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Am Ende geht der Blick noch einmal auf das Ganze, und es soll versucht werden, dieses thesenartig zuammenzufassen.
1. Um die Gedanken Sohms in ein (zeitliches) Schema eintragen zu können, haben wir uns mit seiner Periodisierung der Kirchenrechtsgeschichte befaßt. Dabei zeigt sich, daß Sohm die bisher übliche Einteilung ablehnt, weil in dieser die Kirchenrechtsgeschichte als bloße Widerspiegelung weltlicher (z.B. römischer und germanischer) Rechtsgedanken erscheint. Demgegenüber möchte Sohm die Geschichte des Kirchenrechts aus den inneren Notwendigkeiten der Entwicklung des Kirchenrechts verstehen. Diese innere Entwicklung verläuft vom Urchristentum zum Altkatholizismus und dann zum Neukatholizismus. In der Urkirche ist alle Ordnung charismatisch, d.h. von Fall zu Fall vom Charisma geregelt. Im Altkatholizismus haben wir das göttliche und unveränderliche Recht der Sakramente. Im Neukatholizismus gibt es menschliche, veränderliche und dispensierbare Normen, eben sogenanntes Körperschaftsrecht.
2. Um die drei Epochen der Kirchenrechtsgeschichte darstellen zu können, mußte uns neben der Periodisierung der Kirchenrechtsgeschichte noch der Rechtsbegriff Sohms interessieren. Dieser ist durch vier Merkmale bestimmt: Das Recht entspringt der Gemeinschaft. Es bringt Zwang mit sich. Es ist formal. Es ist an die Vergangenheit gebunden. Von Bedeutung ist dabei, daß nur eine solche Gemeinschaft Recht erzeugen kann, die notwendig ist und welcher der Einzelne notwendig angehören muß. (Andernfalls erzeugt die Gemeinschaft keine Rechtsregel, sondern nur eine Konventionalregel.) Im Mittelalter gab es zwei Gemeinschaften, in welche der Einzelne notwendig hineingeboren wurde: Kirche und Staat. Es gab deshalb kanonisches und weltliches
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Recht. Heute indes muß man nur noch dem Staat notwendig angehören. Die Zugehörigkeit zur Kirche ist dagegen freiwillig. So gibt es heute auch nur noch staatliches (weltliches) Recht.
3. Die Kirchengeschichte muß ihren Ausgangspunkt beim Urchristentum nehmen. Vom Urchristentum aus ergibt sich der geistige Zusammenhang, der alles Folgende zu einem einheitlichen großen Ganzen verbindet. Die Christengemeinde der Urzeit heißt „Ekklesia Christi” oder „Ekklesia Gottes”. Sie ist keine bestimmte empirische Größe, kein sozialer Begriff, nicht einmal eine Ortsgemeinde. Die Ekklesia besteht vielmehr aus von Gott Berufenen. Das meint das Evangelium, wenn es sagt: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen” (Mt 18, 20). Diese Ekklesia ist nicht organisiert und überhaupt der rechtlichen Organisation unfähig. Wenn und wo sie eine gewisse Führung hat, wird diese durch das Charisma der Lehrgabe ausgeübt.
4. Leider ist es (nach Sohm) nicht bei dieser rechtlosen und deshalb idealen Kirche der Urzeit geblieben. Die Bildung von Gemeinden im Sinne von organisierten Körperschaften hat sich um den Gottesdienst (genauer: um Meßfeier und Kirchengut) vollzogen. Hier ist der Kristallisationskern, um den herum die rechtliche Ordnung wächst. Aus der Ordnung des eucharistischen Gottesdienstes ist die Ordnung der Kirche hervorgegangen. Die eucharistische Feier besteht an erster Stelle aus einem Dankgebet. Mit dem Sprechen des Dankgebetes verbindet man die Sammlung der Liebesgaben. Diese bilden das Kirchengut. Wer die Eucharistie feiert und die Gaben empfängt, verwaltet auch das Kirchengut. Für gewöhnlich ist das ein Charismatiker. Fehlt aber ein solcher, dann kommt das Recht zu Hilfe, indem es Bischöfe, Älteste und Diakone (die alle keine Charismatiker sind) bestellt, um den Gottesdienst zu ermöglichen.
5. Fehlen des Charismas und menschlicher Kleinglaube,
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der Stützen, Hilfsmittel, Krücken und äußere Bürgschaften (eben eine Rechtsordnung) verlangt, sind die Vorbedingung für das Aufkommen des Bischofsamtes im rechtlichen Sinn. Geschichtlich war dieser Augenblick in Korinth (und in Rom?) zur Zeit des Clemensbriefes gegeben. Eine Verfassungsänderung wurde dabei in zwei Schritten vollzogen: Zum einen mußte der Versammlung die Macht über die Bischöfe genommen werden. Zum anderen mußte sich der Einzelepiskopat durchsetzen.
6. Mit dem Aufkommen der Synode wird ein weiterer Schritt auf eine Verrechtlichung der Kirche hin getan. Nach Cyprian beruht die Einheit der Kirche auf der Einheit des Episkopats, die Einheit des Episkopats aber auf seinem gemeinsamen Urquell in der Vollmacht Petri. Doch ist diese Einheit zunächst nur eine ideelle und keine rechtliche. Jede Entscheidung der Synode wird nicht kraft menschlicher (lediglich rechtlicher) Autorität getroffen, sondern im Namen Gottes und in der Kraft des heiligen Geistes. Auch die Allgemeinen Konzilien, welche mit dem 4. Jahrhundert beginnen, haben (in der Meinung Sohms) zunächst keine formelle, d.h. keine rechtliche Gewalt. Ihre Beschlüsse bedürfen der freien Zustimmung aller Gläubigen. Wie auf anderen Gebieten setzt aber auch für die Allgemeinen Konzilien eine langsame Verrechtlichung ein, welche allerdings erst mit dem Konzil von Trient zum Abschluß kommt, nachdem die Protestanten aus der Kirche ausgewandert waren.
7. Mit dem Aufkommen der Konzilien ist das Kirchenrecht noch nicht vollendet. Es fehlt noch der Schlußstein im Gebäude: die Papstgewalt. Auf diese mußte man stoßen, wenn man die Frage aufwarf, wie die Einheit der Kirche trotz der Mehrzahl ihrer Oberhäupter gewahrt werden könne. Cyprian geht noch von der grundsätzlichen Gleichstellung aller Bischöfe aus. Die Einheit, die es dennoch gibt, ist ideeller Art und wird symbolisch (nach Cyprian) so dargestellt, daß man alle Bischofssitze von Rom ausgehen läßt.
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Die Ereignisse sind aber völlig über Cyprian und seine Gedanken hinweggegangen. So drängt der römische Bischof unaufhörlich zur Macht. Im 3. Jahrhundert hat er bereits die Oberherrschaft über Italien, im 5.Jahrhundert (nach der Zerstörung der blühenden Gemeinden in Afrika und besonders nach dem Fall von Karthago) schickt sich Rom an, die Herrschaft über das Abendland anzutreten. Seit dem Untergang des weströmischen Reiches (476) übernimmt der Papst auch dessen politische Führung. Durch die Kirchenspaltung von 1054 war das Abendland vom Morgenland getrennt. Rom und Konstantinopel waren je Herr in ihrem Bereich. Für den römischen Patriarchen gab es nur noch das Ökumenische Konzil als Gegner, das allmählich niedergerungen wurde.
8. Luther hat das Kirchenrecht abgelehnt. Das hängt mit seiner Auffassung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche zusammen, die allerdings zwiespältig bleibt. Einerseits ist die Kirche unsichtbar, weil der Verstand nicht zu sehen vermag, wer wahrhaft durch die Gnade Gläubiger ist. Andererseits ist die Kirche sichtbar, weil Wort- und Sakramentsverwaltung sichtbar sind. Obwohl es nach Luther und den Bekenntnisschriften in der Kirche kein Kirchenrecht geben soll, weder göttliches noch menschliches, ist die herrschende protestantische Lehre eine andere. Danach gibt es bekenntnismäßig in der Kirche rechtliches Kirchenregiment, rechtliche Kirchengewalt und rechtliche Kirchenverfassung, wenngleich nur kraft menschlichen Rechtes.
9. Das Urchristentum war nicht katholisch. Aber aus dem Urchristentum ist der Katholizismus hervorgegangen. So stellt sich die Frage: Wo lag im Urchristentum der Keim, aus dem der Katholizismus hervorgehen mußte? Um auf diese Frage eine Antwort zu geben, geht Sohm aus von der geläufigen Unterscheidung, wonach die Kirche im Rechtssinn von der Kirche im Glaubenssinn zu unterscheiden ist. Diese geläufige Unterscheidung ist von Luther als Gegensätzlichkeit
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erfaßt worden. Deshalb bedeutet die Durchsetzung der Unterscheidung das protestantische Prinzip. Der Mangel der Unterscheidung bedeutet das katholische Prinzip. „Das Wesen des Katholizismus besteht darin, daß er zwischen der Kirche im religiösen Sinn (der Kirche Christi) und der Kirche im Rechtssinn nicht unterscheidet. Die Kirche im Lehrsinn ist ihm zugleich Kirche im Rechtssinn, und umgekehrt. Die Kirche Christi ist ihm eine rechtlich verfaßte Organisation: das Leben der Christenheit mit Gott ist durch das katholische Kirchenrecht geregelt”.1 Aus dem Mangel der Unterscheidung zwischen der Kirche im Glaubenssinn und der Kirche im Rechtssinn erklärt sich auch der Ursprung des Katholizismus. „Das Urchristentum mußte sich zum Katholizismus entwickeln, wenn es außerstande war, die äußerlich erscheinende (empirische) Christenheit von der Christenheit im religiösen Sinn (dem Volk Gottes) zu unterscheiden. Diese Voraussetzung war es, von der alles andere abhing, und diese Voraussetzung war gegeben”.2
10. Der Unterschied zwischen Urchristentum und Altkatholizismus läßt sich anhand der folgenden 5 Stichworte erklären: Kirchenbegriff, Kirchenverfassung, Kirche, Kirchenrecht, Sakrament. Der Kirchenbegriff des Altkatholizismus ist identisch mit jenem des Urchristentums. Auch für den Altkatholizismus ist das Leben und Handeln der Ekklesia nicht Leben und Handeln der Christenheit als solcher (als einer menschlichen und rechtlich organisierten Gemeinschaft), sondern Leben und Handeln Gottes (Christi).
11. Die altkatholische Kirchenverfassung ist nichts anderes als eine Aus- und Entfaltung des altkatholischen Kirchenbegriffs. Hatte das Urchristentum den Charismatiker, so hat der Altkatholizismus den Kleriker. Der Kleriker, der vor allem Sakramentsverwalter ist, mußte notwendig kommen,
1 WU 13.
2 WU 22.
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denn: „Die Menge begehrt nicht das selbständige Prüfung fordernde freie Wort des Einzelnen. Sie begehrt ihr Heil von der Kirche durch eine äußere Handlung, deren Kraft durch die heilige Gemeinschaft des Volkes Gottes verbürgt ist: durch das gebundene Wort, die überlieferte Formel, die mit überliefertem heiligen Ritus sich verbindet. Der Katholizismus sucht Leben aus Gott, Gemeinschaft mit Gott im Sakrament.”3 Durch das Aufkommen der berufsmäßigen Sakramentsverwalter wird nun allerdings das eine Volk Gottes in zwei Völker gespalten: in den Klerus und in die Laien.
12. Die altkatholische Kirche verstand sich vor allem als Leib Christi. Das ganze Leben des Christen sollte ein Leben mit und aus Gott sein. Die Kirche lebte also eigentlich nicht auf dieser Erde, sondern im Himmel. Weil sich dies allerdings nicht genau erkennen und verbürgen ließ, suchten die Christen nach Merkmalen für das Heilige auf Erden. Und so entstand das Kirchenrecht. Nicht aus irgendwelchem Ordnungsbedürfnis, sondern allein aus dem Heilsbedürfnis der Christenheit, aus ihrem Begehren nach Gott ist das altkatholische Kirchenrecht entsprungen.
13. Das altkatholische Kirchenrecht läßt sich durch 4
Merkmale bestimmen:
a) Das altkatholische Kirchenrecht war Sakramentsrecht. Inhalt
des Kirchenrechts war ganz allein die Regelung des göttlichen
Lebens und damit die Sicherstellung des Sakraments. Das
Kirchenrecht war geistliches Recht für vom Geist Gottes
getragenes Leben.
b) Das altkatholische Kirchenrecht ist nicht planmäßig auf alle
Gebiete ausgedehnt worden. Weite, wichtige Gebiete des
kirchlichen Lebens blieben vom Kirchenrecht frei.
c) Das altkatholische Kirchenrecht war auf Erfolg und Rezeption
durch alle Gläubigen aufgebaut. Es kam letztlich vor allem darauf
an, daß eine Meinung sich durchsetzte.
3 AK 616.
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d) Das altkatholische Kirchenrecht war unveränderlich. Es gab keine Umbildung und Weiterbildung. Deshalb mußten (in der Meinung Sohms) neue Sakramente ausgebildet werden, um die Gotteskraft des vollzogenen Sakramentes durch die Gotteskraft eines Gegensakramentes zu überwinden.
14. Um das altkatholische Kirchenrecht zu erklären, muß man das altkatholische Sakrament näher beschreiben. Durch das Aufkommen des Sakraments änderte sich das Wesen des Christentums. Und dieses änderte sich in dem Augenblick, als das Christentum wuchs und zu einer Massenbewegung wurde. Mit der Menge der Christen wächst die Menge der religiös Unselbständigen, die Menge derer, die ihr geistliches Leben gewissermaßen mechanisch von der sichtbaren Christenheit empfangen wollen, die ihr Heil begründet und zugleich gesichert haben wollen durch äußere Vorgänge, in denen die Gnade Gottes und das ewige Leben mit Gott gegeben wird.
15. Hatten nach dem altkatholischen Kirchenbegriff alle Christen einen unmittelbaren Kontakt zu Gott, so vermittelt nach dem Neukatholizismus die gesellschaftlich verfaßte Kirche zwischen Gott und dem einzelnen Christen. Die Kirche Christi ist dank ihrer gesellschaftlichen Organisation zu einem Handeln fähig, welches nicht mehr unmittelbar Gottes Handeln, sondern Handeln der Kirche als einer gesellschaftlichen Einheit (als einer Körperschaft) ist.
16. Die neukatholische Kirche versteht sich als Religionsgemeinschaft, näherhin als Anstalt. Dem kann Sohm nur heftig widersprechen. „Die Kirche Christi hat mit dem Anstaltsbegriff so wenig zu schaffen wie mit dem Begriff der Genossenschaft. Sie hat nichts gemein mit dem Körperschaftsrecht, mit juristischer Persönlichkeit (!) usf. Denn sie trägt als solche keinerlei äußere Ordnung an sich.”4
4 KR II, 28 f., A. 20.
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17. Ist die Kirche eine Religionsgesellschaft, so ist ihr Kirchenrecht Religionsgesellschaftsrecht. Sobald die Kirche als Körperschaft gedacht wurde, war die Kirchengesetzgebung da und die Zeit des göttlichen Kirchenrechts vorüber. Die Körperschaft ist darauf hingeordnet, nicht damit Gott handelt, sondern damit der Verband handelt.
18. Die Entwicklung zum neukatholischen Sakrament spielte sich hauptsächlich bei zwei Sakramenten ab: bei der Taufe und bei der Ordination. Schon im Ketzertauf streit zeigte es sich, daß die gültige Taufe auch außerhalb der legitimen Christenversammlung gespendet werden kann. Daran hat Augustinus angeknüpft, um alle kirchenordnungswidrigen Sakramente zu verteidigen. Im Grunde genommen war das die Haltung, welche später der Neukatholizismus einnahm: Nicht mehr die Kirche, sondern die richtige Form5 macht ein Sakrament. Ähnliches galt im Neukatholizismus auch für die Ordination und dann alle übrigen Sakramente.
19. Sohm hat zwar immer das Kirchenrecht abgelehnt, aber es zeigt sich bei der Lektüre seiner Arbeiten, wie schwer ihm diese Ablehnung gefallen ist und wie es Elemente in seinem Lehrgebäude gibt, die sein eigenes System zu sprengen drohen. So schwankt denn Sohm schon selber zwischen Ablehnung und Anerkennung des Kirchenrechts. Vor allem droht ihn die Entdeckung, die er bei der Abfassung des Buches „Das altkatholische Kirchenrecht und das Dekret Gratians” macht, daß nämlich das Recht ein ganzes Jahrtausend lang mit der Kirche vereint war, zu erschüttern. Sohm hat dann auch zugegeben, daß sich immer wieder — mit eiserner Notwendigkeit — Recht in der Kirche durchsetzt. Eiserne Notwendigkeit, das heißt freilich nicht, daß damit Kirchenrecht schon legitimiert sei, aber das meint doch, daß Recht
5 Im Notfall kann jeder (von der nötigen Intention geleitete) Mensch gültig die Taufe spenden (vgl. can. 861 § 2. CIC/1983).
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praktisch-historisch unumgänglich und von der Sache her gegeben ist. Vielleicht meint das im günstigsten Fall sogar, daß kirchliche Ordnung Abbild der göttlichen Ordnung ist.
20. Die ersten und vorläufigen Stellungnahmen der katholischen
Theologen zu Sohm lassen sich unter die folgenden drei Stichworte
einordnen: Anerkennung, Kritik, offene Fragen.
a) Man lobt bei Sohm die genaue Kenntnis der Quellen,
ein tiefes Eindringen in den behandelten Gegenstand und eine
geniale Intuition. Man würdigt seine klassische Sprache, seine
kunstvolle Darstellungskraft und sein Bekenntnis als gläubiger
Christ. Man anerkennt die Bedeutung Sohms, die darin besteht, daß
er die Wissenschaft des Kirchenrechts befruchtet hat durch
neuartige Fragestellungen wie durch eine eindringliche Betonung
des inneren Zusammenhangs zwischen Kirchenrecht und
Glaubenswelt.
b) Die Autoren kritisieren an Sohm, daß er den
Belegstellen (vor allem dem Neuen Testament) oft Gewalt antut,
daß er spekulativ vorangeht und Ideengebäude konstruiert. Man
entdeckt bei Sohm einen protestantisch gefärbten Mystizismus, der
vor allem darin besteht, daß jeder einzelne Gläubige (ohne die
Vermittlung der Kirche) Zugang zu Gott hat und auch darin, daß
die Wahrheit sich auf alle Fälle durchsetzen wird. Sohm ist
unfähig, die schon im Neuen Testament vorhandenen
kirchenrechtlichen Elemente zu erkennen, weil er einen
vorgefaßten Begriff von Recht hat.
c) Es bleiben einige offene Fragen: Welches ist die
genauere Verfassung der Urkirche? Ist die Kirche von Christus als
wohlgeordnete Gesellschaft (societas perfecta)6
gegründet worden? Welches ist Sohms Kirchenbegriff? Hält Sohm
seine Unterscheidung zwischen einer sichtbaren und einer
6 Vgl. R. Sebott, De ecclesia ut societate perfecta et de differentia inter ius civile et ius canonicum, in: PerRMCL 69 (1980) 107-126.
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unsichtbaren Kirche in allen seinen Werken durch? Was heißt bei Sohm geschichtliche Verwurzelung der Offenbarung? Hebt Sohm eine solche nicht dadurch auf, daß er sich in der Frage des Rechts und der Ämter mehr auf Luther als auf die Hl. Schrift stützt?
21. In dem Maße, in dem Sohms Arbeiten auch von Katholiken rezipiert werden und in dem Maße, da der zeitliche Abstand zu Sohm wächst, tritt die katholische Auseinandersetzung mit Sohm in eine neue und komplexere Phase. Dieser neue Abschnitt läßt sich kennzeichnen durch die Namen von H. Barion, J. Klein und W. Böckenförde. Nach diesen Autoren ist Sohm bisher unbewäitigt und weiterhin aktuell. Seine Zugkraft bezieht er aus dem, was an wahrem Gehalt in seiner Lehre steckt. Erst wenn das, was an Wahrheitsgehalt in der Lehre Sohms vorhanden ist, herausdestilliert, anerkannt und in der katholischen Kirche fruchtbar gemacht wird, dürfte der Sohmsche Antijuridismus bewältigt werden können.
22. Da es im Neuen Testament keine systematische und explizite Abhandlung zum Thema Recht und Gesetz gibt, muß eine bibeltheologische Grundlegung des Rechts allererst den Zugang zum Recht im Neuen Testament bestimmen. Ohne jeden Zweifel ist die Erfahrung von so etwas wie Recht eine Quelle für das Kirchenrecht im Neuen Testament. Deshalb muß die Erforschung des Begriffes des Rechts der Kirche von der kirchlichen Rechtserfahrung ausgehen, d.h. davon, was in der Kirche als ihr Recht erfahren, begriffen und bezeichnet wird.
23. Man hat im Neuen Testament merkwürdig gebaute Aussagen entdeckt, die man möglichst allgemein Sätze des heiligen Rechts nennen kann. Diese Sätze haben die Form eines Chiasmus und verkünden das „ius talionis”. Sie gehören in die Sphäre des Ordals. Es geht um ein Gottesrecht, in welchem Gott selbst der Handelnde bleibt, und das, sofern Gott es durch Charismatiker verkünden und vollziehen läßt,
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auch charismatisches Recht genannt werden mag. Der ursprüngliche Sitz im Leben für derartige Sätze heiligen Rechtes war die prophetische Verkündigung. Die Propheten hatten nicht nur die Aufgabe, die Parusiehoffung in der Gemeinde wachzuhalten und die Verfolgten zu trösten, sondern sie mußten die Angefochtenen auch mahnen, warnen, richten und strafen.
24. Es ist nur natürlich, daß das Aufkommen von Kirchenrecht (und dessen Erfahrung) in der jungen Christengemeinde in Zusammenhang steht mit Jesu Umgang mit der Tora. Jesus, der auftrat und seine Botschaft vom hereinbrechenden Gottesreich verkündete, war ein schriftgelehrter Rabbi. Als solcher geht er frei mit der Tora um. Zwar zieht er seine beiden Hauptgebote aus der Tora, läßt aber die anderen Gebote beiseite. Damit zerreißt Jesus die Einheit der Tora. Im Verständnis dieser Stellung Jesu zum Alten Testament in Lehre, Verhalten und Methode liegt der Schlüssel zum Wesen des entstehenden Kirchenrechts.
25. Recht ist Beziehungsverhältnis zu andern, ist Ordnung interpersonaler Beziehungen. Durch dieses Beziehungsverhältnis wird ein Raum von Freiheit abgegrenzt, in dem der einzelne sich selbst und seine Freiheit verwirklichen kann. Kirchenrecht ist also eine christliche Freiheitsordnung. Wir erfahren unsere Freiheit (in der Kirche) als begrenzt und somit (durch das Kirchenrecht) geordnet. An diese Erfahrung knüpft die neubundliche Begründung von Ordnung und Recht in der Kirche an.
26. Überschaut man die vielfältigen Fälle, bei denen man sich so oder so im Neuen Testament mit Recht befaßte und auseinandersetzte, so kommt man zu drei Kategorien. Als erstes sind da diejenigen Rechtsfälle zu nennen, die wir heute unter das Privat- oder Zivilrecht subsumieren würden. Es handelt sich dabei um rechtswidriges Verhalten einer Person gegenüber einer anderen. In diesen Fällen soll das Recht der Wiederherstellung des Friedens dienen. Das Ziel des Rechtes
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muß es sein, Ausgleich zu schaffen, Versöhnung zu bringen, Frieden zu erreichen.
27. Neben dem Privatrecht kennt das Neue Testament auch solche Strafdelikte, die öffentlich rechtlicher Natur sind. Hierher gehört etwa der Unzuchtsfall von 1 Kor 5 und die Bestrafung in 2 Kor 2, 5-11. Auch in diesen Fällen geht es letztlich darum, Streitigkeiten auf dem Wege der Schlichtung so beizulegen, daß der eine dem andern Bruder und Nächster zu sein und zu bleiben vermag.
28. Die letzte Kategorie, bei der es in der Hl. Schrift um Recht geht, ist das Problem der rechten Lehre, das Problem von Orthodoxie und Häresie. Paulus und die übrige neutestamentliche Literatur (außer den Pastoral- und Johannesbriefen) verzichten im allgemeinen auf harte Strafmaßnahmen gegen Irrlehrer. Das wird anders in den Pastoralbriefen. Bei der Lektüre bestimmter Stellen hat man den Eindruck, daß Diskussionen, Dispute und Lehrstreitigkeiten unterbleiben sollen. Neu ist nun auch, daß das Mittel der Abschreckung eingesetzt wird.
29. Ein Überblick über das Amt im Neuen Testament zeigt, daß das Verfassungsrecht der Urkirche sehr offen ist und deshalb der (zukünftigen) kirchlichen Satzung und der geschichtlichen Entwicklung einen breiten Raum überläßt. Weil die Urkiche an eine nahe Parusie Jesu Christi glaubte, hatte sie zunächst wenig Interesse an Recht und Verfassung. Nun blieb aber die Parusie aus. Damit kam es zu einer Verfassung im Neuen Testament.
30. Die Pastoralbriefe zeigen eine spätere, schon ausgereiftere Ordnung in den Gemeinden. Bei dieser Ordnung wird unterschieden zwischen dem Dienst des Apostels, dem Dienst des Apostelschülers und den lokalen Ämtern (Presbyter, Episkopen, Diakone, Witwen).
31. Die nachkonziliare Ekklesiologie hat zunehmend erkannt, daß die traditionelle Begründung für die Institutionen (und damit auch für das Recht) in der Kirche weder exegetisch
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noch fundamentaltheologisch ausreicht. Die Theologie der letzten Jahrzehnte hat sich deshalb um eine Begründung der Institution „Kirche” und der Institutionen in der Kirche bemüht, die sowohl theologisch überzeugender ist als auch der neuzeitlichen Sozialgeschichte mehr gerecht wird.
32. Zunehmend hat die Theologie die hohe, innergeschichtlich unverzichtbare Bedeutung der institutionellen Form für die Identität und die Einheit der Kirche erkannt. Das Institutionelle ist Zeichen der identifizierenden Kraft des Geistes, d.h. es sichert die (diachronische) Kontinuität der Kirche mit dem Ursprung ihres Glaubens. Zugleich ist das Institutionelle Zeichen der integrierenden Kraft des Geistes, d.h. es sichert den (synchronischen) Zusammenhang in der einen Universalkirche.
33. Die Kirche ist ein rechtlich bestimmbares Mysterium. Das Zweite Vatikanische Konzil faßt diese Wahrheit in dem folgenden Satz zusammen: „Wie . . . die angenommene Natur dem göttlichen Wort als lebendiges, ihm unlöslich geeintes Heilsorgan dient, so dient auf eine ganz ähnliche Weise das gesellschaftliche Gefüge der Kirche dem Geist Christi, der es belebt, zum Wachstum seines Leibes (vgl. Eph 4, 16).”7 Damit ist auf die inkarnatorische Grundlegung auch des Kirchenrechts hingewiesen.
34. Jesus Christus, die eine Person, ist zugleich wahrer Gott und wahrer Mensch, ist göttlicher und menschlicher Natur. Jesus Christus ist das Ursakrament. Die Kirche ist ähnlich wie Christus selbst sakramental, und das nicht nur instrumentalistisch in ihrem Tun (in Wort und Sakrament), sondern in ihrem Sein. In und durch die sichtbare und menschliche Wirklichkeit der Kirche wird die unsichtbar-göttliche Wirklichkeit bezeichnet und sichtbar verleiblicht. Die Kirche ist das Vollsakrament. Was auf der Ebene Christi und auf der Ebene der Kirche geschieht, ereignet sich auch
7 Lumen gentium, Art. 8, in: LThK-Konzilskommentar I, 171.
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auf der Ebene der Einzelsakramente. Konkret und z. B. für den Fall der Taufe heißt das: Die Gnade verleiblicht sich im Taufsakrament, das seinerseits Recht impliziert. Somit verleiblicht sich die Taufgnade im Recht, eben im Recht, das die Taufe regelt. Und umgekehrt: Das Recht, welches im Taufvollzug impliziert ist, symbolisiert die Gnade. Es deutet sie an und bewirkt sie. Gratia se significando se efficit.
35. Bei der Taufe des äthiopischen Höflings (Apg 8, 26-40) lassen sich drei Rechtsakte heraustrennen: a) die jurisdiktioneile Frage nach der Angezeigtheit des geistlichen Handelns; b) der Akt der Unterwerfung von Seiten des Täuflings; c) die Willenserklärung dessen, der den Akt der Unterwerfung annimmt.
36. Nach der frühchristlichen Tradition kann im Vollzug der Taufe ein vierfacher rechtlicher Sinn herausgehoben werden: a) die Taufe ist ein Ritus der Aufnahme in die kirchliche Gemeinschaft; b) die Taufe ist ein Akt der Weihe an Gott und ein Eid; c) die Taufe ist ein Vertrag; d) die Taufe ist die Begründung der kirchlichen Personalität.
37. Daß die Taufe Rechtselemente impliziert, zeigt sich besonders dann, wenn man sie im Zusammenhang mit der Kindschaft und der Adoption betrachtet. Die Adoption ist ein Akt der Rezeption in das Kindesverhältnis, der die Voraussetzungen überspringt und das Vollrecht ohne die vorausgehende Anwartschaft gibt. Die Adoption ersetzt die Erzeugung durch die Wahl, die Natur durch die Entscheidung.