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Zweites Kapitel
Der Begriff des Rechts

 

Neben der Periodisierung der Kirchenrechtsgeschichte muß noch eine weitere, mehr formale Seite an Sohms Werk besprochen werden, bevor die drei Epochen der Kirchenrechtsgeschichte (Urkirche, Altkatholizismus, Neukatholizismus) dargestellt werden können.

Der Rechtsbegriff Sohms1 wird durch vier2 Merkmale bestimmt: 1. Das Recht entspringt der Gemeinschaft. „Das Recht [dient] der Erhaltung der Gemeinschaft, der es entspringt, durch gemeinschaftsgestaltende (organisatorische) Machtbefugnisse und Pflichten verteilende Vorschriften.”3 Ohne eine solche Ordnung würde die Gemeinschaft zugrundegehen.

2. Das Recht bringt Zwang mit sich. Zwar gilt: „Der Zwang ist keineswegs das Kennzeichen der Rechtsordnung.”4 Aber es gilt auch: „Ohne Zwang keine Selbstbehauptung der Gemeinschaft gegenüber dem Einzelnen.”5 Aus diesen beiden Sätzen ist wohl zu entnehmen, daß der Zwang in einer Rechtsordnung vorhanden sein muß — rein de facto —, auch wenn man aus dem Begriff des Rechts den Zwang nicht ableiten kann. „Jede Gemeinschaftsordnung (so auch die Rechtsordnung) hängt an dem Erfolge, daß diese Gemeinschaft erhalten werde. Dazu ist ein bestimmtes äußeres Verhalten der Gemeinschaftsangehörigen notwendig


1 Vgl. Bühler 47-60; D. Stoodt, Wort und Recht. Rudolf Sohm und das theologische Problem des Kirchenrechts, München 1962, 9-16.
2 Vgl. Böckenförde 97-99.
3 KR II, 48.
4 Ebd. 49.
5 Ebd.

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und genügend . . . Das äußere Verhalten aber kann erzwungen werden und muß als zur Erhaltung der Gemeinschaft notwendig erzwungen werden, soweit die Zwangsmittel der Gemeinschaft reichen (Vollstreckungszwang, Strafzwang).”6

3. Das Recht ist formal. „Als Ordnung des Gemeinlebens ist . . . jede Gemeinschaftsordnung, ebenso auch die Rechtsordnung, eine Ordnung um der Ordnung willen. Die Erhaltung der Gemeinschaft ist an erster Stelle nur davon abhängig, daß eine Ordnung sei. Die Frage nach dem Inhalt der Ordnung, so bedeutsam sie auch für die Leistungsfähigkeit der Ordnung ist, steht, im Verhältnis zu dem Bedürfnis nach Ordnung überhaupt, in zweiter Reihe.”7

4. Schließlich ist das Recht an die Vergangenheit gebunden. „Jede Gemeinschaftsordnung, ebenso die Rechtsordnung beruht . . . auf der Vergangenheit und bewegt sich in geschichtlich entwickelten, mehr oder minder allgemein lautenden Sätzen, durch welche im voraus die Entscheidung einer gewissen Zahl von Fällen vorgeschrieben ist.”8

Von der Rechtsregel unterscheidet Sohm die Konventionalregel. Eine solche ist z.B. die Regel eines Vereins. „Sie ist keine in sich selber ruhende, durch sich selbst (selbstherrlich) verpflichtende, den Einzelnen auch ohne seinen Willen ergreifende Ordnung. Sie gilt nur für den, der sich ihr in Freiheit unterwarf. Darum gilt die Vereinssatzung nur gemäß der Rechtsordnung, nicht als Rechtsordnung. Die Vereinssatzung ist keine Rechtsquelle.”9

Nachdem die Unterscheidung zwischen Rechts- und Konventionalregel getroffen ist, läßt sich nochmals genauer bestimmen, was Recht ist. Recht gibt es nur in einer Gemeinschaft,


6 Ebd. 48 f.
7 Ebd. 49.
8 Ebd. „Le droit est forme extérieure; il institutionnalise et fixe une forme du passé et enchaîne ainsi l’Esprit, qui est liberté” (Congar 264).
9 KR II, 51 f.

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welcher der Einzelne notwendig angehören muß. „Recht ist die selbstherrliche Ordnung einer sittlich notwendigen überindividuellen äußeren Gemeinschaft. Kürzer gesagt: Recht ist sittlich notwendige Gemeinschaftsordnung.”10

Damit fragt es sich nun, in welcher Gemeinschaft es überhaupt Recht geben könne. Anders gefragt: Welcher Gemeinschaft muß man notwendig angehören? Hier kommen (die Familie darf aus anderen Gründen hier übergangen werden) nur Staat und Kirche in Frage. Und Kirche eigentlich auch nur im mittelalterlichen Sinn, als man in sie hineingeboren wurde. Das bestätigt Sohm auch ausdrücklich. „Außer Zweifel steht, daß es unmöglich ist, lediglich der staatlichen Gemeinschaft rechtserzeugende Kraft beizulegen. Die Tatsache, daß es im Mittelalter ein nicht vom Staat erzeugtes kanonisches Recht gegeben hat, stellt unbestreitbar klar, daß das Recht nicht begrifflich mit staatlichem Recht zusammenfällt.”11 Hätte damit die Kirche auch heute noch rechterzeugende Kraft? Darf es in der Kirche auch heute noch Recht geben? Sehen wir im einzelnen zu.

„Welche Gemeinschaft ist die sittlich notwendige Gemeinschaft, die berufen ist, Zeugerin und Trägerin der Rechtsentwicklung zu sein? Die Antwort der Geschichte lautet: die


10 Ebd. 55. Um in etwa einen Vergleichspunkt zu haben, seien hier die Formeln für das römische und das kanonische Recht angeführt. Die beiden Formeln sind zitiert nach H. Krause, Recht, in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte IV, Berlin 1990, 224-232, hier: 225. Für das römische Recht gilt: „Justitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi. Juris praecepta sunt haec: honeste vivere, alterum non laedere, suum cuique tribuere. Juris prudentia est divinarum atque humanarum rerum notitia, iusti atque iniusti scientia.” Das kanonische Recht stützt sich auf das folgende dictum Gratians: „Jus naturae est, quod in lege et evangelio continetur, quo quisque iubetur alii facere, quod sibi vult fieri, et prohibetur alii inferre, quod sibi nolit fieri.” Zu Gratian vgl. C.G. Fürst, Zur Rechtslehre Gratians, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kan. Abt. 57 (1971) 276-284.
11 KR II, 50.

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Volksgemeinschaft.”12 Zwar gab es im Mittelalter auch andere Verbände („so die Städte, die Landschaften”13), welche Recht schufen, aber mit dem 18. Jahrhundert ist das vorbei. „Nur noch in der Form des Staates ist das Volk obrigkeitlich verfaßt, nur noch in der Form des Staates ist das Volk eine selbstherrliche Gemeinschaft, nur noch in der Form des Staates ist das Volk Rechtsquelle. So ist in der Gegenwart die weltliche Obrigkeit mit der staatlichen Obrigkeit und das weltliche Recht mit staatlichem Recht gleichbedeutend.”14 „Gibt es außer der Volksgemeinschaft noch eine andere sittlich notwendige Gemeinschaft? Gibt es außer dem weltlichen (staatlichen) Recht von der Kirche selbständig erzeugtes Recht?”15 Diese Frage wirkt nun reichlich rhetorisch, denn wenn es Recht nur mehr in der Form des Staates geben kann (und so hat Sohm das Recht definiert), dann kann es eben kirchliches Recht nicht geben. Sohm fragt denn auch gar nicht, ob die Kirche Recht hervorbringen kann (und zwar solches, das dem staatlichen Recht gleichgeordnet wäre), sondern er fordert, daß die Kirche geistliches Recht hervorbringe. „Geistliches Recht ist das aus dem heiligen Geist stammende ,heilige Recht’ (sacri canones, jus sacrum). Es ist verbindlich kraft des Glaubens an Gott. Geistliches Recht ist aus religiösen Gründen geltendes Recht.”16 Und: „Ist die Kirche im religiösen Sinn (die aus dem Geist Gottes lebende Christenheit) Rechtsquelle, so muß sie wie geistliches Recht so geistliche Obrigkeit mit selbstherrlicher geistlicher Befehlsgewalt, mit Befehlsgewalt im Namen Gottes hervorbringen. Gibt es geistliches Recht, so gibt es geistliche Obrigkeit, deren Gewalt höher ist als die Staatsgewalt.”17


12 Ebd. 55.
13 Ebd. 57.
14 Ebd.
15 Ebd. 58.
16 Ebd.
17 Ebd. 59.

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Fassen wir zusammen: In der Kirche kann es geistliches Recht geben. Noch mehr: Es sollte auch ein solches Recht existieren.18 Weltliches Recht im Sinne Sohms aber, d.h. dem staatlichen gleichgeordnetes Recht, kann es in der Kirche nicht geben19, denn die Kirche ist (im Gegensatz zum Staat) keine Gemeinschaft, der der Einzelne notwendig angehören muß. In der Kirche gibt es nur eine Konventionalregel. Diese gilt nur für den, der sich ihr in Freiheit unterwirft.

 

18 In der Kirche sollte es eine geistgelenkte Ordnung geben. „Wie Sohm vom modernen Staat her den Begriff des (weltlichen) Rechts bildet, so fragt er von der konkret erlebten Kirche her nach deren Ordnung und damit nach der Möglichkeit von Kirchenrecht” (Böckenförde 101).
19 „Sohms Rechtsdenken wurzelt weniger im technisch-neutralen und funktionalen Rechtsdenken des juristischen Positivismus als in der vernunftrechtlichen Staatstheorie. Sein Rechtsbegriff ist auf den neuzeitlichen Staat hin konzipiert als höchste, souveräne Gewalt, die allein die Machtverhältnisse reguliert. Allein das staatliche Recht ist daher Recht im eigentlichen Sinn” (Böckenförde 100 f.).