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Erstes Kapitel
Periodisierung der Kirchenrechtsgeschichte

 

Norbert Lämmle schreibt von Sohms Periodisierung der Kirchenrechtsgeschichte: „Die Geschichte der kath(olischen) Kirche als einer durch äußere Notwendigkeiten allmählich entwickelten Rechtskirche teilt er in 3 Epochen: 1. Zeit der Urkirche: alle Ordnung ist charismatisch, d.h. das Charisma bestimmt von Fall zu Fall das Leben der Kirche; 2. Zeit des Altkatholizismus: das göttliche, unveränderl(iche) Recht entwickelt sich, d.h. der Glaube wird zum Dogma, letzteres ist ausschließlich gültiger Rechtssatz; 3. Zeit des Neukatholizismus: es entsteht das Körperschaftsrecht, d.h. menschliche, veränderliche, dispensierbare Normen.”1

Sohm kommt in seinem zweiten Band des Kirchenrechts zu Beginn des dritten Kapitels ausführlich auf die Einteilung der Kirchenrechtsgeschichte zu sprechen. Er geht dabei von der herrschenden Auffassung der Kirchenrechtsgeschichte aus. Ulrich Stutz2 etwa teile die katholische Kirchenrechtsgeschichte folgendermaßen ein:3 Auf die „Missionsordnung der christlichen Frühzeit” (1. bis 3. Jahrhundert) folge die Zeit des „römischen Kirchenrechts” (4. bis 8. Jahrhundert), dann die Zeit des „germanischen Kirchenrechts” (Mitte des 8. bis Mitte des 12. Jahrhunderts), schließlich die Zeit des „kanonischen Rechts” (Mitte des 12. Jahrhunderts bis zum


1 N. Lämmle, Sohm, in: Lexikon für Theologie und Kirche IX, Freiburg i.Br. 1937, 648. Vgl. auch H.E. Feine, Die Periodisierung der kirchlichen Rechtsgeschichte, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kan. Abt. 36 (1950) 1-14.
2 Protestantischer Kirchenrechtslehrer; er lebte von 1868 bis 1938.
3 Vgl. KR II, 153.

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Ausgang des Mittelalters). Mit dem 16. Jahrhundert beginne die Epoche der „Umbildung des kanonischen Rechts in katholisches Kirchenrecht”, deren Abschluß das „vatikanische Kirchenrecht” der Gegenwart bilde. Gegen diese Einteilung wendet Sohm ein: „Die . . . dargelegte Gliederung der katholischen Kirchenrechtsgeschichte ist ausschließlich auf den Einfluß der die Kirche umgebenden Umwelt, d.h. auf äußerliche Umstände, gegründet.”4 „Die ganze Kirchenrechtsgeschichte erscheint als eine bloße Widerspiegelung von außen an die Kirche herangebrachter weltlicher Rechtsgedanken. Wo bleibt in dieser ,kirchlichen Rechtsgeschichte’ das Kirchliche?”5 Sohm möchte also, daß man der inneren Entwicklung des Kirchenrechts nachgeht, daß man die religiösen Kräfte erforscht, welche das Kirchenrecht und seinen Gang bestimmt haben. „Nicht der Gegensatz von römisch, germanisch, kanonisch, sondern allein der Gegensatz von altkatholischem (reinreligiösem) und neukatholischem (politisiertem) kanonischen Recht beherrscht die Geschichte des katholischen Kirchenrechts. Die von Stutz gegebene, von der herrschenden Lehre mit Zustimmung aufgenommene Periodisierung der ,kirchlichen Rechtsgeschichte’ haftet an zufälligen, in sich zusammenhanglosen Äußerlichkeiten (Römerherrschaft, Germanenherrschaft, Papstherrschaft), in denen nichts von den inneren Notwendigkeiten der Entwicklung, nichts von den Grundgedanken des Kirchenrechts und ihren Wandlungen zum Ausdruck kommt.”6 Daß man diese innere Entwicklung nicht sieht — vielleicht auch gar nicht sehen will —, kommt vor allem daher, daß man das Urchristentum nicht richtig in den Blick bekommt. „Der Ausgangspunkt muß vom Urchristentum genommen werden.”7 „Vom


4 KR II, 154. Hervorhebungen sind immer, wenn nicht eigens vermerkt, bereits in den Originaltexten vorhanden.
5 Ebd.
6 Ebd. 159.
7 Ebd. 163.

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Urchristentum aus ergibt sich der geistige Zusammenhang, der alles Folgende zu einem einheitlichen großen Ganzen verbindet. Das Verständnis des Urchristentums schließt das Verständnis der Kirchengeschichte in sich.”8 Gegen die Religionsgeschichtliche Schule,9 welche das Christentum wesentlich aus dem Zusammenhang mit den Religionen seiner Umwelt erklären wollte, sieht Sohm ganz ausdrücklich den Eigencharakter des Christentums. „Das Kirchenrecht hat nicht in dem Judentum (so die frühere protestantische Auffassung), noch in dem Heidentum (das ist heute die Lieblingsmeinung der protestantischen Gelehrten), sondern (darin hat der Katholizismus recht) allein in der christlichen Religion seine Wurzel. Das Kirchenrecht ist ein Erzeugnis des Christentums, die Entwicklung des Kirchenrechts Ausdruck der Entwicklung des Christentums.”10 Und wie hat sich das Christentum und damit das Kirchenrecht in Wirklichkeit entwickelt? Hier nennt Sohm den Ternar: Urchristentum, Zeit des Altkatholizismus und Zeit des Neukatholizismus.11

Die Einteilung der Kirchenrechtsgeschichte, welche Sohm im zweiten Band seines Kirchenrechts vorlegt, durchherrscht natürlich auch sein Buch „Das altkatholische Kirchenrecht und das Dekret Gratians”. Dort soll ja gerade dargelegt werden, daß zwischen dem Urchristentum und dem Neukatholizismus der Altkatholizismus mit seinem Sakramentenrecht steht. Darüber wird im vierten Kapitel dieses ersten Teiles noch ausführlich zu sprechen sein. Hier genüge ein Hinweis auf das Dekret Gratians. Sohm bemerkt zu Beginn seines Buches „Das altkatholische Kirchenrecht und das Dekret Gratians”, daß er im Decretum Gratiani das altkatholische


8 Ebd.
9 Vgl. H.Schlier, Religionsgeschichtliche Schule, in: LThK VIII (1963) 1184f.
10 KR II, 164.
11 Vgl. ebd. 185.

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Sakramentenrecht wiedergefunden habe. „Schon hatte ich über die religiöse Art auch des altkatholischen Kirchenbegriffs und die daraus folgende Bedeutung des altkatholischen Sakraments eine längere Abhandlung ausgearbeitet, als ich noch einmal gründlich in Gratian und die ältesten Summen zum Dekret mich vertiefte, und siehe da: gerade dieses stand darin.”12 Gegen die überlieferte Auffassung, welche in Gratian einfach nur den „Vater der Kirchenrechtswissenschaft”13 sieht, setzt Sohm seine These, wonach Gratian der Vollender des altkatholischen Sakramentenrechts ist. „Das System der Sakramente, je nach dem Rang, den sie für die äußere Regelung des kirchlichen Lebens einnehmen, ist das System des kanonischen Rechts, nämlich des altkanonischen Rechts, welches Gratian darstellte, dessen Grundgedanken er bewußt erfaßt und in der Ordnung seines Dekretes zur Darstellung gebracht hat.”14 Damit kommen wir zu einer abschließenden Würdigung des großen Kamaldulensermönches: „Gratian war nicht der ,Vater der Kirchenrechtswissen-schaft’ in dem Sinn, den unsere Gelehrten von altersher mit diesen Worten verbinden. Er war nicht der Begründer der Kanonistik als einer ,neuen’, selbständigen ,juristischen Disziplin’, sondern der Vollender der altkanonistischen Wissenschaft als eines Teiles der Theologie.”15 Freilich steht Gratian schon an der Schwelle zum neukatholischen Recht. „In dem Augenblick aber, als Gratian sein Werk vollendete, war das von ihm behandelte kanonische Recht bereits zum Untergang bestimmt.”16 Aus dem Sakramentenrecht wird das Körperschaftsrecht und aus der Sakramentengewalt die körperschaftliche Regierungsgewalt.17 Hatte das altkatholische


12 AK VI.
13 Vgl. ebd.
14 Ebd. 36.
15 Ebd. 56.
16 Ebd. 57.
17 Vgl. ebd. 58.

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Recht nur über den Klerus geherrscht, so will das neukatholische Recht auch über die Laien gebieten.18 Das kanonische Recht tritt die Weltherrschaft an.

Mit Recht ist immer wieder betont worden, daß Sohm in seinem Spätwerk starke Wandlungen durchgemacht hat.19 Dennoch hat er stets an seinem Ternar Urchristentum, Altkatholizismus20, Neukatholizismus21 festgehalten. Das sei durch einige Stellen aus AK belegt. So verweist22 Sohm darauf, daß er schon in seinem KR I den Altkatholizismus entwickelt habe (also nicht nur das Urchristentum und den Neukatholizismus). Vor allem kennt er auch in seinem Spätwerk, in dem es ihm doch um den Gegensatz von Alt- und Neukatholizismus geht, noch den Unterschied zwischen Urchristentum und Altkatholizismus.23 „Der Altkatholizismus ist geschichtlich die gerade Fortentwicklung des


18 Vgl. ebd. 33.
19 Vgl. Böckenförde 116-120; Bühler 22-31; H.-J. Schmitz, Frühkatholizismus bei Adolf von Harnack, Rudolph Sohm und Ernst Käsemann, Düsseldorf 1977, 99 f.; D. Stoodt, Wort und Recht. Rudolf Sohm und das theologische Problem des Kirchenrechts, München 1962, 107-111.
20 Nach dem Gesagten ist klar, daß der hier gebrauchte Begriff „Altkatholizismus” gar nichts zu tun hat mit jener Bewegung, die nach dem Ersten Vatikanischen Konzil entstanden ist (vgl. K. Algermissen, Altkatholiken, in: LThK I [1957] 398-402). Der in unserem Zusammenhang gebrauchte Begriff „Altkatholizismus” dürfte eher identisch sein mit dem Begriff „Frühkatholizismus” (vgl. H.-J. Schmitz, Frühkatholizismus bei Adolf Harnack, Rudolph Sohm und Ernst Käsemann, Düsseldorf 1977, 15). Altkatholizismus bzw. Frühkatholizismus sind Spätformen des Urchristentums bzw. jene folgen auf dieses. Für Sohm läßt sich der Begriff „Altkatholizismus” so umschreiben: Es handelt sich um „Katholizismus”, „parce qu’on passe à une Organisation juridique”; es handelt sich um einen „Altkatholizismus”, „parce qu’il garde la continuité . . . avec l’idée que c’est Dieu qui régit l’Église” (Congar 265).
21 Mit Neukatholizismus ist hier selbstverständlich nicht jene tschechische nationalkirchliche Bewegung (vgl. K. Algermissen, Neukatholische Kirche, in: LThK VII [1962] 913) gemeint, sondern das Aufkommen eines neuen Typs von Kirchenrecht in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts (vgl. AK 568 und KR II, 87).
22 Vgl. AK 9 f., A. 1.
23 Vgl. ebd. 59 f.

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Urchristentums.”24 Oder: „Eine folgerichtig voranschreitende innerchristliche Entwicklung hat aus dem urchristlichen Begriff der Ekklesia das altkatholische Sakrament hervorgebracht.”25 Es ist sogar derselbe innere Grund, nämlich die Sehnsucht der Gläubigen nach Sicht- und Greifbarkeit des Heiligen, welcher zunächst zum Alt- und dann zum Neukatholizismus führte. „Das heilskräftige Sakrament ward in seinem Dasein unsicher, unsichtbar, wie es einst in den Tagen urchristlicher Gedanken unsichtbar gewesen war. Und das Sakrament sollte doch sichtbar sein, um zweifellos die Gewißheit des ewigen Heils zu verbürgen. So führte das katholisch-religiöse Bedürfnis der Christenmenge wie einst zur Entstehung des Katholizismus so jetzt zu seiner Umbildung.”26

Wenn bisweilen von einem Bruch oder einer Verkehrung des Ansatzes in Sohms AK gegenüber dem KR I gesprochen wird,27 so ist an einer solchen Behauptung nur richtig, daß Sohm den Altkatholizismus später entdeckte und daß er den „Sündenfall” des Rechts eher in die Zeit nach dem Decretum Gratiani verlegte. Der Übergang vom Urchristentum zum Altkatholizismus (dem neuentdeckten Mittelglied des Ternars) schien nun weniger tragisch und überwältigend. So rückt denn der Altkatholizismus recht nahe zum Urchristentum. „Dieselbe ,pneumatische Anarchie’, welche in den Tagen des Urchristentums auf dem gesamten Gebiet des geistlichen (kirchlichen, an die Ekklesia gehörigen) Handelns herrschte, wiederholt sich in der altkatholischen Kirche auf dem außerkanonischen Gebiet.”28 Der Neukatholizismus erscheint in AK als der gemeinsame „Feind”, von dem Altkatholizismus und Urchristentum sich gemeinsam


24 Ebd. 65.
25 Ebd. 79.
26 Ebd. 99.
27 Vgl. Bühler 30.
28 AK 136.

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absetzen. Das klingt dann so: Im Neukatholizismus ist „das kirchliche Amt. . . kein geistliches Amt im Sinne des Altkatholizismus (und des Urchristentums) mehr, macht nicht mehr zum Organ des Gottesgeistes, sondern nur noch zum Organ der körperschaftlich geordneten Kirche.”29 Oder es heißt so: „Es hat sich ergeben, daß der altkatholische Kirchenbegriff derselbe ist mit dem Kirchenbegriff der Urzeit.”30 Und schließlich: „Das altkatholische Kirchenrecht blieb auf dem Boden des urchristlichen Kirchenbegriffs. Da es nur das Leben Gottes in dem Volke Gottes regelte, hatte es nichts zu schaffen mit dem Leben dieser Welt. Insoweit hat das Wesen des Urchristentums im Altkatholizismus unverändert sich erhalten.”31

Rückt also Sohm den Altkatholizismus nahe an das Urchristentum heran, so läßt er beide doch nicht ineinander aufgehen. Im Urchristentum gibt es überhaupt kein Recht; solches ist erst im Altkatholizismus entstanden. Der Übergang vom Urchristentum zum Altkatholizismus hat nach Sohm um 100 stattgefunden; derjenige zum Neukatholizismus in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts.32

Sohm unterscheidet nicht nur den Altkatholizismus vom Urchristentum, er gibt auch an, warum es so gekommen ist. „Das freie Wort ist kein sichtbares Wort Gottes. An keinem äußeren Kennzeichen kann erkannt werden, ob dies Wort Gottes Wort ist. Daher der Katholizismus. Die Menge begehrt nicht das selbständige Prüfung fordernde freie Wort des Einzelnen. Sie begehrt ihr Heil von der Kirche durch eine äußere Handlung, deren Kraft durch die heilige Gemeinschaft des Volkes Gottes verbürgt ist: durch das gebundene Wort, die überlieferte heilige Formel, die mit überliefertem heiligen Ritus sich verbindet. Der Katholizismus sucht Leben


29 Ebd. 534.
30 Ebd. 545.
31 Ebd. 562.
32 Vgl. ebd. 568.

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aus Gott, Gemeinschaft mit Gott im Sakrament. Schon mit dem Ende des ersten Jahrhunderts setzt diese Entwicklung ein.”33

Ich möchte diese kleine Blütenlese beschließen mit einer lapidaren Zusammenfassung, in der unser Autor noch einmal seinen Ternar (Urchristentum, Altkatholizismus, Neukatholizismus) bestätigt: „In der mit dem Kirchenrecht gegebenen Entstehung des Sakraments liegt . . . die deutliche Unterscheidung des Katholizismus vom Urchristentum, andererseits in der Überwindung des sakramentalen Kirchenregiments die Entwicklung, welche vom Altkatholizismus zum Neukatholizismus geführt hat.”34


33 Ebd. 616.
34 Ebd. 616, A. 2.