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Fünftes Kapitel
Zeit des Neukatholizismus (neukatholisches Kirchenrecht)

 

§ 1 Der neukatholische Kirchenbegriff

 

Das Wesen des altkatholischen Kirchenbegriffs besteht darin, daß alle Christen unmittelbar mit Gott bzw. Christus verbunden sind und nur dadurch eine Einheit bilden. Nach Sohms Meinung1 hat sich das im Neukatholizismus2 geändert. Die Kirche ist gesellschaftlich verfaßt und sie ist als solche verfaßte Kirche von Christus gegründet. Durch diese Umwandlung der Kirche in eine Körperschaft gerät sie unglücklicherweise in die Nähe des Staates. Ja, der Staat als vollkommene Gesellschaft wird zum Vorbild. „Die Kirche Christi ist ein Staat Gottes, und zwar ein Staat, der trotz


1 Auch im vorliegenden 5. Kapitel folge ich ausschließlich der Meinung Sohms, ohne dessen Gedankenablauf durch eigene Bemerkungen zu unterbrechen oder zu korrigieren. Für eine katholische Auffassung von Kirche vgl. z.B. R. Schnackenburg/J. Ratzinger, Kirche, in: LThK VI (1961) 167-183; M. Kehl, Die Kirche. Eine katholische Ekklesiologie, Würzburg 1992.
2 Nach Sohm beginnt der Neukatholizismus (und das neukatholische Kirchenrecht) in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts (vgl. AK 568; KR II, 87), wobei man (gegen Congar 267) diesen Beginn nicht zu punktuell nehmen darf. Das neukatholische Kirchenrecht endet mit dem Aufkommen des modernen, weltanschaulich neutralen Staates. „Neukatholisches Kirchenrecht, also körperschaftlich erzeugtes Recht mit religiösem (geistlichem) Geltungsgrund, gab es für Sohm so lange, wie die eine Christenheit, weltliche und geistliche Obrigkeit nebeneinander aus sich heraussetzend, als Rechtsquelle existierte und das aus ihr erzeugte geistliche Recht im Konfliktsfall dem weltlichen Recht vorging. Das Aufkommen des modernen, religiös nicht gebundenen und weltanschaulich neutralen Staates mußte zu einem Konflikt führen mit dem Anspruch der römisch-katholischen Kirche, auch weiterhin für den Bereich des öffentlichen Rechts die (alleinseligmachende) Kirche Christi in der Form einer sittlich notwendigen, äußeren geistlichen Zwangsgemeinschaft mit geistlicher Befehlsgewalt im Rechtsbereich zu sein” (Böckenförde 153).

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seines göttlichen Ursprungs und seiner göttlichen Leitung nach den Gesetzen menschlichen Gemeinlebens, nach den Gesetzen des irdischen Staates geordnet ist. Die Kirche Christi stellt der Welt sich gleich. Sie nimmt die Verfassungsformen menschlicher Verbände an, um gesellschaftliche und damit weltlich-geartete Macht zu gewinnen.”3

Diese Änderung der Kirche zeigt sich zunächst an ihrem Sakramentsverständnis. Sohm meint, die Kirche als ganze sei kein Sakrament mehr, sie habe nur mehr Sakramente.4 Die Handlungen der Kirche sind jetzt Handlungen einer Körperschaft, nicht mehr Handlungen Gottes. Diese Änderung zeigt sich auch in der Kanonistik. Sie geht aus den Händen der Theologen in die Hände der Juristen über.5 Das in Bologna6 neu erblühte römische Recht zieht in die Kirche ein. Mit all dem ist verbunden, daß die Kirche nach Weltherrschaft strebt. „So mußte die Herrschaft über die christliche Welt dem Staat entrissen und der Kirche zugeführt werden, damit die christliche Welt im Sinne der christlichen Kirche und damit wahrhaft christlich regiert werde.”7

Mit dieser Verchristlichung der Welt ist allerdings eine Verweltlichung des Christentums verbunden. Mit dem neuen Kirchenbegriff ändert sich auch die Kirchenverfassung. Hatte der Altkatholizismus die Gewalt der Ortskirche und damit die Ortskirchenverfassung vertreten, so denkt der Neukatholizismus mehr an die Gesamtekklesia.8


3 AK 581 f.
4 Vgl. ebd. 582.
5 Vgl. ebd. 585.
6 Gegen Ende des 11. Jahrhunderts wurden die Novellen in der Form des Authenticum wiedergefunden. Diese Novellen bilden zusammen mit den Institutionen, den Pandekten (Digesten) und dem Codex das Corpus Iuris Civilis Kaiser Justinians I. Erst nach der Wiederauffindung der Novellen gelang es der Rechtsschule von Bologna, die innere Einheit der 4 Teile des Gesamtwerkes herauszustellen. Vgl. E. Bussi, Bologna, in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte I, Berlin 1971, 485-488.
7 AK 589f.
8 Vgl. ebd. 638.

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§ 2 Die neukatholische Kirche

 

„Nach der heutigen katholischen Kirchenrechtslehre ist die Kirche des Kirchenrechts (die katholische Kirche) eine Religionsgemeinschaft, folglich das (katholische) Kirchenrecht Gesellschaftsrecht, Recht zwecks Ordnung des auf die kirchlichen Verhältnisse bezüglichen körperschaftlichen Gemeinlebens von Menschen mit Menschen.”9 Diese Idee von der Kirchengesellschaft stammt aus dem Naturrecht des Mittelalters und hat sich gegen Ende des 12. Jahrhunderts durchgesetzt. Sohm hält sie für einen vollkommenen Selbstwiderspruch. „Der geistliche Leib Christi (corpus mysticum) erscheint in einer dem weltlichen Körperschaftsrecht entlehnten Form.”10 Die Idee der Religionsgesellschaft bringt es mit sich, daß man die Kirche als eine Anstalt11 versteht. Mit dieser Anstaltseigenschaft ist gesagt, daß die Macht über den Zweck der Kirche nicht bei den Gliedern liegt.12 „Die öffentlich-rechtliche Anstalt ist ein öffentlich-rechtlicher Verband ohne Mitglieder. Dadurch unterscheidet sie sich von der öffentlich-rechtlichen Genossenschaft (Körperschaft im engeren Sinne). Die öffentlich-rechtliche Anstalt hat (ebenso wie die ihr parallel gehende privatrechtliche Stiftung) eine zweckgebundene Verwaltung (einen Vorstand), auch hat sie Genußträger (Destinatare), denen der Zweck der Anstalt zugute kommt; aber für diesen Zweck zu organschaftlicher Tätigkeit vereinigte Mitglieder hat sie nicht.”13


9 KR II, 18.
10 Ebd. 20.
11 Die Anstalt bzw. die öffentliche Anstalt ist ein Träger öffentlicher Verwaltung. Meist hat sie eigene Rechtspersönlichkeit. Bisweilen aber hat sie keine Rechtspersönlichkeit und ist dann lediglich ein abgrenzbarer Teil der Staatsverwaltung (z.B. staatliche Bibliothek, staatliches Museum). Die Anstalt unterscheidet sich von der Körperschaft öffentlichen Rechts dadurch, daß sie nicht Verband ist, also keine Mitglieder hat.
12 Vgl. KR II, 27, A. 18.
13 Ebd. 28. Man könnte heute auf can. 113 § 1 CIC/1983 verweisen, der bestimmt: „Die katholische Kirche und der Apostolische Stuhl haben ➝

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§ 3 Das neukatholische Kirchenrecht

 

Hat sich die Kirche geändert, d.h. ist aus ihr eine Körperschaft geworden, so wird natürlich auch das Kirchenrecht verändert.14 Es gilt in der neukatholischen Kirche: „Die Kirche ist Religionsgesellschaft. Das Kirchenrecht ist also Religionsgesellschaftsrecht.”15 Wie dieses Kirchenrecht aussieht, läßt sich in zwei Schritten beschreiben.

 

I. Jus divinum — Jus humanum — Macht des Papstes

Sobald die Kirche als Körperschaft gedacht wurde, wurde ihr auch die Eigenschaft zugesprochen, (menschliche) Kirchengesetze zu geben.16 Damit war die Unterscheidung in göttliches (von Gott ausgehendes) und menschliches (von der Kirche als Körperschaft ausgehendes) Kirchenrecht gegeben. Teilweise blieb das Kirchenrecht jus divinum. „Der größte Teil des Kirchenrechts aber wandelte sich in jus humanum.”17 Es waren vor allem praktische Bedürfnisse, welche zum menschlichen Kirchenrecht führten. Galt nur das göttliche Recht, so mußte bei jeder Verletzung dieses Rechtes


➝ aufgrund göttlicher Anordnung den Charakter einer moralischen Person.” Auf dem Hintergrund solcher Epitheta wird erst richtig deutlich, welches Kirchenrecht Sohm ablehnt. Ganz mit Recht hat O. von Nell-Breuning zu dem anstehenden Problem geschrieben: „Christus hat selbst kein Grundgesetz seiner Kirche in Paragraphen, Artikeln oder Kanones verfaßt; er hat seine Kirche nicht durch rechtsgeschäftlichen Akt (durch ein ,Stiftungsgeschäft’ im Sinn des § 80 BGB) ins Dasein gerufen, sondern durch seine Menschwerdung, durch sein Leben und seine Lehre, durch sein Leiden und Sterben, durch die Sendung des Hl. Geistes. Zwar finden sich in seinem Leben und seiner Lehre auch einige Absichts- und Willenserklärungen; aber auch sie sind nicht in der Fachsprache des Juristen ausgedrückt, sondern in Bildern, die er seiner zeitgenössischen Umwelt entnahm und die darum der Vorstellungswelt seiner Zeit und seines Volkes entsprachen und ihrem Verständnis mühelos eingingen” (O. von Nell-Breuning, Ein Grundgesetz der Kirche? In: Stimmen der Zeit 188 [1971] 219-229, hier: 219 f.).
14 Vgl. AK 591.
15 KR II, 13.
16 Vgl. AK 592.
17 Ebd. 593.

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das Sakrament ungültig werden. Anders, wenn nur das menschliche Recht verletzt wurde. In diesem Fall war die Sakramentenspendung zwar unerlaubt (illicite), aber nicht ungültig (invalide).18 Es kam hinzu, daß sich immer mehr das Verlangen nach Fortentwicklung des Kirchenrechts verstärkte. Da aber göttliches Kirchenrecht nicht veränderlich ist, mußte menschliches Kirchenrecht geschaffen werden. Dieses ist natürlich veränderlich.19

Mit dem Aufkommen des veränderlichen Rechtes verband sich eine ungeheure Machtsteigerung des Papsttums. Es stellte sich nämlich sogleich die Frage, wer Recht verändern könne. In der altkatholischen Zeit galt das Traditionsprinzip. In dieser Zeit ist der Papst durch die Tradition gebunden.20 Das ändert sich aber im 11. und 12. Jahrhundert; zunächst mit Ivo von Chartres21, dann mit Gratian. „Ivo hat mit der Parallele zwischen kanonischem Recht und römischem Kaiserrecht nur gespielt. Gratian macht Ernst damit. Er hat als Erster den Gedanken von dem freien kirchlichen Gesetzgebungsrecht (nach Art des weltlichen Gesetzgebungsrecht) entwickelt, um daraus seinen Satz von der freien


18 Vgl. ebd. 594.
19 Vgl. ebd. 595.
20 Vgl. ebd. 595 f. Ein kleines Beispiel möge anzeigen, daß die hier von Sohm diskutierte Frage auch heute noch ein Problem ist. Während des Zweiten Vatikanischen Konzils wurde bei der Abfassung des Artikels 22 der Dogmatischen Konstitution über die Kirche darüber gestritten, ob der Papst u. a. auch an die Tradition gebunden sei. In diesem Zusammenhang machte der Römische Bischof einen Vorschlag, der aber abgelehnt wurde. „Die Theologische Konzilskommission [hat] den Vorschlag des Papstes selbst, in diesem Artikel zu sagen, der Papst sei bei seinem Handeln ,uni Domino devinctus’, als überflüssig und die Wahrheit simplifizierend abgelehnt (Schema vom 3.7.1964, S. 93) mit der Begründung: Romanus Pontifex enim etiam observare tenetur ipsam Revelationem, structuram fundamentalem Ecclesiae, sacramenta, definitiones priorum Conciliorum, etc. Quae omnia enumerari nequeunt” (K. Rahner, Kommentar zum 22. Artikel der Dogmatischen Konstitution über die Kirche, in: LThK-Konzilskommentar I [1966] 221-229, hier: 227).
21 Vgl. A.Becker, Ivo von Chartres, in: LThK V (1960) 825 f.

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päpstlichen Gesetzgebung abzuleiten.”22 Der Papst ist Herr des kanonischen Rechts. Er schafft dieses Recht, aber er unterwirft sich ihm nicht selbst.23

 

II. Die Körperschaftsidee

Trotz dieser gewaltigen Änderung, die Gratian in das Kirchenrecht einführt, denkt er noch altkatholisch, denn er hat die Körperschaftstheorie noch nicht.24 „Er hat noch beides nebeneinander: die päpstliche Monarchie mit ihrer ungebundenen Gesetzgebung und den Altkatholizismus mit seiner Idee, daß alles kanonische Recht ,himmlisches’ Recht, jus poli, darstelle. Aber die päpstliche Gewalt ist bereits der stärkere Teil. Sie ist im Begriff, den Altkatholizismus zu verschlingen.”25

Natürlich wurden nicht sogleich alle Folgerungen aus den neuen Änderungen gezogen. „Aber der Gedanke ist da, daß die Kirche Gottes nach Art des Staates verfaßt ist, daß sie ihr Recht kraft ihrer körperschaftlichen Gewalt, durch ihre körperschaftlichen Organe hervorbringt. Der Geist Gottes wirkt in der körperschaftlich verfaßten Kirche nicht durch die Propheten Gottes, nicht durch die geisterfüllten Christen, nicht durch die Einzelnen, sondern durch den als Einheit handelnden körperschaftlichen Verband.”26 Mit der Kirche als Körperschaft ist auch eine neue Gewalt gegeben: die Regierungsgewalt, die potestas jurisdictionis.27 Diese Gewalt tritt zwischen Christus und den einzelnen Gläubigen.28


22 AK 601.
23 Vgl. ebd. 604.
24 Vgl. ebd. 611. Überhaupt dürfte der Übergang vom geistlichen Recht zum körperschaftlichen Recht erst allmählich und in langen Zeiträumen vollzogen worden sein. Das neukatholische Kirchenrecht ist zunächst noch geistliches Recht, also aus dem Heiligen Geist stammendes, heiliges Recht. Vgl. Böckenförde 145-150 (Das neukatholische Kirchenrecht als geistliches Recht).
25 KR II, 102.
26 Ebd. 105 f.
27 Vgl. ebd. 106.
28 Vgl. ebd. 107.

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§ 4 Das neukatholische Sakrament

 

Der Kampf um das neukatholische Sakrament spielt sich vor allem bei zwei Sakramenten ab: bei der Taufe und bei der Ordination.

 

I. Die Taufe

Schon im Ketzertaufstreit29 zeigte es sich, daß die gültige Taufe auch außerhalb der legitimen Christenversammlung gespendet werden kann. Die Form als solche (mit der nötigen Intention) macht das gültige Taufsakrament. Daran hat Augustinus angeknüpft, um alle kirchenordnungswidrigen Sakramente zu verteidigen. Nach ihm macht die Form das Sakrament. Er behauptet, „daß die Form das Sakrament zu einer Handlung der Kirche, die außerkirchliche Handlung dennoch zu einer Handlung der katholischen Ekklesia und so zu unmittelbarem Handeln Christi”30 macht. Im Grunde genommen war das die Haltung, welche später der Neukatholizismus einnahm: nicht mehr die Kirche, sondern die Form macht ein Sakrament. Immerhin, die Taufe blieb bis zum Aufkommen des Neukatholizismus in einer gewissen Sonderstellung. Die anderen Sakramente unterschieden sich hinsichtlich ihrer Gültigkeitsbestimmung vom Taufsakrament.31

 

II. Die Ordination

Im Altkatholizismus war ein ordnungswidriges Sakrament ein nichtiges Sakrament. Aber: Ein gewisser Schein von Sakrament war doch da.32 Und dieser Schein war gebunden an


29 Vgl. J. Finkenzeller, Ketzertaufe, in: LThK VI (1961) 131-133. Der Streit um die Gültigkeit der Ketzertaufe entstand im 3. Jahrhundert, als Anhänger der verschiedenen Häresien um Aufnahme in die katholische Kirche baten.
30 AK 103.
31 Vgl. ebd. 106 f.
32 Vgl. ebd. 137.

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die „forma sacramenti” bzw. die benutzte heilige Formel. Das führte dazu, daß man seit dem 11. Jahrhundert eine doppelte Wirkung des Sakramentes der Ordination unterschied: „den unverlierbaren Besitz des ,Sakramentes’ (der forma sacramenti) und den verlierbaren Besitz des Amtes (der virtus sacramenti).”33 Das bedeutet, daß der einmal Ordinierte ein Geweihter bleibt, selbst wenn er kein Amt hat. Die jüngeren Dekretisten bezeichnen eine solche Wirkung als „Character”34. „Der Ritus der Ordination als solcher beeigenschaftet die Person des Ordinierten, sein Wesen, seine Seele ändernd, so daß die Wirkung unverlierbar ist.”35 Dieser sogenannte Character gab auch eine Gewalt, eben die Weihegewalt. „Die von dem formrichtig Ordinierten vollzogenen (seinem ordo entsprechenden) Sakramente sind nach neukatholischem Recht religiös (vor Gott) gültig, wenngleich sie kirchlich (körperschaftsrechtlich) unerlaubt und darum kirchlich unwirksam sind.”36 Damit ändert sich nun die Sakramentsgewalt: „sie war keine Gewalt über das Leben der Kirche mehr”.37 Man trennte nun zwischen Forum38 internum und Forum externum, zwischen sakramentalem und disziplinarem Gebiet.39 Mit dem neukatholischen Sakramentsbegriff war das neukatholische Kirchenrecht gegeben.


33 Ebd. 141.
34 Vgl. J. Mulders, Charakter, sakramentaler, in: LThK II (1958) 1020-1024.
35 AK 143 f.
36 Ebd. 144.
37 Ebd. 149.
38 Vgl. B. Fries, Forum, in: LThK IV (i960) 224 f.
39 Vgl. K. Mörsdorf, Heilige Gewalt, in: SM II (1968) 582-597.