Exkurs I

Zur dialogischen Theologie

Außerhalb der hier thematisch behandelten kirchengeschichtlichen Bewegung steht als interessante Erscheinung die Theologie und Philosophie des Dialoges. Die Grundpositionen dieses Dialoggedankens bei Buber und Ebner sind gelegentlich sehr klar in folgenden fünf Punkten dargestellt worden:1

Erstens: Gott als ewiges Du ist Person, nie und in keiner Weise Es-Struktur, wie in vielen Religionen, auch nie bloße Überhöhung von Es-Strukturen. Er redet den Menschen als Gegenüber an;

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Gotteswahrheit ereignet sich in der Bewegung.
Zweitens: Gott ist nur faßbar in der Beziehung, nie außerhalb derselben. Biblisch: er ist faßbar in der Bundesgeschichte mit Israel und in der Geschichte Jesu von Nazareth.
Drittens: Es gibt kein objektivierendes Verfügen über Gott, sondern nur Begegnung im Ereignis und in der Geschichte.
Viertens: Gott tritt dem Menschen in der Anrede, im Wort entgegen; auch sein Handeln hat worthaften Charakter, d.h. er sprich an und fordert die Entscheidung. Gott ist nie Sachwahrheit oder allgemeine Idee.
Fünftens: Gottes Anrede verfügt nicht über den Menschen, sondern setzt den Raum zur echten Freiheit der Antwort. Gott will so nicht die Vergöttlichung des Menschen, sondern seine Vermenschlichung.

Aus dieser Konzeption sind dann für die Anthropologie ausdrücklich analogische Folgerungen gezogen worden. Aus den entsprechenden Formulierungen genügt hier zu zitieren unter drittens:

Existenz kann nicht verfügbar sein …, sondern ist je neu zu finden in geschichtlicher Begegnung.

Unter viertens:

Wenn der antwortende Charakter von Existenz betont wird, so ist Menschsein als Wortmächtigkeit zu charakterisieren; die Sprache ist der Mensch und der Mensch ist die Sprache.

Diese in Theologie und Philosophie weit verbreitete Konzeption schließt eine Sozialtheorie ein. Sie ist überhaupt wesentlich eine solche. Auffälligerweise ist sie in keiner Weise zur Geschichte der konkreten Formen des Miteinanderlebens der Menschen in Beziehung gesetzt. Sie ist eine verborgene Geschichtsphilosophie und Geschichtskritik, durch welche bestimmte Formen des Miteinanderlebens abgewertet, disqualifiziert, ausgeschlossen werden, aber eben ohne eine ausdrückliche Gegenüberstellung mit solchen Lebensformen, in denen etwa das hier Kritisierte Wirklichkeit geworden ist.

Eine nähere Untersuchung der oben wiedergegebenen Thesen zeigt dies noch deutlicher. Der erste Satz ist zunächst zurückzustellen, weil er mehrdeutig ist. Der zweite Satz dagegen verweist ausdrücklich auf die aus der Theologie des AT bekannten und im NT neu aufgenommenen Bundesstrukturen. Auf die Relationalität dieser Strukturen, über deren Beschreibung im großen Ganzen Einigkeit besteht, ist immer wieder hingewiesen worden. Irrtümlich ist jedoch die Annahme, daß diese Strukturen ein spezifisches Merkmal des Bundesdenkens des AT und NT seien. Analoge Strukturen finden

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sich kulturmorophologisch klar darstellbar in entsprechenden Entwicklungsstufen anderer Völker und Geistesbereiche. Damit ist es zugleich gesagt, daß diese Strukturen mindestens nach der einen Seite innerweltlichen Charakter haben, also der Auflösung durch Rationalisierung und damit auch einer bestimmten Vergegenständlichung unterliegen. Sie können also nicht als absolute Bestimmung von Existenz und Geschichte verwendet werden. Dies wird noch deutlicher in der dritten These. Der Begriff des Verfügens ist nur dort sinnvoll, wo zugleich der Begriff der Unverfügbarkeit eingeführt und notwendig wird. Auch der Ausschluß der Verfügung hängt daran, daß der Gegensatz von Verfügung und Unverfügbarkeit nach der Struktur des denkerischen Gesamtentwurfs sinnvoll ist. Daher besteht zwischen der dritten und der zweiten These ein nicht behebbarer Gegensatz. Der Strukturgegensatz des Denkens, der hier sichtbar wird, ist nicht allein ein denkerischer, sondern wird gerade durch die geschichtliche Differenz der Systeme bedingt. Gegenüber diesem Tatbestand bringt These 4 nicht sehr viel mehr als eine nähere Entfaltung des Gedankens. Der Stellenwert jedoch, welchen hier der Wortbegriff gewinnt, ist ebenso wie die frühere Einführung des Begriffs der Verfügung geschichtlich und systembedingt. Was für den Begriff der Verfügung gilt, gilt weitgehend auch für den Begriff der Entscheidung. Die Jeweiligkeit und Aktualität, welche hier mit dem Wortbegriff verbunden wird, ist im Zusammenhang des in These 2 Ausgedrückten nur im Horizont des vorausgesetzten Bundesverhältnisses sinnvoll. In dem Systemzusammenhang aber, in dem von Verfügung die Rede sein kann, haben die Begriffe Wort und Entscheidung einen ebenso abstrakten Charakter wie die Aussageformen, die in der Gotteslehre hier für unangemessen gehalten werden. Die aktuelle Beliebigkeit des Wortes mit ebenso beliebigen Inhalten ist etwas anderes als das Wort im Bereich der Geschichte des Bundes.

Wir stoßen hier auf die Tatsache, daß der Begriff des Wortes Gottes in der Theologie kaum kritisch geklärt worden ist. Nach Piper2 ist „Wort Gottes” im NT ein „technischer Begriff, der gewöhnlich als Synonym von Evangelium erscheint. Der urchristliche Gebrauch folgt dem des AT, sofern Wort Gottes sowohl die Schrift wie auch die Selbstmitteilung Gottes im Geiste bezeichnet. Darüber hinaus ist es im NT durch den unlöslichen Zusammenhang bestimmt, in dem es mit der Person Jesu steht … so daß in der synoptischen Tradition die Verkündigung der kommenden Gottesherrschaft und das Wirken Jesu zu einer Einheit verschmolzen sind … Darüber hinaus betont

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Paulus und ähnlich Apk., daß die Bedeutung des Wortes Gottes in seinem Ausgesprochenwerden liegt”. Demnach haben wir eine sehr weite Spannbreite des Verständnisses bereits im NT selbst. Von der personalen Identität zwischen Wort Gottes und Person Jesu bis zu dem Wort, welches ausgesprochen werden muß, besteht ein weiter Bogen, eine Schwenkung fast um 180˚. Dem entspricht auch die höchst unterschiedliche Auslegung dieses Tatbestandes. So kann Paul Tillich sagen: „Das Wort Gottes wird oft halb wörtlich, halb symbolisch als ein gesprochenes Wort dargeboten. Diese Intellektualisierung der Offenbarung widerspricht dem Sinn der Logoschristologie … Logos (meint) eine Offenbarungswirklichkeit und nicht Offenbarungsworte. Wenn die Logoslehre ernstgenommen wird, verhindert sie die Entwicklung einer Theologie des gesprochenen oder geschriebenen Wortes, die dem Protestantismus zum Verhängnis geworden ist.”3

Man vergleiche auf den anderen Seite die theologischen Konzeptionen, die aus der obigen Linie von Buber und Ebner her kommen und die Theologie des Sprachereignisses in der Bultmannschule bis hin zur Ausbildung des Begriffs „Worthafte Existenz” bei Ebeling.

Nun ist gerade charakteristisch, daß solche zentralen Begriffe wie „Wort” icht radikal kritisch behandelt werden. Sie werden als Basisbegriffe, als Ausdruck geschichtlicher Vorentscheidungen gerade nicht eindeutig definiert, sondern in ihrer Mehrdeutigkeit belassen. Sie sind deswegen nicht einfach Formelkompromisse, wie sie die Jurisprudenz mit Erfolg benutzt. Sie decken aber gewissermaßen eine größere Fläche und erlauben dadurch unterschiedlichen Geistern, auf dieser Grundlage zu leben und zu denken. Eine wirklich kritische Auseinandersetzung mit diesem Begriff, seine Tragweite und historischen Bedeutung ist ebensowenig zu erwarten wie eine vorbehaltlose Untersuchung des Papsttums in der Römischen Kirche. Freilich kann auch die kühnste Brückenkonstruktion dann nicht mehr stehenbleiben, wenn die Pfeiler bis zur Dünne eines Bleistiftes zugespitzt werden. Die Ausbildung einer ausdrücklichen Worttheologie, welche das Seins- und Wirklichkeitsproblem nur noch verbal, aber in der Sache nicht mehr einschließt, führt zu einer Sprengung oder Auflösung der tragenden Spannung, die nach dem oben Gesagten eine sinnvolle Basisfunktion hat. Eine so extreme Theologie bringt nicht das Eigentliche zur Geltung, sondern zerstört durch eine barocke Überbildung die Einheit des Ganzen. Solche extremen Ausbildungen sind häufig ein Anzeichen für ein geschichtliches Ende. Die breite Entfaltung des Wortbegriffs und des Sprachproblems

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ähnelt verzweifelt spekulativen Bildungen mit emphatischen Einschlägen, wie wir sie in der katholischen Ekklesiologie und Mariologie vorfinden. Der einmal gewonnene Ansatz erlaubt fast unbegrenzte Konsequenzen. Es gibt kaum ein Prädikat, welches dem Wort nicht beigelegt werden könnte.

Das Pathos, welches der zweiten These innewohnt, wird durch die Annahme getragen, daß so die Eigentlichkeit des Menschen in den Blick genommen werde, während die abgelehnten Formen eine Art Verfremdung darstellen. Die Differenz der geschichtlichen Formen (die gar nicht erkannt wird) wird aus einem religiösen Antrieb zu einer Differenz zwischen Heil und Unheil, welch letzteres in bestimmten Lebens- und Anschauungsformen und Verhaltensweisen gesehen wird. Dies wird auch bei der Einführung des Begriffes Es-Struktur sichtbar. Hier ist ja gemein die Objektstellung der materiellen und immateriellen Gegenstände menschlichen Handelns und Bewußtseins. Aber diese Objektstellung selbst ist wiederum eine historisch erwachsene. Infolgedessen kann sie auch nicht einfach als Kriterium der Unterscheidung zwischen Personalität und Nichtpersonalität überhaupt verwendet werden. Der Einbeziehung der geschaffenen Welt in den Lebensbereich des Menschen ist vor der Ausbildung einer Objektstellung eine ebenso relationale, wie nach These 2 für das Bundesverhältnis angenommen wird. Der Mensch wird zunächst durch die Sache, welche er qualifiziert, selbst auch qualifiziert. Infolgedessen ist die Unterscheidung zwischen personalen und Sachbezügen im Raum der Religionsphilosophie grundsätzlich problematisch. Sie ist vielmehr eine Rückwärtsübertragung von späteren Unterscheidungen, durch welche lediglich die Unbefangenheit des Umgangs durch die Krise der Spaltung von Subjekt und Objekt zerstört wird. Man kann also nicht gleichzeitig in den Kategorien des Bundes und mit den Begriffen der hier verwendeten Religionsphilosophie regen. Dieses Mißverständnis und dieser Widerspruch aber liegt den verschiedenen Versuchen der Worttheologie in wesentlichem Umfange gemeinsam zugrunde. Die Theologie des verbalen Wortes ist eine bürgerliche Erscheinung und hat soviel Recht als die bürgerliche Epoche. Daraus wird verständlich, daß die Theologie dieser Epoche sich einseitig auf die Seite des NT gestützt hat, in welcher im Kontext ganz anderer Anschauungen eine Strecke weit diese Verbalität in den Vordergrund tritt. Die Auswahl der Texte des NT ist selber eine durch die Sozialgeschichte bedingte Erscheinung, in der die unbewußten Affinitäten und Verwandtschaften deutlich hervortreten.4

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Ein so maßvoller Theologe wie Otto Weber bezeichnet gelegentlich unbefangen die Theologie des 19. Jahrhunderts als eine „ziemlich bürgerliche Angelegenheit”, ohne sich die tiefere Frage nach dem ursprünglichen Verhältnis von Bürgertum und Reformation und die gleiche Frage für die Gegenwart zu stellen. Ernst Troeltsch dagegen, der soviel zur Soziologie von Kirche und Religion vorgetragen hat, kann kritiklos es als ein Verdienst der Reformation rühmen, daß sie die Dualität von Ritter und Mönch durch den bürgerlichen Einheitstypus ersetzt habe.5 Reformatorische Glaubenshaltung und bürgerliches Lebensgefühl sind lange Zeit so naiv in eins geflossen, daß selbst die Möglichkeit eines kritischen Gegensatzes ausgeschlossen erschien. Dies ist freilich durch zwei weitere Fehlschlüsse noch verstärkt worden. Der zuweilen hervortretende Gegensatz wurde als derjenige zwischen strenger Orthodoxie und akademischem Humanismus mißverstanden. Das zweite Mißverständnis verkennt die Tatsache, daß im bürgerlichen Denken und Lebenstypus nebeneinander konservative und radikale Züge anzutreffen sind. So gesehen, und kurz gesagt, ist Müntzer ebenso bürgerlich wie Melanchthon oder Erasmus. Je radikaler, um so mehr. Diese Betriebsblindheit bildet für den soziologischen Betrachter eine Versuchung zur Ironie.

Erwägungen über die bürgerliche Struktur des Protestantismus hat bisher entgegengestanden, daß diese Epoche als die jedenfalls bisher letzte und gültige verstanden werden konnte, so daß jede Kritik in den Verdacht kam, auf ältere Lebensformen als Maßstab zurückzugreifen. Erst seitdem in einem präzisen Sinne von einem nachbürgerlichen Zeitalter gesprochen werden kann, ist es auch möglich, das bürgerliche mit Abstand in den Blick zu nehmen. Damit fällt dieser Selbstschutz der historischen Unübertrefflichkeit dahin.

Ein zweiter wirksamer Schutz gegen eine solche Besinnung liegt darin, daß das Prinzip der Kritik in das System selbst aufgenommen, also in den theologisch-hermeneutischen Zirkel einbezogen worden ist. Aus diesen Gründen kann die Kritik nie von außen wirksam werden und also auch nicht den Kreis der vorgegebenen Vorstellungen durchbrechen. Deshalb beschränkt sich auch die schon fast zur Mode gewordene Kirchensoziologie etwa auf die Kerngemeinde, die kirchlichen Verbände und andere ungefährliche Gegenstände, erstreckt sich aber niemals auf zentrale Probleme, wie die Wissenssoziologie der Theologie oder die historische Stellung und Funktion der theologischen Fakultäten.

Vollends ist die Subjektivität des Glaubensbegriffs zu einem Nadelöhr

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geworden, durch welches das Kamel der Soziologie und aller übrigen transsubjektiven Einsichten nur durch ein Wunder hindurchgelangen kann.