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Viertes Kapitel
Zeit des Altkatholizismus (altkatholisches Kirchenrecht)

 

Die Zeit des Altkatholizismus1 soll unter den folgenden Stichwörtern behandelt werden: Kirchenbegriff, Kirchenverfassung, Kirche, Kirchenrecht, Sakrament.

 

§ 1 Der altkatholische Kirchenbegriff

 

Der altkatholische Kirchenbegriff2 ist identisch mit dem Kirchenbegriff der Urzeit. Das Wesen der Kirche im Altkatholizismus


1 Nach Sohms Meinung beginnt der Altkatholizismus um das Jahr 100 und endet in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts. Vgl. dazu auch K. Mörsdorf, Sohm, in: LThK IX (1964) 849. Das Ende des Altkatholizismus und der Beginn des Neukatholizismus werden von Sohm durch die folgenden beiden Zitate sehr genau bestimmt. „Das Kirchenrecht war ausschließlich Sakramentsrecht von seinem ersten Aufkommen (um 100) an bis in die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts: bis in die Regierungszeit Alexanders III. und Innozenz’ III. Noch das Dekret Gratians bedeutet ein Denkmal des altkatholischen Kirchenrechts und der altkatholischen Kirche, — das letzte große Denkmal, in welchem der Altkatholizismus mit dem Wesen seines Kirchenrechts zugleich das Wesen seiner Kirche aussprach” (AK 568). „Das Dekret Gratians ist der altkatholische Teil des Corpus juris canonici. Nicht bloß durch das Alter der dort gesammelten Zeugnisse, sondern ebenso durch den Geist des Sammlers, der diese Zeugnisse mit sich selber und mit der Gegenwart von damals in Einklang brachte. Trotzdem sind im Dekret bereits die Ansätze sichtbar, aus denen dann das neukatholische Recht erwachsen ist. Schon unter der Regierung Alexanders III., der als Magister Roland noch altkatholisch dachte, trat die entscheidende Wendung ein” (KR II, 87). Alexander III. war Papst von 1159 bis 1181, Innozenz III. war es von 1198 bis 1216.
2 Meist reden die Autoren (vgl. z.B. Böckenförde 101-109; Bühler 105-257) zunächst ganz allgemein von Sohms „Kirchenbegriff”, von dem dann allerdings gesagt wird, daß er großen Schwankungen unterliegt. Eben wegen dieser Schwankungen habe ich darauf verzichtet, den Kirchengriff Sohms darstellen zu wollen, den es ja nicht gibt. Vielmehr beschreibe ich ➝

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deckt sich mit dem Wesen der Ekklesia im Urchristentum, wenngleich die Erscheinungsformen dieses Wesens sich ändern.3 Nach Sohms Meinung4 bezeugen uns dies u.a. Tertullian, Augustinus, Kardinal Humbert5 und Hugo von Amiens/Rouen.6

„Auch für den Altkatholizismus ist die Kirche Christi (die Ekklesia) das Volk Gottes, unmittelbar regiert durch den Geist Gottes. Auch für den Altkatholizismus ist das Leben und Handeln der Ekklesia nicht Leben und Handeln der Christenheit als solcher (als einer menschlichen ,organisierten’ Gemeinschaft), sondern Leben und Handeln Gottes (Christi). Auch für den Altkatholizismus ist die Kirche die ,himmlische’ Größe, die kraft ihres übernatürlichen Wesens allen Gesetzen irdischen gesellschaftlichen Lebens fremd, nur übernatürliche Ordnung kennt und übernatürliches Regiment.”7 Trotz all dem hat die altkatholische Kirche Recht hervorgebracht. Das unterscheidet sie vom Urchristentum. Darüber wird noch die Rede sein müssen.

 

§ 2 Die altkatholische Kirchenverfassung

 

Der Kirchenbegriff mußte notwendig allgemein und unbestimmt bleiben. Er will entfaltet werden. Das geschieht dadurch, daß die Kirchenverfassung beschrieben wird. „Die altkatholische Kirchenverfassung beruht in der Fortführung urchristlicher Gedanken: in der Entfaltung des urchristlichen Kirchenbegriffs.”8


➝ drei Kirchenbegriffe Sohms: denjenigen der Urkirche, jenen im Altkatholizismus und jenen im Neukatholizismus.
3 Vgl. AK 545.
4 Vgl. ebd. 545 f.
5 Vgl. H. Wolter, Humbert von Silva Candida, in: LThK V (i960) 532 f.
6 Vgl. St. Hilpisch, Hugo von Rouen, in: LThK V (i960) 517.
7 AK 547.
8 Ebd. 614.

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I. Die charismatische Organisation

Da Gott (Christus) seine Ekklesia (die Kirche im religiösen Sinn) regiert und solches Regiment durch die Geistbegabten wirkt, haben wir eine charismatische Organisation. Das gilt wie für die urchristliche so auch noch für die altkatholische Kirche. Freilich nimmt in dieser der Klerus die Stelle des Geistbegabten ein. „Der katholische Klerus bedeutet die in Rechtsform gebrachte charismatische Organisation. Eine äußere Form gibt und sichert den Geistesbesitz. Der Klerus hat die geistliche Gabe, an der das geistliche Leben der Christenheit hängt. Er hat das geistliche Amt, das Amt, durch welches der Geist Gottes unmittelbar kräftig ist im Sakrament.”9

Welches ist die Gewalt des Klerus? Um das zu bestimmen, vergleicht Sohm das Leben der Christenheit mit dem Leben eines Menschen. Dem körperlichen Leben entspricht das weltliche Leben der Christenheit (vita terrena oder corporea). Dem seelischen Leben entspricht das überirdische, religiöse Leben der Christenheit (vita spiritualis oder coelestis). Hat man diese Unterscheidung gemacht, dann läßt sich sagen: „Der Laienschaft gehört die Herrschaft über das körperliche Außenleben, dem Klerus die Herrschaft über das seelische Innenleben der Christenheit. Die Gewalt der Laien ist die weltliche, irdische, die Gewalt des Klerus die geistliche, überirdische Gewalt.”10 Wenn man von eigentlicher Kirchengewalt redet, so meint man die religiöse Gewalt der Christenheit, die Kirchengewalt im engeren Sinn. Und das ist die kirchliche Vollmacht des Klerus. So läßt sich dann — verallgemeinernd — sagen: „Die Kirchengewalt ist die Gewalt des Klerus.”11

Dieser Satz freilich kann mißverstanden werden, denn sein Verständnis hängt immer davon ab, was man unter Kirchengewalt versteht. Sohm wird deshalb nicht müde, zu


9 Ebd. 617.
10 KR II, 252.
11 Ebd. 254.

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betonen, daß kirchliche Vollmacht im Altkatholizismus nichts Äußeres, kein Körperschaftsregiment bedeutet. „Die Kirchengewalt als solche beherrscht nichts von dem Leben dieser Welt, sondern nur die geistlichen Güter jener Welt, das Leben der Seele mit Gott.”12 Und: „Kirchliches Leben im Sinn des Urchristentums und des Altkatholizismus ist nichts Irdisches, sondern das überweltliche Leben des Geistes Gottes in und mit der Christenheit.”13

Die Bilder vom Innen und Außen, vom Weltlichen und Überweltlichen, welche die Gewalt des Klerus beschrieben haben, lassen sich auch auf die Ebene des Rechtlichen übertragen. Dann lauten sie so: „Der Klerus hat Gewalt über das Sakrament und damit Gewalt über den Geist Gottes, über die Gnade Gottes, über das Seelenleben, über das Seelenheil der Christenheit.”14 Und: „Diese Gewalt ist es, die durch das altkatholische Kirchenrecht in rechtliche, auf das Gemeindeleben der sichtbaren Christenheit wirkende Form gebracht ist. Die altkatholische Kirchengewalt ist Rechtsgewalt; aber sie ist trotzdem nicht Regierungsgewalt im Sinn sonstigen (weltlichen) Rechtslebens, sondern Heilsgewalt . . . Sie ist die Schlüsselgewalt im Hause Gottes, deren Rechtsform die Sakramentsgewalt des Klerus darstellt.”15 Es hat sich also in der Kirche der Klerus entwickelt und an die Stelle der Geistbegabten gesetzt.

Der ganze Abschnitt über die charismatische Organisation läßt sich nun so zusammenfassen: „Wer kraft Ordination das Amt hat, der hat kraft göttlicher Verleihung den Geist, und das Maß seiner Geistesgaben bestimmt sich durch das Maß seiner ihm von Gott in der Ordination übertragenen Amtsaufgaben.”16


12 Ebd. 255.
13 Ebd.
14 Ebd. 257.
15 Ebd.
16 Ebd. 231.

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II. Die zwei Völker17

Dadurch daß es in dem einen Volk Gottes (der Kirche) Christen gibt, welche die Ordination empfangen und andere, die diese nicht empfangen haben, wird das eine Volk Gottes in zwei Völker aufgeteilt. „Vom Klerus als dem Stand der sakramental Begabten scheidet sich die Laienschaft als der Stand der sakramental Unbegabten. Eine Änderung von unermeßlicher Tragweite.”18 Diese Änderung gilt es noch ein wenig zu bedenken. Zunächst war die Trennung von Klerus und Laien noch nicht endgültig. Und zwar aus einem doppelten Grund: Zum einen ruht diese Trennung ja auf dem gemeinsamen Fundament der einen Taufe, die alle zu Christen macht. Zum andern gab es freie Charismen, die nicht an die Ordination gebunden sind: die Charismen des Martyriums, des Wortes (Konfessor!), der Askese.19 All diese Charismen sammelten sich im Mönchtum. Daß dann doch die Mönchsbewegung die klerikale Kirchenverfassung nicht erschüttern konnte, hatte eine doppelte Ursache. Zum ersten erwies sich der Satz als unerschütterlich, „daß die Sakramentsgewalt, an erster Stelle die eucharistische Gewalt, nur dem Klerus gegeben ist. Mönche und Nonnen waren und blieben ohne die durch das kanonische Recht (Sakramentsrecht) geregelte geistliche Gewalt (Sakramentsgewalt), d.h. ohne die Kirchengewalt.”20 Zum zweiten wurden die Mönche teilweise in den Klerus integriert. Es kam dann zur Ausbildung der Kloster- bzw. Ordensgeistlichkeit neben der Weltgeistlichkeit. Damit war die Trennung der beiden Stände (Klerus und Laien) beschlossene Sache. Wer geistlich gesinnt war, wer also geistliche Gaben hatte, hörte damit auf, Laie


17 Das vorliegende Thema wird in AK 617-627 und KR II, 231-241 gleichlautend behandelt.
18 AK 617.
19 Vgl. ebd. 620-624.
20 Ebd. 626.

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zu sein. Und umgekehrt waren nun die Laien die Ungeistlichen.21 Hatte sich also im Urchristentum die gesamte Christenheit, als das geistliche Volk, von der Welt getrennt,22 so sondert sich nun im Zeitalter der Reichskirche, da diese Volkskirche geworden war,23 innerhalb des Christentums der Stand der Geistlichen (= Klerus) vom Stand der Ungeistlichen (= Laien). Es kam hinzu, daß seit dem Zusammenbruch des Römerreiches die Kultur nurmehr in den Kreisen des Klerus und der Klöster sich erhielt.24

Zum Schluß kann Sohm seine Überlegungen über die zwei Völker zusammenfassen: Hatte das Urchristentum noch gemeint, das ganze Volk Gottes solle ein Leben im Geiste Gottes führen, so war dieses Ideal im Früh- und Altkatholizismus gescheitert. Die Christenheit spaltete sich in zwei „Völker”. Während der Klerus sich dem geistlichen Leben widmete, führten die Laien ein weltliches Leben. „Der Gegensatz zweier Völker forderte den Gegensatz eines zweifachen Lebens der Christenheit: zweier Verfassungen, zweier Rechtsordnungen, zweier Obrigkeiten.”25

 

III. Die zwei Verfassungen26

Das letzte Zitat des vorhergehenden Abschnittes weist nach vorn und muß deshalb noch etwas ausgeführt werden. Für das Mittelalter galt die These, daß Christus das Haupt der Christenheit ist und daß ihm die weltliche und geistliche Obrigkeit zu dienen hat.27 Unter dieser einen Oberherrschaft Christi gibt es zwei Gewalten und zwei Reiche: die Ordnung


21 Vgl. ebd. 627.
22 Vgl. ebd. 618.
23 Vgl. ebd. 619.
24 Vgl. ebd. 627.
25 Ebd. 627.
26 Sohm hat seine Gedanken über die zwei Verfassungen der einen Christenheit sowohl in AK 628-639 als auch in KR II, 242-251 dargelegt.
27 Vgl. AK 628.

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der Laienschaft (= Staatsverfassung) und die Ordnung des Klerus (= Kirchenverfassung).28

Die Vorstellung, daß auch die weltliche Gewalt in die Christenheit hineingehört, ist uns heute fremd.29 Sie hat aber seit dem karolingischen Reich das Mittelalter beherrscht.30 Mit dieser Idee verbunden ist die andere, daß beide Obrigkeiten (auch die weltliche) Stellvertreter Christi sind. „Der König vertritt Christus als den wahren König, der Papst vertritt ihn als den wahren Priester der Christenheit.”31 Auch die Lehre von den zwei Schwertern hat hier ihren Platz.32

Die Christenheit hat ein Haupt. Sie hat aber keine einheitliche Verfassung. Es gibt keine oberste Gewalt. Zwei Gewalten stehen sich gegenüber und stehen selbständig nebeneinander. „Der Körper Christi ist keine einheitliche Körperschaft.”33 Es sind aber auch keine zwei Körperschaften. „Der heutige — aus dem Körperschaftsrecht stammende — Begriff der Souveränität ist noch unbekannt. Die Rechtsgewalt verteilt sich auf Königtum und Stämme (Herzöge), innerhalb der Stämme auf landschaftliche (Grafschaften) und stadtschaftliche Verbände. Das gleiche gilt in dem geistlichen Reich des Klerus. Noch ist der Papst kein geistlicher Souverän. Die geistliche Gewalt verteilt sich über die Stufen des Klerus. Noch ist auch die Christenheit als Kirche keine Körperschaft.”34


28 Vgl. ebd. 636.
29 Gott sei Dank! Vgl. dazu R. Sebott, Religionsfreiheit und Verhältnis von Kirche und Staat, Rom: Gregoriana 1977.
30 Vgl. AK 635.
31 KR II, 247.
32 Vgl. ebd. 250.
33 AK 638.
34 Ebd.

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IV. Die Ortsekklesia35

Die Kirchenverfassung spiegelt sich in der Ordnung des Klerus wider. „Ordnung und Stufen des Klerus aber sind in und an der Ortsekklesia entwickelt worden.”36 Deshalb kommt Sohm immer wieder auf diese zurück.37 Im Urchristentum galt für die Ortsekklesia keine bestimmte Ordnung. Wo sich Christen versammeln, da ist Christus bei ihnen und da entsteht Kirche (vgl. Mt 18, 20). Es kommt aber eine Ordnung, eben jene des Altkatholizismus, und zwar aus einem doppelten Grunde. Zum einen will die eucharistische Versammlung eine bestimmte Regelung,38 zum andern fällt für das Urchristentum die sichtbare Christenheit mit der Kirche im religiösen Sinn zusammen.39 Damit wird die an sich zufällige Ordnung der eucharistischen Versammlung zur religiös notwendigen Ordnung der wahren Kirche im religiösen Sinn.40

Wie eine solche rein faktische Ordnung in der Meinung Sohms „ideologisiert” und damit religiös bedeutsam wird, zeigt er am Beispiel des Bischofs. Zunächst war der Bischof nicht ein Gemeindebeamter, sondern ein Charismatiker, ein von Gott jeweils Gerufener.41 Wenn aber kein Charismatiker zur Verwaltung des Kirchenguts und zur Feier der Eucharistie anwesend war, bestellte man irgendeinen der Ältesten.42 Zunächst dürften diese Ältesten gewechselt haben, so daß


35 Statt von Ortsekklesien würden wir heute von Partikular- oder Teilkirchen sprechen, in denen und aus denen die eine und einzige katholische Kirche besteht (vgl. can. 368 CIC/1983).
36 AK 638.
37 Über die mit der Ortsekklesia zusammenhängende Ordnung handelt Sohm sowohl in AK 639-653 als auch in KR II, 194-203 und in KR II, 212-226.
38 Vgl. AK 641.
39 Vgl. ebd. 639.
40 Vgl. KR II, 194 und KR II, 186, A. 2.
41 Vgl. AK 642.
42 Vgl. KR I, 83-89.

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wir von einer Mehrheit von Bischöfen sprechen können.43 Der Mehrepiskopat war indes unzweckmäßig. Er verzettelte das Kirchengut und hinderte eine planmäßige Vermögensverwaltung.44 Deshalb kam es zum monarchischen Episkopat (= Einepiskopat).

Diese Lösung war zunächst eine rein praktische. Sie „bedeutete als solche(r) für die Ekklesia keine Verfassungsänderung und darum auch keine Katholisierung des Christentums.”45 Nun setzt aber die Ideologisierung ein: Die rein praktische Lösung wird zur religiösen Forderung des Episkopats. Und das in einer doppelten Form. Zum einen darf es nunmehr nur einen Bischof geben in der einen Ekklesia. „In der Versammlung des Volkes Gottes am Tische Gottes kann nur einer sein als der Statthalter Gottes. So darf auch nur einer sein der Statthalter Gottes (Christi) in der Ekklesia.”46 Zum andern kann nun nicht mehr in jeder Christenversammlung die Eucharistie gefeiert werden, sondern es gilt: „Nur wo der Bischof ist (mit Presbytern und Diakonen), nur da ist die Ekklesia, nur da die rechte Eucharistie, nur da Leben der Christenheit mit und aus Gott . . . Der Bischof macht die Versammlung zum Volke Gottes, den Altar zum Tische Gottes.”47

Die einmal begonnene Ideologisierung der faktischen Ordnung und Sakralisierung des Bischofsamtes setzt sich noch weiter fort. Der mit dem Bischofsamt betraute Älteste wird nun in die apostolische Nachfolge eingereiht. „Die Apostel selbst waren die ersten Bischöfe gewesen. Die apostolische Gewalt hatten sie auf den Träger des Einepiskopats als auf ihren Nachfolger übertragen. Der Bischof hob sich


43 Vgl. AK 643.
44 Vgl. ebd. 645.
45 Ebd. 645 f.
46 Ebd. 646.
47 Ebd. 642.

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auf eine Linie mit den Aposteln.”48 Diese Machtsteigerung des Bischofs kommt dadurch zum Abschluß, daß man den Bischof von Christus eingesetzt sein läßt.49

Zunächst standen die Bischöfe nur nebeneinander. Man versuchte aber dann eine Einheit dadurch herzustellen, daß man die Gewalt aller Bischöfe von dem einen Apostel Petrus herleitete. „Die Einheit der altkatholischen Kirche ist nicht rechtlicher sondern geistlicher Art.”50

 

V. Die Überordnung des römischen Bischofs

In der eben angeführten geistlichen Idee von der Einheit der katholischen Kirche steckt natürlich der Keim für die Überordnung des römischen Bischofs. Sohm meint, daß hier die letzten Grundlagen für die Entwicklung des römischen Papsttums und der abendländischen Kirchenverfassung liegen.51 Die römische Ekklesia ist die unmittelbar von Christus gegründete und geordnete Ekklesia. Mit ihrer Ordnung müssen die Ordnungen der anderen Kirchen übereinstimmen.52 „Jeder Ortsbischof besitzt die Schlüsselgewalt Petri und soll sie besitzen. Dieser unbestreitbare Satz, in dem das ganze altkatholische Kirchenrecht (des Abendlandes) beruht, ist gleichbedeutend mit dem anderen: jeder Ortsbischof ist ein Nachfolger und Vertreter (vicarius) Petri.”53

Diese Lehre von der Überordnung des römischen Bischofs ist wohl zunächst cyprianisch. Sie ist aber auch in Rom vertreten worden. „Das römische Papsttum hat von diesem Gedanken seinen Ausgang genommen.”54


48 Ebd. 647.
49 Vgl. ebd. 648-653.
50 Ebd. 653.
51 Vgl. ebd. 661 f.
52 Vgl. ebd. 668 f.
53 Ebd. 670.
54 Ebd. 673 f.

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§ 3 Die altkatholische Kirche

 

Wenn Sohm in einem eigenen Abschnitt über die (altkatholische) Kirche handelt,55 nachdem er vorher schon über den Kirchenbegriff und die Kirchenverfassung geschrieben hat und nachher noch über das Kirchenrecht und die Sakramente sprechen wird, dann darf diese Unterscheidung nicht als adäquat verstanden werden. Kirche ist etwas Konkretes und Ganzes, während Kirchenbegriff, Kirchenverfassung, Kirchenrecht, Sakramente usw. Aspekte und Teile des Ganzen sind. Über Kirche ist also implizit früher schon gehandelt worden und wird auch später noch gesprochen werden. Kirche ist der Leib Christi; ist ein Leib, in welchem Christus das Haupt ist.56 „Das ganze Leben des Christen sollte ein Leben mit und aus Gott sein”.57 Die Kirche lebte also eigentlich nicht auf dieser Erde, sondern im Himmel. „Die Kirche war altkatholisch . . . solange ihr Leben im Himmel war.”58

Daß Christus in der Kirche bzw. im einzelnen Christen lebt, ließ sich nun aber nicht genau bestimmen. „Es gab keine äußere Verbürgung des Göttlichen.”59 Mit dieser Unsicherheit wollten sich die einzelnen Christen indes nicht abfinden. Sie wollten sicher sein, daß Christus in ihnen lebte. So entstand das Kirchenrecht. „Nicht aus irgendwelchem Ordnungsbedürfnis (,soziologischem Bedürfnis’), sondern allein aus dem Heilsbedürfnis der Christenheit, aus ihrem Begehren nach Gott ist das katholische Kirchenrecht entsprungen.”60

Weil das Kirchenrecht das Leben des Einzelnen mit Gott und Christus regelte, war es Sakramentsrecht, und zwar nur


55 Ebd. 557-576.
56 Vgl. ebd. 537.
57 Ebd. 558.
58 Ebd. 563 f.
59 Ebd. 558.
60 Ebd. 561.

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Sakramentsrecht.61 Damit war eine Änderung gegenüber dem Urchristentum eingetreten. Konnte in diesem der Einzelne unmittelbar zu Gott (Christus) in Kontakt treten, so gilt jetzt: „Der Weg zu Christus (Gott) ging fortan durch das katholische Kirchenrecht, d.h. durch das Sakrament.”62 Indes war altkatholisches Kirchenrecht kein weltliches Recht. „Da es nur das Leben Gottes in dem Volke Gottes regelte, hatte es nichts zu schaffen mit dem Leben dieser Welt.”63 Noch genauer: „Inhalt des Kirchenrechts war ganz allein Regelung des göttlichen Lebens und damit Sicherstellung des Sakraments. Das Kirchenrecht war geistliches Recht für vom Geist Gottes getragenes Leben.”64

Weil für den Altkatholizismus die Kirche vor allem der Leib Christi ist, kann man von der Kirche nicht sagen, sie sei ein soziologisches Gebilde. „Die altkatholische Christenheit (Kirche) hatte ebenso wie die Urchristenheit überhaupt kein ,soziologisches Bedürfnis’, überhaupt kein ,soziologisches Prinzip’, geschweige denn ein ,soziologisches Grundschema’ für alle gesellschaftlichen Verhältnisse. Durch den im Altkatholizismus fortgeführten urchristlichen Kirchenbegriff war vielmehr gesellschaftliche Ordnung der Christenheit als Kirche ausgeschlossen. Das altkatholische Kirchenrecht machte, daß Gott sein Volk regierte, nicht aber daß die Christenheit in irgend welchem Maß sich selbst regierte.”65

Wegen der Abneigung gegen gesellschaftliche Ordnung kennt denn der Altkatholizismus auch keine planmäßige Durchführung der Ordnung für alle Gebiete des kirchlichen Lebens.66 „Weite, wichtige Gebiete des kirchlichen Lebens blieben vom Kirchenrecht frei”.67 Das läßt sich an zwei


61 Vgl. ebd. 567.
62 Ebd. 562.
63 Ebd.
64 Ebd.
65 Ebd. 572.
66 Vgl. ebd. 572 f.
67 Ebd. 573.

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Tatsachen ablesen. Zum einen fehlte es in der altkatholischen Kirche an einer Verfahrensordnung, die das Zustandekommen von Beschlüssen geregelt hätte. Es entschied lediglich der Erfolg. Es kam darauf an, daß eine Meinung sich durchsetzte.68 Zum andern läßt sich ähnliches von der Übernahme der Ausnahmebewilligungen sagen. „Die dispensatorische Rezeption, welche kirchenrechtlich ungültige sakramentale Tatbestände dennoch kirchenrechtlich gültig machte, welche also schließlich die Obergewalt über alle Handhabung des kanonischen Rechts in sich trug, entbehrte jeder rechtlichen Regelung, die über ihren Bestand und Geltung hätte entscheiden können. Die Rezeptionsgewalt stand bei dem, der tatsächlich Macht in der Kirche hatte”.69

 

§ 4 Das altkatholische Kirchenrecht

 

Sohm betont immer wieder, daß man am Kirchenrecht ablesen kann, wie es um die Kirche bestellt ist.70 Die Beschreibung des altkatholischen Kirchenrechts wird uns also in der Kenntnis des Altkatholizismus weiterbringen. Für den Altkatholizismus ist die Bildung von körperschaftlichem Kirchenrecht ausgeschlossen.71 Die Kirche „ist der Körper Christi und gerade darum, wie nach urchristlicher, so auch nach altkatholischer Ordnung, keine Körperschaft.”72 Das altkatholische Kirchenrecht war kein Körperschaftsrecht, sondern Sakramentsrecht.73 Dabei ist folgendes zu


68 „In der altkatholischen Kirche gibt es nach Sohm also kein Gesetzesrecht. Wer der Urheber einer Regelung war, ist grundsätzlich gleichgültig; erst die in der allgemeinen Rechtsüberzeugung und Übung der Christen liegende Äußerung des Geistes macht eine Vorschrift zum Kanon der Kirche. Die altkatholische Kirche empfängt ihr Recht unmittelbar von Gott” (Böckenförde 123).
69 AK 574.
70 Vgl. ebd. 567.
71 Vgl. ebd. 551.
72 KR II, 77.
73 Vgl. AK 552.

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unterstreichen: Im Altkatholizismus bestimmt das Sakrament das Kirchenregiment. „Die Kirchenverfassung ist nur Sakramentsverfassung (hierarchia ordinis). Eine andere Kirchenverfassung gab es nicht.”74 Das Sakrament dient dem Leben der Gemeinschaft mit Gott. Im Neukatholizismus dagegen dient das Sakrament nur dem religiösen Leben des einzelnen Christen. Deshalb entwickelt sich im Neukatholizismus eine doppelte Ordnung: „eine Ordnung für das Sakrament (die hierarchia ordinis), eine andere für das Regiment (die hierarchia jurisdictionis).”75 Damit gibt es im Neukatholizismus auch eine doppelte Art von Kirchenrecht: das göttliche, welches dem Leben mit Gott und das menschliche, welches dem körperschaftlichen Leben der Kirche dient.76

Das sakramentale und göttliche Kirchenrecht des Altkatholizismus war unveränderlich.77 Mit der Unveränderlichkeit war gegeben, daß bestimmte Handlungen unaufhebbar waren: „die göttliche Bindung des Ordinierten an seine Titelkirche, die (ursprüngliche) Ausschließung (jedenfalls Einschränkung) der Lösung vom Kirchenbann, die (ursprüngliche) Unmöglichkeit der Wiedereinsetzung des Deponierten. Es mußten neue Sakramente ausgebildet werden, um die Gotteskraft des vollzogenen Sakramentes durch die Gotteskraft eines Gegensakramentes zu überwinden.”78

 

§ 5 Das altkatholische Sakrament

 

Nachdem das altkatholische Kirchenrecht kurz umrissen ist, muß noch das Sakrament der altkatholischen Kirche dargestellt werden; denn dieses läßt erst genau erkennen, was jenes ist. „Das Verständnis des altkatholischen Kirchenrechts


74 Ebd. 553.
75 Ebd. 552.
76 Vgl. ebd. 553.
77 Vgl. ebd. 554.
78 Ebd. 555.

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hat das Verständnis des altkatholischen Sakraments zur Voraussetzung.”79

 

I. Entstehung und Begriff

Das Sakrament ist in der Kirche erst langsam entstanden.80 „Mit der Menge der Christen wächst die Menge der religiös Unselbständigen, die Menge derer, die ihr geistliches Leben gewissermaßen mechanisch von der sichtbaren Christenheit, der Ekklesia, empfangen wollen, die ihr Heil begründet und zugleich gesichert haben wollen durch äußere Vorgänge, in denen die Gnade Gottes, ewiges Leben mit Gott gegeben wird”81, eben durch die Sakramente. Wie so etwas entsteht, zeigt sich an der eucharistischen Mahlgemeinschaft. Zunächst ist es wirklich ein Mahl. Dann wird es ein bloß symbolisches Essen und Trinken. Schließlich gilt: „Die sonntägliche Eucharistie ward zu einem Ritus.”82 Dann die weiteren Stufen: die sonntägliche Form ist von Gott vorgeschrieben;83 dann: der äußere eucharistische Kultus ist ein opus operatum.84 Schließlich gilt: „Das Mysterium der Ekklesia verwirklicht sich in sichtbaren Tatbeständen.”85

 

II. Die einzelnen Sakramente

Nach Sohm gibt es in der altkatholischen Zeit eine fast unbegrenzte Zahl von Sakramenten.86 Das hängt mit dem folgenden, sehr modern anmutenden, Gedankengang zusammen. „Das Ursakrament ist der altkatholischen Kirche Christus selbst: das sacramentum incarnationis, die


79 Ebd. 61.
80 Vgl. ebd. 61-80; ferner KR II, 203-212.
81 AK 69.
82 Ebd. 72.
83 Vgl. ebd. 75.
84 Vgl. ebd. 76.
85 Ebd.
86 Vgl. ebd. 80.

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Fleischwerdung des Wortes.”87 Das Sakrament der Fleischwerdung wiederholt sich dann „in dem Sakrament der Kirche (sacramentum ecclesiae).”88Jedes Handeln der Kirche ist. . . ein Sakrament. Die Lehre von dem Wesen und dem Leben der Kirche fällt zusammen mit der Lehre von den Sakramenten. Das ist wie der Standpunkt des Ignatius, Tertullians, Augustins so auch der Standpunkt noch des zwölften Jahrhunderts.”89 Es ist von Bedeutung, daß der Begriff „sakramental” allem Tun der Kirche angeheftet wird. Auch die Lehre der Kirche fällt unter diesen Begriff. „Die Wortverwaltung ist für den Altkatholizismus eine Art der Sakramentsverwaltung”.90 Auch die Regierungsverwaltung gehört hierher. So sind die Deposition und die Exkommunikation Sakramente.91 Freilich Sakramente eigener Art. „Es gab Sakramente ohne Gnadenmitteilung, ja auch solche Sakramente, welche (wie das Anathema bzw. die Deposition des Klerikers) die Gnade Gottes entziehen.”92 Auch die kirchliche Gesetzgebung93 ist ein Sakrament, „denn alle für die Kirche Gottes, die Ekklesia, gültigen Vorschriften, sind geheimnisvoll von Gott (Christus) gegebene Gesetze.”94 Die Zahl der Sakramente ist deshalb fast unbegrenzt, weil nicht nur die Handlungen der Kirche, sondern auch die sogenannten Mittel


87 Ebd. 81.
88 Ebd. 83.
89 Ebd. 84.
90 Ebd. 84.
91 Vgl. ebd. 86, A. 10.
92 Ebd. 86 f., A. 10.
93 Deswegen ist die Wissenschaft vom kanonischen Recht für den Altkatholizismus ein Teil der Theologie. „Wohin gehört folgeweise die Lehre vom kanonischen Recht? Sie gehört zur Lehre von den Sakramenten. So gewiß aber die Lehre von den Sakramenten unter die Theologie fällt, so gewiß auch die Lehre vom kanonischen Recht: von der praktischen Macht und Handhabung der Sakramente. Gratian schreibt als Theolog. Er kennt für seine Darstellung des kanonischen Rechts gleich dem gesamten Altkatholizismus nur den religiösen (theologischen) Gesichtspunkt” (KR II, 84).
94 AK 87.

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zu den Sakramenten gezählt werden. Sohm unterscheidet (im Anschluß an Rufin95) vier Klassen von Sakramenten: die salutaria (etwa die Taufe), die ministratoria (z.B. das Breviergebet), die veneratoria (z. B. die liturgischen Feste) und die preparatoria (etwa Gegenstände und Utensilien in der Kirche).96

 

III. Tatbestand und Gültigkeit des Sakraments

Wenn Sohm im folgenden das altkatholische Sakrament näher beschreibt, dann muß man sich immer bewußt halten, daß das vor allem geschieht, um das altkatholische Recht in seinem Unterschied zum neukatholischen zu beleuchten. Dies ist die Spitze der Argumentation und nur dieser Aspekt braucht hervorgehoben zu werden. „Wenn die örtliche Versammlung gemäß der göttlichen Ordnung der Christenheit (gemäß dem kanonischen Recht) handelt, so vollzieht sich durch das Handeln der örtlichen Ekklesia . . . Handeln der katholischen Ekklesia. Das Sakrament ist da: das Geheimnis der Kirche Christi verwirklicht sich.”97 Was hier unterstrichen werden muß ist dies: Nicht der Priester, auch nicht die richtige Form machen das Sakrament, sondern das Handeln der Kirche. „Der Bischof hat die Sakramentsgewalt (die Schlüsselgewalt) nur als Vorgesetzter, Organ der Christenheit auf Erden.”98 Damit ist dann auch die Gültigkeit des Sakraments bestimmt. „Gültig ist das dem kanonischen Recht entsprechende, ungültig das dem kanonischen Recht nicht entsprechende Sakrament.”99

Was heißt aber dem kanonischen Recht entsprechend? Wir pflegen heute zwischen Mußvorschriften und Sollvorschriften zu unterscheiden. Werden erstere verletzt, ist das


95 Vgl. D. Lindner, Rufinus (Kanonist), in: LThK IX (1964) 92 f.
96 Vgl. AK 89, A. 16.
97 Ebd. 107.
98 Ebd. 93.
99 Ebd. 94.

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Sakrament ungültig; beobachtet man nur die letzteren nicht, so bleibt das Sakrament gültig. Diese Unterscheidung kannte das altkatholische Kirchenrecht nicht. „Vom katholischen Standpunkt ergab sich aus jedem kanonischen Rechtssatz ein Ungültigkeitsgrund. Das war es, wodurch das altkatholische Recht zuletzt unmöglich wurde.”100 Denn nun konnten die Sakramente aus so vielen Gründen ungültig sein, daß niemand mehr wußte, ob ein gültiges Sakrament zustandegekommen war. Diese Situation mußte zu einer Umbildung führen, eben zum neukatholischen Sakrament. Dieses begnügte sich mit einer doppelten Gültigkeitsvorschrift: „Das neukatholische Sakrament ist die formrichtige Handlung des formrichtig geweihten Priesters.”101

Daß es zu dieser Umbildung kam, erklärt sich noch aus einem weiteren Grund. Was geschieht, wenn das kanonische Recht nicht beobachtet wird? In einem solchen Fall mußte das Sakrament ungültig sein. Denn es galt als Grundsatz: „Außerhalb der katholischen Kirchenordnung kein gültiges Sakrament.”102 Was aber, wenn zu viele Menschen gegen die Kirchenordnung verstoßen? Um des Friedens willen und um zu viele ungültige Sakramente zu verhüten, mußte in diesen Fällen von der Strenge des kanonischen Rechts abgegangen werden. „Damit war der Gedanke einer kirchlichen Dispensationsgewalt gegeben.”103

Sohm weist freilich sogleich auf einen wichtigen Unterschied hin. Im Neukatholizismus bewegt sich die Dispens rein im Bereich des menschlichen (körperschaftlichen) Rechts. „Ganz anders der altkatholische Dispens. Der Unterschied von menschlichem (körperschaftsrechtlichem) und göttlichem Kirchenrecht ist unbekannt. Der Dispens bewegt sich im Gebiet des göttlichen Kirchenrechts, denn anderes


100 Ebd. 98.
101 Ebd. 100.
102 Ebd. 109.
103 Ebd. 110 f.

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als göttliches Kirchenrecht gibt es nicht. Der altkatholische Dispens soll nicht von bloßen Ordnungsvorschriften befreien. Er soll den kraft göttlichen Rechts ungültigen (nichtigen) Tatbestand gültig machen.”104 Das wird noch deutlicher, wenn man die ordnungswidrige Ordination betrachtet. Der ordnungswidrig Ordinierte mußte in der altkatholischen Kirche eigentlich deponiert werden. Sollte er begnadigt werden, so geschah das entweder durch dispensatorische Reordination oder durch dispensatorische Rezeption. „Während die dispensatorische Reordination die Nichtigkeit der ersten Ordination durch Wiederholung der Handlung nur für die Zukunft und nur durch Setzung eines neuen sakramentalen Tatbestandes praktisch beseitigte, bedeutete die dispensatorische Rezeption, daß die damals ordnungswidrig und darum ungültig vollzogene Weihe durch Anerkennung seitens der Kirche dennoch rückwärts gültig gemacht wurde.”105

Da das altkatholische Recht nicht zwischen göttlichem und menschlichem Recht unterschied, hieß das praktisch, daß auch von göttlichem Kirchenrecht dispensiert werden konnte.106 „Die praktische Folge . . . der göttlichen Dispensationsgewalt war die Entkräftung des altkatholischen Kirchenrechts.”107 Das führte dazu, daß in Zeiten großer Verwirrung (Investiturstreit!) die Dispensation zu einer reinen Ermessensfrage wurde. Dadurch drohte das altkatholische Recht sich selber aufzulösen. Wer hatte die Rezeptionsgewalt? Zunächst natürlich die kirchlichen Machthaber.108


104 Ebd. 112 f.
105 Ebd. 121.
106 Vgl. ebd. 124. Freilich wurde vom Sittengesetz und von den Vorschriften des Evangeliums und der Apostel nicht dispensiert (vgl. ebd. 129, A. 45). Damit war — wenn auch nicht dem Namen nach — eben doch die Unterscheidung zwischen göttlichem und menschlichem Recht vorhanden.
107 Ebd. 126.
108 Vgl. ebd. 130.

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Da sich aber deren Spruch bei der allgemeinen Christenheit durchsetzen mußte, lag die Rezeptionsgewalt „bei der universalis ecclesia im vollen Sinne des Wortes.”109 Durch diese freilich dispensiert „auf geheimnisvolle Weise der heilige Geist.”110

Da „für die Rezeption . . . kein kanonisches Recht”111 galt, war „der Geist Gottes hier ungebunden”.112 „Dieselbe ,pneumatische Anarchie’, welche in den Tagen des Urchristentums auf dem gesamten Gebiet des geistlichen (kirchlichen, an die Ekklesia gehörigen) Handelns herrschte, wiederholt sich in der altkatholischen Kirche auf dem außerkanonischen Gebiet.”113 Diese Schwäche (nicht im Sinne Sohms, sondern im Sinne jener, die das altkatholische Recht verwalteten) mußte zum neukanonischen Recht führen.


109 Ebd. 131.
110 Ebd. 125.
111 Ebd. 130.
112 Ebd. 136.
113 Ebd.