|34|

 

Drittes Kapitel
Zeit der Urkirche (pneumatische Anarchie1)

 

Nach Sohms Meinung2 steht das Kirchenrecht mit dem Wesen der Kirche in Widerspruch.3 Diese Meinung begründet Sohm dadurch, daß er nachzuweisen versucht, die Urkirche habe kein Kirchenrecht besessen. Dieses sei vielmehr im Laufe der nächsten Jahrhunderte erst hinzugekommen und habe so das Wesen der Kirche verdorben. Um das zu beweisen, brauche man nur zuerst die Urkirche zu betrachten und müsse dann die folgenden Jahrhunderte unter die Lupe nehmen. So handeln wir also zunächst vom Urchristentum, dann von den Vorstufen der Gemeindebildung, nachher vom Aufkommen des Bischofsamtes, schließlich von der langsam wachsenden Macht der Synode und zuletzt von der erst spät entstandenen Gewalt des Papstes.


1 In WU 47 schreibt Sohm folgendermaßen: „Die ,charismatische Organisation’ bedeutet den Ausschluß jeder rechtlichen Ordnung. Gerade darum ist sie außerstande, irgend welche Widerstände zu überwinden. Sie ist ohne jede äußere und organisatorische Kraft und muß darum zu den größten praktischen Schwierigkeiten führen. Sie liefert das Leben der Ekklesia ,pneumatischem Anarchismus’ aus. Das ist das Auffallende, anscheinend Unbegreifliche. Und doch ist das Forderung, Überzeugung des Urchristentums!” In AK 136 wird dieselbe Erscheinung mit dem Ausdruck „pneumatische Anarchie” belegt.
2 Dieses Kapitel ist so aufgebaut, daß ich im wesentlichen Sohm folge. Ich halte also so etwas wie eine Blütenlese aus Sohms Werken; und zwar zitiere ich vor allem aus KR I, KR II, AK und WU.
3 Vgl. KR I, 1 und 700.

|35|

 

§ 1 Die urchristlichen Grundlagen

 

Die Christengemeinde der Urzeit heißt „die Ekklesia”, vollständig „die Ekklesia Christi” oder „die Ekklesia Gottes”.4 Diese Ekklesia ist keine bestimmte empirische Größe, kein sozialer Begriff, nicht einmal eine Ortsgemeinde.5 Die Ekklesia besteht vielmehr aus ékkletoi, aus von Gott Berufenen, welche für den Glauben eine Versammlung der Christenheit, eine Versammlung des neutestamentlichen Bundesvolkes vor und mit Gott und Christus darstellen.6 Das meint ja auch das Evangelium, wenn es sagt: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen” (Mt 18, 20).

Die entscheidende Frage ist, ob diese Ekklesia organisiert und verfaßt ist. Und auf diese Frage antwortet Sohm lapidar: „Die Ekklesia ist der rechtlichen Organisation unfähig.”7 Warum? „Das Haupt der Ekklesia (der Christenheit) ist Christus (Gott). Gewalt in der Ekklesia kann folglich nur im Namen Christi (Gottes) geübt werden. Ist es denkbar, daß ein Rechtssatz darüber entscheide, wessen Rede für die Kirche Gottes Rede sei? . . . Ist es möglich, daß es ein Recht gibt, der Gemeinde eine bestimmte Entscheidung als Gottes Entscheidung aufzudrängen? Ist es möglich, daß eine Lehre deshalb als Gottes Lehre zu gelten hat, weil der Lehrende vielleicht vor einiger Zeit formrichtig von der Gemeinde erwählt oder sonstwie rechtmäßig bestellt ist? Sobald gewiß ist, daß nicht Menschen Wort, sondern allein Gottes Wort in der Ekklesia regieren soll, sobald ist ebenso gewiß, daß es keine Macht noch Amtsbestellung in der Christenheit geben kann, welche rechtliche Befugnis gegenüber der Gemeinde giebt. Das Wort Gottes erkennt man nicht an irgend welcher


4 Vgl. ebd. 16.
5 Vgl. ebd. 19.
6 Vgl. ebd. 19 f.
7 Ebd. 22.

|36|

Form, sondern an seiner inneren Gewalt. Die Christenheit hat nur dem Wort zu folgen, welches sie kraft innerer freier Zustimmung als Gottes Wort anerkennt. Nur dem sachlich gerechtfertigten, in Wahrheit aus dem Geist Gottes stammenden Wort leistet sie Gehorsam. Es kann keine rechtliche Regierungsgewalt in der Ekklesia geben.”8

Nun gibt es allerdings in der Gemeinde eine gewisse Führung, welche durch das Charisma der Lehrgabe ausgeübt wird. In diesem Punkt beruft sich Sohm auf 1 Kor 12, 8-11: „Dem einen nämlich wird durch den Geist Weisheitsrede (lógos Sophias) gegeben, einem andern aber Erkenntnisrede (lógos gnóseos) gemäß demselben Geist, einem andern Glaube in demselben Geist, einem andern aber Gnadengaben zu Heilungen in dem einen Geist, einem andern aber wirkungskräftige Machttaten (energémata dynámeon), einem andern Rede aus Eingebung (propheteia), einem andern aber Unterscheidung der Geister, einem andern verschiedene Arten von Zungenreden, einem andern aber Auslegung der Zungenreden. Alles dies aber wirkt ein und derselbe Geist, der jedem für sich zuteilt, wie er will”. Daß sich durch das Charisma der Lehrgabe eine Führung ergibt, erklärt sich nach Sohm daraus, daß das Wort Gottes die letztlich entscheidende Quelle für die Ordnung der Ekklesia sein soll. Dieses Wort Gottes aber wird durch den Lehrbegabten interpretiert.9

Unter der Wortverwaltung ragen drei Formen heraus: die Prophetie (Weissagung), die Didaskalie (Lehre im engeren Sinn) und die Ermahnung.10 Die Prophetie ist die Neuoffenbarung des göttlichen Wortes.11 Die Didaskalie ist die Entfaltung des gegebenen Gotteswortes.12 „Die Ermahnung


8 Ebd. 22 f.
9 Vgl. ebd. 29.
10 Vgl. ebd. 38.
11 Vgl. ebd. 38-40.
12 Vgl. ebd. 41.

|37|

endlich ist die Anwendung des bereits geoffenbarten und entfalteten Gotteswortes auf den einzelnen.”13 Man sieht deutlich, wie sich Sohm die Ordnung der Gemeinde vorstellt (besser: wie er meint, die Schrift verfüge diese Ordnung der Gemeinde). Die Gemeinde wird je neu geordnet durch das aktuell der Gemeinde zugesprochene Gotteswort. Autorität entsteht erst innerhalb der Versammlung der Ekklesia. Autorität aufgrund formaler Natur (etwa die von uns so verstandene Autorität des Priesters) wegen einer bestimmten Tatsache in der Vergangenheit (etwa der Ordination in unserem Sinne) gibt es für Sohm nicht.

Zwei Schwierigkeiten könnten hier auftauchen. Wenn der Lehrer in der Gemeinde reden will, muß ihm dann diese die Wortverkündigung nicht gestatten? Und verleiht sie ihm damit nicht den Lehrberuf; ein Vorgang, der gleichsam der (formale) Rechtsgrund für das Auftreten des Lehrbegabten wäre? Nein, sondern dieses Gestatten ist nur „ein Zeugnis, eine Anerkennung, daß dieser Persönlichkeit von Gott der Lehrberuf (das Charisma) gegeben worden ist. Die Versammlung vermag keinerlei Charisma, Fähigkeit, Beruf zur Lehrtätigkeit zu gewähren.”14 Ferner: Macht die Versammlung, welche dem Lehrer das Wort gestattet, dies Wort nicht allererst zum Worte Gottes? „Nimmermehr. Die Versammlung als solche hat kein Charisma, sondern nur der geistbegabte Einzelne. Der Beschluß der Versammlung als solcher ist daher für das Leben der Christenheit nur als Anerkennungshandlung von Bedeutung.”15

Wenn man Sohms Verständnis der Ordnung der Gemeinde überblickt, dann drängt sich die Frage auf, wie er die Ordination versteht. Denn nach der gängigen katholischen Lehre bekommt ja der Weihekandidat durch die Ordination eine doppelte Gewalt: die „potestas ordinis” (Weihegewalt)


13 Ebd.
14 Ebd. 54.
15 Ebd.

|38|

und die „potestas iurisdictionis” (Leitungsgewalt); letztere wenigstens als „Anlage”, wenn auch deren Ausübung wegen besonderer Umstände noch gebunden werden kann. Kraft dieser Ordination erhält der so Ordinierte (Diakon, Priester, Bischof) die Vollmacht, die ihm anvertraute Gemeinde zu heiligen (also Sakramente auszuteilen) und zu leiten. Diese Vollmacht hat er (und das ist in unserer Überlegung der entscheidende Punkt) von einem anderen Amtsträger (Sukzession!) und übt sie aus ohne Zustimmung der Gemeinde. Sohm erläutert sein Verständnis von Ordination an Hand von 4 Texten des Neuen Testamentes.16 In Gal 1, 1 betont Paulus, daß er Apostel ist, nicht von Menschen her noch durch einen Menschen, sondern durch Jesus Christus und Gott den Vater. In der Apg 1, 23-26 stellt die Gemeinde zwei Kandidaten auf: Joseph, genannt Barsabbas und Matthias. Durch das Los entscheidet dann Gott, wen er wählen will. In der Apg 13, 2-3 sprach der Geist: „Wählt mir Barnabas und Saulus zu dem Werk aus, zu dem ich sie mir berufen habe. Da fasteten und beteten sie, legten ihnen die Hände auf und ließen sie ziehen.” Als letzten Text wählt Sohm die Bestellung des Timotheus zum Apostolat. „Er wird erwählt ,durch Weissagungen’, welche sein Charisma bezeugen, und zwar ,vor vielen Zeugen’.”17 Aus den angeführten Stellen zieht Sohm die Folgerungen: „Wir sehen in allen . . . Berichten zwei Vorgänge vor uns: einmal ein Zeugnis Gottes, zum andern ein Zeugnis der Versammelten.”18 Das Zeugnis Gottes geschieht durch die Weissagung eines Lehrbegabten. Das Zeugnis der Versammelten besteht in der Zustimmung zur Weissagung des Propheten.

Nach der katholischen Lehre geschieht die Amtsübertragung des „ordo” durch die Handauflegung; genauer: die Materie des Sakramentes ist die „manuum impositio”, die


16 Vgl. ebd. 56-66.
17 Ebd. 58.
18 Ebd.

|39|

Form aber die entsprechenden Amtszusageworte.19 Nun leugnet auch Sohm nicht, daß die Ordination (in seinem Sinne: Erwählung zur Lehrtätigkeit) nach alter Sitte meist durch Handauflegung mit begleitendem Gebet geschah. Nur hat für Sohm die Handauflegung eine Erwählung durch Gott schon zur Voraussetzung. Die „manuum impositio” ist also nach ihm nicht Ursache des Charismas, sondern setzt dieses schon voraus.20

Wir sind am Ende der ersten Wegstrecke (die urchristlichen Grundlagen) angekommen, und es gilt, eine Zusammenfassung zu geben: „Die . . . überhaupt für die ganze Gedankenreihe, welche uns jetzt beschäftigt hat, entscheidende und grundlegende Thatsache ist diese: es giebt keine Gemeinden innerhalb der Christenheit mit irgendwelcher die einzelnen bindenden, zusammenfassenden rechtlichen Organisation. Es giebt vielmehr nur Versammlungen (Ekklesien), bald große, bald kleine, bald hier, bald da, und alle diese Versammlungen sind gewissermaßen nur Wellen, auf und nieder steigend, kommend und gehend in dem großen Strom der Christenheit, das Leben, das Wirksamwerden, die sichtbare Erscheinung der Christenheit bedeutend, aber ohne irgendwelche rechtliche Vertretungsgewalt. Hat die Versammlung sich aufgelöst, so ist ihre Spur nicht mehr zu finden. Vor ihr wie in ihr und nach ihr besteht nur eine einzige Größe, die ganze Christenheit auf Erden, und diese Christenheit (Ekklesia), der Leib Christi, verträgt kraft ihres Wesens keine menschliche d.h. keine rechtliche Gewalt.”21


19 Vgl. Pius XII., Constitutio apostolica „Sacramentum ordinis” (30.11.1947), in: AAS 40 (1948) 6.
20 Vgl. KR I, 63.
21 Ebd. 66.

|40|

 

§ 2 Vorstufen der Gemeindebildung

 

Leider ist es (nach der Meinung Sohms) nicht bei der rechtlosen und deshalb idealen Kirche der Urzeit22 geblieben. Vielmehr setzt bald der Abfall vom Ideal ein; das Christentum wird verrechtlicht und damit verdorben. Dieser negative Prozeß setzt zunächst langsam ein, indem sich gewisse Vorstufen der Gemeindebildung „einschleichen”.

Die Bildung von Gemeinden im Sinne von organisierten Körperschaften hat sich um den Gottesdienst herum vollzogen. „Aus der Ordnung des eucharistischen Gottesdienstes ist die Ordnung der Kirche hervorgegangen.”23 Der eucharistische Gottesdienst (genauer: Eucharistie und Kirchengut) ist der Kristallisationskern, um den herum die rechtliche Ordnung wächst. Die Eucharistie ist natürlich die Mitte des christlichen Lebens. „Sie kann in jeder Versammlung von Christen gefeiert werden, wo zwei oder drei in Christi Namen versammelt sind . . . Grundsätzlich wird sie ordentlicherweise in der Hauptversammlung allsonntäglich begangen.”24

Die eucharistische Feier besteht an erster Stelle in einem Dankgebet (eucharistia), weshalb die hl. Messe nach ihrem vornehmsten Bestandteil auch Eucharistie genannt wird. „Das Sprechen dieses Dankgebetes ist eine Handlung der


22 „Den letzten Grund für die übliche (durch Stutz repräsentierte) wenig ergiebige Behandlung der Kirchenrechtsgeschichte sieht Sohm in der Vernachlässigung der urchristlichen Zeit. Die urchristlichen Ideen sind Quell und Grundlage alles späteren Kirchenrechts . . . So ist denn für Sohm das Urchristentum nicht nur Ausgangspunkt seiner kirchenrechtlichen Forschungen; die Gemeindeordnung der Urkirche ist ihm auch das Maß, an dem er das spätere Kirchenrecht mißt” (Böckenförde 113).
23 KR I, 68. Und zwar ergibt sich eine dreifache Ordnung. „Aus der Ordnung der Eucharistie ergibt sich ganz von selbst: 1. der Gegensatz von Klerus und Laienschaft; 2. innerhalb des Klerus die Dreigliederung: Bischof, Presbyter, Diakonen; 3. (was die Hauptsache ist) der religiöse Wert dieser Unterscheidungen, d.h. die Entstehung des Katholizismus” (KR II, 186, A. 2).
24 KR I, 68.

|41|

Wortverwaltung. Sie muß daher grundsätzlich einem Lehrbegabten zufallen.”25 Mit dem Sprechen des Dankgebetes verbindet man — wie wir das heute in veränderter Form in der Kollekte auch tun — die Sammlung der Liebesgaben. Diese bilden das Kirchengut. Es ist ohne Zweifel, daß wer die Eucharistie feiert und die Gaben empfängt, auch das Kirchengut zu verwalten hat.26

Bis zu diesem Punkt entstehen keinerlei Schwierigkeiten. Solche tauchen aber auf, wenn in einer Versammlung kein charismatisch begabter Lehrer (also kein Apostel, Evangelist oder Prophet) anwesend ist.27 An diesem Punkt (gleichsam, wenn das Charisma ausfällt) kommt das Recht zu Hilfe, indem es Bischöfe, Diakone und Älteste bereitstellt, um den Gottesdienst zu ermöglichen. Von dieser Stelle aus wird dann die rechtliche Beamtung von Bischöfen, Diakonen und Ältesten ausgehen und somit der Siegeszug des Rechtes in der Kirche seinen Fortgang nehmen.

Zunächst zu den Bischöfen. Diese tauchen bereits in der Didache28 auf. Der Bischof ist weder Prophet noch Lehrer. Er hat nicht das Charisma der Lehrgabe. Wenn deshalb ein Prophet in der Versammlung vorhanden ist, tritt der Bischof hinter diesen zurück. Wenn kein apostolisch Begabter vorhanden ist, verwaltet der Bischof anstelle des Propheten und Lehrers (also gleichsam hilfsweise) die Eucharistie und das Kirchengut.29 Wie kommt ein solcher Episkop zu seinem Amt? Wir hatten gesehen, daß die Apostel, Propheten und Lehrer ihr Amt unmittelbar von Gott erhielten.30 Der Episkop aber wird von der Versammlung gewählt.31 So haben wir also ein doppeltes Lehramt: „Neben das apostolische


25 Ebd. 69.
26 Vgl. ebd. 69 f.
27 Vgl. ebd. 80 f.
28 Vgl. P.Th. Camelot, Didache, in: LThK III (1959) 369 f.
29 Vgl. KR I, 85.
30 Vgl. ebd. 56-66.
31 Vgl. ebd. 114.

|42|

Lehramt (der Apostel, Propheten, Lehrer) tritt das bischöfliche gemeinchristliche Lehramt (welches zunächst in Verwaltung der Eucharistie und der Opfergaben sich bethätigt), um als Ersatz des apostolischen Lehramts zu dienen.”32

Auf eines macht Sohm gleich noch aufmerksam: Auch der erwählte Bischof hat kein Recht auf die Verwaltung des Bischofsamtes. Die Versammlung ist nicht rechtlich verpflichtet, ihm die Verwaltung der Eucharistie und des Kirchengutes zu überlassen.33 Dies läßt sich aus zwei Tatsachen ablesen. Zum einen kann ein Episkop durch einen etwa anwesenden Propheten, Apostel, Lehrer, oder auch durch einen Asketen oder Bekenner vom Vorsitz bei der Eucharistie verdrängt werden.34 Zum andern finden wir in den einzelnen Ekklesien mehrere Bischöfe nebeneinander.35 Daraus folgert Sohm, „daß keinem dieser Bischöfe ein alleiniges Recht auf Eucharistie, Kirchengut, Wortverwaltung zusteht. Sie stehen alle gleichbefähigt und gleichberechtigt und damit gleich unberechtigt (es kann ja auch ein dritter, der gar kein Bischof ist, die Eucharistie feiern) nebeneinander. Im Einzelfalle kann die Eucharistie selbstverständlich immer nur von einem der Bischöfe gefeiert werden. Aber keiner hat ein Recht darauf. Wer das letzte Mal in der Versammlung als Bischof die Eucharistie feierte, wird in der Lage sein, das nächste Mal einem anderen den Platz räumen zu müssen. Ja, nicht nur einem anderen Bischof, sondern ebenso etwa einem Asketen oder Propheten.”36

Nach den Episkopen kommen wir zu den Diakonen. „Die Diakone treten gleichzeitig mit den Bischöfen auf. Ihr Amt verdankt derselben Entwicklung seinen Ursprung, welche das Bischofsamt erzeugt hat. Auch das Diakonenamt ist um


32 Ebd. 115.
33 Vgl. ebd.
34 Vgl. ebd.
35 Vgl. ebd. 116.
36 Ebd. 119.

|43|

der eucharistischen Feier willen geschaffen worden, um in der Verwaltung der Eucharistie und der untrennbar damit zusammenhängenden Verwaltung des Kirchenguts in Unterordnung unter den Bischof an Stelle eines Lehrbegabten zu dienen. Auch die Diakone gehen folgeweise ursprünglich nicht aus der Reihe der Lehrbegabten, sondern aus der Zahl der sonstigen geistlich begabten Gemeindeglieder hervor.”37

Auch der Diakon hat also der Ordnung der Eucharistie zu dienen. Er wird sich später noch Helfer beschaffen: den Ostiarier (Türhüter), den Exorzisten (wohl für die Krankenheilung zuständig), den Lektor und den Akolythen (Helfer während der Messe gleich unseren Ministranten).38

Neben dem Bischof und dem Diakon spielen in der Frühkirche die sogenannten Ältesten eine Rolle. Von ihnen muß jetzt noch kurz die Rede sein. Während des eucharistischen Gottesdienstes sitzt der Bischof, während die Diakonen stehen. Das ergibt sich aus der Natur ihrer Tätigkeit und (positiv) aus den Quellen. So heißt es im Konzil von Elvira (Spanien) aus dem Jahr 306: Weil die Diakone im eucharistischen Gottesdienst stehen, stehen sie auch in der synodalen Versammlung.39 Wer sitzt dann mit dem Bischof am Altar? Zu Beginn der Christenheit gewiß die ganze Gemeinde. Was aber dann, wenn diese zu groß wird? Sohm gibt zur Antwort: „Mit dem Bischof sitzt am Abendmahltisch der Kern der Gemeinde, welcher den eigentlichen Träger des Gemeindelebens darstellt, die geistlichen Ehrenpersonen der Gemeinde, also Asketen, Märtyrer, Lehrbegabte, vor allem und für die Regel (denn jene Erstgenannten sind nicht in jeder


37 Ebd. 121 f.
38 Wir kennen diese vier Funktionen als sogenannte niedere Weihen, die erst vor einigen Jahren abgeschafft wurden (vgl. Paulus VI., Motu Proprio „Ministeria quaedam” [15.8.1972], in: AAS 64 [1972] 529-534).
39 Vgl. KR I, 137, A. 1.

|44|

Versammlung zu finden) die Ältesten.”40 Diese Presbyter haben sich in der Gemeinde bewährt und ausgezeichnet.

Weil die Ältesten (zusammen mit dem Bischof) den Vorsitz beim Abendmahl haben, steht ihnen natürlich auch sonst eine gewisse gehobene Stellung zu. Wahrscheinlich empfingen sie (wiederum mit dem Bischof zusammen) auch einen Teil der Liebesgaben und waren so an der Verwaltung des Kirchengutes beteiligt.41 So bilden die Ältesten mit dem Bischof zusammen die Vertreter der Ekklesia. „Sie sind gewissermaßen die Gemeinde in der Gemeinde.”42 Später wird man sie Klerus nennen.

Wir sind am Ende des § z (Vorstufen der Gemeindebildung) angekommen, und es ist notwendig, einen Moment inne zu halten, bevor wir den nächsten Schritt tun. Sohm hat ja ausdrücklich alles, was wir bisher an sogenannten Vorstufen der Gemeindebildung festgestellt haben, gutgeheißen. Er rechnet dies alles zum (legitimen) Urchristentum, welches für uns Maßstab sein muß. Doch ab nun beginnt der Abfall und die Verderbnis. „In den äußeren Formen hat sich nichts geändert. Und doch welch großer Unterschied! Die eucharistische Versammlung der folgenden Jahrhunderte ruht auf rechtlicher Ordnung und trägt infolgedessen die Gedanken des inzwischen groß gewordenen Katholicismus in sich, während der eucharistischen Versammlung des ersten Jahrhunderts noch jede Rechtsordnung und damit der Katholicismus fremd ist.”43

Indes scheint Sohm — fast gegen seinen Willen — selbst zu ahnen, daß die Gemeinden auf Dauer nicht ohne Recht bleiben konnten. Ist das Ideal einer rechtsfreien Liebeskirche zu hoch, als daß man es in der Kirche immer durchhalten könnte? Alle Macht ruht ja auf der charismatischen


40 Ebd. 138.
41 Vgl. ebd. 145.
42 Ebd. 153.
43 Ebd. 155 f.

|45|

Versammlung, welche ihrerseits nur auf Gott hört. Was aber, wenn diese Versammlung den Bischöfen und Ältesten den Gehorsam versagt, wenn es also zwischen Charisma und Amt einen Konflikt geben wird. „Dieser Augenblick wird kommen, und in demselben Augenblick wird die Einführung rechtlicher Ordnung als geschichtliche Notwendigkeit sich erweisen. Das Kirchenrecht wird kommen und durch das Kirchenrecht wird das Urchristentum in katholisches Christentum sich verwandeln.”44

 

§ 3 Das Aufkommen des Bischofsamtes im rechtlichen Sinn

 

Noch vor Ende des 1. Jahrhunderts kam jenes Ereignis, das Sohm befürchtet hatte und welches den Wendepunkt in der Kirchengeschichte brachte. Dargestellt ist es im Clemensbrief.45 Für Sohm ist der Clemensbrief bestimmt, „der urchristlichen Verfassung in der Kirche ein Ende zu machen.”46 „Aber mußte denn notwendig Rechtsordnung für die Ekklesia erzeugt werden? Daß eine Notwendigkeit vorlag, zeigt die Geschichte. Auch sind wir im stände, in die entscheidenden Beweggründe einen Blick zu thun.”47 Dieses Bekenntnis Sohms ist nun allerdings keineswegs freudig; es ist eher resignierend. Denn dieses Bekenntnis folgt der Einsicht, daß die Kirche nicht die Kraft hatte, ihrem ursprünglichen Ideal treu zu bleiben. Der Kleinglaube fordert Stützen, äußere Bürgschaften, Rechtsordnung.48

Die These des Clemensbriefes ist klar: „Die Bischöfe haben ein Recht auf Eucharistie und Kirchengut”.49 Clemens


44 Ebd. 156.
45 Vgl. A. Stuiber, Clemens I., in: LThK II (1958) 1222f.; G. Brunner, Die theologische Mitte des ersten Klemensbriefes, Frankfurt a.M. 1972.
46 KR I, 158.
47 Ebd. 162.
48 Vgl. ebd.
49 Ebd. 163.

|46|

kann sich für dieses Recht nicht auf eine vorgängige Rechtsordnung der Kirche beziehen, denn eine solche gibt es ja gerade nicht. Er kann auch nicht auf praktische Gründe hinweisen. „Denn die Ordnung der Ekklesia als des Leibes Christi ist jeder aus Zweckmäßigkeitserwägungen entsprungenen menschlichen Ordnung entrückt”.50 Clemens bleibt deshalb nur eine Beweisrichtung übrig. Er beruft sich auf die göttliche unveränderliche Ordnung. „Der Gedanke des göttlichen Rechts ist da, mit allen seinen Schlußfolgerungen, der Gedanke eines Rechts, welches durch das Wort Gottes gesetzt ist und darum den Gehorsam des Glaubens fordert.”51

Welche Folgen hat der Clemensbrief für die Gemeinde in Rom selbst gehabt? Er hat die Verfassung der römischen Kirche geändert. Eine solche Verfassungsänderung mußte zwei Schritte tun. Zum einen mußte der Versammlung die Macht über die Bischöfe genommen werden. Zum andern mußte der Grundsatz, daß in einer Gemeinde mehrere Bischöfe vorhanden sein konnten, gebrochen werden. Erst so war dann klar, daß nicht die Gemeinde, auch nicht mehrere Bischöfe, sondern eben nur ein einziger Bischof für Eucharistie und Kirchengut zuständig ist. „Und so ist es geschehen. Die Folge des Clemensbriefs war die Einführung des Einzelepiskopats in Rom.”52.

Mit der Neubildung des Einzelepiskopats waren in der Kirche notwendig eine ganze Reihe von Folgerungen verbunden:

1. „Die vornehmste und zugleich die erste Folgebildung dieser Art war die Entstehung einer Gemeinde im Rechtssinn”.53
a) Früher war die Gemeinde jene Versammlung, wo zwei


50 Ebd.
51 Ebd. 164.
52 Ebd. 167.
53 Ebd. 191.

|47|

oder drei in Christi Namen versammelt sind (vgl. Mt 18, 20). Dan sollte der Christ hingehören, dort durfte er das Herrenmahl feiern. Das wird jetzt anders. Die Eucharistie darf nur aodi in jener Hauptversammlung gefeiert werden, in der ein Bischof anwesend ist.54
b) Wie sich die Gemeinde hinsichtlich der Feier der Eucharistie verändert hat, so hat sie sich auch in sich selbst verändert. Nicht mehr dort ist Gemeinde, wo zwei oder drei im Namen Christi versammelt sind, sondern: „Der Bischof macht die Gemeinde zur Christenheit.”55 Auch auf diesem Gebiet spricht sich die göttliche Anordnung (das ius divinum) aus: „Nur der folgt den Geboten Gottes, welcher sich zur Bischofsversammlung hält, nur der ist ein wahrer Christ, welcher in der bischöflichen Ekklesia an den kirchlichen Handlungen Anteil nimmt, nur in der Versammlung des Bischofs ist das rechte Abendmahl, die rechte Taufe, die rechte Gemeinschaft mit Gott, wer außerhalb der Bischofsversammlung bleibt, ist des Satans, nicht Gottes.”56
c) Mit der Gruppierung der Gemeinde um den Bischof ist auch ihre Sichtbarkeit gegeben. „Die Kirche ist sichtbar nach den Ignatiusbriefen. Sie ist sichtbar nur in der Bischofsversammlung, und andererseits ist jede Bischofsversammlung befähigt und berufen, alle Gewalt der Ekklesia auszuüben.”57

2. Mit der Neubildung des Einzelepiskopats ist auch eine zweite Folgerung verbunden gewesen: das Aufkommen des Priestertums. „Als Träger der eucharistischen Handlung gilt ursprünglich die Versammlung (Ekklesia), in deren Mitte und in deren Namen das eucharistische Gebet dargebracht wird.”58 Mit der Zeit des Clemensbriefes ändert sich das,


54 Vgl. ebd. 191 f.
55 Ebd. 203.
56 Ebd. 196.
57 Ebd. 201.
58 Ebd. 205.

|48|

weil nun der Bischof für die Feier des Opfers zuständig wird. Sohm kann freilich noch Tertullian zitieren, der nach 200 schreibt: „Nonne et laici sacerdotes sumus? — Adeo ubi ecclesiastici ordinis non est consessus, et offers et tinguis et sacerdos es tibi solus. Sed ubi tres, ecclesia est, licet laici.”59 Diese Ausnahme, von welcher Tertullian spricht, wird aber bald aufgehoben. Das hat eine zweifache Konsequenz. Die eine: „Die bloße Laienversammlung ist keine Versammlung der Gemeinde Christi, keine Versammlung der Ekklesia. Sie stellt eine kirchlich handlungsunfähige Versammlung dar.”60 Die andere: „Der Bischof ist das unentbehrliche Mittel für das priesterliche Handeln der Ekklesia geworden. Ja, er macht durch seine Anwesenheit die Ekklesia erst zum priesterlichen Handeln fähig. Der Bischof (oder sein Stellvertreter) ist derjenige, welcher allein das Gott wohlgefällige Opfer darzubringen im stände ist.”61 Der Bischof hat aber Gehilfen beim Feiern des Mysteriums (symmystai), eben die Priester.

3. Mit der Neubildung des Einzelepiskopats ist noch eine letzte Folgerung verbunden gewesen, die freilich in den andern schon impliziert war: die erstarkte Regierungsgewalt des Bischofs. Es konnte nicht anders sein, als daß die Macht des Bischofs ständig zunahm, während die Gemeindemitglieder langsam in die Rolle von „Statisten” zurückfielen. Dabei half u.a. auch der Kampf gegen Gnosis und Gnostizismus62. Die Gnosis breitete sich seit Beginn des 2. Jahrhunderts vom Osten des Römischen Reiches her aus. Sie arbeitete mit allen Mitteln der religiösen Propaganda und versuchte mit mythischen Spekulationen und in einer soteriologischen Kultpraxis ein neues Weltverständnis zu


59 Ebd. 206, A. 5.
60 Ebd. 207.
61 Ebd.
62 Vgl. K. Prümm/K. Schubert/R. Schnackenburg/H. Rahner/K. Algermissen, Gnostizismus, in: LThK IV (1960) 1021-1031.

|49|

erarbeiten mit Hilfe der christlichen Religion. Ist die Gnosis als Erkenntnis der Gesamtheit des Seins auch ein stets christliches Anliegen, so stürzte sie damals doch die Christenheit in eine Verwirrung. In dieser Auseinandersetzung half man sich mit den sogenannten apostolischen Sukzessionslisten. Nur dort war das wahre Wort, wo sein Träger es von Generation zu Generation zurückverfolgen konnte bis zu den Aposteln hin. Diese Listen stärkten natürlich die Gewalt der einzelnen Bischöfe, welche nun als die sogenannten Nachfolger der Apostel zum Hort der wahren Lehre wurden. Es konnte nicht ausbleiben, daß die im Kampf mit der Gnosis neu gewonnene Gewalt der Bischöfe ihre Folgen hatte.
a) Zunächst befreite sich der Bischof vom Absetzungsrecht, das die Gemeinde hatte. Galt früher der Grundsatz, daß ein Bischof sein Amt durch Todsünde verlor, „weil dadurch in zweifelloser Weise der Mangel des Charisma klar gestellt war”63, so wehrte sich der römische Bischof Kallixt I. (217-222) zuerst gegen diesen Satz. „Er lehrte, daß auch der in Todsünde gefallene Bischof doch Bischof bleibe. Die Gemeinde hat nicht die Befugnis, ihn jetzt als Nichtbischof zu behandeln.”64
b) Sodann mußte die richterliche Befugnis der Gemeinde ausgeschaltet werden. Die neue Lehre ging nun dahin, der Bischof sei Stellvertreter Christi und deshalb Richter an Christi Statt. Deshalb richte der Bischof die Gemeinde und nicht umgekehrt.65
c) Schließlich wird die Gemeinde überhaupt ausgeschaltet. „Die Gemeindeversammlung sagt nur Ja. Ihr testimonium wird zu bloßer Acclamation.”66


63 KR I, 218.
64 Ebd.
65 Vgl. ebd. 225.
66 Ebd. 234.

|50|

 

§ 4 Die Synode

 

Mit dem Aufkommen der Synode und deren Machtentfaltung wird der vorletzte Schritt auf eine Verrechtlichung der Kirche hin getan.

Etwa nach der Verfolgung des Decius (249-251) steht die Bischofsgemeinde rechtlich verfaßt vor uns. Diese verschiedenen Bischofsgemeinden stehen zunächst aber noch unverbunden nebeneinander. „Die Frage war, ob über der Bischofsgemeinde eine weitere Organisation erzeugt werden könne, welche wiederum diese sämtlichen Bischofsgemeinden einem rechtlichen Verfassungskörper einverleibte. Mit anderen Worten: die Frage war, ob über der bereits rechtlich gestalteten Ortsgemeindeverfassung eine ebenfalls rechtlich gestaltete Kirchenverfassung, eine rechtliche Organisation der Gesamtgemeinde möglich sei.”67

Der erste, der diese Frage theoretisch behandelte, war Cyprian (200/210-258)68, vor Augustinus wohl der bedeutendste Theologe der Westkirche. Nach ihm ruht „die Einheit der Ekklesia . . . auf der Einheit des Episkopats, die Einheit des Episkopats aber auf seinem gemeinsamen Urquell in der Gewalt Petri.”69 Der Herr hat zunächst Petrus (vgl. Mt 16, 18.19), nach seiner Auferstehung aber auch den übrigen Aposteln (vgl. Joh 20, 21-23) Lehrauftrag und Lehrgewalt (Schlüsselgewalt) gegeben „zum Zeichen dessen, daß dieselbe eine Gewalt, nämlich die Gewalt Petri, allen Aposteln zustehe, damit dadurch die Einheit der Kirche trotz der Mehrheit der Aposteln aufgerichtet werde.”70 Der Gedankengang ist offenbar der, daß dem einen Statthalter Christi der eine Statthalter Petrus nachgefolgt ist, und diesem sind die Bischöfe gefolgt. Nach Cyprian ist also der


67 Ebd. 248.
68 Vgl. P.-Th. Camelot, Cyprian, in: LThK III (1959) 115-117.
69 KR I, 251.
70 Ebd.

|51|

Episkopat von Rom ausgegangen. Damit ist eine gewisse Identität (Selbigkeit) der einzelnen Kirchen gegeben. „Aus der Identität der Ekklesien folgt die Identität ihrer Verfassung, und in der Identität der Verfassung für alle Einzelgemeinden beruht neben und mit der Glaubensgemeinschaft (welche ihrerseits wiederum in der Verfassungsgemeinschaft zum Ausdruck gelangt) die Einheit der Ekklesia.”71

Allerdings ist diese Einheit nur eine ideelle und keine rechtliche. In den „Kirchenverfassungsgedanken des zweiten und dritten Jahrhunderts lag nach wie vor der Verzicht auf die rechtliche Einheit der Ekklesia ausgesprochen. Alle Ekklesien, alle Bischöfe sind gleichberechtigt.”72 Wie es aber dann doch zu einer rechtlichen Einheit gekommen ist, soll in dem vorliegenden § 4 (die Synode) und nachher in § 5 (Aufkommen der Papstgewalt) nachgezeichnet werden.

 

I. Der Ursprung der Synode

Seit der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts finden die Synoden häufiger statt. Das läßt sich etwa deutlich am Beispiel der Gemeinde in Karthago, wo Cyprian Bischof war, nachweisen. Während der Verfolgung des Decius (249-251) waren viele Christen vom Glauben abgefallen. Als sie nach der Verfolgung wieder zurückkehren wollten, stellte sich die Frage, ob man diese Todsünder (Lapsi) wieder aufnehmen dürfe; um so mehr als die Novatianer73 den Abgefallenen die Wiederaufnahme in die Kirche verweigerten. Cyprian, der selber in der Verfolgung geflüchtet war und sich noch nicht wieder in Karthago befand, schrieb an sein Presbyterium, er wolle die Sache nicht allein entscheiden. Nach seiner Rückkehr solle aber eine gemeinsame Beratung der Sache stattfinden. An der nach der Rückkehr Cyprians stattfindenden Synode sollten alle Bischöfe, Presbyter, Diakone,


71 Ebd. 255.
72 Ebd. 256.
73 J. Quasten, Novatianismus, in: LThK VII (1962) 1062-1064.

|52|

Bekenner und die ganze treugebliebene Laienschaft teilnehmen.74

Es ist hier nicht der Ort, außer Karthago auch die Verhältnisse in Kleinasien und vor allem in Rom zu untersuchen. Sohm ist jedenfalls der Meinung75, daß dort die Zusammensetzung der Synode ähnlich war wie in Karthago.

Die Wahl des neuen Bischofs war wohl der Fall, wo die Synode am häufigsten zusammentreten mußte. Und zwar nehmen noch bis ins 4. Jahrhundert alle Christen an einer solchen Synode teil.76 Dabei bleibt es aber nicht. Die sogenannten Laien werden langsam zurückgedrängt. „Gegen Ende des 4. Jahrhunderts finden wir im Orient zum ersten Mal das Verbot: die ,Menge’ soll sich nicht mehr in entscheidender Weise an der Bischofswahl beteiligen.”77 Damit bahnt sich langsam eine Entwicklung an, welche nicht nur die Laien, sondern auch die Kleriker von der Bischofswahl zurückdrängt, bis eben in unsere Zeit, da der Bischof meist einfach von Rom ernannt wird.78

 

II. Die Macht der Synode

Bei den Kirchenversammlungen unterscheidet Sohm drei Arten: die Provinzialsynode (Bischöfe einer Provinz versammeln sich), die Landes- oder Nationalsynode (Bischofsversammlung eines Landes) und die allgemeine (ökumenische) Synode. Natürlich kommt es Sohm auch in diesem Fall wieder darauf an, herauszuarbeiten, welche Gewalt eine Synode hat und ob es eine rechtliche sein kann bzw. darf. Lapidar ist seine Feststellung: Es „muß jede Entscheidung der Synode nicht kraft menschlicher, lediglich rechtlicher Autorität, sondern im Namen Gottes und mit der Kraft des heiligen Geistes


74 Vgl. KR I, 262.
75 Vgl. ebd. 266-271.
76 Vgl. ebd. 274.
77 Ebd. 274 f.
78 Vgl. can. 377 § 1 CIC/1983.

|53|

getroffen werden.”79 Und eben das sehen wir aus den Quellen. „In Kraft des heiligen Geistes erwählt die Synode den Bischof, in Kraft des heiligen Geistes faßt sie den Absolutionsbeschluß, den Exkommunikationsbeschluß, in Kraft des heiligen Geistes erläßt sie die Lehrentscheidung, mag es sich um einen Lehrsatz über die äußere Ordnung der Kirche (Sätze disciplinarer, organisatorischer Natur) oder um einen Lehrsatz über Glaubensfragen im engeren Sinn handeln.”80

 

III. Das ökumenische Konzil

Mit dem 4. Jahrhundert beginnen in der Kirche die Allgemeinen Konzilien81, von denen wir bisher 21 kennen. „Auch das Ökumenische Koncil hat als solches zunächst keine formelle, das heißt keine rechtliche Gewalt über die Kirche. Vielmehr, auch den Beschlüssen des ökumenischen Koncils gegenüber ist die Kirche frei. Auch diese Beschlüsse verlangen zu ihrer Geltung die freie Zustimmung der Kirche, die ,Reception'. So ist es geschehen, daß Synoden, welche als ökumenische berufen wurden und welche in allen äußeren Erfordernissen den übrigen ökumenischen Synoden gleichkamen, dennoch nicht die Anerkennung als ökumenische Koncilien gefunden haben, wie es umgekehrt vorkam, daß eine Synode, welche gar nicht aus allen Teilen der Kirche berufen war, dennoch durch allgemeine Anerkennung das Ansehen einer ökumenischen Synode erlangte. Es gibt ursprünglich keine Versammlung, welche kraft ihrer Zusammensetzung aus formellen Gründen, also von Rechts wegen Lehrgewalt über die ganze Kirche üben könnte. Der Geist der Beschlüsse ist entscheidend, und als ökumenische Synode wird nur die, aber auch jede Synode sich durchsetzen, in deren Geist die Kirche wirklich den Geist Gottes als wirksam anerkennt.”82


79 KR I, 310.
80 Ebd.
81 Vgl. H. Jedin/H. Lais, Konzil, in: LThK VI (1961) 525-532.
82 KR I, 330f.

|54|

Wie auf anderen Gebieten setzt aber auch für die Synode eine langsame Verrechtlichung ein, d.h. die Synoden gewinnen eine rechtliche Macht, welche die Gläubigen verpflichtet, zu gehorchen, ohne deren Rezeption und deren Konsens abzuwarten. Zum Abschluß ist diese Entwicklung aber erst gekommen, nachdem die Protestanten aus der Kirche ausgewandert waren, eben mit dem Konzil von Trient. „Das Koncil von Trient war das erste allseitig als rechtmäßig anerkannte allgemeine Koncil, welches kraft dieser neugestalteten Anschauungen rechtliche Gewalt über die ganze Kirche als eine allein dem allgemeinen Koncil (im neuen Sinn des Worts) zuständige ausgeübt hat.”83

 

§ 5 Aufkommen der Papstgewalt

 

Das Aufkommen der Papstgewalt gehört eigentlich gar nicht mehr in unser gegenwärtiges (drittes) Kapitel (Zeit der Urkirche), denn die Urkirche endet nach Sohm84 um das Jahr 100. Aber schon bisher haben wir sehr häufig die Grenzen der Urkirche überschritten, um die Linien jener Entwicklungen auszuzeichnen, welche sich in der Urkirche anbahnten. Um also die Vollendung des Kirchenrechts zu beschreiben, gehen wir weit über die Zeit der Urkirche hinaus. Noch ist ja das Kirchenrecht nicht vollendet, es fehlt der Schlußstein im Gebäude: die Papstgewalt.85


83 Ebd. 342.
84 Vgl. AK 568.
85 In anderem Zusammenhang habe ich diese langsame Gruppierung um einen Mittelpunkt einmal so dargestellt: „In großen Strichen . . . könnte man den Vorgang der Konzentration in der Kirche so beschreiben: Auf der doktrinellen Ebene verlagerte sich das Gewicht von der Schrift auf die Tradition, von der Tradition auf das Lehramt und schließlich — durch die Unfehlbarkeitserklärung des ersten Vatikanischen Konzils — vom Lehramt auf den Papst. Auf der jurisdiktionellen Ebene verlagerte sich die Entscheidungsgewalt langsam vom Volk Gottes auf die Hierarchie der Bischöfe und schließlich — nach dem Jurisdiktionsprimat, der auf dem ersten Vatikanischen Konzil dem Papst zugesprochen wurde — auf den Papst” (R. Sebott, ➝

|55|

Die Frage, die uns gegenwärtig bedrängt, mußte sich notwendig ergeben. Wir haben ja in jeder größeren Gemeinde einen Bischof. „Aber die Bischöfe sind zahlreich. Wie ist es möglich, die Einheit der Kirche mit der Mehrheit ihrer Oberhäupter (der Bischöfe) in Einklang zu setzen?”86 Cyprian, der — wie wir gesehen haben — dieses Problem zum ersten Mal ins Auge faßt, geht von der grundsätzlichen Gleichstellung aller Bischöfe aus. Wenn es dann doch eine Einheit gibt, so ist diese ideeller Art und wird symbolisch so dargestellt, daß man alle Bischofssitze von Rom ausgehen läßt. Freilich, gegen jede reelle Oberherrschaft Roms wehrt sich Cyprian energisch. Sohm erwähnt Cyprians Brief 71, in dem dieser schreibt: „Der Apostel Petrus (als dessen Nachfolger der römische Bischof Stephan auftritt) sei gegenüber dem Apostel Paulus nicht so anmaßend gewesen, ut diceret, primatum se tenere.”87 Dennoch sind die Ereignisse völlig über Cyprian und seine Gedanken hinweggegangen. Die Stellung Roms als Hauptstadt des Reiches hat sie zur Hauptstadt auch der Kirche gemacht. Mit dieser Hauptstadtstellung begründet schon Ignatius von Antiochien88 das Vorrecht des römischen Stuhles.89

So drängt denn der römische Bischof unaufhörlich zur Macht. Im dritten Jahrhundert hat er bereits die Oberherrschaft über Italien. Im 5. Jahrhundert — nach der Zerstörung der blühenden Gemeinden in Afrika und besonders nach der Zerstörung von Karthago — schickt sich Rom an, die Herrschaft über das Abendland anzutreten. Diese Entwicklung setzt sich auch in amtlichen Verlautbarungen durch. Sohm zitiert den Kanon 6 von Nizäa: „Die alte Gewohnheit soll Kraft haben in Ägypten, Libyen, Pentapolis, daß der Bischof


➝ Religionsfreiheit und Verhältnis von Kirche und Staat, Rom: Gregoriana 1977, 220).
86 KR I, 345.
87 Ebd. 367, A. 46.
88 Vgl. O. Perler, Ignatios v. Antiocheia, in: LThK V (1960) 611 f.
89 Vgl. KR I, 384 f.

|56|

von Alexandrien über alle diese Gebiete Gewalt habe, da auch für den römischen Bischof dies herkömmlich ist; ebenso soll auch in Antiochien und den anderen Provinzen den Kirchen ihr hergebrachter Vorrang (Primat) gewahrt bleiben.”90 Allerdings erwuchs dem römischen Bischof ein Widerpart. Als Konstantin d. Große im Jahre 330 das damalige Byzanz zur Residenzstadt des Reiches erhob, wirkten nun dieselben Gründe, welche früher für Rom angeführt wurden, für Byzanz/Konstantinopel. Bis zum Zeitpunkt der Hauptstadtverlegung war Konstantinopel völlig unbedeutend. Sein Bischof war von Rechts wegen im 4. Jahrhundert Suffraganbischof des Metropoliten von Heraklea. Aber dem Bischof von Konstantinopel tritt das oströmische Kaisertum zur Seite. Wie einst Rom kirchlich von Bedeutung wurde, weil dort der Kaiser seinen Sitz hatte, so jetzt Konstantinopel.91 Durch die Kirchenspaltung von 1054 war das Abendland vom Morgenland getrennt, und Rom und Konstantinopel waren je Herr in ihrem Bereich. Für den römischen Patriarchen gab es jetzt nur noch einen Gegner: das ökumenische Konzil.92 Etwa seit dem 11. Jahrhundert sind der Papst und die Ökumenischen Konzilien die beiden höchsten kirchlichen Instanzen in der abendländischen Christenheit. Langsam übernimmt aber der Papst die Führung über die Konzilien. Zwar versuchen die großen Reformkonzilien des 15. Jahrhunderts zu Konstanz und Basel, das Machtverhältnis von Papst und Konzil umzudrehen, aber sobald das Papsttum sich wiedergefunden hatte, gelang es ihm bald, die konziliaren Ansprüche zu beseitigen.93


90 Ebd. 396.
91 Vgl. ebd. 427.
92 Vgl. ebd. 440-456.
93 Wie im ganzen ersten Teil (Sohms Kampf gegen das Kirchenrecht) meiner Arbeit so folge ich auch hier ganz und gar der Darstellung Sohms. Es gilt, den inneren Duktus der Überlegungen von Sohm nachzuzeichnen. Von daher hat es keinen Sinn, zu einzelnen Behauptungen von Sohm jeweils Stellung zu beziehen.

|57|

 

§ 6 Der Standpunkt der lutherischen Reformation und die urkirchliche Konzeption der Sichtbarkeit der Kirche

 

Rudolph Sohm hat das Aufkommen des Kirchenrechts dargestellt. Dies tat er allerdings mit Bedauern, denn nach ihm hätte die Kirche ohne Recht dem charismatischen Impuls des heiligen Geistes treu bleiben sollen. So bleibt denn die Aufgabe nachzuforschen, weshalb sich das Kirchenrecht durchgesetzt hat, wodurch eigentlich die sogenannte eiserne Notwendigkeit94 bedingt war. Auf diese Frage wird im gegenwärtigen und im nächsten Paragraphen (§§ 6 und 7) eine Antwort versucht.95 Zunächst fällt die Antwort mehr konkret aus, indem die Haltung der lutherischen Reformation in bezug auf die Sichtbarkeit der Kirche untersucht wird. Danach wird in mehr abstrakter Weise gefragt, ob das Prinzip der Sichtbarkeit (bzw. Unsichtbarkeit) der Kirche nicht das unterscheidende Merkmal zwischen katholischer und protestantischer Kirche sei.

Daß Luther das Kirchenrecht ablehnt, hängt mit seiner Auffassung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche zusammen.96 „Die Kirche im geistlichen Sinn, die Kirche Christi, welche das Reich Christi darstellt, ist wie nach der urchristlichen . . . so auch nach der echt lutherischen Überzeugung kraft ihres Wesens ebenso notwendig sichtbar wie unsichtbar. Die Kirche (Reich Gottes) muß unsichtbar sein, weil der Verstand nicht zu sehen vermag, daß Gott durch sein Wort (Predigt des Evangeliums) auf Erden regiert und sich eine


94 Vgl. KR I, 3.
95 Vgl. dazu auch das 6. Kapitel des ersten Teiles: Sohm und die eiserne Notwendigkeit des Kirchenrechts.
96 In der Beurteilung dieser Frage macht Sohm ziemliche Schwankungen durch (vgl. Bühler 22-25). Während nach KR I die Kirche auch sichtbar ist (vgl. KR I, 465 f.), muß nach WU die wahre Kirche wesentlich unsichtbar sein (vgl. WU 11 ff.). Dadurch daß ich den gegenwärtigen § 6 mehr nach KR I, den folgenden § 7 aber mehr nach WU ausrichte, trage ich Sohms Schwankungen auch in diese beiden Paragraphen ein.

|58|

Gemeinde von Heiligen sammelt. Die Kirche (Reich Gottes) muß aber ebenso notwendig sichtbar sein, weil die Wortverwaltung (mit Einschluß der Sakramentsverwaltung) sichtbar ist und ohne die Versammlungen der Gläubigen um das mündlich verkündigte Wort nicht gedacht werden kann. Die Kirche Christi wird sichtbar in jeder Versammlung der Gläubigen in Christi Namen, d.h. in jeder Versammlung der Gläubigen um Wort und Sakrament.”97 Könnte nicht auch an der Rechtsordnung die Kirche Christi sichtbar werden? Nach lutherischer Lehre jedenfalls wird die Kirche nur sichtbar an Gottes Wort und Sakrament.98 Warum? Weil wir nicht durch das Kirchenrecht, sondern nur durch Wort und Sakrament zu Christen gemacht werden.99

In der Kirche gibt es kein göttliches Kirchenrecht. Folgt daraus, daß es überhaupt kein Kirchenrecht geben soll? So ist es! „Aus der Thatsache, daß es kein göttliches Kirchenrecht gibt, folgt nicht etwa, wie heute die allgemein herrschende protestantische Lehre lautet, daß also menschliches (veränderliches) Kirchenrecht gelten müsse, sondern vielmehr, daß kein Kirchenrecht sein muß in der Kirche Christi”.100 Diese Folgerung hat Luther unerschrocken gezogen. Allerdings auch diese, daß man das Kirchenrecht tolerieren muß. Das Kirchenrecht ist ein arges Kreuz, welches die Kirche Christi aber tapfer zu tragen hat.101 So die Meinung Luthers. Und was sagen die Bekenntnisschriften? Auch nach ihnen gibt es eine sichtbare und eine unsichtbare Kirche. Sichtbar wird das Reich Christi „allein in Wort und Sakrament, nicht in irgend welcher menschlichen Ordnung, noch in irgend welcher rechtlichen Organisation”.102 Die


97 KR I, 465 f.
98 Vgl. ebd. 469-471.
99 Vgl. ebd.
100 Ebd. 476.
101 Vgl. ebd. 481 f.
102 Ebd. 483.

|59|

Wortverkündigung und die Sakramentsverwaltung sind die einzige Art des Kirchenregiments und darum das Predigtamt das einzige Amt des Kirchenregiments in der Kirche Christi.103

In der Kirche soll es kein Kirchenrecht geben, weder ein göttliches noch ein menschliches.104 Dies hat Sohm unzweideutig aus Luther und den Bekenntnisschriften gefolgert. Die Ereignisse sind allerdings völlig über Luther hinweggegangen; das muß auch Sohm zugeben. Nach der herrschenden protestantischen Lehre gibt es „bekenntnismäßig in der Kirche rechtliches Kirchenregiment, rechtliche Kirchengewalt, rechtliche Kirchenverfassung, wenngleich nur kraft menschlichen Rechts”.105 Es kam zum landesherrlichen Kirchenregiment.106 Der Punkt, an welchem dieses sich festsetzte,107 war das Konsistorium108. Ein solches — es kümmert sich vor allem um Kirchenzucht und Ehegerichtsbarkeit — begehrte man in der lutherischen Kirche seit dem Ende der dreißiger Jahre des 16. Jahrhunderts. „Dadurch ist die lutherische Kirche unter die Herrschaft des Kirchenrechts und unter die landesherrliche Gewalt gebracht worden.”109 Zwar erhob Luther gegen Ende seines Lebens noch einmal seine warnende Stimme gegen das Konsistorium,110 aber nach seinem Tod setzte sich das Konsistorium (mit seinem Recht) in der


103 Vgl. ebd. 484 f.
104 Das hat sehr bedeutsame Folgen. „Vom kanonischen Recht blieb kein Stein auf dem anderen. Nicht bloß die Welt des Glaubens, auch die ganze Welt des Rechts war eine andere geworden. Es gab kein geistliches Recht mehr, und wie kein geistliches Recht, so keine geistliche Obrigkeit. Eine größere Umwälzung des gesamten Rechtswesens ist nie wieder dagewesen” (KR II, 150 f.).
105 KR I, 506.
106 Vgl. ebd. 542.
107 Vgl. ebd. 586-634.
108 Vgl. W. Heun, Konsistorium, in: Theologische Realenzyklopädie XIX, Berlin 1990, 483-488.
109 KR I, 609.
110 Vgl. ebd. 625.

|60|

Kirche überall durch. Das landesherrliche Kirchenregiment hat sich durchgesetzt, weil die reformatorischen Männer zweiten Ranges in Kleinglauben verfielen und eine äußere Sicherung brauchten, eben die Rechtsordnung. Selbst Luthers gewaltige Persönlichkeit hat das nicht zu hindern vermocht. „Das Kirchenrecht ist es gewesen, welches der Kirche einst den in ,göttlichem Recht’ gegründeten monarchischen Episkopat (und damit den Katholicismus), jetzt das auf Gewalt der weltlichen Obrigkeit ruhende landesherrliche Kirchenregiment gebracht hat.”111

 

§ 7 Die unsichtbare und die sichtbare Kirche112

 

„Es ist zweifellos, daß das Urchristentum nicht katholisch war.”113 Wie ist dann der Katholizismus aufgekommen? Darauf hat die protestantische Forschung — so meint Sohm — noch keine Antwort gefunden. „Und doch ist das Aufkommen der katholischen Kirche im Laufe des zweiten Jahrhunderts der wichtigste Vorgang in der ganzen Kirchengeschichte! Durch den Katholizismus ist alles Folgende bedingt, auch die Reformation als die Gegenbewegung gegen das katholische Prinzip. Das Hauptproblem der kirchengeschichtlichen Forschung erscheint noch immer als ungelöst.”114 Ist nun zwar das Urchristentum durch den Katholizismus verändert worden, so muß man doch sagen: „Der Katholizismus ist folgerichtig aus dem Urchristentum hervorgegangen.”115 Damit stellt sich die weitere Frage, wo


111 Ebd. 634.
112 Es sei noch einmal unterstrichen, daß dieser Paragraph im wesentlichen nach WU gearbeitet ist. In WU schreitet Sohm über KR I hinaus, weil für ihn die Kirche im Glaubenssinn unsichtbar ist. Der gegenwärtige Paragraph steht deshalb in seiner Grundaussage in einer gewissen Spannung zum vorhergehenden, der mehr nach KR I gearbeitet war.
113 WU 3.
114 Ebd.
115 Ebd. 4.

|61|

im Urchristentum der Keim lag, aus dem der Katholizismus werden konnte.116 Harnack sah den Katholizismus in dem Augenblick gegeben, als das Evangelium hellenisiert wurde. „Die Hellenisierung des Evangeliums . . . ist der Katholizismus.”117 Das soll heißen, daß die griechisch-römische Welt die jüdische Religion vergeistigte und sie in eine allgemeinmenschliche Moral und eine monotheistische Kosmologie umdeutete.118 Soweit Harnack; Sohm aber lehnt diese Meinung ab.119

Worin besteht nun also das Wesen des Katholizismus? Um auf diese Frage eine Antwort zu geben, geht Sohm aus von der geläufigen Unterscheidung, wonach „die Kirche als rechtlich verfaßte Größe (Kirche im Rechtssinn) von der Kirche Christi, der Kirche im religiösen Sinn (im Sinn des Glaubens, im theologisch-dogmatischen Lehrsinn) zu unterscheiden”120 ist. Diese Unterscheidung ist von Luther zur Gegensätzlichkeit erhoben worden, weil nach ihm die Kirche im Glaubenssinn unsichtbar ist und deshalb gar nichts mit der Kirche im Rechtssinn zu tun hat, denn die Unsichtbarkeit der Kirche Christi entrückt sie notwendig dem Gebiet der Rechtsordnung.121 Und unsichtbar muß die Kirche sein, denn sie ist Gegenstand des Glaubens, der eben gerade nichts sieht.122 Luther war der erste, der die Unsichtbarkeit der wahren Kirche erfaßte. Nicht einmal das Urchristentum hat


116 Vgl. ebd.
117 Ebd. 5.
118 Vgl. ebd.
119 Auf die Auseinandersetzung zwischen Sohm und Harnack soll hier nicht eingegangen werden. Sie würde den Gedankengang nur unnötig verkomplizieren.
120 WU 9.
121 Vgl. ebd. 12.
122 Vgl. ebd. 11. Welche Bedeutung ein solcher Satz hat, kann von Sohm gar nicht genug herausgestellt werden. „In Wahrheit ist der Gedanke der Unsichtbarkeit der Kirche Christi die größte und mächtigste Idee gewesen, die überhaupt in der Geschichte der Kirche aufgetreten ist” (ebd. 11).

|62|

diese gewaltige Idee zu denken vermocht.123 „Bis auf Luther aber war der Gegensatz zwischen der Kirche Christi und der rechtlich verfaßten Kirche für das Leben der Christenheit nicht vorhanden. Die ganze alte Zeit, vom ersten Jahrhundert bis zum Ausgang des Mittelalters, hat nicht vermocht, zwischen der rechtlich verfaßten Kirche und der Kirche Christi den rücksichtslos scharfen Trennungsstrich zu machen.”124 Damit ist dann auch klar, worin das Eigentliche der Reformation besteht. „Die Durchsetzung der Unterscheidung bedeutet das (heute die Kulturwelt beherrschende) protestantische Prinzip. Damit ist von selbst gesagt: der Mangel der Unterscheidung bedeutet das katholische Prinzip.”125 Für den Katholizismus bedeutet das noch deutlicher: „Das Wesen des Katholizismus besteht darin, daß er zwischen der Kirche im religiösen Sinn (der Kirche Christi) und der Kirche im Rechtssinn nicht unterscheidet. Die Kirche im Lehrsinn ist ihm zugleich Kirche im Rechtssinn, und umgekehrt. Die Kirche Christi ist ihm eine rechtlich verfaßte Organisation: das Leben der Christenheit mit Gott ist durch das katholische Kirchenrecht geregelt.”126

Die Bestimmung des Katholizismus war die Hauptaufgabe und Hauptleistung des vorliegenden Paragraphen (die unsichtbare und die sichtbare Kirche). Alles Weitere sind nur


123 Vgl. ebd. 13. Zur Bedeutung dieser Aussage vgl. Bühler 22-25; ferner H.-J. Schmitz, Frühkatholizismus bei Adolf von Harnack, Rudolph Sohm und Ernst Käsemann, Düsseldorf 1977, 118-121.
124 WU 13. „In der Gleichsetzung der Kirche Christi mit der sichtbaren Christenheit lag die eiserne Notwendigkeit begründet, die zu der Ausbildung von Kirchenrecht (von Recht für die Kirche Christi) geführt hat. Sobald die Menge der innerlich unselbständigen Christen wächst, wird sie Formen, Vorschriften für das Leben der Ekklesia (Kirchenrecht) fordern, welche den geistlichen Wert der Christenversammlung durch äußerliche Kennzeichen mechanisch sicher stellen. Kirchenrecht wird kommen” (KR II, 181 f.).
125 WU 13. Die These von der Unsichtbarkeit der Kirche hat sich allerdings im Protestantismus nicht lang gehalten. Schon der späte Melanchthon hat sie aufgegeben (vgl. KR II, 138, A. 5).
126 WU 13.

|63|

noch Folgerungen. Sohm nennt drei: den Anspruch, die Macht und die Schwäche des Katholizismus:

1. Zunächst folgt aus der Identifikation der Kirche im religiösen Sinn mit der Kirche im Rechtssinn der Anspruch des Katholizismus. „Es gibt selbstverständlich nur eine Christenheit auf Erden, nur eine Kirche im religiösen Sinne, nur eine durch Christum mit Gott lebende Menschheit. So folgt für den Katholizismus, daß nur eine der rechtlich verfaßten Kirchen die Kirche Christi darstellt. Welche Rechtskirche wird das sein? Antwort: die legitime Rechtskirche, diejenige, welche als Verfassungskörper die ununterbrochene Fortsetzung der Urkirche, der apostolischen Kirche, der Schöpfung Christi darstellt. Der Zusammenhang mit der aus dem Urchristentum entsprungenen ,apostolischen’ kirchlichen Rechtsordnung bedeutet danach den Zusammenhang mit der Kirche Christi. Und in Wahrheit, keine andere als die katholische Kirche hat diesen äußeren Zusammenhang. Alle anderen Rechtskirchen beruhen auf einem Abfall von dem aus dem Urchristentum stammenden rechtlichen Verband und darum vom katholischen Standpunkt auf einem Abfall von Christo. Allein die katholische Rechtskirche ist die legitime Fortsetzung der Urkirche. Sie allein ist darum die durch Christum den Geist Gottes besitzende Kirche, die Kirche Christi. Es gibt keine ,Schwesterkirche’ neben ihr.”127

2. Aus der Identifikation der Kirche im religiösen Sinn mit der Kirche im Rechtssinn folgt auch die Macht der katholischen Kirche. Ihre Organe und ihre Rechtsordnung sind logische Folgerungen aus der Gleichsetzung ihres Rechtskörpers mit der Kirche im religiösen Sinn.128 Dieses Prinzip bewährt sich sofort, wenn man nach dem Stellvertreter Christi


127 Ebd. 14. Wie sehr dieser Anspruch der katholischen Kirche überzogen war, zeigte u.a. der CIC/1917, der für alle getauften Christen (also auch die nichtkatholischen Christen) zuständig sein wollte (vgl. die cann. 12 und 1016). Der CIC/1983 hat diesen Anspruch aufgegeben (vgl. can. 11).
128 Vgl. WU 19.

|64|

sucht. Wer ist der sichtbare Statthalter des unsichtbaren Christus? Antwort: Der römische Bischof.129 Bei all dem ist in Rechnung zu stellen, daß das katholische Prinzip von der Gleichsetzung des äußeren Rechtskörpers mit der Kirche Christi dem Verlangen der Menschen nach Sichtbarkeit des Unsichtbaren entspricht.130

3. In der Verschmelzung des Religiösen mit dem Rechtlichen liegt aber auch die Schwäche des Katholizismus. Er muß seinen Geist mit dem Geist Gottes gleichsetzen.131 Er muß betonen, daß es außerhalb der (katholischen) Kirche kein Heil gibt, wo es doch richtiger heißen müßte, ohne Gott gebe es kein Heil. Außerdem vernichtet der Katholizismus das „geistliche Eigenleben aller Glieder der Christenheit, um einem Einzigen, dem Papst, die Freiheit eines Christenmenschen, das freie Leben in und mit den Kräften des göttlichen Wortes zuzusprechen. Einer hat ein unmittelbares Verhältnis zu Gott und seinem Wort. Einer kann ein Christ sein im vollen Sinn des Worts: der Papst. Alle übrigen sind Christen zweiter Klasse: Das Wort des Papstes muß ihnen das Wort Gottes, der Geist des Papstes den Geist Gottes vermitteln. Das Wesen der Christenheit ist zerstört!”132

Ist einmal das Wesen des Katholizismus erkannt, so kann es nicht mehr schwerfallen, seinen Ursprung zu verstehen. Das Urchristentum mußte sich zum Katholizismus entwickeln, weil es nicht fähig war, die äußerlich erscheinende (= empirische) Christenheit von der religiösen Christenheit (= Volk Gottes) zu unterscheiden.133


129 Vgl. ebd. 16.
130 Vgl. ebd. 20.
131 Vgl. ebd.
132 Ebd. 20 f.
133 Vgl. ebd. 22.