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Juristische Bemerkungen zur Rechtfertigungslehre

 

Die Rechtfertigungslehre enthält unbestritten von den biblischen Texten her juristische Elemente. Es ist dabei ebenso unbestritten, daß diese nicht um ihrer selbst willen hier erscheinen, daß es auch nicht um das höchste rechtsphilosophische Interesse geht. Vielmehr geht es unzweifelhaft, wie immer man sich ausdrücken will, um das Wort Gottes, um Kerygma, um Evangelium. Neben den juridischen Elementen stehen in den biblischen Texten wie in den dogmatischen Darstellungen nichtjuridische Elemente, teils allgemein-theologischer, teils psychologischer Struktur. Wie sich diese aber zu den juridischen Elementen verhalten, ist bisher unklar. Ebenso ungeklärt ist, ob die juristischen Gedankenelementen einen in sich geschlossenen Zusammenhang bilden, der bis zu seinem eigenen Ende kommt, oder ob es sich um einen abgebrochenen Gedankengang handelt, der an einer bestimmten Stelle in andere Aussageformen übergeht. Dies beruht darauf, daß bisher nirgends versucht worden ist, den juristischen Gedankengang einmal für sich zu Ende zu denken und auf seine juristische Schlüssigkeit zu überprüfen. Die Besorgnis, durch die Konsequenz des juristischen Gedankens zu unangemessne Ergebnissen geführt zu werden, steht dem entgegen, obwohl anderwärts bis in die biblischen Grundlagen der Theologie bewußt jedes denkerische Risiko eingegangen wird. Diese Scheu beruht allerdings auf einem Mißverständis des Rechtsbegriffes selbst. Die hermeneutischen Probleme der Jurisprudenz sind der Theologie gemeinhin unbekannt. Jeder praktische Jurist prüft seine juristischen Schlüsse am Ergebnis nach und erwägt, ob dieses Ergebnis das Rechtsgefühl befriedigt und den Streit angemessen erledigt. Er manipuliert deswegen nicht das Recht nach seinen Wünschen, aber er sucht durch die Prüfung der Angemessenheit auch mögliche Fehler der Deduktion aufzudecken. Der Jurist weiß dabei, daß die Anwendung des Rechts ein Element vernünftiger Freiheit begrifflich mit einschließt. Für die Theologen dagegen hat die Besorgnis, unter das Gesetz zur geraten, eine solche Verhaltensunsicherheit im Umgang mit dem Recht hervorgebracht, daß ihnen diese vernünftige Freiheit allzuleicht aus dem Blick kommt. Sie verkennen deshalb auch, daß sie ja völlig Frei wären, unangemessene Ergebnisse einer juristischen Durchführung der Rechtfertigungslehre mit der Freiheit der theologischen Vernunft zu korrigieren.

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In der umfangreichen dogmatischen Literatur zur Rechtfertigungslehre fällt vollends auf, daß die ausdrücklich benutzten Rechtsbegriffe nirgends wissenschaftlich-juristisch durchdacht worden sind. Dies gilt auch für die umfangreichen Untersuchungen, wie etwa das große Werk von Ritschl über „Rechtfertigung und Versöhnung”. Durchgängig behandelt der Theologe die unvermeidlich vorkommenden Rechtsbegriffe als einsichtige; ihr Inhalt ist offenbar jedem Gebildeten ohne weiters zugänglich und bedarf keiner wissenschaftlichen Interpretation. Die Theologie bedient sich überall einer Art Vulgärjurisprudenz. Sie verläßt sich auf den Anschauungsgehalt, den sie unter der Voraussetzung akademischer Bildung mit ihrer Zeit jeweils gemeinsam hat. Was ihr infolgedessen abgeht, ist dreierlei:

1. Der juristische Laie hat nicht gelernt, juristisch zu denken, d.h. über mehrere Gedankenglieder folgerichtig und zuverlässig zu schließen. So werden selbstverständlich einfache Schlüsse gezogen, wie etwa: Wer stiehlt, wird bestraft. Aber nur selten kommen Erwägungen vor, die mehrere Schlüsse in einer Linie verbinden. Wo sie aber erforderlich werden, fehlen die Maßstäbe für eine kritische Prüfung.

2. Die juristische Bildung besteht in der Fähigkeit, ein Problem im Gesamtzusammenhang der Rechtsordnung an seinen Ort zu stellen und von da aus seine Lösung einzuleiten. Der Jurist unterliegt wie der Angehörige jeder anderen wissenschaftlichen Disziplin einer Art Systempflicht; er muß eine zulängliche Anschauung über den Gesamtzusammenhang seines Fachs besitzen, um in ihm arbeiten zu können. Diese Systempflicht übernimmt der Dilettant nicht. Sein Urteil und seine Einsicht brauchen deswegen nicht überall fehl zu gehen; sie sind jedoch unsicher und außer Zusammenhang.

Hier muß einem verbreiteten Mißverständnis entgegengetreten werden. Der Systemzusammenhang wird nicht durch das Auftreten einer wissenschaftlichen Jurisprudenz und ihre Ausbildung exakter Begriffe begründet. Im Laufe des 19. Jahrhunderts ist die wissenschaftliche Rechtsgeschichte immer wieder veranlaßt gewesen, falschen Versuchen zur philosophischen und dogmatischen Systematisierung des rechtshistorischen Stoffs entgegenzutreten. Die Bedenken gegen diesen Versuch hängen mit dem Generalienproblem zusammen. Etwas ganz anders ist aber der erkennbare Sinnzusammenhang der je einzelnen historischen Rechtsordnung. Gerade der große Rechtshistoriker Koschaker hat auf diesen Systemcharakter historischer, und zwar auch vorwissenschaftlicher Rechtsordnungen

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hingewiesen, ohne dessen Beachtung die Einzelauslegung fehlgeht. Infolgedessen dürfen auch nicht einzelne Rechtsinstitute herausgegriffen und unter Ablösung von ihrem Kontext isoliert betrachtet werden. Diese Herauslösung aus ihrem Kontext bedeutet dann zugleich eine sinnentstellende Vergegenständlichung.

3. Dem Theologen wie jedem anderen juristischen Laien fehlt umgekehrt auch das erforderliche Maß rechtshistorischer Kenntnis. Jeder Rechtsbegriff, so systematisch er konzipiert sein mag, ist zugleich ein historischer. Er hat neben seinem systematischen auch einen historischen Stellenwert, ohne dessen Kenntnis er nicht zutreffend beurteilt und eingesetzt werden kann.

Die oberflächliche Evidenz zahlreicher alltäglicher Rechtsvorgänge und Rechtsbegriffe reicht also für die schwierigen und grundsätzlichen Fragen nicht aus, die mit der Einbeziehung juristischer Begriffe in Grundfragen der Dogmatik entstehen.

Wir verdanken nun Otto Weber (✝) eine besonders gründliche historische und systematische Darstellung der Rechtfertigungslehre. Auch er befaßt sich notwendig mit den in ihr enthaltenen Rechtsvorstellungen. Er macht sich selbst den Einwand, ob nicht vielleicht dadurch das Gottesverhältnis — wie er es formuliert — „entpersönlicht, verdinglicht, verobjektiviert, verrechnet” wird? (Grundlagen der Dogmatik II S. 328) —. Indessen resultieren diese Bedenken im wesentlichen aus der Art und Weise, in welcher die Theologie selber mit dem Rechte umgeht. Indem sie die Rechtsbegriffe so positivistisch, so gegenständlich, so geistlos versteht, ist sie selbst es, die sie im falschen Sinne objektiviert, vergegenständlicht, aus ihrem geistigen Zusammenhange entnimmt.

Otto Weber zitiert als markantes Wort (a.a.O. S. 239) aus Hermann Cremer „Die Paulinische Rechtfertigungslehre” die Definition:

„Der Gottlose wird gerechtfertigt, er wird freigesprochen, er empfängt Vergebung — das ist das Evangelium, welches Paulus der Welt von Gottlosen zu verkündigen hat.”

Otto Weber formuliert selbst: „Justificatio ist der richterliche Akt, in dem Gott den Menschen für gerecht erklärt, ihn vor sich gelten läßt.” Weber verweist auf die der Gerichtssprache zugehörende Gegen- und Vergleichsbegriffe. Im Nachfolgenden soll zunächst versucht werden, den Ertrag der juristischen Terminologie für die Rechtfertigungslehre zu ermitteln. Erst in einem zweiten Durchgang wäre dann zu prüfen, ob der juristische Gehalt der Rechtfertigungslehre schlüssig zu denken ist, und ob dieses Element der Rechtfertigungslehre etwa einer gewissen Begrenzung unterliegt.

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Weber bezieht sich nun auf terminologische Untersuchungen, die Werner Elert angestellt hat. Elert hat sich insbesondere in seinem Werk „Der christliche Glaube” (S. 580 ff.) und in seiner Studie „Deutschrechtliche Züge in Luthers Rechtfertigungslehre” (Z. Syst. Th. 12 — 34/35 — S. 12 ff.) mit dieser Begrifflichkeit befaßt. Er hat gemeint nachweisen zu können, daß in der mittelalterlichen lateinischen Rechtssprache des deutschen Rechtskreises dem Begriff der justificatio eine Bedeutung zukomme, die eine gewisse Verwandtschaft mit dem in der Paulinischen Rechtfertigungslehre Gemeinten besitze. Die These hat auch Georg Merz übernommen und vertreten; sie hat weite Verbreitung gefunden. Das legitime theologische Interesse an dieser Frage wird ohne Beziehung auf die mittelalterliche Terminologie in einem Aufsatz von Walter Kreck (Christus extra nos pro nobis — Theol. LZ 1965, S. 641 ff., S. 644) deutlich, wo es bei einer Erörterung der juristischen Denkelemente der Rechtfertigungs- und Gnadenlehre heißt:

„Denn ein Urteilsspruch, der die zerbrochene Rechtsgemeinschaft wiederherstellen soll, tritt zwar nicht erst durch die Annahme seitens des Angeklagten in Geltung, aber sein Ziel, die Herstellung der zerbrochenen Gemeinschaft, ist doch erst dann erreicht, wenn der Betroffene Ja dazu sagt, so daß es zwischen Richter und Angeklagten zu einer Urteilskonformität kommt.”

Die sachliche Richtigkeit dieses Gedankenganges brauch an dieser Stelle nicht erörtert zu werden. Kreck meint jedenfalls sachlich dasselbe, was Elert, Merz, F.K. Schumann und andere glaubten aus der mittelalterlichen Rechtssprache belegen zu können: Der schuldige Täter, der bewußt die verdiente Strafe auf sich nehme und an sich vollziehen lasse, werde durch diese „Homologie” — wie sie meinten — im Sinne der Rechtssprache „justifiziert”, so etwa wie der bußfertige Zöllner gerechtfertigt wird, der an seine Brust schlägt und sich als Sünder bekennt.

Auf meine Anregung durch Prof. Ekkehart Kaufmann im rechtshistorischen Seminar der Universität Frankfurt am Main durchgeführte Überprüfungen der mittelalterlichen Terminologie haben jedoch ergeben, daß diese Annahme der Grundlage entbehrt. Der Begriff der justificatio ist im Rechtslatein ein so allgemeiner, daß er in der gemeinten Richtung nicht verwendet oder konkretisiert werden kann. Elert ist offensichtlich der Wunsch erlegen, hier zwar nicht eine natürliche Theologie der Rechtfertigungslehre oder eine Art „Anknüpfungspunkt”, aber doch ein kongeniales Verständnis in der Rechtstradition unseres Volkes zu finden. Eine gefühlsmäßige

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Antithese zum römischen Recht und eine Art Verfallstheorie, derzufolge die tieferen Dimensionen des Rechtsverständnisses im Gefälle der Moderne verlorengegangen seien, liegen hier mindestens gefährlich nahe. Wie sehr bei Elert der Wunsch der Vater des Gedankens war, wird schon bei näherer Durchsicht jener spezielleren Abhandlung für den Juristen deutlich. Ihre Schlüssigkeit ist von vornherein fraglich. Aber es ist für das Verhältnis von Theologie und Jurisprudenz charakteristisch, daß der freilich unter Ausschluß der juristischen Öffentlichkeit erschienene Aufsatz, soweit ich sehe, auch nie eine juristische Kritik erfahren hat. Die Juristen sind gern bereit, auf Aufforderung im einzelnen Falle wie Philologen ihre guten Dienste zur Erklärung einer dunklen biblischen Stelle darzubieten, etwa der Frage, ob es sich im Galater-Brief um gemeingriechisches oder galatischer Erbrecht gehandelt hat. Das kann ein Theologe naturgemäß nicht beurteilen. Aber die Juristen haben sich immer gescheut, an Fragen mitzuwirken, beiden auch nur von fern ein Kompetenzkonflikt mit der Begriffsbildung der systematischen Theologie möglich erschien. Sie haben es deswegen auch niemals beanstandet, wenn irgendwo in Interpretationen der Rechtfertigungslehre die dort verwendeten Rechtsbegriffe ihrer juristischen Bedeutung entfremdet wurden. Sie achten peinlich das privilegium fori des akademisch-theologischen Klerus.

Auffällig ist trotzdem, daß an keiner Stelle versucht worden ist nachzuprüfen, ob der Begriff Rechtfertigung in der geltenden Rechtssprache verwendet und aufgenommen worden ist. Eine Prüfung des gegenwärtigen Sprachgebrauchs der Rechtsdogmatik hätte sofort die Tatsache zutage gebracht, daß diese sehr wohl den Begriff der Rechtfertigung rezipiert hat, aber nur in einem begrenzten Sinne. Sie spricht von sogenannten „Rechtfertigungsgründen”. Das markanteste Beispiel ist die Notwehr. Die Herkunft dieses dogmatischen Begriffs läßt sich bisher nur zu Kants Schrift „Metaphysik der Sitten” zurückverfolgen. Rechtfertigung ist nach diesem rechtsdogmatischen Sprachgebrauch selbst kein forensischer Vorgang. Der Begriff kommt nur in Verbindung mit dem Begriff des „Grundes” vor. Ein solcher Rechtfertigungsgrund liefert dann den Anlaß zum Freispruch. Parallel zu den Rechtfertigungsgründen hat die Rechtsdogmatik etwa den Begriff der Entschuldigungsgründe ausgebildet: auch aus ihnen resultiert der Freispruch. Rechtfertigung ist also ausschließlich ein interpretativer Begriff; er kann niemals in einem Urteilstenor, in der verkündeten Urteilsformel, sozusagen in der Rechtsliturgie, vorkommen, sondern immer nur in reflexen

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formulierten Urteilsgründen — und natürlich in der Abstraktion der Rechtsdogmatik. Man kann daher auch das Ergebnis des Freispruchs nicht mit dem Grund des Freispruchs, dem Rechtfertigungsgrund in eins setzen. Es müssen von da aus gegen die theologischen Definitionen Bedenken erhoben werden, in welchen Rechtfertigung (justificatio) und Freisprechung in eins gesetzt werden, welche uns der Prozeß lediglich im Verhältnis von Grund und Folge zu denken erlaubt.

Die forensische Anschauung und die theologische Rechtfertigungslehre stimmen freilich insoweit zusammen, als beide in Beziehung zu einem Akt der Freisprechung stehen. Aber die von Weber in Übereinstimmung mit anderen namhaften Theologen gewählte Definition, wonach in diesem Akt Gott den Menschen „für gerecht” erklärt, bringt eine neue Differenz zwischen der forensischen Struktur und der theologischen Aussage zutage.

Die von Elert irrtümlich angenommene terminologische Parallele im deutschrechtlichen Sprachgebrauch ist deswegen so bedauerlich, weil sie den Blick von jener Differenz zwischen forensischer Struktur und traditioneller Rechtfertigungslehre ablenkt. Sie beruht auf der Annahme, daß zu irgendeiner Zeit in irgendeinem Sinne ein Gericht durch den Rechtsvollzug den Betroffenen ,gerechtfertigt’ habe. Die Fragwürdigkeit dieses Gedankenganges wird in dem Widerspruch sichtbar, daß nach der oben wiedergegebenen Anschauung ja der Schuldige durch Annahme der verdienten Strafe justifiziert werde, während zugleich Cremer, Weber und namhafte andere Autoren Rechtfertigung, Gerechtsprechung, justificatio mit Freisprechung gleichsetzen. Niemand von diesen Autoren empfindet die Notwendigkeit, diese Doppelseitigkeit oder Ambivalenz des Begriffs zu erörtern und zu begründen. Diese mag theologische einigermaßen selbstverständlich sein, indem Gott den bußfertigen, sich der Strafe Unterwerfenden eben darum rechtfertigt. Gerade dies gibt aber die juristische Terminologie ohne Systembruch nicht her. Denn wenn man etwa in Annäherung an die Meinung von Elert usw. in Verurteilung und Strafvollstreckung irgendwie in einem materiellen Sinne ,justificatio’ (etwa im Sinne der Strafe als Ehre des Verbrechers) sehen könnte, — so kann unter keinen Umständen und in keinem Sinn der Freispruch als Gerechterklärung verstanden werden und ist nirgends so verstanden worden. Da hilft keine terminologische Forschung: das Rechtsdenken der uns bekannten außerjüdischen Völker gibt die Gleichung Freisprechung = Rechtfertigung = Gerechterklärung nicht her: Der letzte Begriff fehlt überhaupt. Es ist eine, sei es biblische, sei es christlich-dogmatische

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Sonderbildung. Tatsächlich hat weder ein römischer Praetor noch ein Schöffe des Sachsenspiegels noch ein moderner Amtsrichter einen Angeklagten je (durch Verurteilung oder durch Freisprechung) justifiziert, gerechtfertigt oder womöglich für gerecht erklärt. Sie alle haben sich immer damit begnügt zu verurteilen, d.h. die Rechtsfolge des Tuns festzusetzen oder, was hier mehr interessiert, ebenso schlicht freizusprechen. Eine positive Gerechterklärung liegt völlig außerhalb ihres Horizontes.

Dies liegt nicht daran, daß sie etwa gute Christen wären, die sorgfältig im Bereich des Gesetzes bleiben und sich hüten, in irgendeiner Weise das eschatologische Urteil Gottes vorauszunehmen. Sie bedürften dieser Warnung nicht, weil diese Kollision nicht zu ihren Berufsgefahren gehört. Jeder entscheidet nur, worüber er zu entscheiden berufen ist. Deswegen ist auch die Besorgnis etwa Hellmut Gollwitzers verfehlt, der meint, die Richter vor jener Grenzüberschreitung warnen zu müssen. Es sind die Theologen, welche in das richterliche Handeln diese Problematik erst hineintragen. An dieser Stelle wird die Unzulänglichkeit der Vulgärjurisprudenz besonders deutlich, welche die gegenständliche Rechtsfolgen isoliert betrachtet, aber keine Vorstellung von dem Geschehen des Prozesses hat.

Die Tragweite des richterlichen Urteils erschöpft sich nicht in der handhaften Frage, ob verurteilt oder freigesprochen wird; sein Urteil schließt sehr viel mehr ein. Unsere Strafprozeßordnung unterscheidet sorgfältig die verschiedenen Rechtslagen der Person, die in einer Strafverfahren verwickelt wird. Wird eine Strafanzeige erstattet, so ist der Betroffene von nun an ein Beschuldigter, erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage, so ist er ein Angeschuldigter, wird das gerichtliche Verfahren eröffnet, so ist er ein Angeklagter. Erhebt jemand eine Zivilklage, so wird mit der Begründung der Rechtshängigkeit die andere Partei ein Beklagter mit der sehr einschneidenden Folge, daß er bei Vermeidung erheblicher Rechtsnachteile zur Einlassung auf die Klage verpflichtet wird. Dies ist durchaus nicht selbstverständlich. Es hat in der Rechtsgeschichte lange gedauert, bis in wirksamer Weise eine Einlassungspflicht begründet werden konnte. Diese modernen Unterscheidungen sind nicht begriffsnotwendig. Aber sie sind sinnvoll und möglich und zeigen die durch den Prozeßverlauf bedingten Statusveränderungen an. Immer gleicht ein in ein Verfahren verwickelter Mensch einem Stein, gegen welchen ein Stoß geführt, und der für eine gewisse Zeit aus dem stabilen Gleichgewicht seiner bisherigen Lage in ein labiles versetzt wird. Ist der Stoß stark genug, so rollt er weiter und kommt an anderer

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Stelle in neuer Lage zur Ruhe; ist der Stoß nicht stark genug, so schwingt er in die alte Lage zurück. In diesem Bilde wird veranschaulicht, daß der Angeklagte oder Beklagte in einem Verfahren zunächst sich in einem Schwebezustand befindet, dann aber bei Freispruch oder Klageabweisung im Prinzip in genau dieselbe Lage versetzt wird, in der er sich vor Beginn des Verfahrens befunden hat. Freispruch oder Klageabweisung sind insoweit eine Art restitutio in integrum, eine Wiederherstellung des vor dem Verfahren bestehenden Zustandes. Daher gibt es keine spezifische, statusrechtliche Bezeichnung für den Freigesprochenen als solchen. Damit stimmt überein, daß der erfolglose Kläger dem Beklagten für die Kosten einzustehen hat, also so weit als möglich den Zustand herzustellen hat, der vor dem Verfahren bestanden hat.

Die forensische Begrifflichkeit hat für die theologische Anschauung die axiomatische Bedeutung, daß der Zustand nach dem Freispruch mit dem Zustand vor dem Verfahren notwendig identisch sein muß. Nicht aber ist mit dieser begrifflichen Identität ein zureichender Grund dafür gegeben, diesen Zustand als ,Gerechtigkeit’ zu bezeichnen oder von einer ,Gerechtsprechung’ des Freigesprochenen oder Obsiegenden zu sprechen. Was mit diesen erst noch zu definierenden Begriff gemeint ist, ist aber seinem Stellenwert nach nicht der Inhalt des Freispruchs selbst, sondern die statusrechtliche Lage, in welche der Betreffende durch den Freispruch wieder zurückgelangt. Für den weltlichen Richter besteht kein Anlaß, für diesen Zustand irgendeinen besonderen Namen zu finden oder ihn in einer Formel auszusprechen. Dieser Status, der wieder der alte vor dem Prozeß ist, hat freilich nach zwei Seiten eine Art Erweiterung erfahren, die miteinander im Gleichgewicht stehen oder doch stehen sollen: Einerseits ist der Betroffene notorisch in ein Verfahren verwickelt gewesen, und dieser einmal geschehene Vorgang läßt sich nicht mehr aus der Welt schaffen — er haftet ihm an, bis er von selbst verblaßt —; andererseits wird er mit der ganzen Autorität des Gemeinwesens durch die Rechtskraft des freisprechenden Urteils gedeckt, welches verbietet, Vorwurf oder Forderung zu erneuern. Der Freigesprochene ist von Neuem der unbescholtene Bürger, der er bis zum Verfahren gewesen ist. Die weltliche Gewalt läßt keineswegs wie Gottes Barmherzigkeit die Sonne über Gerechte und Ungerechte aufgehen. Sie scheidet vielmehr jetzt und hier voon ihrem Standpunkt sehr wohl die Böcke von den Schafen. Aber sie hält jeden, der mit ihrem Gesetz nicht in Konflikt kommt, bis zum Beweise des Gegenteils, für gut und anständig (unusquisque bonus praesumitur).

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Auf diesen statusrechtlichen Zustand der unangefochtenen Staatsbürgerlichkeit den Begriff der ,Gerechtigkeit’ als personale Bezeichnung des ,Gerechtseins’ des Einzelnen anzuwenden, fällt ihr aus zwei Gründen gar nicht ein: Einmal ist der Begriff der ,Gerechtigkeit’ ein kritischer Begriff, der eine vorgängige Prüfung, eine Krisis voraussetzt, zu welcher der Staat keinen durchgängigen, sondern immer nur aktuellen Anlaß hat. Zahllose Menschen werden niemals vor Gericht gefordert, und es gehört nicht zum Begriff eines Staatsbürgers, daß er sich einer solchen Prüfung unterziehen müsse. Der andere Grund ist ein lediglich kontingent-historischer. Sämtlichen uns bekannten Rechtsvölkern ist die Vorstellung personaler Gerechtigkeit überhaupt fremd. Sehen wir von möglicherweise vorhandenen Verwandtschaften der vorderasiatischen Umgebung des Judentums ab, so handelt es sich bei der Vorstellung der personalen Gerechtigkeit um eine singuläre Bildung des biblischen Bereichs. Der Unterschied besteht jedoch nicht darin, daß das biblische Denken sich in der Kategorie der personalen, das außerbiblische in derjenigen der sachlichen Gerechtigkeit bewege. Vielmehr steht an der Stelle, an welche das biblische Denken die personale Gerechtigkeit setzt, für die übrigen Völker in Gestalt der nunmehr wieder unangefochtenen Rechtsgenossenschaft ein um nichts weniger personaler Status.

Es ist zwar im Wege einer verhängnisvollen Klischeebildung üblich geworden, die Griechen für Ontologen, die Römer für imperative Juristen und das biblische Judentum für Personalisten zu erklären. Aber die geschichtliche Wirklichkeit weigert sich, solchen Schemata zu folgen. Die außerjüdischen Völker sind einfach bescheidener. Sie rühmen sich nicht, das Volk des Eigentums des allein wahren Gottes, seine Auserwählten und Hausgenossen zu sein. Auch wenn und wo sie Kultusgemeinschaften der größten Intensität sind, sich historisch-göttlicher Stiftung berühmen und ihr Königtum genealogisch aus solchen Zusammenhängen herleiten, qualifiziert dies zwar den Einzelnen als Genossen eines sakrales Rechts — nirgends aber als ,Gerechten’, selbst wenn die Nichtbürger als untermenschliche Barbaren abgewertet werden. Diese anderwärts unbekannte positive Qualifikation ist der Ausfluß der Einzigartigkeit des israelitischen Gottesbundes. Eben darum erfordert dieser Begriff notwendig eine kritische, forensische Prüfung (im Torgericht), eine immer neue Gewissens- und Verhaltenserforschung jedes Einzelnen. Die Bildung dieser Vorstellung ist aber zugleich nur denkbar auf der Grundlage einer die ganze Geschichte des Judentums durchziehenden unermeßlichen, unüberbietbaren Rechtsleidenschaft, die in dem theologisch

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gefüllten Begriff der Gerechtigkeit ihren höchsten Ausdruck findet. Gerechtigkeit mag ein Prädikat auch außerjüdischer Gottesvorstellungen sein: Nur im Judentum gibt es ,Gerechte’. Der Vorwurf der Juridifizierung des Gottesverhältnisses trifft Paulus so gut wie das AT von Anfang an — wenn es einer ist. Von den großen Rechtsvölkern unseres Kulturkreises kann sich das Judentum mit der schöpferischen Gestaltungskraft der Römer und Germanen, der philosophischen Genialität der Griechen gewiß nicht messen: an religiöser wie sittlicher Energie des Rechtsgedankens ist es diesen Völkern weit überlegen. Und eben aus dieser Leidenschaft sind uns die großen Probleme der biblischen Theologie in streng juristischen Begriffen und Gedankenfolgen überkommen. Darum ist mit großer Sorgfalt zu prüfen, ob dort, wo ein juristischer Denkfehler oder Systembruch aufzuweisen ist, auch ein theologischer Denkfehler und Systembruch vorliegt, oder eine echte Grenze und Überschreitung dieser in den innersten religiösen Vorstellungsbereich einbezogenen Denkmittel.

Das Resultat für die herkömmliche Darstellung der Rechtfertigungslehre ist demnach folgendes: die dieser Lehre zugrundegelegte forensische Gedankenreihe ist in folgerichtiger Entwicklung brauchbar und sinnvoll, wenn erkannt wird, daß Gerechtigkeit nicht Inhalt des Freispruchs, sondern eine mögliche Bezeichnung der statusrechtlichen, personalen Folge eines Freispruchs ist. Aus dieser Bestimmung des systematischen Stellenwertes ergibt sich sodann, daß dieses Ergebnis mit dem vor dem Prozeß vorauszusetzenden Zustand begriffsnotwendig identisch sein muß. Demnach muß die Theologie bei sachgemäßer Anwendung der forensischen Elemente der Rechtfertigungslehre auf die Frage abheben, wie der protologische und der eschatologische Zustand als Voraussetzung und Ziel der Heilsgeschichte zu verstehen ist. Sodann zeigt die Interpretation, daß die Gegenüberstellung von personaler und sachlicher Gerechtigkeit nicht das Problem der Rechtfertigungslehre ist. Die hier in Vergleich zu setzenden forensischen Vorgänge des jüdischen und des außerjüdischen Rechts sind insoweit strukturgleich, als in ihnen das personale Element in gleichem Maße ausgebildet ist und an der gleichen Stelle zu stehen kommt. Sie sind aber terminologisch verschieden. Die biblische Gerechtigkeit ist ein statusrechtlicher Begriff. Sie ist eine von Gott selbst zuerkannte und gewährte Zuordnung zu ihm selbst, nicht aber ein Begriff, der als solcher einen immanenten Sachverhalt ausdrücken will, wie die Sachgerechtigkeit in allen übrigen uns bekannten rechtlichen und philosophischen Denkzusammenhängen.

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Erst wenn man das erkannt hat, kann man auch die Beziehungen zu der Sachgerechtigkeit im außerbiblischen Denken erwägen. Das Moment, welches zu der falschen Verhältnisbestimmung zwischen beiden Gerechtigkeitsbegriffen geführt hat, ist das beiderseits enthaltene kritische Moment. Aber die biblische Gerechtigkeit setzt die kritische Prüfung voraus, die immanente Sachgerechtigkeit ist ein Maßstab für diese Prüfung selbst. Beide Begriffe sind unvergleichbar, da ihre Funktion im rechtlichen Vollzuge vollkommen verschieden ist. Sachgerechtigkeit bezeichnet einen Maßstab für ein zu vollziehendes Urteil. Die biblische Gerechtigkeit bezeichnet das Ergebnis eines vollzogenen Urteils. Noch genauer ausgedrückt: Die Sachgerechtigkeit bezeichnet allein den Grund einer Entscheidung. Die biblische Gerechtigkeit verbindet dem Sprachgebrauch nach Grund und Folge. Da sie dergestalt zwei verschiedene Dinge verbindet, ergibt sich daraus die Möglichkeit, daß die Gerechtigkeitsfolge auch zugesprochen wird, wenn der Gerechtigkeitsgrund nicht vorliegt: der Gerechtigkeitsgrund wird durch diese Verbindung (potentiell) ambivalent. Dies erklärt einerseits die Verständnisschwierigkeiten, andererseits die Eignung für die Rechtfertigungslehre und die Eignung sogar für eine formale, imputative Auffassung. Das zeigt sich in einer Strukturbetrachtung. Immer wieder wird versichert, das Besondere des jüdischen Gerechtigkeitsbegriffs liege in seiner Bundesbezogenheit, seiner Personalität und Relationalität. Aber eben diese zutreffend beschriebenen Charakteristika stellen durchaus nichts spezifisch Israelitisches dar. Wenn im germanischen oder japanischen Lehnsrecht ein Vasall der Verletzung der Treupflicht beschuldigt wird, so sind die Maßstäbe der Beurteilung genauso personal und relational wie im Bereich des jüdischen Bundesdenkens; die zuzumessenden Treupflichten sind auch hier nicht regelhaft, gegenständlich, objektiv, gesetzlich-normativ, und die Konkretion dieses personalen Bezugs durch gewisse anerkannte und bewährte Regeln und Gesichtspunkte wird sich hier wie in Israel aufzeigen lassen. Die Vorstellung von der Singularität des israelitischen Bundesbegriffs beruht vielmehr auf drei falschen Verhältnisbestimmungen:

1. Die heilsgeschichtliche Singularität des Gottesbundes im Alten und Neuen Testament ist nicht gleichbedeutend mit einer strukturellen Singularität des Bundes in seiner Personalität und Relationalität.

2. Der institutionelle, d.h. der Personen qualifizierende Gerechtigkeitsbegriff des AT ist mit dem Gerechtigkeitsbegriff der griechischen oder irgendeiner anderen Philosophie nicht kommensurabel.

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3. Beide Fehler der Betrachtung sind bedingt durch das Fehlen der kulturmorphologisch-soziologischen Kategorien und Vergleichungen und führten zur Auftragung aller zu betrachtenden Phänomene auf die einheitliche Ebene philologisch-begriffsgeschichtlicher Betrachtungen, einer Vereinerleiung aller Qualitäten.

Wir können also zusammenfassen: Die sorgfältig reflektierte Rechtsdogmatik kennt den Begriff der Rechtfertigung nur im Sinne des Grundes für ein Geschehen, welches selbst so nicht bezeichnet wird. Rechtfertigung ist eine unter verschiedenen Möglichkeiten der Begründung eines Freispruchs, also mit diesem nicht identisch. Ausschließlich im jüdischen Torgericht (wenn wir von orientalischen Parallelen absehen) wird Freisprechung als Gerechtsprechung bezeichnet und verstanden, welche dann verbal auch als Rechtfertigung bezeichnet und mit dieser gleichgesetzt werden kann. Die durch den Freispruch eintretende rechtliche Qualifikation des Freigesprochenen hat außerhalb des Judentums keine spezifische Bezeichnung. Für das außerjüdische Rechtsdenken ist daher der Begriff der Rechtfertigung als positiv personale Gerechtsprechung unverständlich und unvollziehbar.

Der Gebrauch des Begriffs muß unvermeidlich zu Assoziationen mit der Sachgerechtigkeit und also zu grundlegenden Mißverständnissen führen. Der Nichtjude, dem Rechtfertigung als Freisprechung im Gottesverhältnis erläutert wird, kann sich diese ihm unverständliche Begrifflichkeit nur willig anquälen, aber weder den personalen Charakter noch den überindividuellen Zusammenhang des Gottesbundes daraus entnehmen und verstehen. Die christliche Verkündigung hat diese Übersetzungsschwierigkeit regelmäßig ihren Hörern, aber nicht sich selbst angelastet, und im Grunde die Quelle der Mißverständnisse gar nicht erkannt.

Werner Elert spricht in seinem Hauptwerk ,Der christliche Glaube’ bei der Darstellung der Rechtfertigungslehre von einer ,Rechtfertigungspflicht’ (S. 467). Ob es einen solchen Rechtsbegriff überhaupt gibt, oder ob es wenigstens Sinn hat, ihn in sprachlicher Unabhängigkeit vom forensischen Gebrauch zu bilden, hat Elert nicht erkennbar erwogen. Nicht nur juristische Gedanken, die er ja wohl nicht genügend kontrollieren konnte, sondern der Schriftbefund hätte ihn warnen sollen. Denn im Neuen Testament ist zwar einiges von Rechtfertigung, nichts dagegen von Rechtfertigungspflicht des Menschen zu finden, auch nicht unter Einrechnung der Übersetzung biblischer Wendungen in die dogmatische Begrifflichkeit. Der Mensch hat nach dem Neuen Testament sich auszuweisen über den Ertrag

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seines Tuns, über die Früchte des Weingartens, die Zinsen der Pfunde. Aber eine Rechtfertigungspflicht, womöglich unter der stillschweigende Voraussetzung gerade der Nichterfüllung, ist nicht wohl zu finden. Adam soll antworten. Indem er sich schämen muß, wird seine Verfehlung offenbar. Er kann nicht antworten. Ob man hier sagen kann, er solle sich ,verantworten’, ist noch zweifelhaft. Denn hier wird ja nicht auf ein zu verantwortendes Tun im Vorwurf hingewiesen, sondern umgekehrt, der Vorwurf wird durch die Unfähigkeit zu antworten aufgedeckt. Ist das also schon gedanklich schwierig, so ist ein weiterer nicht ohne weiteres zu begründender Schritt der Übergang von ,Verantwortung’ zu ,Rechtfertigung’. Die Verwendung dieses Begriffs wird zur ständigen petitio principii — da wo er aus theologischen Gründen, wie man meint, gebraucht wird, wird er unter Umdeutung und Ersetzung anderer Begriffe begründungslos eingeführt.

Für unsere Frage ist neben dem rechtsdogmatischen Sprachgebrauch, bei dem ja eine sorgfältige Reflexion vorauszusetzen ist, der spontane Sprachgebrauch der forensischen Praxis bedeutsam und erhellend. Auch hier läßt sich die Sprache weder durch Willkür noch durch Tiefsinn betrügen. Eine solche Überprüfung ergibt nun sofort, daß der Begriff Rechtfertigung im streitigen Prozeß an keinem spezifischen Ort vorkommt. Unter streitigem Prozeß werden hier alle Rechtsvorgänge verstanden, in denen eine Klage oder Anklage einer Person gegen die andere vor einem Richter verhandelt wird. Der streitige Prozeß ist also ein Dreierverhältnis. Eine solche Konzeption ist ja auch im Neuen Testament nachweisbar. So bei Paulus ,Wer will die Heiligen Gottes beschuldigen?’ Nicht weniger in der Offenbarung Johannes: ,Ausgeworfen ist die alte Schlange … der unsere Brüder verklagte Tag und Nacht’. Wenn ein Richter einem Angeklagten die Anklage vorhält, wird er ihm niemals sagen: ,Rechtfertigen Sie sich’, sondern etwa sich so ausdrücken: ,Äußern Sie sich! Was haben Sie zu sagen?’. Es handelt sich dabei keineswegs um eine bloße Höflichkeit, sondern um die Sachgemäßheit des Verhaltens. Selbst ein einigermaßen voreingenommener Richter wird es peinlich vermeiden, den Angeklagten so anzusprechen. Bei der objektiv referierenden Wiedergabe der Stellungnahme des Angeklagten in einer Urteilsbegründung wird ebenso niemals die Rede davon sein können, daß sich der Angeklagte in dem oder dem Sinne ,gerechtfertigt’ habe. Vielmehr redet man ausnahmslos auch im objektiven Sinne von der ,Einlassung’ oder ,Verteidigung’ des Angeklagten. Am Rande dieses Sprachgebrauchs und fast schon

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unter Überschreitung seiner immanenten Grenzen kann gelegentlich die Rede davon sein, jemand ,habe sein Verhalten damit gerechtfertigt, daß …’. Aber dies setzt voraus, daß die Vorwerfbarkeit des betreffenden Verhaltens vorweg feststeht, so daß darüber nicht mehr zu diskutieren ist. Aus diesem Grunde kommt diese Redewendung auch immer nur bei strenger gegenständlicher Abgrenzung und unter Herauslösung des einzelnen Sachverhalts aus dem übrigen Prozeßgeschehen vor. Hier wird der entscheidende Grund sichtbar, warum der Begriff Rechtfertigung in den forensischen Sprachgebrauch gerade nicht hineinpaßt. Er widerspricht dem Begriff des Prozesses selbst. Im Prozeß soll ein Urteil gewonnen werden. Infolgedessen kann dieses Urteil in keinem Falle als gegeben vorausgesetzt werden. Diese Erkenntnis geht noch weit über den in der gleichen Richtung liegenden, oben zitierten Rechtssatz ,unusquisque bonus praesumitur’ hinaus. Denn in diesem ist ja ein inhaltliches Urteil über die Person, nämlich seine Unbescholtenheit vorausgesetzt. Im Prozeßverhältnis aber muß nicht mehr und nicht weniger als sein bloßes Vorhandensein vorausgesetzt werden. Seine Rolle wird erst durch das Urteil eindeutig definiert. Die Tatsache, daß in zahlreichen Fällen bei Vorliegen eines eindeutigen Tatbestandes die sich daraus ergebende Rechtsfolge der Verurteilung völlig unausweichlich ist, ist dafür ohne Bedeutung. Erst der Prozeß konkretisiert diese Rechtsfolge, er kann als konstitutiver Akt nicht entbehrt werden. Die gegenteilige Auffassung liegt natürlich für den Rechtsunkundigen sehr nahe, der im Prozeß nicht mehr als einen technischen Vorgang zur Ermittlung einer bereits im Gesetz vorentschiedenen Lage zu sehen vermag.

Wir ziehen also das Ergebnis in dem Sinne, daß der Begriff des Prozesses als Vorgang den Begriff der Rechtfertigung ausschließt, weil dieser sich auf eine bereits rechtlich geklärte und als geklärt vorauszusetzende Rechtslage bezieht.

Freilich gibt es nun eine dem streitigen Prozeß analoge, vergleichbare, aber mit ihm keineswegs zu verwechselnde Rechtslage, in welcher unser Begriff auch im rechtlichen Sprachgebrauch seinen Platz finden kann. Dies ist überall dort der Fall, wo ein Vorgesetzter, Gewalthaber oder sonstiger Anspruchsberechtigter, ein eindeutiges Recht gegenüber einem Verantwortlichen geltend machen kann. Wir erinnern uns erneut daran, daß gerade für den Prozeß diese vorauszusetzende Eindeutigkeit eben nicht als gegeben angenommen werden kann. Hält etwa ein Vorgesetzter einem Untergebenen einen Schaden vor, der in dessen Verantwortungsbereich

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entstanden ist, so ist hier wohl durchaus die Redewendung denkbar ,Rechtfertigen Sie sich’. Dies ist aber nur in einem Zweierverhältnis möglich, wo der Richter und der Anspruchsberechtigte zusammenfallen und der prozessuale Widerstreit von Klage und Verteidigung nicht stattfindet. Dieses Zweierverhältnis setzt zwei Momente voraus: Einmal, daß der Vorgesetzte den vorwerfbaren Sachverhalt als solchen vorweg feststellt. Er behandelt ihn also nicht als noch festzustellenden, sondern bereits als gegebenen. Es handelt sich dabei um eine Art prima-facie-Beweis, den sogenannten ,Beweis des ersten Augenscheins’. Der Jurist spricht davon in solchen Fällen, wo ein evidenter Sachverhalt auf gewisse typische Folgen schließen läßt, so daß deren spezieller Beweis nicht mehr gefordert werden kann. Da diese Folgen aber nur regelmäßig und nicht ausnahmslos sind, kehrt sich in einem solchen Falle die Beweislast um und der verantwortlich Gemachte kann immer noch das Vorliegen einer Ausnahme beweisen. In einem solchen Zweierverhältnis wird gerade dann, wenn der Angesprochene im strengsten Sinne verantwortlich gemacht wird, auf alle Fälle damit gerechnet, daß er antwortet; er wird also als Person in einer Rechtsrolle vorausgesetzt, auch wenn er nichts anderes tun kann, als die Berechtigung der Beschuldigung zuzugeben. Im formalen Sinne kann also seine Existenz im Recht nicht aufgehoben werden. Andererseits resultiert die Anwendbarkeit des Begriffs Rechtfertigung hier daraus, daß er für eine bestimmte vorwerfbare Handlungsweise oder Tatfolge verantwortlich gemacht werden kann. Dabei ist nicht unwesentlich, daß der so Fragende, der als Richter die kritische Frage stellt, zugleich der Berechtigte und Verletzte ist. Dies ist aber nur in einem Hoheitsverhältnis der Fall, wie es in einem Zweierverhältnis gegeben ist. Es ist schon dort nicht mehr der Fall, wo es sich um den Nachweis einer sittlichen Verfehlung handelt, die lediglich anhand eines schädlichen Ergebnisses zu Tage tritt. In einem solchen Falle wird eine Art Offizialverfahren notwendig, in dem oberhalb der streitenden Parteien die Absolutheit der sittlichen Maxime die Entscheidung trägt. Im Zweierverhältnis dagegen geht es um die Erfüllung von konkreten Anforderungen, wobei die sittliche Gehorsamsforderung und die Erbringung des sachlichen Effekts zusammenfallen, mindestens nicht von einander getrennt werden können. Ein solches Verhältnis ist also denkbar in allen Dienstbeziehungen zwischen dem Herrscher und seinem Vasallen und Untertan, zwischen dem Hausherrn und seinen Haushaltern, zwischen dem militärischen und zivilen Befehlshaber und seinen speziellen Untergebenen, zwischen dem wirtschaftlichen

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Dienstherrn und seinen Knechten. Dem Gehorsamsanspruch ist hier untrennbar der Erfüllungsanspruch beigestellt. Daraus ergibt sich aber weiter, daß bei der Geltendmachung solcher Ansprüche es sich nicht primär um die Ahndung sittlicher Verfehlungen, sondern um die Folge von Pflichtversäumnissen handelt, und daß der Gedanke im Vordergrund steht, die inhaltliche Erfüllung der Verpflichtungen in Zukunft sicherzustellen. Die Alternative dazu besteht ausschließlich darin, daß das Verhältnis vollständig aufgehoben wird, wobei die Frage der Bestrafung relativ unwichtig wird, jedenfalls nicht begrifflich eingeschlossen ist. Der Baum, der keine Früchte trägt, wird abgehauen, weil er unnütz ist. Aber auf ihn ist der Begriff der Strafe nicht anwendbar, wenn dies auch im Ergebnis der Strafe gleichkommt und mit ihr verwechselt werden kann.

Wir kommen also zu dem Ergebnis, daß im forensischen Bereich im engeren Sinne der Begriff der Rechtfertigung durch den in seiner Folgerichtigkeit bedeutsamen Sprachgebrauch begrifflich ausgeschlossen wird. Andererseits wird sichtbar, daß der Begriff in dem dem Prozeßverhältnis vergleichbaren Disziplinarverhältnis unter wesentlich anderen Voraussetzungen sinngemäß vorkommt. Sodann ergibt sich, daß mit den Kategorien des streitigen Prozesses auch die dem Strafbegriff zugrundeliegenden prinzipalen sittlichen Kategorien ausgeschlossen werden. Im Rechtfertigungsverhältnis dagegen handelt es sich um die den Gehorsam voraussetzende und umschließende Erfüllung eines Anspruchs auf Tätigkeit.

Beschränken wir uns hier auf den unmittelbaren Ertrag der Terminologie, so ergibt sich dreierlei:

1. Rechtfertigung als Gerechterklärung ist ein Specificum des jüdischen (allenfalls orientalischen) Rechtsdenken und kann ohne Bedeutungsverlust in unsere Rechtssprache nicht überführt werden.

2. Rechtfertigung als Grund des Freispruchs beschränkt sich auf die Sonderlage der Notwehr. Dieses ist weder verboten noch geboten. Hier zessiert die Norm, jedoch muß das Recht die Selbstbehauptung anerkennen, wenn es sich nicht selbst aufheben will. Die theologische Tragweite der Beschränkung der Rechtfertigungsgründe auf diese Sonderlage wäre systematisch zu bedenken.

3. Der legitime Gebrauch des Tätigkeitswortes ,sich rechtfertigen’ in dem disziplinaren Zweierverhältnis setzt eine Rechtslage voraus, in welcher culpa (sittlich verwerfbare Schuld) und debitum (Erfüllungsschuld) noch nicht geschieden sind, damit zugleich öffentliches (Straf-)Recht und privates (Schuld-)Recht. Die juristischen Aspekte der Rechtfertigungslehre mögen zwar strafrechtliche Gedanken

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einschließen — sie kann aber keinesfalls ausschließlich oder primär auf dem Stragedanken aufgebaut werden. Je stärker die Rechtfertigungslehre ,versittlicht’ wird, desto mehr wird ihr Gedankengefüge gesprengt. Vielmehr muß ihr rechtshistorischer und systematischer Ort in einer Rechtslage vor Ausbildung eines Schuldstrafrechts in einem System rechtlicher Haftung gesucht werden.

Die systematische Durchführung und Begründung dieser Thesen überschreitet die Aufgabe dieses Aufsatzes. Es kann nur angedeutet werden, daß schon die Strafrechtstheorie in der Rückrechnung die These bestätigt:
1. der strafrechtliche Schuldbegriff kann eine existenziale Verschuldung nicht ausdrücken, sondern setzt eine virtuelle Scheidung von Täter und Tat voraus,
2. die Strafe kann nicht übernommen werden, wohl aber die Haftung.