheidung eine Frage, die er offen nicht stellt.

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Es ist seltsam und doch nicht zufällig: diese geborenen Historisten verlieren die Geschichte. Sie haben sie in Gegenwart und Zukunft nicht vor sich, sondern nur noch hinter sich. Sie ist ein für allemal in den unüberbietbaren Aufstellungen der Reformation gegeben. Hier rächt sich das Mißverhältnis zur Real- und Sozialgeschichte. Es genügt bis ans Ende der Zeiten, daß ein großer und mutiger Mann wie Luther sich entschieden, daß er Geschichte gemacht hat.

So ist nicht nur die Kirchengeschichte vom 2. bis 16. Jahrhundert eine Zeit fortschreitender Verdunkelung, die alles in ihr Geschehene bis zu unserer souveränen Prüfung verdächtig macht: es gibt von da ab auch nur eine Vollstreckung der im 16. Jahrhundert neu hervorgetretenen ewigen Wahrheit. Man muß sie nur in der eigentlichen Intention der Reformatoren rein erheben. Es entsteht durch diesen Wahrheitsbegriff eine kleine, informelle Unfehlbarkeit der Reformation: die großen, entscheidenden Fragen sind irreversibel entschieden — zu entscheiden sind als neue nur noch sekundäre Fragen, solche der Anwendung und Anpassung.

So muß es aber keineswegs sein. Man vergleiche mit solcher Betrachtung etwa das, was Franz Lau in dem Artikel „Askese” in der neuen, dritten Auflage von „Religion in Geschichte und Gegenwart” sagt. Dort heißt es in einer sehr viel kritischeren Erwägung:

„Mit Nachdruck darf man jedoch fragen, ob aus dem im reformatorischen Denken vorhandenen Ansatz in der evangelischen Ethik der Gegenwart schon die vollen Konsequenzen gezogen sind” (Sp. 648).

Diese Frage stellt Lau wenigstens, und wir wollen versuchen, die Aufgabe anzugreifen, nachdem längst im Bereich der reformatorischen Kirchen monastische Gemeinschaften entstanden sind und das Problem der Askese neu aufgeworfen ist. Offensichtlich werden diese Dinge durch die überlieferten Urteile nicht getroffen. Die wissenschaftliche Theologie hinkt hinter der Kirchengeschichte her.

An anderer Stelle, in einem dem Buch vorgreifenden Aufsatz in der „Evangelischen Theologie” zitiert Lohse einen Ausspruch Luthers, daß Franz von Assisi die Katholizität des Glaubens aufhebe, da er ja eine besondere Lebensregel aufstelle. Die Einheitlichkeit der Ethik wird mit der Allgemeinheit des Glaubens gleichgestellt. Eine solche Gleichsetzung hätte der sorgfältigsten Begründung bedurft. Sie wird aber auf Grund des Lutherwortes als gegeben angenommen. Daß es diese dialektische Einheit der Ethik bei Paulus gibt, ist ja unbestritten. Aber daß diese Form eine ausschließliche sei, ist nicht so ohne weiteres hinzunehmen. Christliche Existenz ist eschatologische Existenz — christliche Ethik ist eschatologische Ethik.

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Christliche Existenz und Ethik stehen in der Spannung des „Noch nicht” und „Doch schon”. Der neue Äon ist schon angebrochen und dennoch noch nicht erschienen, was wir sein werden.

Da es sich hier nun um ein dialektisches Verhältnis handelt, die Verbindung zweier gegensätzliche Bestimmungen, ergeben sich für die Ethik von vornherein zwei verschiedene Möglichkeiten der Verwirklichung. Jene zwei Möglichkeiten sind folgende:

Entweder muß im Leben jedes einzelnen Christen dieser ganze Gegensatz bewahrt und zum vollen Austrag gebracht werden. Oder aber die Ethik rechnet mit unterschiedlichen Formen christlicher Lebensgestaltung, die aufeinander bezogen sind, die den Schwerpunkt auf der einen oder anderen Seite haben, aber erst durch ihre wechselseitige Ergänzung das Ganze christlichen Lebens ausmachen. Beide Haltungen bedeuten jeweils schon eine gewisse Vorentscheidung für bestimmte soziale Formen: die erste rechnet mit unverbundenen Einzelnen, da ja das Entscheidende immer nur vom je Einzelnen getan und verantwortet werden kann; die zweite rechnet mit einer Gemeinschaft, in der die Haltung des einen etwas für den anderen austrägt.

Beide Haltungen stehen unter ganz entsprechenden Gefahren der Entartung und des Mißbrauchs. Die erste — nennen wir sie Einheitslösung — ist in der Gefahr, den Menschen zu isolieren und zugleich radikal zu überfordern, da er ja in seiner sozialen Gebundenheit keine autarke Größe sein kann. Die zweite erliegt ebensoleicht der Neigung, das einzelne Moment absolut zu setzen, zu vergesetzlichen und sich daran zu verhärten. Beide Haltungen sind aber in der gleichen Gefahr, das Ganze dieses tragenden Gegensatzes aus dem Blick zu verlieren.

Beide Haltungen und Lösungen finden wir bereits im Neuen Testament nebeneinander vor. Die erstere Haltung kann man als das „Haben, als hätte man nicht” umschreiben. Es besteht Einigkeit, daß hieraus kein negatives Gesetz gemacht werden kann, kein allgemeiner Verzicht auf Ehe, Eigentum, politischer Existenz und Macht. Denn das wäre e ben ein Gesetz und nicht Evangelium der Freiheit. So übernimmt der Christ gehorsam die Last aller innerweltlichen Lebensbedingungen und Verpflichtungen — aber unter einem strengen Vorbehalt, daß sie angesichts der letzten Dinge und im neuen Äon ihre entscheidende Bedeutung verloren haben. Diese gehorsame Übernahme der Last und Not der Welt hat freilich die Gefahr in sich, daß schließlich nur dieses Stehen und Haben in den Gegebenheiten

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und Ordnungen der Welt als Glaubenspflicht angesehen und wahrgenommen wird, allenfalls ermäßigt durch eine sehr bürgerliche Achtbarkeit und die Zähmung der stärkeren Antriebe.

Das lutherische Christentum hat nun mit außerordentlicher volkserzieherischer Wirksamkeit den durch den Glauben befreiten Menschen von neuem in die Übernahme der Gegebenheiten dieser Welt zurückverwiesen. Es hat mit gleicher Energie die entgegengesetzte Folgerung, den Gedanken, die Freiheit der Kinder Gottes in der Welt zu verbreiten, diese durch eine bessere Gerechtigkeit zu verwandeln, nicht ohne manche Einseitigkeit und Ungerechtigkeit als Schwärmertum abgewiesen und gebrandmarkt. Ähnlich und doch wesentlich anders der Calvinismus.

Aber die Ethik beider reformatorischen Bekenntnisse hätte aufgehört, christliche Ethik zu sein, wenn sie nicht in irgendeiner konkreten Weise das „als hätte man nicht” verwirklicht hätte. Von daher stammt jene innerweltliche Askese auf dem wirtschaftlichen Gebiet, aus der man — sie zu einseitig dem Calvinismus zuweisend — eine der Quellen kapitalistischer Wirtschaftsgesinnung abgeleitet hat. Wenn man dem Christen verwehrt, seine Mittel zu genießen wie im fröhlichen alten England, dann werden gesammelte Kräfte für andere Dinge frei. Das ist überall dort geschehen, wo moderne Wirtschaftsformen größere Mittel erzeugten und den Menschen veranlaßten, über ihre Verwendung nachzudenken. In den überwiegend bäuerlich-handwerklichen Gebieten im lutherischen Nordosten gab es solche reichen Mittel nicht. Die innerweltliche Askese wurde hier zum Machtverzicht, zum Verzicht auf Selbstbehauptung.

Wenn Luther forderte, daß der Christ für seine eigene Person eher Unrecht leiden als um sein Recht streiten, dagegen für den Nächsten und sein Recht energisch eintreten solle, so war dies gewiß keine Anweisung zum unbedingten Gehorsam, keine Passivität und gefügige Gesinnung. Aber es brach die emotionalen Antriebskräfte zur Selbstgestaltung, zur eigenen Zielsetzung, zur Mitgestaltung, wo eigenes und Gemeinschaftsinteresse sich so eindeutig nicht scheiden lassen.

Diese innerweltliche Einheitsethik aber verlor mehr und mehr ihre innere Spannung. Sie wurde zum innerweltlichen Dienst- und Berufsethos schlechthin. Die Eschatologie verschwand überhaupt. Die Verwirklichung des Sittlichen in der Welt wurde zum Gegenstand der Ethik — Kirche und Staat fielen für konsequente Denker in eins — oder die Kirche wurde von völlig leibloser Innerlichkeit.

Inzwischen ist längst das Verlorene wiederentdeckt worden. Aber

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was nicht gelungen ist, das ist die Übersetzung der Einheitsethik in die Situation der modernen Gesellschaft.

Die moderne Demokratie ist auf Gedeih und Verderb auf die Spontaneität ihrer Bürger angewiesen. Für die Entstehung des modernen Staates hatte die Dienst- und Berufsethik ihren hohen Wert. Heute führt der künstliche Versuch reiner gemeinnütziger Objektivität, des Absehens vom Eigeninteresse zu schweren inneren und äußeren Störungen des Verfassungslebens. In der Verbrauchs- und Expansionswirtschaft hat der Konsumverzicht als allgemeine Forderung keinen Sinn, ist sogar systemwidrig. Beide Haltungen müßten also neu durchdacht, überprüft und in eine gänzlich veränderte Welt übersetzt werden. Das ist aber bisher nicht geschehen, ja noch nicht einmal versucht worden. Es ist auch bisher nicht zu sehen, wie es etwa geschehen könnte. Daß hier etwas nicht stimmt, wird auch irgendwie empfunden. Er schlägt in krankhafter und unguter Weise aus, weil es keine sinnvolle Lösung findet. Da der evangelische Christ sich des Gebrauchs der Dinge ja nicht allgemein entschlagen kann, entlädt sich das Unbehagen an dem Mangel einer situationsgerechten Ethik in einem allgemeinen Kritizismus. Das ist nicht besser als das gedankenlose behagliche Sich-Anpassen und Treibenlassen, dessen sich so viele Christen schuldig machen. Man sieht, daß im Grunde beide Seiten christlicher Ethik auseinandergefallen sind, und die Haltung der Christenheit beinahe schizophrene Züge zeigt. Die Passivität der einen treibt die Empfindlichkeit der anderen, und die Hysterie der Empfindlichen verführt die Ruhigen und Gesunden, sich um nichts mehr zu kümmern als die Notwendigkeiten des Augenblicks.

Die andere Form eschatologischer Ethik finden wir ebenfalls, und zwar durchaus gleichberechtigt, im Neuen Testament. Es ist diejenige zwei- und mehrgleisiger Lösungen. Wir sehen sie bereits in Matth. 19. In demselben Abschnitt, in dem die Unverbrüchlichkeit der Ehe gegenüber dem mosaischen Scheidungsrecht und damit ihre Bedeutung in unüberbietbarer Radikalität herausgestellt wird, wird zugleich mit der Ehelosigkeit als einem anderen Wege gerechnet. Neben dem von Geburt Eheuntauglichen steht der, der sich selbst um des Himmelreichs willen verschnitten hat. Der Ehetaugliche hat hier auf die Geschlechtlichkeit frei verzichtet, und dies wird als eine Möglichkeit des Glaubens durchaus positiv verzeichnet. Paulus führt diese Linie in seinen vielfältigen und verwickelten Anweisungen über Ehe und Ehelosigkeit weiter. Man hat seine Haltung in der Formel zusammengefaßt: Heiraten ist gut, Nichtheiraten ist besser.

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Dieser Satz und Ansatz ist sehr bald dem naheliegenden Mißverständnis ausgesetzt gewesen, es handele sich dabei um eine Steigerung, um verschiedene Grade der Vollkommenheit. Eine einfache Erwägung zeigt jedoch, daß dies ein Irrtum ist.

Das Bessere müßte das Gute einschließen oder überwinden. Aber die Ehelosigkeit tut weder das eine noch das andere. Ehe und Ehelosigkeit schließen sich ja aus — aber sie lassen einander zugleich in ihrer Bedeutung bestehen, wobei ein endzeitliches Gefälle auf die Ehelosigkeit, auf die Aufhebung der Geschlechtlichkeit im Sinne von Gal. 3, 28 durchaus eingeschlossen ist. Im Gegenteil haben beide Haltungen sich etwas zu sagen: die Ehelosigkeit hält auch für die in den Ordnungen der Welt Lebenden jenen endzeitlichen Horizont offen. Die Ehe dagegen, ihre Bejahung, ihre Nichtaufhebung bewahrt jene Haltung davor, zu schwärmerischen Absolutheit zu entarten. So halten beide sich gegenseitig und bilden zusammen, wiewohl sie sich für den einzelnen Menschen ausschließen, für die Verwirklichung christlicher Ethik ein Ganzes.

Jene lange verdunkelte Einsicht hat nun in der Gegenwart für Kirche und Christenheit eine ungeahnte Aktualität gewonnen — in den hart umstrittenen Fragen des Atomkrieges. Eine Studienkommission des Christophorus-Stiftes hat sich lange unter Heranziehung von sachverständigen Gelehrten mit dieser Frage befaßt2. Unvermittelt standen sich die radikale Ablehnung jeder Beteiligung an einer Verwendung atomarer Waffen und die Verantwortung für die Bewahrung des Friedens und die Auseinandersetzung mit der einmal geschichtlich nicht mehr rücknehmbaren Beherrschung atomarer Kräfte gegenüber. Für die einen war die Unverletztheit des eigenen Gewissens, für die anderen die Verantwortung für die Gesamtheit entscheidend. Freilich konnte auch Hellmut Gollwitzer von Präsident Eisenhower nicht fordern, daß er um jeden Preis augenblicklich die vorhandenen Atombomben ins Meer fallen lasse. Der großartigen Klarheit C.F. v. Weizsäckers verdankte der Kreis die entscheidende Einsicht, daß es sich hier nicht mehr im alten Sinne um eine, notwendig eindeutige Entscheidung, sondern um ein sich ergänzendes,


2 Vgl. hierzu den Sammelband „Atomzeitalter, Krieg und Frieden”. Forschungen und Berichte der Evangelischen Studiengemeinschaft Band 17, 3. Auflage 1962 Witten und Berlin; ferner in der Anwendung auf die Kirche: Dombois, „Das Recht der Gnade” — Ökumenisches Kirchenrecht I — Forschungen und Berichte Band 20 (Witten 1961), Seite 266ff.

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wenn auch gerade sich ausschließendes Miteinander zweier Haltungen handele, deren Verhältnis als Komplementarität zu begreifen sei.

Die gesamtdeutsche Synode war in den gleichen Fragen unter der Formel auseinandergegangen, man wolle unter dem Evangelium zusammenbleiben. Diese Auffassung setzt also voraus, daß bei besserer Bemühung und Einsicht eine, für alle verbindliche Lösung des Problems gefunden werden könne und müsse. Bis zu jener oben formulierten Erkenntnis war die Synode nicht vorgestoßen. Auch die „Kirchlichen Bruderschaften” wie Karl Barth persönlich haben sich ihr leider verschlossen und sich gerade dadurch um die Möglichkeit einer besseren Begründung ihrer Position und einer fruchtbaren Wirksamkeit in diesen Fragen gebracht. Sie wollten und konnten nur eine Ethik in zentralen Fragen von eindeutiger Absolutheit gelten lassen und mißverstanden jene Anschauung als unverbindliche Relativierung. Trotzdem ist — auch gegenüber fragwürdigen oder gar herausfordernden — Verlautbarungen jener Gruppen anzuerkennen, daß sie durch die Herausarbeitung und Wachhaltung dieser Fragen der Kirche einen unverzichtbaren Dienst erwiesen haben. Sie verhinderten eine bequeme Verkennung der Lage, als ob es sich heute lediglich um eine quantitative Steigerung der herkömmlichen Vernichtungswaffen handele.

Wir haben in der Folgezeit sehr sorgfältig die Frage erwogen, ob jene These von der Komplementarität unterschiedlicher ethischer Haltungen allgemeinere Anwendung auf die Ethik erlaubte und sind schließlich dazu gekommen, daß dies durchaus der Fall ist. Nur im Lichte dieser Einsicht kann das Verhältnis von Bruderschaften und Kirche, von Bruderschaft und Welt, aber auch das Problem von Askese und Mönchtum wirklich verstanden, situationsgerecht gedeutet werden. In einem einlinigen Verständnis von Wahrheit, Kirche, Ethik hat das alles keinen Platz. Die Einlinigkeit des Denkens in ausschließenden Gegensätzen, in Alternativen ist ein gefährliches Gefälle in der abendländischen Christenheit, welches viel zur Zerstörung der Kircheneinheit beigetragen hat3. So hat die Frage auch eine ökumenische Dimension.

Mit diesen Erwägungen sind wir bereits an den Rand soziologischer Fragestellungen herangekommen.


3 Zur Problematik der Kirchenspaltung vgl. Dombois in Cullmann-Roesle, „Begegnung der Christen” — Festschrift für Otto Karrer, 2. Auflage, S. 391ff.

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Für die religionssoziologische Seite unserer Frage gilt die von van der Leeuw formulierte Dualität von Gemeinschaft und Bund. Gemeinschaft wird hier nicht (wie bei Tönnies) der Gesellschaft gegenübergestellt. Gemeinschaft meint hier die Zusammengehörigkeit auf Grund vorgegebener Umstände, in erster Linie durch Geburt, aber auch in der ständischen Zusammenfassung aller Angehörigen eines Berufes oder Dienstes. Bund heißt im Gegensatz dazu die Zusammengehörigkeit auf Grund freier, den Einzelnen aussondernder Wahl und Entscheidung. Es liegt auf der Hand, daß das Christentum als Bund, nicht als Gemeinschaft in die Geschichte eingetreten ist. Aber wiewohl es um des Glaubens willen dazu kommen kann, daß auch die Familien sich scheiden müssen, so ist es doch niemals Ziel und Tendenz der Urkirche gewesen, solche Gemeinschaften aufzulösen. So werden etwa ganze Häuser unter Vorantritt der Hausväter oder Hausmütter getauft. Vor allem aber bildet sich innerhalb der Gemeinde selbst wiederum Gemeinschaft durch die Generationenfolge. Es wird, mindestens zum Teil, nicht mehr nach nationalen oder sozialen Gesichtspunkten geheiratet, sondern nach der Gemeinsamkeit des Glaubens, und die christlichen Eltern ziehen ihre Kinder bereits im Glauben auf. Wird aber die Gemeinde immer mehr in diesem Sinne Gemeinschaft, vollends als Volks- und Staatskirche, so tritt unweigerlich der Charakter des Bundes, der personalen Entscheidung zurück. In der radikalen Aussonderung aus der Welt durch die Glaubensentscheidung aber ist das eschatologische Element des Glaubens aufbewahrt. Je mehr dieses Element bei einem stärkeren Eingehen der Kirche in die Welt und ihre Gruppen zurücktritt, desto mehr muß es aus dem Schoß der Kirche heraus wieder geltend gemacht und zur Wirksamkeit gebracht werden. Dies ist der innere Grund und die Berechtigung der Bildung von besonderen Gemeinschaften als Orden oder Bruderschaften. Gleichwohl haben diese Gruppen das Eingehen der Kirche in die Geschichte, die Bildung der Großkirche niemals von Grund auf in Frage gestellt. Sie haben sich immer nur als kritische Ergänzung der Großkirche und Gemeindekirche verstanden und den Zusammenhang, die Disziplin gewahrt, auch wenn sie ihre Lebensform als höhere Stufe der Vollkommenheit mißverstanden.

Die Reformatoren haben den in der katholischen Kirche untergegangenen Gemeindegedanken wiederentdeckt und waren damit beschäftigt; sie hatten andererseits das Ordens- und Bruderschaftswesen in der verkommenen Form des späten Mittelalters vor sich. Sie sind deshalb diesen Erscheinungen nicht wirklich gerecht geworden,

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sondern sind einseitig den Weg der oben beschriebenen Einheitsethik gegangen. Die viel zitierte Gemeinschaft derer, die mit Ernst Christen sein wollen, von der Luther gesprochen hat und für die er an andere Gottesdienstformen dachte, war jedenfalls etwas anderes. Mit der Konzentration des Interesses auf die Gemeinde hat freilich die Reformation die gesamtkirchlichen Lebensformen fast völlig aus den Augen verloren — ebenso wie auf der anderen Seite diese Gruppen besonderer Dienste und besonderer Lebensführung. Dem entspricht, daß die Reformation mit dem Bischofsamt zugleich dasjenige des Diakons verloren hat. Die Kirche lebt nicht nur in der einzigen sozialen Form der Gemeinde. Der biblische Begriff ekklesia bedeutet sowohl die Gesamtkirche wie die örtliche Versammlung der Christen. So hat die Kirche drei Gestalten: die (Gesamt-)Kirche, die (Orts-)Gemeinde und die Bruderschaft. Innerhalb dieser Dreiheit aber sind Gesamtkirche und Gemeinde, so wie sie geschichtlich geworden sind: Gemeinschaft — die Bruderschaft ist Bund und repräsentiert in diesem Gesamtgefüge den Bundescharakter, die Bundesseite der Kirche.

Diese Komplementarität hat freilich noch einen sehr zu beachtenden Wandel durchgemacht. Riefen Orden und Bruderschaften zunächst die verweltlichte Großkirche und Gemeinde in die radikale Aussonderung zurück, so haben sie doch zugleich auch den Anspruch der Welt an die Kirche zur Geltung gebracht. Denn je mehr die Kirche ein großes, in sich selbst ruhendes Gefüge wurde, desto mehr drohte sie selbstgenügsam sich gegen den Anspruch der Welt zu verschließen, ihre diakonische und missionarische Aufgabe zu vernachlässigen, die Salzkraft zu verlieren. Die Bruderschaften, die frei in der Welt stehen und ihre Nöte und Fragen hören und kennen, vermitteln zwischen Welt und Kirche in beiden Richtungen, von der Kirche zur Welt und von der Welt zur Kirche.

Die Erfassung rechtlich-sozialer Strukturen in der Auslegung des Neuen Testaments, aber auch die Anwendung der Wissenssoziologie auf die Theologie selbst sind notwendige und längst fällige Schritte in eine neue Bewußtseinsstufe der Theologie. Mit der harmlosen Mode der Pastoralsoziologie kann man diese Fragen nicht ablenken.

Nun sind das Phänomen und der Begriff der Komplementarität erst neu. Der Begriff bietet ein Hilfsmittel, um gegensätzliche Erscheinungen in ihrer Bezüglichkeit verständlich zu machen, die sonst in falschen Alternativen einander gegenübergestellt werden müssen. An Stelle dessen ist die Exegese von der selbstverständlichen

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Voraussetzung ausgegangen, daß es sich immer nur um eine für alle gültige Einheitslösung, allenfalls mit gewissen radikalen Ausnahmen, handeln könne. Damit wird eine bestimmte soziale Anschauung vom Menschen in die Heilige Schrift hineingetragen, die aus ihr selbst nicht gewonnen ist. Noch schlimmer: die Einheitlichkeit und Durchgängigkeit der Ethik entspricht die Durchgängigkeit der Kausalgesetzlichkeit der klassischen Physik. Wenn man sich auf das konkrete geistliche Leben der Kirche besonnen hätte, hätte man wenigstens einiges von jener Vielfalt im Blick behalten müssen. Eine Einheitsethik aber hat, wie schon angedeutet, ein Gefälle zum Individualismus, weil das Ganze ja in jedem Einzelnen, wenn auch in verschiedener Weise zum Austrag kommen muß. Je weniger man aber Verständnis für die sozialen Strukturen hat, mit denen das Neue Testament rechnet und in denen es das Evangelium ausdrückt, desto unbefangener werden die höchst zeitbedingten sozialen Vorstellungen der jeweiligen Ausleger in dasselbe hineingelegt, wie dies klassisch Olof Linton für die großen Theologen des 19. Jahrhunderts von Schleiermacher bis Harnack gezeigt hat. Daran hat sich seither wenig geändert.

Wir stehen vor der beschämende Tatsache, daß rein weltliche Geistesbewegungen der Kirche und Theologie, weitgehend gegen deren Widerstand, zu einem neuen Selbstverständnis helfen, ja sie dazu nötigen mußten. Aufklärung und Romantik haben das Bewußtsein für die Eigenständigkeit der Kirche neu ermöglicht — aber das betraf nur das „Daß” und „Ob”. Nun muß die Soziologie und Sozialgeschichte mit der Interpretation sozialer Rollen, mit der Aufschließung historisch-sozialer Strukturen helfen, auch das „Wie” neu zu erwägen, über das man solange gemeint hat, aus prinzipiellen Gründen nichts sagen zu können und zu dürfen.